Die Hölle im Kinderheim - Renée Wum - E-Book

Die Hölle im Kinderheim E-Book

Renée Wum

4,7

Beschreibung

In ihrem Buch "Die Hölle im Kinderheim" befasst sich Renée Wum mit dem häufig und gerne verdrängten Thema des Kindesmissbrauchs durch Geistliche. In ihrem erschütternden Bericht lässt sie die Leidtragenden durch ein ehemaliges Heimkind selbst zu Wort kommen. Dutz, der Name ist ein schützendes Pseudonym, spricht über seine unvorstellbar grauenhafte Kindheit in einem katholischen Kinderheim in Luxemburg in den Fünfzigerjahren. Er erzählt von den qualvollen Nächten, der täglichen bestialischen Folter - und dem täglichen sexuellen Missbrauch, dem er und seine Leidensgenossen und -genossinnen ausgesetzt waren. Ihre Verbrechen haben die verschiedenen Heime - auch mit Hilfe öffentlicher Stellen - bestens untereinander organisiert. Zurück bleiben in den Tod getriebene Kinder und, wenn sie überleben, schwer traumatisierte Erwachsene, denen die Anerkennung ihres Leides bis heute verweigert wird, weil sich die Verantwortlichen wegducken.

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Inhalt

VORWORT

DIE 50er-JAHRE IN DEN KINDERHEIMEN

KINDHEIT

ALBTRAUM SCHULE

ERNIEDRIGUNG

DER SCHULLEHRER

DAS KINDERHEIM

DUTZ IM HEIM

LEIDENSGENOSSEN IN ANDEREN HEIMEN

MARCEL

LOUIS

FRANCIS

JOEL

HENRI

KINDERARBEIT

LEIDENSGENOSSEN

JAN

PITTI

REINE SCHIKANE

BETTNÄSSER

KEINE HEIMSCHULE

DER WINTER

DIE EINEN …

… UND DIE ANDEREN

JUGENDLICHE ZWANGSARBEITER

DIE MÄDCHEN

FANNI

MARIE

LORI

HENRIETTE

FANNI IST WIEDER DA

KAPLAN BOCK

DR. BABINGER

DIE BRAUEREI UND DER DIREKTOR

DER STADTPARK

ENTLASSEN AUS DEM HEIM

ZURÜCK IN LUXEMBURG

AUF ARBEITSSUCHE

FRAU SCHILTZ

ETIKETT »HEIMKIND«

KIRCHLICHE ANLAUFSTELLE FÜR OPFER SEXUELLER UND PHYSISCHER GEWALT

DAS WIEDERSEHEN

DIE ANLAUFESTELLE WURDE GESCHLOSSEN

WIEDERGUTMACHUNG DER KIRCHE

DIE WEGE DER ANDEREN HEIMKINDER

WIE GEHT ES DUTZ HEUTE?

AUCH DER NEUE ERZBISCHOF SCHWEIGT ALLES TOT

DANK

Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher!

Bertolt Brecht

Die Welt ist viel zu gefährlich, um darin zu leben – nicht wegen der Menschen, die Böses tun, sondern wegen der Menschen, die daneben stehen und sie gewähren lassen.

Albert Einstein

Diese Enthüllungen waren für mich ein Schock.

Sie verursachen große Traurigkeit.

Es fällt schwer zu verstehen,

wie diese Perversion des Priesteramtes möglich war.

Traurig ist auch, dass die Autorität der Kirche

nicht wachsam genug war

und nicht schnell und entschieden genug

die notwendigen Maßnahmen ergriffen hat.

Das erste Interesse muss den Opfern gelten:

Wie können wir Wiedergutmachung leisten,

was können wir tun, um diesen Menschen zu helfen,

das Trauma zu überwinden,

das Leben wiederzufinden,

auch das Vertrauen in die Botschaft Christi wiederzufinden?

Sorge und Engagement für die Opfer ist die erste Priorität,

mit materieller, psychologischer, geistlicher Hilfe und Unterstützung.

Papst Benedikt XVI.

Am 16. September 2010 auf dem Flug nach Schottland

VORWORT

Königin Elisabeth II. bestieg den Thron. Londoner Besuch des holländischen Königspaares. Knapper Wahlsieg für Kriegspremier Churchill. Traumhochzeit des persischen Schahs Reza Pahlavi und der deutschstämmigen Soraya. Hildegard Knef, die Protagonistin in dem Film »Die Sünderin«, erboste die Gemüter und begann damit ihre internationale Karriere.

Gerade die Musik der 50er-Jahre lässt den allgemeinen Wandel und den Aufbruch in eine neue Zeit erkennen. In der Filmwelt war es James Dean, der die Jugend begeisterte. Er, der den Rebellen verkörperte, den jungen Mann, der mit dem Kopf durch die Wand ging, wurde zum Idol.

Christian Dior, der erste Pariser Modedesigner, der mit seiner Kollektion den verhärmten, strengen Nachkriegslook beendete. Die Frauen hatten Heißhunger auf schöne Dinge, ein wenig Glamour und Feminität, auf die Modeträume am Anfang der 50er.

In den USA sorgte der Prozess gegen das Ehepaar Ethel und Julius Rosenberg für weltweite Schlagzeilen. Ihnen wurde Spionage vorgeworfen und trotz der Proteste namhafter Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Pablo Picasso, Papst Pius XII. und anderen wurde das Ehepaar in New York hingerichtet.

Die EGKS wurde durch den Vertrag von Paris gegründet und von sechs europäischen Ländern unterzeichnet. Die Montanunion galt einige Jahre lang als ein »Schwungrad« des wirtschaftlichen Aufbaus.

Der Nachkriegsboom war eine Periode ungewöhnlich starken Wirtschaftswachstums.

Für die erste Phase des Aufschwungs war entscheidend, dass trotz der Kriegsfolgen Industriesubstanz und qualifizierte Arbeitskräfte noch in ausreichendem Maße vorhanden waren. Zum europäischen Aufschwung beigetragen hatte auch der Marshallplan. Von 1948 bis 1951 wurden vielen westeuropäischen Ländern hohe Wirtschaftshilfen gewährt.

Man schrieb das Jahr 1951.

Man begann, im Anschluss an die Jahre der Unterdrückung die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges aufzuarbeiten. Auf dem Wege ins Wirtschaftswunder geriet der Krieg mit all seinen Grausamkeiten aus dem Blick.

Wenn in den Medien die Nachrichten über die Gegenwart und die Prognosen für die Zukunft immer schlechter werden, schwärmt man wieder von den »goldenen Zeiten«, von den erfolgreichsten Jahren, in denen es nur aufwärts ging.

Der Krieg war vorbei und die Nationen gingen an den Wiederaufbau.

Doch der Zweite Weltkrieg hatte zur Folge, dass viele Kinder ihre Eltern, Verwandten oder andere Bezugspersonen verloren. Die Kinder, auf die dieser Verlust zutraf, wurden in kirchlichen und staatlichen Waisenhäusern untergebracht. Es waren nicht wenige, die ihre Kindheit und Jugend in diesen sogenannten Heimen verbringen mussten.

Die goldenen Zeiten eines Wiederaufbaus erlebten diese Kinder und Jugendlichen nicht.

Heute fordern Staatsanwälte, Richter, Polizei, Politiker und Jugendämter erneut das Wegschließen von Jugendlichen. Die Anzahl der auffällig werdenden Kinder und Jugendlichen nimmt stetig zu, sie nimmt nicht ab. Viele Menschen glauben heute immer noch, dass die Angst vor Strafe hilft.

Doch im Kern des Problems, warum Kinder und Jugendliche außerhalb der Familien betreut werden sollten, hat sich nichts geändert. Die Klientel der öffentlichen Erziehung ist noch dieselbe wie vor mehr als 40 Jahren. Nach wie vor sind die Probleme vorwiegend bei den unteren Schichten zu finden, Eltern die zu einem großen Anteil über mangelnde Bildung verfügen und in Berufen mit niedrigem sozialem Status beschäftigt sind oder über keine bezahlte Arbeit verfügen. Im Zeitalter der Globalisierung werden die Probleme nicht kleiner und die Zahl jener, die mit ihnen zu kämpfen haben, steigt.

Es gibt eine Gegenwart, in der wieder heimlich geschlagen und misshandelt wird an Orten, wo Ausgegrenzte aus dem Blickfeld verschwinden – in Alters- und Pflegeheimen, Institutionen für behinderte Mitbürger, Sportorganisationen für Menschen mit geistiger Behinderung.

DIE 50er-JAHRE IN DEN KINDERHEIMEN

Viele Kinder und Jugendliche mussten ihre gestohlene Kindheit in Heimen verbringen. Sie waren ihren Peinigern und dem System chancenlos ausgeliefert. Drill und Maßnahmen beherrschten ihren Alltag, ihre Jugend, ein von Grausamkeit dominiertes Kinderleben.

Sie wurden als Asoziale, als Untermenschen bezeichnet, weggesperrt vom Leben und mit menschenunwürdigen Methoden jahrelang gepeinigt.

Zum Alltag gehörten in vielen Kinderheimen Erniedrigung, Prügel und Missbrauch. Hinter wem sich die Pforten geschlossen hatten, der hatte keine Menschenwürde mehr und keinerlei Freiheit. Es war ein System struktureller Gewalt, das auf Unterdrückung und Demütigung fußte. Ziel war die »Ausrichtung auf ein geordnetes, arbeitshartes Leben«. Widerstand wurde mit Gewalt gebrochen.

Draußen, vor der Pforte, tobte das Wirtschaftswunder. Viele Väter waren im Krieg geblieben, manch eine Frau bekam ein uneheliches Kind, das hatte gravierende Folgen.

Die UNO-Kinderrechtskonvention und andere internationale Abkommen lehnen alle Formen der körperlichen Gewalt Kindern gegenüber entschieden ab. Die festgelegten Mindeststandards haben zum Ziel, die Würde, das Überleben und die Entwicklung aller Kinder auf der Welt sicherzustellen. Die Verwirklichung von Kindesrechten zählt zu den universellen Menschenrechten.

In die Heime kamen selten Waisenkinder oder Kriminelle. Die Gründe für die Einweisung in Erziehungsanstalten bestimmte ein gesellschaftliches Kartell. Jugendbehörden, Lehrer, Nachbarn, Eltern und vor allem die damals noch einflussreichen Kirchen gehörten dazu.Auch legten sie fest, was gut und böse, brav oder ungezogen war.

»Wenn du nicht brav bist, landest du in einem Heim!« Diese Drohung mussten sich viele junge Menschen anhören. Besonders betroffen waren die Kinder alleinerziehender Mütter und generell alle unehelichen Kinder. Deren Mütter standen den Jugendämtern meist hilflos gegenüber. In vielen Fällen waren die Kinder einfach nur noch lästig, selbst bei geringfügigen Erziehungsproblemen. Diese Kinder und Jugendlichen kamen in staatliche und kirchliche Kinderheime, sogenannte Erziehungsanstalten. Sie wurden zu den Verlierern der Nachkriegszeit und erlebten in den Kinderheimen die dunklen Fünfzigerjahre.

Die billige Entsorgung der »Störenfriede«, die damals bestens funktionierte, kommt die Gesellschaft noch heute teuer zu stehen. Bekannt ist mittlerweile, dass anstatt in den Heimen die sozialen Problemen zu lösen, viele zusätzliche produziert wurden. Bekannt ist auch, dass es den katholischen Institutionen schwerfällt, sich mit den eigenen Verfehlungen zu befassen. Doch die Kirchen und die Orden haben durch ihr Verhalten an Einfluss und Bedeutung verloren.

Es drängt sich die Frage auf: Wer hatte damals welche Verantwortung? Die Kirche und die Ordensgemeinschaften führten diese Heime, doch die katholische Kirche spielte die Vorfälle herunter. Es handele sich um »bedauerliche Einzelfälle«, hieß es.

Bekannt ist mittlerweile, dass Opfer in der Regel erst drei, vier oder fünf Jahrzehnte nach der Traumatisierung in der Lage sind, darüber zu reden. Sie haben diese Zeit tief in ihrem Inneren weggeschlossen, um überhaupt weiterleben zu können.

Dies vorliegende Buch ist ein Buch über Menschenrechtsverletzungen. Wer bisher geglaubt hat, dass nur zu Kriegszeiten Menschen gequält, gedemütigt und misshandelt wurden, der muss mit diesem Buch feststellen, dass dem nicht so ist.

Dutz, der Junge, um den es hauptsächlich in diesem Buch geht, hat ein Anrecht auf die Wiedergutmachung des über Jahre erlittenen Unrechts. Seine Geschichte soll endlich erzählt und gehört werden. Er erlebte länger als 10 lange Jahre einen christlichen Albtraum ohne Ausweg: im Heim missbraucht – seelisch, körperlich und auch sexuell. Er kam in ein Kinderheim, das sich in der Hauptstadt Luxemburg befand. Seine Mutter schob ihn ab, er war damals noch kein Jahr alt.

Auch die erschütternden Geschichten von Jan, Pitti, Fanni und von anderen Kindern und Jugendlichen, die in diesem Kinderheim waren, werden hier erzählt.

Bedauernswert ist es, dass die Gesetzgebung und Rechtsprechung es schwer macht, die Namen der Täter zu nennen. Alles, was in diesem Buche steht, entspricht der Wahrheit. Vieles wurde gar nicht erwähnt, weil das Buch sonst zu umfangreich geworden wäre.

KINDHEIT

Ein Wunschkind war Dutz eher nicht. Er war wohl eher ein »Verkehrsunfall«, und Verkehrsunfälle sind bekanntlich nie geplant. Seine Mutter entschloss sich, ihn abzugeben, er war damals noch sehr klein.

Seinen Vater hatte er nie gesehen, ein Bild von ihm gab es nicht. In Gedanken stellte er sich ihn sehr groß und stark vor, denn für ihn kam nur ein Vater infrage, der dieser Vorstellung entsprach.

Er kann sich daran erinnern, nur mit seiner Mutter und seinem Bruder in einem kleinen Vorort der Großstadt Luxemburg in einem Haus gewohnt zu haben.

Erst sehr spät erfuhr Dutz, wer sein Erzeuger war. Es kamen aber mehrere Männer infrage. Reingefallen war seine Mutter auf diesen Kerl, der sein Vater sein sollte, und er hätte überhaupt zu nichts getaugt. Hubert soll sein Vater mit Namen heißen, hatte seine Mutter ihm gesagt, und wohne jetzt in einem anderen Ort mit einer anderen Frau. Er hatte nie den Wunsch gehegt, seinen jüngsten Sohn kennenzulernen. Dutz wusste nicht, wie und wo er nach seinem Vater suchen sollte. Es wäre doch immerhin an seinem Vater gewesen, Kontakt mit ihm aufzunehmen. An Verwandte konnte er sich gar nicht erinnern, auch nicht an Großeltern. Eine Großmutter müsste er doch auch haben, so wie jedes Kind, so dachte er damals, der kleine Dutz. Täglich hatte er nur Kontakt mit seiner Mutter und seinem »blöden« Bruder. Hätte er eine Großmutter gehabt, dann hätte sie den Kindern wenigstens mittags und auch abends Suppe gekocht, denn Großmütter kochen doch immer in allen Häusern für ihre Enkelkinder, sonst haben sie nichts zu tun.

Die Mutter hatte sich von seinem Vater getrennt kurz nach Dutz’ Geburt. Er habe immer nur Alkohol gekauft im Laden und es war nie Geld da gewesen, wenn die Mutter für die Familie Lebensmittel einkaufen wollte. Als der Vater noch zu Hause war, ließ er im Laden anschreiben, so führte es die Mutter nun weiter. Doch die Frau im Laden wollte endlich auch mal wieder Geld sehen.

Die beiden nicht schulpflichtigen Jungen waren den ganzen Tag sich selbst überlassen, während die Mutter Putzarbeiten nachging. Sie erledigte eine ganze Reihe Aushilfsjobs, abends nach Büroschluss putzte sie zusätzlich noch die Büroräume in einer Fabrik, um über die Runden zu kommen.

So kam es, dass die beiden Jungen, 4 und 5 Jahre alt, meistens bis spät in die Nacht allein waren. Sie trieben sich auf der Straße mit älteren Jungen rum, lärmten und stritten draußen mit den anderen, zündeten auf den Feldern die Heubotten an und rannten dann weg. Spielzeug, das sie selbst nicht bekamen, nahmen sie andern Kindern weg und versteckten es im Haus. Punkt 9 Uhr abends kam die Mutter um die Kurve in ihrer Straße, ein kleiner Aufpasser sagte dann immer Bescheid und sie rannten sie schnell ins Haus.

Auch wenn sie in der Nachbarschaft Putzarbeiten nachging, kam sie tagsüber nicht nach Hause, auch nicht in der Mittagsstunde, um ihren beiden Kindern eine warme Mahlzeit zuzubereiten. Einmal, als die Mutter wieder das Haus verlassen hatte, um ihrer Arbeit als Putzhilfe nachzugehen, machte sein Bruder auf dem Herd Milch warm. Dabei hatte er den heißen Topf auf einen hölzernen Stuhl gestellt. Es entstand ein runder Brandfleck. Jeder Vertuschungsversuch schlug fehl. Windelweich wurden die beiden von der Mutter geprügelt, obschon nur der Bruder schuld war.

Es gab überhaupt immer wieder Strafen und Hiebe, Schläge auf den Hintern. Sein Bruder verletzte sich immer bei waghalsigen Unternehmungen, spielte immer wieder mit Streichhölzern. Steckte dann die abgebrannten Streichhölzer in Dutz’ Tasche.

Ab jetzt sollte der immer allein bestraft werden. Hinterhältig schmiedete der Bruder immer wieder Intrigen gegen Dutz und dieser brachte es nicht fertig, sich zu wehren. Aus Trotz pinkelte Dutz in das Bett seines Bruders, da er wusste, dass die Mutter mit ihm nicht schimpfen würde. Doch das ließ sich sein Bruder nicht gefallen. Nun drohte die Mutter mit Erziehungsheim. Diese Drohungen sollten sehr schnell Wirklichkeit werden.

»Dutz ist ein schwieriges Kind«, sagte seine Mutter zum Kaplan Bock, der in der Gemeinde den Gottesdienst versah. Dutz war ein verängstigter Junge, seine Beine voller blauen Flecken durch die Schläge seines Bruders. Und es war sein Bruder, der ihn immer wieder bei seiner Mutter verpetzte, wenn er selbst mal wieder die Essensreserven im Keller vertilgt hatte. Einen gesunden Appetit hatte auch Dutz, doch es war sein Bruder, der alles aufaß, was ihm in die Hände fiel.

Die Mutter hatte ständig wechselnde Männerbekanntschaften und Dutz störte, wenn die Männer zu ihr nach Hause kamen und die Nacht dort verbrachten. Er sollte einfach weg, der älteste Sohn war ihr Liebling.

Da er nicht wusste, was das Wort »Erziehungsheim« bedeutete, erklärte es ihm sein Bruder mit den Worten: »Das ist ein Gefängnis für böse Jungen, so, wie du einer bist. Aus einem solchen Gefängnis wird es dir nicht gelingen, wieder nach Hause kommen. Dann habe ich endlich meine Ruhe.« Dutz heulte los und war nicht mehr zu beruhigen. Er ahnte in seinem kleinen Kopf, dass sowohl die Mutter als auch sein Bruder darauf hinarbeiteten, ihn loszuwerden. Doch er glaubte einfach nicht, dass es überhaupt so ein Haus gab, was dann ein Gefängnis für Kinder sein sollte.

Die Mutter erschien jeden Sonntag mit ihren Kindern in der Dorfkirche zur Sonntagsmesse. Sie beklagte sich seit einiger Zeit immer wieder bei Kaplan Bock über ihren jüngsten Sohn Dutz. Auch an diesem Sonntag sprach sie nach der Messe mit dem Kaplan. Sie standen beieinander vor der Kirche, tuschelten und blickten in die Richtung, wo Dutz stand. Dieser ahnte nichts Gutes, er musste abseits stehen und auf seine Mutter warten. Dass der Kaplan mit der Mutter einen Plan ausgeheckt hatte, weil sie sich angeblich überfordert fühlte, ahnte er nicht. Doch er dachte an das sogenannte »Gefängnis«, das sein Bruder angedeutet hatte.

Der Bischof hatte die geistliche und administrative Leitung der Erzdiözese der römisch-katholischen Kirche, die seit 1870 besteht und das gesamte Großherzogtum Luxemburg umfasst und direkt dem Heiligen Stuhl unterstellt ist. Der Pfarrer war mit der Leitung von Gottesdiensten, der seelsorglichen Betreuung und auch mit der Leitung dieser Kirchengemeinde beauftragt. Kaplan Bock war in dieser Gemeinde zuständig für alle Gottesdienste und den Religionsunterricht an den Primarklassen der Schule dieses Ortes.

Eines Tages teilte Kaplan Bock der Mutter mit, dass er in Absprache mit dem Bischof und dem Pfarrer der Gemeinde die Abmachung getroffen hätte, Dutz in einem Kinderheim unterzubringen. Nur tagsüber solle er dort sein. Dieses Haus würde sich nicht weit weg von seinem jetzigen Zuhause befinden. Die Mutter könnte ihn abends ganz bequem wieder abholen, dieses »missratene Kind«.

Eines Tages nahm die Mutter Dutz an die Hand und dann standen sie vor einem eisernen Portal eines enorm großen Gebäudes. Sie läutete. Eine Nonne öffnete, nahm Dutz an die Hand, die große Tür schloss sich hinter ihm und die Mutter war weg.

Sein Bruder blieb während dieser ganzen Zeit bei seiner Mutter zu Hause. Abends, wenn Dutz nach Hause kam, wurde er von seinem Bruder schadenfroh gehänselt: »Na, wie ist es in deinem Erziehungsheim? Machst du dort auch so viele Dummheiten wie zu Hause?«

Viel später schlussfolgerte Dutz, dass er vielleicht schon als ganz kleiner Junge tagsüber in diesem Heim gewesen war. Kürzlich wurde ihm ein Bild gezeigt, auf dem er als kleiner Junge (ungefähr 3 Jahre alt) in einer Heimtracht zu sehen war. Demnach hatte er schon sehr früh das Leben hinter diesen hohen grauen Mauern kennengelernt. Damals sollte seine Mutter ihn auch abends abholen und dann nach Hause mitnehmen. Das hatte anscheinend auch eine Zeitlang funktioniert. Aber dann respektierte die Mutter das mit den Ordensschwestern eingegangene Arrangement einfach nicht mehr. Nach einigen Wochen wurde er nicht mehr regelmäßig abends von ihr abgeholt und so blieb er immer öfter über Nacht im Heim und sah seine Mutter und seinen Bruder nur an manchen Wochenenden und an Feiertagen.

Die Nonnen sprachen seine Mutter darauf an.

»Er weint immer so viel und hat beständig Heimweh«, sagte eine Ordensschwester zu der Mutter.

»Immer nur draufhauen«. Das waren die Worte seiner Mutter gewesen. Nur Prügel würden ihm das Heimweh austreiben. Er sehnte sich nach wie vor nach seiner Mutter, zu der er nicht »Mutter« sagen durfte.

Erinnern konnte er sich auch nicht, dass er von seiner Mutter einmal liebkost worden wäre. Einen Gutenachtkuss hatte es nie gegeben. Eigentlich fühlte er sich bei ihr immer fremd. An Weihnachten, an einen Weihnachtsbaum mit Kerzen und Geschenken konnte er sich nicht erinnern. Seine Mutter wollte eigentlich nie, dass er sie mit »Mama« anredete. Wie hätte er sie dann anreden sollen oder müssen? So war er oft ganz still und sagte zu seiner Mutter überhaupt nichts mehr.

ALBTRAUM SCHULE

An diesen ersten Schultag nach den Sommerferien erinnerte er sich ganz genau. Seit sechs Wochen war er jetzt schon im Heim und hatte seine Mutter seither nicht mehr gesehen. In aller Herrgottsfrüh mussten die Kinder aufstehen, die schulpflichtig waren. Die Glocke schrillte im Schlafsaal Punkt halb sechs. Schwester Elisabeth, die mit den Kindern im selben Raum übernachtete, warf die Decken von den Betten der Kinder und schrie: »Aufstehen und anziehen!« Dutz kroch aus seinem Bett und zog die Kleider an, die man ihm für diesen ersten Tag überreicht hatte. Eine Heimkleidung hatte er noch nicht bekommen. Sie stellten sich in einer Reihe auf, dann ging es noch vor dem Frühstück eine Treppe runter und zur Kapelle zur Morgenmesse. Im Esssaal gab es dann diesen pappigen Brei, den Dutz so hasste. Zu Fuß machte er sich mit Pitti, Jan und Fanni auf den Schulweg. Das eiserne Tor wurde für die Schüler aufgesperrt und sie gingen die gepflasterte, kurvenreiche Straße hinunter, zehn Minuten Fußmarsch, und kamen zwanzig Minuten vor acht bei der Schule an.

Vor dem Hauptgebäude befand sich ein großer Platz, der Schulhof war mit Bänken und daneben stehenden Papierkörben ausgestattet. Auf den Wegen zum Schulgebäude hin hatten sich Pfützen gebildet wegen des seit Tagen andauernden Regens. Es dauerte keine zwei Minuten und schon landete Pitti bäuchlings in der Pfütze. »Welch ein Glück«, dachte Dutz, »dass ich das nicht war.«

An diesem ersten Schultag standen alle Schüler im Schulhof und warteten auf die Lehrerinnen und Lehrer. Vor allem aber warteten alle auf die Schulglocke, die den Beginn des Schulunterrichts einläutete.

Es machte den Kindern aus dem Heim Spaß so viele Kinder im Schulhof zu sehen – alle kamen in diese Schule. Viele waren in Begleitung ihrer Eltern, und alle diese Eltern trugen die neuen Schulranzen ihrer Erstklässler. Dutz und die anderen Heimkinder hatten keinen Schulranzen. Sie standen im Schulhof mit den »normalen« Schulkindern aus dem Dorf, diese in modischen passenden Kleidern. Sie schämten sich ihrer ärmlichen Kleidung. Am ersten Schultag hatten sich alle viel zu erzählen, von den Sommerferien, davon, was sie so alles erlebt hatten und was das neue Schuljahr bringen würde. Darauf waren sie sehr gespannt.

Dutz hörte den Kindern zu, alle waren sie froh, lachten. Er beneidete sie alle. Es waren viele da mit ihren Müttern, da die Väter an ihrem Arbeitsplatz waren. Am ersten Schultag sehnte er sich ganz besonders nach seiner Mutter, er hätte sie so gerne dabei gehabt.

»Wir haben eine Segeltour in Südfrankreich gemacht, alles in allem drei Wochen Sommerurlaub, alles so fantastisch, und die französische Küche ist so was Feines.« Dutz stand verlegen daneben, als Lisa fragte:

»Und du, wo hast du denn die Ferien verbracht?«

Lisa stand bei ihren Eltern. Sie schienen alle auf eine Antwort zu warten und schauten Dutz dabei erwartungsvoll an.

Nun wurde er sehr verlegen, sagte nach kurzer Überlegung:

»Weißt du, wir können immer nur für eine Woche wegfahren, weil Papa nicht so lange Urlaub machen kann. In Holland waren wir mit unserem neuen Auto.«

Lisa zeigte sich interessiert und fragte prompt: »Wer ist denn wir?« und wollte mehr wissen über diesen Urlaub mit dem neuen Auto. Dutz sagte stotternd: »Mein Vater, meine Mutter und mein Bruder, meine Familie halt!«

»Wo sind denn heute deine Eltern abgeblieben? Und dein Bruder, geht der in eine andere Schule?«

Elend fühlte er sich, seine eigene Antwort stimmte ihn traurig und er sagte sich: »Wenn Lisa wüsste, dass ich hinter diesen hohen grauen Mauern wohne, nicht so weit weg von der Schule, dann würde sie bestimmt nicht mehr mit ihm reden.« Dass er überhaupt nicht wusste, wo seine Familie war, konnte er ihr nicht sagen. Ohne Antwort zu geben, drehte er sich um und ging zu »seiner« kleinen Gruppe, den Heimkindern.

Die Kinder aus dem Kinderheim kannten den Begriff »Familie« überhaupt nicht. Sie hatten nicht das Glück wie Lisa und die anderen Kinder ein Zuhause zu haben. Sie wohnten doch bestimmt in einem schönen Haus mit Garten. Vielleicht hatten sie auch einen Hund oder ein Aquarium mit Goldfischen zu Hause und, das Wichtigste überhaupt, sie konnten sich jeden Tag satt essen und schliefen in einem warmen Bett.

Sechs Primarklassen waren in diesem Schulgebäude untergebracht und der Schulhof war erfüllt von den lärmenden Kindern, man verstand sein eigenes Wort nicht. Dass der erste Schultag der beste Tag vom ganzen Schuljahr sei, meinte eine Schülerin.

Ob sein Bruder auch zur Schule ginge? Und in welche Schule? Es war ihm eigentlich egal, sein Bruder war doch schuld daran, dass er in diesem Haus, in diesem Heim, in diesem Gefängnis gelandet war. Er wusste nicht mehr, wie sein Bruder aussah, er würde ihn vielleicht nicht mehr wiedererkennen. Doch seine Mutter würde er gleich wiedererkennen. Ihr Bild hatte er ständig vor Augen, obschon es nun schon eine Weile her war, dass er sie gesehen hatte. Und seiner Mutter wollte er keine Schuld zuweisen.

Kurz vor acht verstummte der Lärm, ein Raunen ging durch die Reihen. Da war der Schuldirektor, er stand im Schulhof. Die Kinder stellten sich in Zweierreihen auf. Dutz stellte sich neben seinen Freund Jan, den er im Heim kennengelernt hatte. Dieser blickte plötzlich betroffen drein. Auf Dutz’ Frage, was denn nicht in Ordnung sei, antwortete Jan:

»Unsere Klassenlehrerin ist weg. Dieses Jahr haben wir einen Lehrer, Herr Brück.«

»Woher weißt du denn das schon am ersten Schultag?«

»Ein Mitschüler, wir saßen in derselben Schulbank letztes Jahr, hat es mir gerade gesagt.«

Da es das 1. Schuljahr für Dutz war, war es ihm eigentlich egal. Er hatte diese Klassenlehrerin nicht kennengelernt. Aber Jan schon und er hatte sie gemocht, er würde im 2. Schuljahr sein und war nun gespannt, wer jetzt sein Schullehrer sein würde.

Der Schuldirektor ergriff das Wort und teilte mit, was viele schon wussten, dass die Mädchen jeweils einer Lehrerin zugeteilt werden und die Jungen einem Lehrer. Er erhoffe sich durch diese Entscheidung mehr Disziplin und besseres Lernen in der Schule. Die Freude der Jungen war groß, als sie erfuhren, dass die Mädchen nicht mehr in ihrer Klasse waren. Der Schuldirektor rief dann die Namen der Schulkinder auf, die ihrem zugeteilten Lehrer oder ihrer Lehrerin in die Schulklasse folgten. Nur Lehrer Brück fehlte noch. Dutz, Pitti und Jan waren zufrieden, sie würden in einem Klassenraum zusammensitzen, sie hatten ihren Namen gehört und das 1. und 2. Schuljahr sollten sie zusammensitzen in einem Schulraum.

Punkt acht Uhr schrillte die Schulglocke und Herr Brück betrat das Gebäude. Ohne Gruß, mit starrem Blick ging er an seinen Schülern vorbei, sie folgten ihm. Große Statur, abstehende Ohren, kurzsichtig, das konnte man sehen an seiner Brille mit den dicken Gläsern. Das sollte für dieses ganze Schuljahr ihr Lehrer sein. Mürrisch knallte er seine abgegriffene Ledertasche auf das Pult, nahm die Bücher heraus und legte sie ganz ordentlich vor sich auf das Holzpult. Am ersten Schultag trug er einen grauen verknitterten Anzug, dazu eine rotgestreiften Krawatte und schwarze altmodische Schuhe, die er bestimmt jeden Tag mit Schuhwichse eincremte und polierte.

»Hoffentlich kriegen wir noch vor Ende des Schuljahres einen anderen Anzug zu sehen, ich habe gehört, Herr Brück hat nur zwei Anzüge, außer diesem alten, noch einen grünen«, sagte Pitti ganz leise zu seinem Nachbarn. »Es wird Zeit, dass er sich eine Frau sucht, die ihm neue Anzüge kauft oder seine alten aufbügelt. Vielleicht wäre er dann nicht mehr jeden Tag so schlecht gelaunt, wenn eine Frau für ihn kochen würde.«

»Woher weißt du denn das mit seinen Anzügen und dass er keine Frau hat?«

»Ich weiß das halt und ich denke, dass er keine Frau hat, und gerade weil er so daherkommt, Kleidung, Krawatte schief, alles. Ich sage, er hat ganz einfach keine Frau. Außerdem lacht er nie.«

»Wenn er eine Frau zu Hause hätte, dann hätte er bestimmt keinen Grund zum Lachen.« Es war lange her, dass die beiden Jungen so gelacht hatten.

»Und wir haben eigentlich gar nichts zu lachen. Doch ein Lehrer hat doch keine Ursache, stets so schlecht gelaunt zur Schule zu kommen. Er darf seine Schüler den ganzen Tag schikanieren und braucht dafür noch nicht mal irgendjemanden um Erlaubnis zu fragen. Mit diesem Freifahrtschein muss ihm doch die Schule Spaß machen. Schau doch mal zu den anderen Lehrern und Lehrerinnen hin, die lächeln alle, wenigstens heute am ersten Schultag.«

Sie verstummten, Lehrer Brück verteilte die Plätze im Schulsaal. Dutz sollte in der ersten Reihe sitzen, ganz nahe am Pult des Lehrers, neben ihn setzte sich Pitti in seiner schmutzigen, nassen Hose. Rechts saß Jan bei seinen Schulkollegen der 2. Klasse.

»Wir zwei ›Kleinen‹ in der ersten Reihe und die ›Bohnenstangen‹, die sitzen in der letzten Schulbank, welch ein Glück. Da möchte ich auch sitzen.« Das war die Überlegung von Dutz. »Dann könnte ich tun und lassen, was ich will, dank der Kurzsichtigkeit des Lehrers.«

Die Schüler stellten ihren Schulranzen bei der zugewiesenen Schulbank ab, ein integriertes Tintenfass oben rechts und ein Griffelfach für die Stifte und Füllfeder. Dutz begriff erst, wozu so ein Fach da war, als er beobachtete, wie die Schulkinder Lineal und Bleistifte ablegten. Die Kinder aus dem Heim hatten keinen Schulranzen dabei, eigentlich überhaupt keine Schulsachen.

Im Schulsaal über der Eingangstür hing ein großes schwarzes Kruzifix. Als Dutz entsetzt darauf schaute, meinte Pitti:

»Schau nicht dahin. Ist doch nur ein Kreuz. In jeder Klasse hängt so ein Kreuz, bestimmt. Klasse. Auch im Heim hängen solche Dinger. Gehört sicher zum Mobiliar.«

Auf seine Frage, warum da ein Mann am Kreuz hängt und wer denn das überhaupt sei, antwortete Pitti:

»Der ist am Kreuz gestorben wegen unserer Sünden.«

»Was sind denn Sünden?«, wollte Dutz wissen.

»Weiß nicht, halt Sünden, die bösen Sachen, die man gemacht hat in seinem Leben«, lautete die Antwort.

Pitti konnte gerade noch flüstern: »Wegen mir hängt der bestimmt nicht am Kreuz.« Da sie beide jetzt leise lachten, stellte sich Lehrer Brück vor ihre Schulbank: »Was gibt es hier zu lachen? Wenn ihr beide nicht den Mund haltet, werdet ihr schon am ersten Schultag eine Strafe bekommen.«

ERNIEDRIGUNG

Ein Schüler verteilte die Hefte und Bücher, die allen Schulkindern kostenlos von der Schulbehörde zur Verfügung gestellt wurden. Was sie zum Schreiben selbst benötigten, wie Bleistifte, Lineal, Gummi, mussten sie selbst kaufen. Die Heimkinder waren ohne dieses Schreibmaterial, da niemand ihnen das Nötigste für die Schule besorgte. Ihre Eltern kümmerten sich nicht mehr um sie und über Geld verfügten sie nicht. Alle sollten sich noch ein Aufgabenheftchen im Schreibwarengeschäft kaufen, die zu erledigenden Aufgaben würden immer in dieses Heftchen geschrieben werden.

Die Heimkinder bekamen jetzt vom Lehrer eine große Plastiktüte, in der sie die Bücher und Hefte packten, um sie am nächsten Tag wieder mitzubringen. Dutz schämte sich, mit einer Plastiktüte rumzulaufen, doch er hatte so wie die anderen Heimkinder keinen Schulranzen dabei.

Nach ihrer Rückkehr ins Heim gingen sie mit der Bitte um Schulmaterial und einen Schulranzen zur Oberin: »Das Geld ist nur weggeworfenes Geld für euch Lumpenpack.« Die Enttäuschung war groß bei den vier Heimkindern. »Das war also mein erster Schultag«, sagte sich Dutz. Kein schöner Tag.

Sie waren 26 Jungen in ihrer Klasse, die erste und die zweite Schulklasse. Jeweils zwei in den alten wackeligen Schulbänken. Der düstere Schulsaal hätte unbedingt neu gestrichen werden müssen, die hohen Fenstern reichten bis zum Boden.

Am zweiten Schultag teilte Lehrer Brück den Schülern noch zusätzlich Bleistifte, Radiergummis, Lineale aus. Er teilte die Sachen an die Schüler aus, die all dies schon hatten. Auf dieser Bank lagen doch schon so schöne Radiergummis und Farbstifte, stellte Dutz fest, als er sich umdrehte. Warum sollten diese Schüler denn nochmals alles bekommen? Als der Lehrer vor Dutz stand, fing er an zu schreien:

»Ob ich dir jetzt einen Bleistift geben soll, werde ich mir noch überlegen. Ist ja sowieso umsonst. Du begreifst ja nichts. Und wirst nie irgendwas begreifen vom Unterricht.«

Nun näherte sich ihm der Lehrer weiter: »Öffne deine Hand. Ich werde dir ein Lineal geben.« Dutz öffnete hocherfreut seine rechte Hand, mit der linken versuchte er das Loch in seinem Hemd zu verstecken. Der Lehrer nahm seine Hand und setzte an und schlug mit voller Kraft mit dem dicken meterlangen Lineal auf seine Hand. Als Dutz die Hand zurückzog, wurde der Lehrer so wütend, dass er ihn kurzerhand beim Kragen nahm, so dass ihm dabei sein Hemdkragen zerriss. Er zog ihn über die Bankkante und hielt ihm dann die Füße unter der Bank fest. Dann zog er ihm die Hose herunter, um ihm anschließend das nackte Hinterteil blau zu hauen. Da Dutz es sich verkniff zu weinen, legte er nochmal dazu.

Er setzte sich beschämt an seinen Platz zurück. Was hatte er eigentlich verkehrt gemacht? Dem Lehrer war sogar seine schwarze Hornbrille von der Nase gefallen. So heftig hatte er sich ins Zeug gelegt.

Nach diesen Worten drehte er sich um und ging zur nächsten Schulbank mit Heimkindern und teilte weiter aus. Dutz und Pitti waren leer ausgegangen.

Beide waren dem Gespött der Kinder ausgesetzt, weil sie in altmodischer, grauer Heimkleidung zur Schule kamen. Ihre abgetragenen Schuhe konnte auch kein Schuster mehr reparieren. Sie konnten weder ihre Hausaufgaben schreiben, noch in ihr Schönschreibeheft schreiben. Sie hatten keinen Bleistift. Die beiden wurden umgehend bestraft, da sie miteinander diskutierten und sich aufregten. Weil sie im Heim nicht miteinander reden durften, redeten die beiden in der Schulbank miteinander.

»Ihr beide stellt euch für eure Frechheiten jetzt eine Stunde lang mit dem Gesicht zur Wand in die Ecke!« Eine Strafe zu schreiben, wäre Dutz willkommener gewesen, da er noch immer keinen Bleistift bekommen hatte.

Als sie sich nach einer Stunde wieder in ihre Schulbank setzen durften, ertönte das laute höhnische Gelächter der Mitschüler. Nun rief der Lehrer Dutz vor die Schultafel. Er sollte vor den anderen Schülern das Einmaleins aufsagen. Als er anfing zu stottern, folgte lautes Gebrüll.

»Ich sag es doch, du wirst es nie begreifen. Setz dich und halt den Mund.«

Als dann der brave Poli im karierten Hemd und Lederhose vor der Klasse das Einmaleins aufsagte, und noch dazu fehlerfrei, war Dutz den Tränen nahe.

»Nun schreibt das Alphabet in das Schreibheft, bitte in Schönschrift.« Dann ging der Lehrer zur rechten Seite der Klasse, wo das 2. Schuljahr in den Bänken saß.

Dutz musste noch 3 Tage auf Bleistifte und Gummi warten und hatte während dieser Zeit nicht mitschreiben können. Beim Unterricht zuhören, das durfte er, das war aber auch alles. Jedes Mal wenn die Schreibstunde anstand, band Lehrer Bock Pitti die linke Hand am Rücken fest, um ihn so zu zwingen, mit der rechten Hand zu schreiben. Pitti war Linkshänder. Was er dann mit der rechten Hand schrieb, war unleserlich. Für den Lehrer ein Grund mehr, mit ihm zu schimpfen. Dutz hatte bis jetzt nicht gewusst, dass man überhaupt mit der linken Hand schreiben konnte, und er war erleichtert, Rechtshänder zu sein.

Erklärungen gab es vom Lehrer nur ein einziges Mal. Wer nicht zugehört hatte, hatte eben Pech gehabt. Wenn es überhaupt eine Wiederholung gab, dann nur für die Jungen, die er bevorzugte, die sogenannten Musterschüler. Er flüsterte diesen Schülern die korrekte Antwort ins Ohr.

Dutz war schon länger mit Jan befreundet, er war sein Kumpel. Als er das Wort »Waisenkind« zum ersten Mal gehört hatte, wusste er nicht, was dieses Wort bedeutete. Es dauerte lange, bis er begriffen hatte, was die Wörter »Waisenhaus« und »Waisenkinder« eigentlich bedeuteten. Jan hatte es ihm so erklärt: »Waisen haben keine Eltern mehr. Irgendwann sind die gestorben. Es gibt auch welche, die haben entweder noch die Mutter oder den Vater, dann sind sie Halbwaisen.« Jan konnte ihm diese Wörter erklären. Doch eins wussten alle beide: Sie waren keine Waisenkinder, sein Freund Jan und er. Sie hatten doch Eltern, doch diese kümmerten sich nicht um sie, wollten sie aus Gründen, die ihre Kinder nicht kannten, nicht mehr sehen. Sie hatten ihre Kinder einfach abgegeben, dem Heim überlassen. Verlassen und vergessen von den Eltern zu sein, war für die beiden Jungen schlimmer, als keine Eltern zu haben. Das war immer Grund für sie zu weinen.

Sein Freund Jan hatte ihm erzählt, dass seine Mutter »am Hauptbahnhof anschaffte«, um das Leben für sich und ihre Kinder zu bestreiten. Zuerst musste er Dutz erklären, was dieses Wort bedeutete. Dieser erklärte ihm, dass »auf den Strich gehen« dasselbe bedeutete wie »anschaffen«. Da er beide Ausdrücke nicht kannte, brauchte er Aufklärung:

»Warum ging denn deine Mutter zum Bahnhof mit anderen Männern?«

»Weil sie Geld brauchte«, war seine Antwort.

»Die fremden Männer gaben deiner Mutter Geld, aber für was gaben sie ihr das Geld? Hattet ihr zu Hause auch keinen Vater, so wie ich und mein Bruder?«

»Meine Mutter war alleine mit meiner Schwester. Dann bekam sie noch ein Baby, und noch eins, das letzte Baby war ich. So waren wir zu viert, zwei Mädchen und zwei Buben. Doch meinen Vater habe ich noch nie gesehen. Solange ich mich erinnern kann, ging meine Mutter anschaffen. Wenn sie Männer mit nach Hause brachte, durften wir Kinder immer im Park bleiben bis abends spät. Hatte sie genügend Geld von den Männern bekommen, schickte meine Mutter uns am nächsten Tag in den Lebensmittelladen, zum Metzger und zur Bäckerei an der Ecke und wir bekamen gutes Essen zu Hause. Meine Schwester hat dann für uns Kinder gekocht, und es gab Schokoladenpudding die ganze Woche.«

Nun wusste Dutz, was »anschaffen« bedeutete. Als er vorhin mit Lisa über die langen Schulferien geredet hatte, hatte Jan zugehört und nichts gesagt. Sie beide würden sich schon glücklich schätzen, wenn sie überhaupt eine Familie hätten. Was Ferien waren, hatten sie noch nie erfahren und würden es wohl nie erfahren. Und in den letzten Schulferien mussten sie alle im Heim besonders schwer schuften.

In der Schule waren sie seit fast einem Monat dem Gespött der Mitschüler ausgesetzt wegen ihrer Kleidung. Die Heimkinder trugen die grauen Kleider, die viel zu groß waren für ihre kindlichen Körper. Sie hatten die Hosen mit einem verschlissenen Gürtel fest in der Taille zugezogen und trugen abgenutzte, schäbige Sandalen, und das zu dieser Jahreszeit. In den Gürtel hatten sie sich mit Nägeln Löcher gebohrt. Es war mittlerweile Herbst und keiner von ihnen hatte eine Jacke oder einen Mantel dabei, um sich vor der Kälte und Nässe zu schützen.

Mit solchen Kleidern wollte Dutz nicht mehr in die Schule gehen. Morgens blieb er einfach im Bett liegen, so lange, bis ihn eine Ordensschwester aus dem Bett prügelte. Er wollte doch wenigstens einen Tag Schule schwänzen, so wie es auch andere Schüler machten, die mit einer von den Eltern geschriebenen Entschuldigung in der Schule ankamen. Aus Angst, noch weitere Prügel zu beziehen, begab er sich dann doch wieder zur Schule.

Nun fing er an Pausenbrote aus den Schulranzen seiner Mitschüler zu stehlen, er hatte einfach Hunger. Im Heim hatte er heute nur die klumpige Pappe in einem Gefäß gehabt, die er runterwürgen musste. Der Lehrer versetzte ihm mit seinem Eisenlineal feste Schläge. Da es sowieso immer Prügel gab, so hatte er wenigstens ein Pausenbrot gegessen, und zwar eins mit Schinken. Er wusste überhaupt nicht, wie Schinken schmeckte, da er noch nie Schinken gegessen hatte. Der bestohlene Schüler sagte es ihm: »Das war mein Schinkenbrot, du Blöder.«

»So«, sagte er sich, »das war also Schinken. Nicht schlecht, hat mir geschmeckt.«

Punkt neun Uhr fuhr der Lieferwagen einer Molkerei beim Hauptgebäude vor und wurde in den Schulhof geleitet. Die Klingel ertönte zur kleinen Pause und die Kinder stürmten nach draußen. Jedes Kind, außer den Heimkindern, durfte sich eine kleine Glasflasche Frischmilch, einen halben Liter, aus einer Holzkiste nehmen, immer unter der Aufsicht des Lehrers. Unter seiner Aufsicht wurden nach dem Milchtrinken die leeren Glasflaschen in der Holzkiste nach draußen in den Lieferwagen befördert, damit nur kein Heimkind auf die Idee kam, doch noch einen Schluck Milch abzubekommen. Die Heimkinder mussten täglich dabei zusehen, wie die anderen Schüler ihren halben Liter Frischmilch bekamen, denn sie hatten noch immer nicht ihr »Milchgeld« beim Lehrer abgegeben. Obschon einige Kinder aus dem Dorf kein Geld dabeihatten für ihre Milch, bekamen sie trotzdem Milch. Jan traute sich und klagte bei einer Heimerzieherin, er habe solche Lust auf die Milch. Ein fester Schlag auf seinen Mund, und er traute sich nie mehr nachzufragen.

»Ihr braucht alle keine Milch. Bei uns gibt es das Essen umsonst.«

Doch sein Freund Jan brachte es fertig, als der Lehrer eine Stunde später in der Schule erschien und ein Schüler die Aufsicht übernahm, schnell eine Flasche Milch aus der Holzkiste an sich zu reißen und er trank sie auf der Stelle aus. Doch das gelang ihm nur ein einziges Mal. Jan bekam eine Strafe, aber die Hauptsache war für ihn, dass er die Milch getrunken hatte.

Für den Rest der Pause spielten die Mädchen im Schulhof mit Murmeln. Glücksmurmeln nannten sie die ganz dicken Glaskugeln. Sie tauschten auch Micky-Maus-Hefte untereinander. Dutz hatte noch nie Micky-Maus-Hefte gesehen. Schon das farbige Deckblatt fand er geheimnisvoll.