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Jodi Picoult

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Beschreibung

Die 14-jährige Trixi ist Daniels Augenstern. Er liebt seine Tochter mehr als sich selbst. Der freiberufliche Comiczeichner schafft für Trixi eine Welt voller Heldengeschichten, während seine Frau Laura an der Universität Karriere macht. Wie brüchig aber das Glück der Familie ist, wird ihm nur allzu bald klar: Trixi kommt eines Abends vollkommen aufgelöst nach Hause. Die unschuldige Liebe ihres Freundes Jason hat sich in rohe Gewalt verwandelt. Wenig später stirbt der Junge unter mysteriösen Umständen, Trixi flieht vor den Konsequenzen der Ereignisse nach Alaska. An einen Ort, der ihrem Vater sehr vertraut ist. Endlich muss er sich seiner  Vergangenheit stellen und macht seiner Frau ein erschütterndes Geständnis …

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Für Nick und Alex Adolph(und ihre Eltern Jon und Sarah),weil ich ihnen versprochen habe,dass ich es eines Tages tun würde.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus TimmermannMit Illustrationen von Dustin Weaver

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2011

ISBN 978-3-492-95262-0

© Jodi Picoult 2006

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel»The Tenth Circle« bei Atria Books, New York.

© der deutschsprachigen Ausgabe:Piper Verlag GmbH, München 2011All rights reserved, including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition is published by arrangement with the original publisher, Atria Books, an imprint of Simon & Schuster, Inc., New York.

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, MünchenUmschlagmotiv: Ashley Franklin, Trevillion Images

Datenkonvertierung E-Book: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Im Anbeginn der Zeiten,

als Menschen und Tiere auf Erden lebten,

konnte ein Mensch, so er wollte, ein Tierwesen werden

und ein Tier ein Menschenwesen.

Manchmal waren sie Menschen

und manchmal Tiere,

und dazwischen gab es keinen Unterschied.

Alle sprachen dieselbe Sprache.

Zu jener Zeit waren Worte noch Magie.

Der menschliche Geist besaß geheimnisvolle Kräfte.

Ein zufällig gesprochenes Wort

konnte Seltsames bewirken.

So wurde es unversehens lebendig,

und was die Menschen sich wünschten, konnte

geschehen –

sie mussten es nur aussprechen.

Niemand hatte dafür eine Erklärung:

Es war einfach so.

Edward Field, Magic Words

PROLOG

23. Dezember 2005

Wenn du merkst, dass deine Tochter verschwunden ist, breitet sich eine Eiseskälte in deiner Magengrube aus, deine Beine tragen dich nicht mehr. Dein Herz ist nur ein einziges tiefes Dröhnen. Ihr Name, scharfkantig wie Metallspäne, verfängt sich zwischen deinen Zähnen, noch während du versuchst, ihn mit einem Schrei hinauszupressen. Die Angst haucht dir mit der Stimme eines Ungeheuers ins Ohr: Wo hast du sie zuletzt gesehen? Ist sie weggelaufen? Wurde sie entführt? Und dann, zum Schluss, schnürt sich dir die Kehle zu, wenn du begreifst, dass du einen Fehler gemacht hast, den du niemals wiedergutmachen kannst.

Daniel Stone war das zum ersten Mal vor zehn Jahren passiert, während eines Besuchs in Boston. Seine Frau nahm an einem Kolloquium in Harvard teil, und sie nutzten die Gelegenheit für einen kleinen Familienurlaub. Während Laura in ihrer Arbeitsgruppe saß, schob Daniel Trixies Buggy über das Kopfsteinpflaster des Freedom Trail. Sie fütterten die Enten im Park, und als Trixie selbst auch Hunger bekam, steuerte Daniel einen Imbiss an der Faneuil Hall an. Er war einige Augenblicke unaufmerksam gewesen, hatte versucht, den Cheeseburger und sein Portemonnaie mit einer Hand zu halten. Als er wieder einen Blick in den Buggy warf, war sie weg.

Bis heute kann Daniel sich nicht an alles erinnern. Wie lange hatte es zum Beispiel gedauert, bis das Polizeiaufgebot an der Faneuil Hall eintraf und mit der Suche nach einer Vierjährigen mit blauen Augen und rotblonden Haaren begann? Woran er sich noch gut erinnerte, waren die anderen Mütter, die ihre Kinder enger an sich zogen, als wäre sein Unglück ansteckend. Und an die Fragen, mit denen ihn der Detective bombardierte: Wie groß ist Trixie? Wie viel wiegt sie? Was hat sie an? Haben Sie ihr je erklärt, sie soll nicht mit fremden Leuten mitgehen? Die letzte Frage konnte Daniel nicht beantworten. Hatte er mit ihr darüber gesprochen oder es bloß vorgehabt? Wusste Trixie, dass sie schreien und weglaufen sollte? Wäre sie laut genug, schnell genug?

Die Polizisten sagten ihm, er solle sich hinsetzen, damit sie wüssten, wo sie ihn notfalls finden könnten. Daniel nickte, sprang aber gleich wieder auf, sobald sie ihm den Rücken zukehrten. Er sah in jeder Imbissbude nach. Er schaute unter sämtliche Tische. Er stürmte in die Damentoilette und rief Trixies Namen. Er spähte unter die Rü­schenbehänge der Verkaufswagen für Modeschmuck, Socken mit Elchaufdruck und Reiskörner, auf die man seinen Namen schreiben lassen konnte. Dann rannte er weiter.

Der Vorplatz war voller Menschen, die keinen Schimmer hatten, dass nur ein paar Meter von ihnen entfernt eine Welt aus den Fugen geraten war. Ahnungslos machten sie ihre Einkäufe, bummelten, lachten, während Daniel an ihnen vorüberhastete. Die Mittagszeit war vorbei, und die meisten Angestellten waren wieder an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt. Tauben pickten die letzten Krümel aus den Ritzen zwischen den Pflastersteinen. Und neben der sitzenden Bronzefigur des legendären Basketballtrainers Red Auerbach hockte Trixie auf der Bank und lutschte am Daumen.

Bis zu dem Moment, als Daniel sie erblickte, war ihm gar nicht bewusst gewesen, wie viel von ihm selbst durch ihr Verschwinden abgetrennt worden war. Er verspürte die gleichen Symptome wie in dem Augenblick, als er ihr Verschwinden bemerkt hatte: zittrige Beine, Sprachlosigkeit, völlige Bewegungsunfähigkeit. »Trixie«, sagte er schließlich, und dann lag sie in seinen Armen, knapp fünfzehn Kilo süße Erleichterung.

Jetzt – zehn Jahre später – war Daniels Tochter schon sehr viel länger verschwunden als nur vierundzwanzig Minuten. Seit mehr als vierundzwanzig Stunden.

Daniel zwang seine Gedanken zurück in die Gegenwart und drosselte die Geschwindigkeit des Snowmobils, als sich der Pfad vor ihm gabelte. Sogleich peitschte der Schneesturm wie durch einen Schlot – er konnte nicht einen Meter weit sehen, und als er sich umdrehte, war seine Spur bereits verweht, eine unberührte Fläche. Die Yupik-Eskimos hatten ein Wort für diese Art von Schnee, der einem in die Augen biss und wie ein Pfeilhagel auf die nackte Haut traf: pirrelvag. Der Ausdruck stieg aus Daniels Kehle auf, verblüffend wie ein zweiter Mond, Beweis dafür, dass er früher schon einmal hier gewesen war, so überzeugend er sich das Gegenteil auch eingeredet hatte.

Er kniff die Augen zusammen – es war neun Uhr morgens, aber im Dezember gab es in Alaska kaum Tageslicht. Sein Atem hing vor ihm wie Gaze. Durch den Schneevorhang hindurch meinte er für einen kurzen Moment ihr leuchtendes Haar sehen zu können – einen Fuchsschwanz, der unter einer Wollmütze hervorlugte –, aber so rasch, wie er aufgetaucht war, verschwand er auch wieder.

Die Yupik hatten auch ein Wort dafür, wenn es so kalt draußen war, dass man Wasser aus einer Tasse in die Luft schleudern konnte und es hart wie Glas wurde, ehe es auf den gefrorenen Boden schlug: cikuq’erluni. Eine falsche Bewegung, dachte Daniel, und alles um mich herum zersplittert. Also schloss er die Augen, gab Vollgas und überließ sich ganz seinen Instinkten. Sogleich kehrten die Stimmen der Alten, die er einmal gekannt hatte, zu ihm zurück – Tannennadeln sind auf der Nordseite der Bäume härter; auf flachen Sandbänken wölbt sich das Eis –, Hinweise, wie man sich orientieren konnte, wenn die Welt um einen herum eine andere Gestalt annahm.

Plötzlich musste er daran denken, wie sich Trixie damals vor der Faneuil Hall an ihn geschmiegt hatte, als sie wieder vereint waren. Ihr Kinn hatte sich knapp über seine Schulter geschoben, und ihr Körper war vor lauter Vertrauen ganz schlaff geworden. Obwohl sie ihm verloren gegangen war, hatte sie sich darauf verlassen, dass er sie sicher nach Hause brachte. Rückblickend erkannte Daniel, dass sein eigentlicher Fehler an jenem Tag nicht darin bestanden hatte, Trixie für einen Moment aus den Augen zu lassen. Nein, sein Fehler war gewesen zu glauben, man könne geliebte Menschen von einem Moment auf den anderen verlieren, wo es doch in Wirklichkeit ein Prozess war, der Monate, Jahre, ihr ganzes Leben lang dauerte.

Es war so kalt, dass die Wimpern gefroren, kaum dass man ins Freie trat, und sich die Nasenlöcher anfühlten, als wären sie aus gesprungenem Glas. Es war eine Kälte, die einen Menschen durchdrang wie ein Fliegengitter. Trixie Stone fröstelte auf dem gefrorenen Flussufer unterhalb des Schulhauses in Tuluksak, das als Checkpoint-Zentrale diente, sechzig Meilen von der Stelle entfernt, wo das geliehene Snowmobil ihres Vaters einen Schriftzug durch die Tundra pflügte, und sie suchte nach Gründen, warum sie dort bleiben sollte, wo sie war.

Leider gab es mehr Gründe – bessere Gründe –, wieder zu gehen. Erstens war es ein Fehler, zu lange an einem Ort zu bleiben. Zweitens würden die Leute früher oder später spitzkriegen, dass sie nicht die war, für die man sie hielt, erst recht, wenn sie jede Aufgabe verbockte, die sie ihr gaben. Aber wie hätte sie denn wissen können, dass alle Schlittenführer, die Musher, während des Kuskokwim-300-Rennens an mehreren Punkten auf der Strecke zusätzlich Stroh für ihre Hunde bekommen sollten, auch hier in Tuluksak? Oder dass man einem Musher zwar zeigen durfte, wo Futter und Wasser gelagert waren, dass man ihm aber nicht beim Füttern der Hunde helfen durfte? Nachdem sie sich diese beiden Patzer geleistet hatte, war Trixie dazu degradiert worden, die aus den Teams ausgeschiedenen Hunde zu beaufsichtigen, bis die Buschpiloten kamen, um sie zurück nach Bethel zu fliegen.

Bislang war erst ein Hund ausgeschieden, ein Husky namens Juno. Erfrierungserscheinungen – so die offizielle Begründung des Mushers. Der Hund hatte ein braunes und ein blaues Auge, und der Gesichtsausdruck, mit dem er Trixie anstarrte, ließ vermuten, dass er sich ungerecht behandelt fühlte.

Trixie fragte sich, ob sie Juno dem Musher mit dem restlichen gestohlenen Geld aus dem Portemonnaie abkaufen könnte. Sie dachte, die weitere Flucht wäre vielleicht leichter, wenn sie einen Begleiter hätte.

Sie überlegte, was Zephyr und Moss und die anderen zu Hause in dem anderen Bethel – Bethel in Maine – wohl sagen würden, wenn sie sie jetzt sehen könnten, wie sie auf einer Schneewehe hockte, getrockneten Lachs aß und auf das wilde, vielstimmige Gebell lauschte, das den nächsten Hundeschlitten ankündigte. Wahrscheinlich würden sie denken, sie habe den Verstand verloren. Sie würden sagen: Wer bist du, und was hast du mit Trixie Stone gemacht? Eine Frage, auf die sie selbst gern die Antwort wüsste.

Sie sehnte sich danach, in ihren alten Flanellschlafanzug zu schlüpfen, der schon so oft gewaschen worden war, dass er sich weich anfühlte wie ein Rosenblütenblatt. Sie sehnte sich danach, in den vollen Kühlschrank zu schauen, sich an einem Song im Radio sattzuhören, das Shampoo ihres Vaters zu riechen und über die Teppichkante in der Diele zu stolpern. Sie wollte wieder zurück – nicht bloß nach Maine, sondern zum Anfang des Septembers.

Trixie spürte die Tränen in ihrer Kehle aufsteigen, und sie wollte nicht, dass irgendwer das merkte. Also legte sie sich auf die Strohmatte, fast Nase an Nase mit Juno. »Weißt du«, flüsterte sie, »ich bin auch mal zurückgelassen worden.«

Ihr Vater wusste nicht, dass sie sich an den Tag vor der Faneuil Hall erinnerte, aber sie tat es – manchmal zu den seltsamsten Zeiten. Zum Beispiel, als sie im Sommer an den Strand gefahren waren und sie das Meer roch. Da bekam sie auf einmal fast keine Luft mehr. Oder ihr wurde plötzlich schlecht bei Hockeyspielen oder im Kino oder an anderen Orten, wo sich viele Menschen drängten. Trixie erinnerte sich auch daran, dass sie den Buggy vor der Faneuil Hall einfach stehen gelassen hatten – ihr Vater hatte sie auf dem Arm zurück ins Hotel getragen. Und als sie nach ihrer Rückkehr nach Hause einen neuen Buggy gekauft hatten, weigerte Trixie sich, darin zu sitzen.

Aber an eines erinnerte sie sich nicht, nämlich wie sie an jenem Tag in Boston überhaupt verloren gegangen war. Trixie hatte keine Erinnerung daran, wie sie aus dem Buggy geklettert war und sich durch das aufgewühlte Meer aus Beinen bewegt hatte. Sie wusste noch, dass sie einen Mann auf einer Bank gesehen und gehofft hatte, er könnte ihr Vater sein, doch er entpuppte sich als eine sitzende Statue. Trixie war zu der Bank gegangen, und als sie sich neben den Mann setzte, merkte sie, dass seine Metallhaut warm war von der Sonne, die den ganzen Tag daraufgeschienen hatte. Sie hatte sich an die Statue geschmiegt und sich mit jedem zittrigen Atemzug gewünscht, gefunden zu werden.

Diesmal hatte sie genau davor die meiste Angst.

1

Laura Stone wusste genau, wie man in die Hölle kam.

Auf Cocktailpartys der Fakultät konnte sie die Geografie der Hölle auf Servietten malen. Sie war in der Lage, sämtliche Gänge und Flüsse und Windungen aufzuzählen. Mit den dort wohnenden Sündern war sie bestens vertraut. Als eine der renommiertesten Dante-Forscherinnen des Landes bot sie, seit sie am Monroe College lehrte, regelmäßig Seminare über dieses Thema an. Ihre Veranstaltung mit dem Titel »Burn Baby Burn (oder: Was zum Teufel ist das Inferno?)« zählte zu den beliebtesten Lehrveranstaltungen der Fakultät, obwohl Dantes Göttliche Komödie nun wirklich alles andere als lustig war. Ganz ähnlich wie die Werke ihres Mannes Daniel, die sich auch nicht eindeutig als Comic, Buch oder Unterhaltung klassifizieren ließen, deckte das Inferno alle Bereiche der Popkultur ab: Liebe, Horror, Mystery, Verbrechen. Und wie bei allen wirklich guten Geschichten stand im Mittelpunkt ein ganz normaler, alltäglicher Held, der sich selbst nicht erklären konnte, wie er je zum Helden geworden war.

Laura musterte die Studenten, die still in ihren Reihen saßen. »Nicht bewegen«, befahl sie plötzlich. »Kein Mucks, von niemandem.« Neben ihr auf dem Pult lief eine Eieruhr eine volle Minute lang. Sie unterdrückte ein Schmunzeln, während sie ihre Schützlinge beobachtete, die plötzlich alle unbedingt niesen mussten oder den Drang verspürten, sich am Kopf zu kratzen oder ihre Sitzhaltung zu ändern.

Das Inferno, einer der drei Teile von Dantes Meisterwerk, war Lauras Lieblingsstoff. Wer war besser geeignet, über das Wesen von Handlungen und deren Konsequenzen nachzudenken, als junge Leute? Die Geschichte war einfach: Im Verlauf von drei Tagen – Karfreitag bis Ostersonntag – durchschritt Dante die neun Höllenkreise, wobei jeder mit noch schlimmeren Sündern gefüllt war als der jeweils vorhergehende, bis er schließlich die andere Seite erreichte. Das Gedicht war voller Tiraden und Klagen und Dämonen, zerstrittener Liebender und Verräter, die das Gehirn ihrer Opfer aßen – anders ausgedrückt, es war drastisch genug, um heutige Collegestudenten zu fesseln … und sie selbst, die Dozentin, von ihrem realen Leben abzulenken.

Die Eieruhr summte, und das ganze Seminar atmete auf. »Na?«, sagte Laura. »Wie war das?«

»Endlos«, rief eine Studentin.

»Was meinen Sie, wie lange es gedauert hat?«

Allgemeines Rätseln: Zwei Minuten? Fünf?

»Genau sechzig Sekunden«, sagte Laura. »Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie wären für alle Ewigkeit von der Taille abwärts in einem Eissee eingefroren. Stellen Sie sich vor, schon die kleinste Bewegung würde die Tränen auf Ihrem Gesicht und das Wasser um Sie herum gefrieren lassen. Für Dante war Gott vor allem Bewegung und Energie, daher ist die Höchststrafe für Luzifer die, sich nicht mehr bewegen zu können. Ganz unten in der Hölle gibt es kein Feuer, keinen Schwefel, nur die völlige Unfähigkeit zu handeln.« Sie ließ den Blick über das Meer aus Gesichtern gleiten. »Hat Dante recht? Immerhin handelt es sich hier um die tiefste Tiefe des Höllenlochs, und der Teufel ist der Schlimmste von allen. Können Sie sich eine heftigere Strafe vorstellen, als jemandem die Möglichkeit zu nehmen zu tun, was er tun will, wann immer ihm danach ist?«

Und das umriss, warum Laura Dantes Inferno liebte. Gewiss, man konnte es als eine Abhandlung über Religion oder Politik lesen. Zweifellos handelte es auch von Erlösung. Aber wenn man sich auf das Allerwesentlichste konzentrierte, ging es vor allem um einen Menschen, der tief in einer Krise steckte, einen Menschen, der die Entscheidungen hinterfragte, die er im Laufe seines Lebens getroffen hatte.

Ganz ähnlich wie Laura.

Während Daniel Stone mit dem Auto in der langen Schlange stand, die sich Richtung Highschool schob, schielte er zu der Fremden auf dem Beifahrersitz hinüber und versuchte sich zu erinnern, wann sie mal seine Tochter gewesen war.

»Furchtbarer Verkehr heute«, sagte er zu Trixie, nur um die Leere zwischen ihnen zu füllen.

Trixie antwortete nicht. Sie machte sich am Radio zu schaffen, ließ eine Sinfonie aus statischem Rauschen und Bruchstücken von Songs erklingen, ehe sie es ganz ausschaltete. Das rote Haar fiel ihr über die Schulter wie eine blutige Woge. Über ihre Hände hatte sie die Ärmel ihrer North-Face-Jacke gezogen. Sie wandte sich ab und starrte aus dem Fenster, hing tausend Gedanken nach, von denen Daniel auch nicht einen erraten konnte.

In letzter Zeit schien es, als wären die Worte zwischen ihnen nur noch dazu da, das Schweigen zu betonen. Daniel wusste besser als jeder andere, dass man sich im Moment eines Wimpernschlags selbst neu erfinden konnte. Er wusste, dass der Mensch, der man gestern noch war, nicht unbedingt der Mensch sein musste, der man morgen sein würde. Aber diesmal war er es, der nicht loslassen, sondern festhalten wollte, was er hatte.

»Dad«, sagte sie und schaute nach vorn, wo der Wagen vor ihnen sich in Bewegung gesetzt hatte.

Natürlich war es eine Illusion, aber Daniel war davon ausgegangen, dass er und Trixie von der üblichen Entfremdung zwischen Teenagern und ihren Eltern verschont bleiben würden. Schließlich hatten sie eine ganz andere Beziehung, enger als zwischen den meisten Töchtern und ihren Vätern, schon allein deshalb, weil sie jeden Tag zu ihm nach Hause kam. Er hatte mit väterlicher Sorgfalt über sie gewacht, hatte ihre Kulturtasche, ihren Nachttisch, ihre Schreibtischschubladen und andere mögliche Verstecke durchsucht – keine Drogen, keine Kondome. Trixie entwuchs ihm einfach nur, und irgendwie war das fast noch schlimmer.

Jahrelang war sie auf den Flügeln ihrer eigenen Geschichten ins Haus geschwebt: dass ein unachtsamer Junge dem Schmetterling, den sie in der Klasse hegten und pflegten, einen Fühler abgerissen hatte. Dass es mittags in der Schule Pizza gegeben hatte, obwohl auf dem Plan Hühnchen Chow Mein gestanden hatte, und dass sie, wenn sie das gewusst hätte, auch lieber Pizza genommen hätte, anstatt ihren Lunch selbst mitzubringen. Es hatte so viele unbefangene Gespräche zwischen ihnen gegeben, und Daniel musste zugeben, dass er dann und wann einfach nur genickt hatte, ohne richtig hinzuhören. Damals war ihm nicht klar gewesen, dass er die Geschichten hätte horten müssen, wie die Stücke Seeglas, die er in der Tasche seiner Winterjacke aufbewahrte, damit sie ihn daran erinnerten, dass einmal Sommer gewesen war.

Seit September – und auch das war absehbar gewesen – hatte Trixie ihren ersten Freund. Daniel hatte sich die verrücktesten Sachen zurechtgesponnen: dass er ganz zufällig eine Pistole reinigen würde, wenn der Junge sie zu ihrem ersten Date abholte. Dass er übers Internet einen Keuschheitsgürtel bestellen würde. Aber in keiner dieser wilden Phantasien hatte er sich je vorgestellt, dass der Anblick einer Jungenhand um die Taille seiner Tochter in ihm den Wunsch wecken würde zu rennen, bis ihm die Lungen platzten. Und in keiner seiner Phantasien hatte er gesehen, wie Trixie vor Glück erstrahlte, sobald der Junge zur Tür hereinkam, so wie sie es früher getan hatte, wenn sie Daniel ansah. Über Nacht hatte sein kleines Mädchen mühelos und wie von selbst die Bewegungen eines Vamps angenommen. Über Nacht hatten die Verhaltensweisen und Gewohnheiten seiner Tochter aufgehört, niedlich zu sein, und waren zu etwas Erschreckendem geworden.

Seine Frau erklärte ihm, dass Trixie sich umso erbitterter gegen ihn wehren würde, je kürzer die Leine war, an der er sie hielt. Schließlich, so rief Laura ihm in Erinnerung, war sie selbst aus Auflehnung gegen das System die Beziehung zu Daniel eingegangen. Also zwang Daniel sich, Trixie und Jason viel Spaß zu wünschen, wenn sie zusammen ins Kino gingen. Und wenn Trixie auf ihr Zimmer verschwand, um ungestört mit ihrem Freund zu telefonieren, schlich er nicht vor ihrer Tür herum. Er ließ ihr Freiraum, und irgendwie war dieser Raum zu einer unendlichen Distanz geworden.

»Hallo?!«, sagte Trixie und riss Daniel aus seinen Gedanken. Die Wagen vor ihnen waren bereits weitergefahren. Daniel schloss auf und fuhr vor der Schule vor.

»Na endlich«, sagte er.

Trixie zog am Türgriff. »Lässt du mich raus?«

Daniel drückte den Knopf der Zentralverriegelung. »Dann bis um drei.«

»Du brauchst mich nicht abzuholen.«

Daniel versuchte, ein breites Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. »Bringt Jason dich nach Hause?«

Trixie griff nach ihrem Rucksack und der Jacke. »Ja, klar«, sagte sie. »Jason.« Sie knallte die Tür des Pick-up zu und verschmolz mit der Masse von Teenagern, die auf den Eingang des Schulgebäudes zuströmten.

»Trixie!«, rief Daniel aus dem offenen Fenster, so laut, dass sich noch etliche andere Kids mit ihr zusammen umdrehten. Trixie hatte eine Hand vor der Brust geballt, als hielte sie ein Geheimnis fest. Sie sah ihn an, wartete.

Als Trixie noch kleiner war, hatten sie oft ein Spiel gespielt. Wenn er zeichnete und sie in der Comicsammlung herumstöberte, die er für Recherchezwecke in seinem Arbeitszimmer aufbewahrte, fragte sie beispielsweise: »Bestes Transportmittel?«, und Daniel antwortete stets: »Batmobil.« – »Bei dir piept’s wohl«, sagte Trixie dann. »Das unsichtbare Flugzeug von Wonder Woman.«

»Bestes Kostüm?«

»Wolverine«, sagte Daniel, aber Trixie fand Dark Phoenix besser.

Jetzt beugte er sich so weit hinaus wie möglich. »Beste Superpower?«, fragte er.

Die einzige Antwort, bei der sie sich einig waren, hatte gelautet: Fliegen. Doch diesmal sah Trixie ihn an, als wäre er verrückt. »Ich komm zu spät«, sagte sie und wandte sich ab.

Hinter ihm hupten Autos, aber Daniel fuhr nicht los. Er schloss die Augen und versuchte sich an die Zeit zu erinnern, als er in ihrem Alter gewesen war. Mit vierzehn hatte Daniel in einer anderen Welt gelebt und einfach alles getan, um ihr zu entfliehen: gestritten, gelogen, betrogen, gestohlen und sich geprügelt. Mit vierzehn war er jemand gewesen, den Trixie niemals in ihrem Vater vermutet hätte. Dafür hatte er gesorgt.

»Daddy.«

Daniel öffnete die Augen und sah Trixie neben dem Pick-up stehen. Sie legte die Hände an den unteren Rahmen des offenen Fensters, und der Glitter in ihrem rosa Nagellack glitzerte in der Sonne. »Unsichtbar sein«, sagte sie, dann tauchte sie wieder ein in die Menge hinter ihr.

Seit nunmehr vierzehn Tagen, sieben Stunden und sechsunddreißig Minuten war Trixie Stone ein Geist, obwohl sie die Zeit nicht wirklich wahrnahm. Das bedeutete, dass sie durch die Schule ging und lächelte, wenn es von ihr erwartet wurde. Sie tat so, als hörte sie zu, wenn der Mathelehrer über kommutative Eigenschaften sprach. Sie setzte sich sogar in der Cafeteria mit den anderen aus der neunten Jahrgangsstufe zusammen. Aber während ihre Schulkameradinnen über die Frisuren der Frauen an der Essensausgabe lachten, studierte Trixie ihre Hände und fragte sich, ob außer ihr sonst noch jemand merkte, dass die Sonne, wenn sie genau im richtigen Winkel auf die Handfläche traf, die Haut durchsichtig machte und die Tunnel erkennen ließ, durch die das Blut rauschte. Blutkörperchen.

Die Kids, die Bescheid wussten (und das waren praktisch alle, weil die Neuigkeit sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen hatte), warteten förmlich darauf, dass sie ihre sorgsam gehegte Fassung verlor. Ein Mädchen hatte sogar eine Wette abgeschlossen, wann Trixie in aller Öffentlichkeit zusammenbrechen würde, und Trixie hatte das zufällig mitbekommen. Highschool-Schüler waren Kannibalen: Sie aßen dein gebrochenes Herz vor deinen Augen und entschuldigten sich dann achselzuckend mit einem blutverschmierten Lächeln.

Visine-Augentropfen halfen. Und Hämorrhoidensalbe unter die Augen, auch wenn die Vorstellung noch so ekelig war. Trixie stand jetzt meist schon um halb sechs auf, zog eine Flanellhose und zwei sorgfältig ausgesuchte langärmelige T-Shirts übereinander an und band sich das Haar zu einem wilden Pferdeschwanz. Sie brauchte eine Stunde, bis sie so aussah, als hätte sie sich gerade erst aus dem Bett gerollt, als ließe sie sich von dem, was passiert war, nicht den Schlaf rauben. In letzter Zeit ging es eigentlich nur noch darum, den Leuten vorzumachen, sie wäre jemand, der sie längst nicht mehr war.

Trixie segelte auf einem Meer aus Geräuschen durch den Flur – Spindtüren knirschten wie Zähne, Jungs verabredeten sich lauthals über die Köpfe von Kleineren hinweg für den Nachmittag, Kleingeld für den Getränkeautomaten wurde aus Hosentaschen gegraben. Sie trat durch eine Tür und wappnete sich innerlich, um die nächste Dreiviertelstunde durchzustehen. Psychologie war das einzige Fach, das sie mit Jason zusammen hatte. Es war ein Wahlfach. Was im Grunde genommen hieß: Du wolltest es nicht anders.

Er war schon da. Sie wusste das, weil sich die Luft um ihren Körper elektrisch aufgeladen hatte. Er trug das verwaschene Jeanshemd, das sie sich einmal geborgt hatte, als er ihr beim gemeinsamen Lernen aus Versehen Cola übers T-Shirt geschüttet hatte, und sein schwarzes Haar war ungekämmt. Deine Haare sind zu lang, hatte sie mal zu ihm gesagt, und er hatte gelacht. An mir ist alles genau lang genug, hatte er erwidert.

Sie konnte ihn riechen – Shampoo und Pfefferminzkaugummi und, auch wenn es unfassbar klang, kalten weißen Eisnebel. Derselbe Geruch hing an dem T-Shirt, das sie ganz unten in ihrer Schlafanzugschublade versteckt hatte, das, von dem er nicht wusste, dass sie es hatte, und das sie jeden Abend vor dem Schlafengehen über ihr Kopfkissen zog. Es ließ sie von ihm träumen: vom flanellweichen Klang seiner Stimme, wenn sie ihn anrief und er schon geschlafen hatte. Von der Art, wie er einen Stift zwischen den Fingern einer Hand drehte, wenn er nervös war oder angestrengt überlegte.

Auch als er mit ihr Schluss machte, hatte er das getan.

Trixie atmete tief durch und ging an dem Platz vorbei, auf dem Jason sich rekelte. Sie spürte, wie sein Gesicht von der Anstrengung, sie nicht anzusehen, warm wurde. Es kam ihr unnatürlich vor, einfach an ihm vorbeizugehen, ohne dass er sie am Rucksack festhielt, bis sie sich ihm zuwandte. »Du kommst doch zum Training«, fragte er dann, »oder?« Als hätte sie sich je davon abhalten lassen.

Mr. Torkelson hatte ihnen Plätze zugewiesen, und Trixie war in der vordersten Reihe gelandet. Die ersten drei Monate des Schuljahres hatte sie es furchtbar gefunden, aber jetzt war sie dankbar dafür, weil sie so einfach bloß die Tafel anstarren konnte, ohne Jason oder irgendwen sonst wahrnehmen zu müssen. Sie schob sich auf ihren Stuhl und klappte die Mappe auf. Ihre Augen mieden den Tipp-Ex-Fleck, der mal Jasons Name gewesen war.

Als sie eine Hand auf der Schulter spürte, eine warme, breite Jungenhand, blieb ihr die Luft weg. Jason würde sich entschuldigen. Ihm war klar geworden, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er wollte sie fragen, ob sie ihm je verzeihen konnte. Sie wandte sich um, das Wort Ja schon auf ihren Lippen, doch dann sah sie Moss Minton vor sich stehen, Jasons besten Freund.

»Hi.« Er warf einen Blick über die Schulter zu Jason, der tief über seinen Tisch gebeugt war. »Geht’s dir gut?«

Trixie strich die Ränder ihrer Hausaufgaben glatt. »Wieso sollte es mir nicht gut gehen?«

»Ich wollte dir bloß sagen, wir finden alle, er ist ein Idiot.«

Wir. Das konnte die Eishockeymannschaft sein, bei der Moss und Jason Kokapitäne waren. Es konnte die gesamte neunte Klasse sein. Es konnte jeder außer Trixie sein. Fast ebenso schwer wie die Trennung von Jason war es, sich durch das Minenfeld von ehemals gemeinsamen Freunden zu lavieren, herauszufinden, wer noch zu ihr gehörte.

»Ich glaube, er muss sich einfach nur ein bisschen mit ihr austoben«, sagte Moss. Seine Worte waren wie eine Handvoll Steine, die von einer Klippe geschleudert wurden.

Trixies Notizen verschwammen ihr vor den Augen. Bitte geh, dachte sie und hoffte inbrünstig, irgendeine telekinetische Kraft möge für Ablenkung sorgen. Und dieses eine Mal in ihrem Leben hatte sie Glück. Mr. Torkelson kam herein, knallte die Tür zu und baute sich vor der Klasse auf. »Ladys und Gentlemen«, begann er, »warum träumen wir?«

Ein Witzbold in der letzten Reihe antwortete: »Weil Angelina Jolie nicht auf die Bethel High geht.«

Der Lehrer lachte. »Okay, das ist ein Grund. Da würde dir vielleicht sogar Sigmund Freud zustimmen. Er hat den Traum als den ›Königsweg‹ zum Unbewussten bezeichnet, der aus all den verbotenen Wünschen besteht, die man hat, aber lieber nicht haben würde.«

Träume waren wie Seifenblasen, dachte Trixie. Sie sahen hübsch aus. Aber sie konnten einem irgendwann fast unerträglich in den Augen brennen. Sie fragte sich, ob Jason wohl die gleichen Träume hatte wie sie, die Sorte, von denen einem beim Aufwachen die Luft wegblieb und das Herz sich flach wie eine Münze anfühlte.

»Ms. Stone?«, wiederholte der Lehrer.

Trixie wurde rot. Sie spürte Jasons Blick wie eine Wunde im Nacken.

»Ich hab einen, Mr. T«, rief Moss irgendwo hinter ihr. »Ich gleite bei den Vorkämpfen raus aufs Eis und kriege einen Pass zugespielt, aber auf einmal ist mein Stock spaghettiweich …«

»Freud hätte zwar seine helle Freude daran, Moss, aber ich möchte doch lieber hören, was Trixie zu sagen hat.«

Wie bei einem der Superhelden ihres Vaters wurden Trixies Sinne messerscharf. Sie konnte hören, dass ein Mädchen ganz hinten eine heimliche Nachricht an ihre Freundin auf der anderen Seite des Ganges schrieb, spürte, dass Torkelson die Hände faltete und, das war am schlimmsten, dass Jason die Augen schloss und die Verbindung unterbrach. Sie bekritzelte ihren Daumennagel mit einem Stift. »Ich behalte nie einen Traum.«

»Du verbringst ein Sechstel deines Lebens mit Träumen, Trixie Stone. Was in deinem Fall schon zweieinhalb Jahre ausmacht. Du hast doch wohl nicht zweieinhalb Jahre deines Lebens verdrängt?«

Sie schüttelte den Kopf, sah zu dem Lehrer hoch und öffnete den Mund. »Ich … ich glaub, mir wird schlecht«, brachte sie heraus, und während das Klassenzimmer ins Schwanken geriet, packte sie ihre Bücher und rannte hinaus.

Auf der Toilette übergab sie sich, obwohl sie geschworen hätte, dass sie vollkommen leer war. Dann setzte sie sich auf den Boden und presste ihre heiße Wange gegen die Metallwand.

Es lag nicht daran, dass Jason genau an dem Tag mit ihr Schluss gemacht hatte, als sie drei Monate zusammen waren. Es lag nicht daran, dass Trixie – die unscheinbare Kleine, die offenbar das große Los gezogen hatte und durch ihren Freund plötzlich ungeahntes Ansehen genoss – ihren Prinzessinnenstatus verloren hatte. Es lag an ihrer festen Überzeugung, dass man auch mit vierzehn schon erleben konnte, wie Liebe die Geschwindigkeit änderte, mit der das Blut durch einen hindurchfloss, wie sie einen in kaleidoskopischen Farben träumen ließ. Es lag daran, dass Trixie, dessen war sie sich sicher, Jason nicht so sehr hätte lieben können, wenn er sie nicht auch so geliebt hätte.

Trixie ging zu einem der Waschbecken und drehte das Wasser auf. Sie wusch sich das Gesicht, wischte es mit einem braunen Papierhandtuch ab. Sie wollte nicht zurück in den Unterricht, nie wieder, also holte sie Eyeliner und Mascara, Lipgloss und Schminkspiegel hervor. Sie hatte das volle kupferrote Haar ihrer Mutter, den dunklen Teint ihres Vaters. Ihre Ohren waren zu spitz und ihr Kinn zu rund. Nur die Lippen waren okay, fand sie. Einmal hatte ein Lehrer im Kunstunterricht gesagt, sie wären klassisch, und hatte sie von den anderen Schülern zeichnen lassen. Aber was ihr Angst machte, das waren ihre Augen. Früher hatten sie eine dunkle moosige Farbe, doch jetzt waren sie mattgrün, so blass, dass es schon fast keine Farbe mehr war. Trixie fragte sich, ob man die Pigmente wegweinen konnte.

Sie klappte den Schminkspiegel zu, doch dann öffnete sie ihn wieder und legte ihn auf den Boden. Sie musste dreimal zutreten, bis der Spiegel zersprang. Trixie warf die Plastikfassung und Scherben weg, bis auf eine. Die hatte die Form einer Träne, rund an einem Ende und spitz wie ein Dolch am anderen.

Sie rutschte an der gefliesten Toilettenwand herunter, bis sie unter dem Waschbecken saß. Dann zog sie die Glasscherbe über die weiße Leinwand an der Innenseite ihres Unterarms. Doch fast im gleichen Moment bereute sie es schon wieder und wünschte, sie könnte es ungeschehen machen. Verrückte Mädchen machten so etwas, Mädchen, die wie Zombies umherschlichen.

Zu spät.

Trixie spürte das Ziehen, als die Haut sich teilte, das süße Herausquellen von Blut.

Es tat weh, aber nicht so weh wie alles andere.

»Man muss ziemlich böse sein, um in der untersten Höllentiefe zu landen«, sagte Laura mit Blick auf ihre Studenten. »Und Luzifer war mal Gottes rechte Hand. Also, was ist da schiefgelaufen?«

Es war zunächst eine schlichte Meinungsverschiedenheit, dachte Laura. »Eines Tages sagte Gott zu seinem guten Freund Luzifer, er wolle diesen tollen kleinen Spielzeugfiguren, die er gebastelt hatte – nämlich den Menschen –, das Recht zugestehen, ihr Handeln selbst zu bestimmen. Freier Wille. Luzifer dagegen fand, diese Macht sollte allein den Engeln vorbehalten bleiben. Er zettelte eine Rebellion an und verlor auf der ganzen Linie.«

Laura schritt langsam durch die Gänge. Ein Nachteil des kostenlosen Internetzugangs am College war der, dass die Studenten während der Seminare online einkauften und Pornos herunterluden, wenn die Dozenten nicht aufpassten. »Was das Inferno so genial macht, sind die contrapassi – die passenden Strafen für die jeweiligen Vergehen. Bei Dante spiegelt die Buße der Sünder ihre Missetat auf Erden wider. Luzifer wollte nicht, dass der Mensch frei entscheiden kann, also endet er nach seinem Sturz eingefroren im Eis. Wahrsager tragen den Kopf nach hinten gedreht auf den Schultern. Ehebrecher bleiben in alle Ewigkeit in Fleischeslust verbunden, doch Befriedigung bleibt ihnen versagt.« Laura verdrängte das Bild, das in ihr aufstieg, und scherzte: »Anscheinend sind die klinischen Versuchsreihen für Viagra in der Hölle gemacht worden.«

Ihre Studenten lachten, während sie wieder nach vorn ging. »Um das Jahr 1300 – ehe die Italiener sich Star Wars oder den Herrn der Ringe zu Gemüte führen konnten – stand dieses epische Gedicht für den ultimativen Kampf von Gut gegen Böse«, sagte sie. »Ich persönlich finde das Böse vielschichtiger und lebendiger als das Gute.«

Die vier älteren Studenten, die das Seminar als Tutoren betreuten, saßen in der ersten Reihe. Drei von ihnen hatten ihre Laptops auf den Knien. Da war Alpha, eine selbst ernannte Retrofeministin, was, soweit Laura das einschätzen konnte, lediglich hieß, dass sie andauernd irgendwelche Reden über die moderne Frau schwang, die sich einfach zu weit von Heim und Herd entfernt hätte, um sich zu Hause überhaupt noch wohlfühlen zu können. Neben ihr war Aine gerade damit beschäftigt, sich irgendwas auf ihren Alabasterarm zu schreiben – vermutlich etwas selbst Gedichtetes. Naryan, der schneller tippen konnte, als Laura atmete, starrte sie über seinen Laptop hinweg an, eine Krähe, die auf einen Krümel lauerte. Nur Seth lümmelte sich auf seinem Platz, die Augen geschlossen, und sein langes Haar fiel ihm ins Gesicht. Schnarchte er etwa?

Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie wandte Seth Dummerston den Rücken zu und schaute kurz zu der Wanduhr hinüber. »So, das war’s für heute. Lesen Sie den fünften Canto«, sagte Laura. »Nächsten Mittwoch befassen wir uns dann mit dem Thema: ausgleichende Gerechtigkeit im Gegensatz zu göttlicher Strafe. Ein schönes Wochenende wünsche ich.«

Die Studenten griffen nach ihren Rucksäcken und Laptops, plauderten über die Bands, die später auftreten würden, und über die BΘΠ-Party, für deren karibische Nacht eine Lkw-Ladung echten Sandes organisiert worden war. Sie zottelten gemächlich aus dem Raum, hatten Lauras Seminar schon fast vergessen.

Laura musste sich nicht auf die nächste Sitzung vorbereiten. Sie lebte jede Veranstaltung, die sie gab. Sei vorsichtig mit deinen Wünschen, dachte sie. Es könnte sein, dass sie in Erfüllung gehen.

Vor sechs Monaten war sie vollkommen sicher gewesen, dass sie das Richtige tat. Diese Liaison erschien ihr ganz natürlich, sie zu unterbinden wäre ein größeres Verbrechen, als sie auszuleben. Wenn seine Hände sie erkundeten, verwandelte sie sich: Aus der kopflastigen Professorin wurde eine Frau, bei der zuerst das Gefühl kam und dann das Denken. Doch wenn Laura sich jetzt klarmachte, was sie getan hatte, hätte sie die Schuld am liebsten auf einen Gehirntumor geschoben, auf einen Anfall von Wahnsinn, auf alles, nur nicht auf ihren Egoismus. Jetzt ging es ihr nur noch um Schadensbegrenzung: Sie wollte die Sache beenden und rasch wieder in den Schoß ihrer Lieben zurückkehren, ehe sie merkten, wie lange sie weg gewesen war.

Als der Raum leer war, schaltete Laura das Deckenlicht aus. Sie tastete in ihrer Tasche nach den Büroschlüsseln. Verdammt, hatte sie sie in ihrer Computertasche gelassen?

»Das Böse ist interessant.«

Laura wandte sich um, hatte die weiche Südstaatenintonation von Seth Dummerstons Stimme sofort erkannt. Er stand auf und reckte sich. »Vielleicht weil es so oft heimlich geschieht.«

Sie musterte ihn kühl. »Du bist während des Seminars eingeschlafen.«

»Ist gestern spät geworden.«

»Und wessen Schuld ist das?«, fragte Laura.

Seth sah sie an, so wie sie ihn früher angesehen hatte, dann beugte er sich vor, und sein Mund glitt federleicht über ihre Lippen. »Verrat du’s mir«, flüsterte er.

Trixie bog um die Ecke und sah sie: Jessica Ridgeley mit ihren langen blonden Haaren und der Haut einer Dermatologentochter stand an der Tür des Sprachlabors und küsste Jason.

Trixie wurde zum Fels, um den herum sich das Schülermeer teilte. Sie beobachtete Jasons Hand, die in die Gesäßtasche von Jessicas Jeans glitt. Sie konnte das Grübchen in seinem linken Mundwinkel sehen, das nur erschien, wenn er aufrichtig war.

Erzählte er Jessica gerade von seinem Lieblingsgeräusch, dem dumpfen Schlagen der Wäsche, wenn sie im Trockner herumwirbelte? Dass er manchmal am Telefon vorbeikam und dachte, wie schön es wäre, wenn sie anriefe, und es prompt geschah? Dass er einmal, mit zehn Jahren, einen Kaugummiautomaten aufgebrochen hatte, weil er wissen wollte, wo die eingeworfenen Münzen landeten?

Hörte sie ihm überhaupt zu?

Plötzlich fasste jemand Trixie am Arm und zog sie den Flur hinunter zur Tür hinaus auf den Schulhof. Sie roch den beißenden Schwefelgeruch eines Streichholzes, und sogleich klemmte eine brennende Zigarette zwischen ihren Lippen. »Inhalieren«, befahl Zephyr.

Zephyr Santorelli-Weinstein war Trixies älteste Freundin. Sie hatte riesige Rehaugen und olivfarbene Haut und die coolste Mutter der Welt, die ihr Räucherstäbchen für ihr Zimmer kaufte und sogar mitging, als sich ihre Tochter ein Nabelpiercing machen ließ. Zephyr hatte auch einen Vater, aber der lebte in Kalifornien bei seiner neuen Familie, ein Thema, das Trixie geflissentlich mied. »Was hast du nächste Stunde?«

»Französisch.«

»Madame Wright ist doch total senil. Komm, wir machen blau.«

Die Bethel High musste sich kaum Sorgen um Schulschwänzer machen, nicht etwa, weil das Lehrangebot so interessant war, sondern weil es außerhalb der Schule so gut wie nichts gab, was für die Schüler irgendwie verlockend gewesen wäre. Trixie ging neben Zephyr die Zufahrtstraße zur Schule hinunter, die Köpfe gegen den Wind geneigt, die Hände tief in den Taschen ihrer Jacken. Der Schnitt am Handgelenk blutete nicht mehr, tat aber in der Kälte weh. Trixie fing unwillkürlich an, durch den Mund zu atmen, weil sie selbst auf diese Entfernung den gasigen Geruch nach faulen Eiern roch, der von der Papiermühle im Norden herüberwehte, dem größten Arbeitgeber in Bethel. »Ich hab gehört, was in Psycho passiert ist«, sagte Zephyr.

»Na toll«, murmelte Trixie. »Jetzt denken alle, ich bin ein Loser und ein Freak obendrein.«

Zephyr nahm Trixie die Zigarette aus der Hand und rauchte sie zu Ende. »Kann dir doch schnuppe sein, was andere denken.«

»Bei allen ist es mir nicht schnuppe«, räumte Trixie ein. Wieder brannten ihr Tränen in den Augen, und sie wischte sie mit dem Handschuh weg. »Ich möchte Jessica Ridgeley umbringen.«

»Wenn ich du wäre, würde ich lieber Jason umbringen«, sagte Zephyr. »Vergiss ihn doch endlich.«

Trixie schüttelte den Kopf. »Ich bin für ihn bestimmt, Zephyr. Ich weiß es einfach.«

Sie waren an der Flussbiegung hinter dem Pendlerparkplatz angekommen, wo die Brücke über den Androscoggin River führte. Um diese Jahreszeit war der Fluss fast zugefroren, und um die Felsen, die sonst aus dem Wasser ragten, waren große, wirbelförmige Eisskulpturen entstanden. Wenn sie noch eine Viertelmeile weitergingen, wären sie in der Stadt, die aus nicht viel mehr bestand als einem Chinarestaurant, einem kleinen Supermarkt, einer Bank und einem Spielwarenladen.

Zephyr ließ Trixie ein Weilchen weinen, dann lehnte sie sich gegen das Brückengeländer. »Willst du die gute Nachricht hören oder die schlechte?«

Trixie putzte sich die Nase. »Die schlechte.«

»Märtyrerin«, sagte Zephyr grinsend. »Die schlechte Nachricht ist, meine beste Freundin hat inzwischen die offizielle zweiwöchige Gnadenfrist für Trauer um eine kaputte Beziehung überschritten und wird ab heute dafür bestraft.«

Trixie musste lächeln. »Und die gute Nachricht?«

»Moss Minton und ich haben uns unterhalten.«

Trixie spürte wieder einen Stich in der Brust. Ihre beste Freundin und Jasons bester Freund? »Und?«

»Na ja, also ich meine, wir haben jetzt nicht gerade stundenlang miteinander gequatscht. Er hat heute nach Englisch auf mich gewartet und gefragt, ob es dir wieder so einigermaßen geht … aber immerhin, schließlich hätte er ja auch jemand anderen fragen können, oder?«

Trixie wischte sich über die Nase. »Na super. Freut mich, dass mein Unglück dein Liebesleben auf Trab bringt.«

»Komm, du musst aufhören, dir wegen Jason die Augen auszuweinen. Er weiß, dass du auf ihn fixiert bist.« Zephyr schüttelte den Kopf. »Jungs wollen nichts Kompliziertes, Trix. Die wollen … so was wie Jessica Ridgeley.«

»Was findet er bloß an der so toll?«

Zephyr zuckte mit den Achseln. »Wer weiß. Ihre Körbchengröße? Den IQ einer Fruchtfliege?« Sie zog ihre Kuriertasche nach vorn, um eine Packung M&M’s rauszuholen. Vom Rand der Tasche baumelte eine kleine Kette aus zwanzig rosa Büroklammern.

Trixie kannte Mädchen, die Buch führten über ihre sexuellen Begegnungen, andere steckten sich Sicherheitsnadeln in die Schuhlaschen. Bei Zephyr waren es Büroklammern. »Ein Junge kann dir nicht wehtun, wenn du es nicht zulässt«, sagte Zephyr und fuhr mit den Fingern über die Büroklammern, sodass sie tanzten.

Heutzutage war es nicht angesagt, einen festen Freund oder eine feste Freundin zu haben. Die meisten Kids waren bloß auf kurze, schnelle Abenteuer aus. Plötzlich kam Trixie der Gedanke, dass sie nichts anderes für Jason gewesen war, und ihr wurde flau in der Magengegend. »Das glaub ich einfach nicht.«

Zephyr riss den M&M’s-Beutel auf und reichte ihn Trixie. »Gute Freunde mit Sonderzulagen. Mehr wollen Jungs nicht, Trix.«

»Und was wollen die Mädchen?«

Zephyr zuckte wieder mit den Achseln. »Mensch, ich bin schlecht in Mathe, ich singe falsch, und ich bin immer die Letzte, wenn beim Sport eine Mannschaft gewählt wird … aber anscheinend bin ich ganz talentiert darin, Jungs abzuschleppen.«

Trixie drehte sich um und lachte. »Sagen sie dir das?«

»Erst ausprobieren, dann lästern, Trixie. Du hast den Spaß ohne die ganzen Probleme. Und am nächsten Tag tust du einfach so, als wäre nie was gewesen.«

Trixie zupfte an der Büroklammerkette. »Wieso zählst du dann mit?«

Zephyr schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich will ich nur nicht vergessen, wie ich angefangen hab.«

Trixie öffnete die Hand und betrachtete die M&M’s. Sie hatten bereits überall Flecken hinterlassen. »Was meinst du, warum die in der Werbung immer sagen, M&M’s schmelzen nicht, wenn sie’s doch tun?«

»Weil alle lügen«, antwortete Zephyr.

Jeder Teenager wusste, dass das stimmte. Erwachsenwerden hieß nichts anderes, als herauszufinden, welche Türen einem noch nicht vor der Nase zugeknallt worden waren. Jahrelang hatten Trixies Eltern ihr erzählt, sie könne alles werden, alles haben, alles erreichen. Deshalb wollte sie möglichst schnell erwachsen werden – bis sie in die Pubertät kam und plötzlich vor einer großen, dicken Mauer aus Realität stand. Sie begriff, dass sie nicht alles haben konnte, was sie wollte. Man wurde nicht hübsch oder klug oder beliebt, bloß weil man sich das wünschte. Man konnte sein Schicksal nicht steuern. Man war zu sehr damit beschäftigt, dazuzugehören. Allein in diesem Moment, während sie hier stand, waren Millionen Eltern dabei, ihren Kindern eine Anleitung zum Unglücklichsein mitzugeben.

Zephyr starrte über das Geländer. »Ich hab diese Woche jetzt schon das dritte Mal Englisch blaugemacht.«

In Französisch verpasste Trixie den Test über den Subjonctif. Anscheinend hatten auch Verben gewisse Stimmungen: Sie wurden ganz anders konjugiert, wenn sie nach Ausdrücken des Verlangens, Zweifelns, Wünschens und der persönlichen Meinung standen. Gestern Abend hatte sie die entsprechenden Formulierungen auswendig gelernt. Es ist unsicher, ob. Es ist nicht klar, dass. Es scheint, dass. Es könnte sein, dass. Obwohl. Ganz gleich was. Ohne.

Sie brauchte keine blöde leçon, um etwas zu lernen, das sie schon seit Jahren wusste: Wenn es um etwas Negatives oder Unsicheres ging, musste man sich an gewisse Regeln halten.

Am liebsten hätte Daniel nur noch Schurken gezeichnet.

Mit Helden war einfach nicht so viel anzufangen. Sie waren unweigerlich mit bestimmten Merkmalen ausgestattet: kantiger Wangenpartie, unnatürlich kräftigen Waden, makellosen Zähnen. Sie waren einen halben Kopf größer als der Durchschnitt. Es gab erstaunliche anatomische Phänomene, raffinierte Muskelspiele. Sie trugen alberne kniehohe Stiefel, in denen sich niemand, der keine übermenschlichen Kräfte besaß, würde erwischen lassen wollen.

Der herkömmliche Bösewicht dagegen konnte ein Gesicht wie eine Zwiebel haben, wie ein Amboss, ein Pfannkuchen. Die Augen konnten hervorquellen oder zwischen tiefen Hautfalten liegen. Sein Körper war fleischig oder ausgezehrt, behaart oder gummiartig oder schuppig wie bei einer Echse. Er konnte Blitze schleudern, Feuer werfen, Berge verschlingen. Bei einem Schurken konnte man seiner Kreativität freien Lauf lassen.

Das Problem war nur, die beiden gehörten zusammen. Es konnte keinen Bösewicht geben, wenn ihm nicht ein Guter gegenüberstand und Maßstäbe setzte. Und es konnte keinen Helden geben, wenn nicht ein Schurke auftauchte und zeigte, wie weit er vom rechten Wege abweichen würde.

Heute saß Daniel über seinen Zeichentisch gebeugt und trödelte. Er wirbelte seinen Drehbleistift durch die Luft. Er knetete den Radiergummi in der Hand. Er hatte Riesenprobleme damit, seine Hauptfigur in einen Falken zu verwandeln. Die Schwingen hatte er ganz gut hinbekommen, aber irgendwie schaffte er es nicht, das Gesicht hinter den hellen Augen und dem Schnabel menschlich wirken zu lassen.

Daniel war Comiczeichner. Während Laura ihre akademische Karriere vorantrieb, bis sie schließlich eine Professur am Monroe College ergatterte, hatte er zu Hause gearbeitet, Trixie zu seinen Füßen, und für den Verlag DC Comics Filler-Seiten gezeichnet. Das Konkurrenzhaus Marvel wurde auf ihn aufmerksam und bot ihm mehrfach an, nach New York zu kommen und an den Ultimate X-Men mitzuarbeiten, doch Daniel war die Familie wichtiger als die Karriere. Er erledigte Grafikarbeiten, um die Hypothek abzuzahlen – Logos und Illustrationen für Firmenrundschreiben. Doch letztes Jahr, kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag, hatte er von Marvel den Auftrag bekommen, ein eigenes Projekt zu entwickeln.

Über seinem Arbeitsplatz hing ein Bild von Trixie – nicht bloß, weil er sie liebte, sondern weil sie ihn zu dem neuen Comicroman Der Zehnte Kreis inspiriert hatte. Trixie und Laura, genauer gesagt. Lauras Begeisterung für Dante hatte praktisch das Grundgerüst für den Plot geliefert. Von Trixie kam der Antrieb. Aber Daniel selbst hatte die Hauptfigur geschaffen – Wildclaw, einen Helden, wie ihn die Comicwelt noch nicht gesehen hatte.

Normalerweise sprachen Comics vor allem halbwüchsige Jungs an. Doch Daniel hatte Marvel ein anderes Konzept schmackhaft gemacht: eine Figur, die auf die Gruppe von Erwachsenen abzielte, die schon lange keine Comics mehr lasen, jetzt aber über die Kaufkraft verfügten, die ihnen als Jugendliche gefehlt hatte. Erwachsene, die von Michael Jordan angepriesene Sportschuhe trugen, die Nachrichtensendungen guckten, die wie MTV-Clips wirkten, und auf Geschäftsflügen mit einem Nintendo DS Tetris spielten. Erwachsene, die sich auf Anhieb mit Wildclaws Alter Ego Duncan identifizieren würden: einem Vater um die vierzig, der mit den Problemen des Älterwerdens zu kämpfen hatte, der seine Familie beschützen wollte und der von seinen Superkräften beherrscht wurde anstatt umgekehrt.

Der Comicroman erzählte von Duncan, einem ganz normalen Vater, der sich auf der Suche nach seiner vom Teufel entführten Tochter in Dantes Höllenkreise begab. Wenn Duncan durch Wut oder Angst provoziert wurde, verwandelte er sich in Wildclaw – wurde im wahrsten Sinne des Wortes zum Tier. Der Haken daran war, dass Macht stets auch einen fortschreitenden Verlust von Menschlichkeit mit sich brachte. Jedes Mal, wenn Duncan zum Falken oder Bär oder Wolf wurde, um einer gefährlichen Kreatur zu entkommen, blieb ein Teil von ihm tierisch. Seine größte Angst war, dass seine Tochter, falls er sie je fand, ihn nicht wiedererkennen würde, weil er bei dem Versuch, sie zu retten, ein anderer geworden war.

Daniel blickte auf das, was er bislang zu Papier gebracht hatte, und seufzte. Die Schwierigkeit bestand nicht darin, den Falken zu zeichnen – das konnte er im Schlaf –, sondern den Betrachter den Menschen dahinter sehen zu lassen. Ein Held, der sich in ein Tier verwandelte, war nichts Neues – aber Daniel hatte sich dieses spezielle Konzept ehrlich erarbeitet. Man konnte sagen: Er hatte es »sich erlebt«. Er war als einziger weißer Junge in einem Eskimodorf in Alaska aufgewachsen, wo seine Mutter als Lehrerin arbeitete. Sein Vater war einfach verschwunden. In Akiak erzählten die Yupik unbefangen von Kindern, die mit Seehunden zusammenwohnten, von Männern, die ihr Haus mit Schwarzbären teilten. Von einer Frau, die einen Hund geheiratet und Welpen geboren hatte, doch als sie ihnen das Fell abzog, waren richtige Babys darunter. Tiere waren einfach nur nichtmenschliche Leute mit derselben Fähigkeit, bewusste Entscheidungen zu treffen, und unter ihrer Haut brodelte Menschlichkeit. Das zeigte sich in der Art, wie sie gemeinsam aßen oder wie sie sich verliebten oder trauerten. Und umgekehrt galt das genauso: Manchmal stellte sich heraus, dass ein verborgenes Tier in einem Menschen steckte.

Daniels bester und einziger Freund im Dorf war ein Yupik-Junge namens Cane, von dessen Großvater Daniel das Jagen und Fischen und alles andere gelernt hatte, was ihm eigentlich sein richtiger Vater hätte beibringen sollen. Zum Beispiel, dass man still sein musste, nachdem man ein Kaninchen getötet hatte, damit der Geist des Tieres ungestört blieb. Dass man nach dem Fischen die Gräten der Lachse zurück in den Fluss gleiten ließ und dabei die Worte Ataam taikina flüsterte. Kommt wieder.

Fast seine ganze Kindheit hindurch hatte Daniel nur darauf gewartet, endlich fortgehen zu können. Als kass’aq, als weißes Kind, wurde er nämlich ständig gehänselt oder schikaniert oder verprügelt. Als er in Trixies Alter war, betrank er sich regelmäßig und randalierte, tat alles, was nötig war, damit sich keiner mit ihm anlegte. Aber wenn er gerade nicht damit beschäftigt war, sich unbeliebt zu machen, zeichnete er – Figuren, die gegen alle Widrigkeiten kämpften und siegten. Figuren, die er heimlich auf die Ränder seiner Schulbücher malte und auf seine nackte Hand. Er zeichnete, um zu entfliehen, und schließlich, als er siebzehn war, tat er es endlich.

Nachdem Daniel Akiak verlassen hatte, gab es für ihn kein Zurück mehr. Er lernte, auf den Einsatz seiner Fäuste zu verzichten und die Wut stattdessen auf ein Blatt Papier zu bringen. Er hatte erste Erfolge in der Comicbranche. Er sprach nie über sein Leben in Alaska, und Trixie und Laura fragten ihn lieber nicht danach. Er wurde ein typischer Kleinstadt-Dad, der die Fußballmannschaft trainierte und Hamburger grillte und den Rasen mähte, ein Mann, bei dem keiner je vermuten würde, dass er aufgrund einer schrecklichen Beschuldigung hatte davonlaufen wollen, auch vor sich selbst.

Daniel nahm den Radierer und rubbelte den unvollendeten Falken weg. Vielleicht sollte er mit Duncan-dem-Menschen anfangen anstatt mit Wildclaw-dem-Tier. Er nahm seinen Bleistift und fing an, die lockeren Ovale und Verbindungsstriche zu zeichnen, aus denen allmählich sein ungewöhnlicher Held Gestalt annahm. Kein Spandex, keine hohen Stiefel, keine Halbmaske: Duncans herkömmliche Verkleidung bestand aus einer abgetragenen Jacke, Jeans und Sarkasmus. Duncan hatte widerspenstiges dunkles Haar und einen dunklen Teint, genau wie Daniel. Er hatte eine Tochter in der Pubertät, genau wie Daniel. Und genau wie bei Daniel war alles, was Duncan tat oder nicht tat, mit einer Vergangenheit verknüpft, über die er kein Wort verlieren wollte.

Insgeheim zeichnete Daniel sich selbst.

Jason fuhr einen alten Volvo, der seiner Großmutter gehört hatte, bis sie starb. Zu ihrem achtundfünfzigsten Geburtstag hatte sein Großvater die Sitze in Rosa, ihrer Lieblingsfarbe, neu polstern lassen. Jason hatte Trixie erzählt, er habe am Anfang überlegt, sich wieder Polster in dem ursprünglichen hellbraunen Ton anzuschaffen, aber sollte man sich wirklich mit einer so großen Liebe anlegen?

Das Eishockeytraining war seit fünfzehn Minuten zu Ende. Trixie wartete in der Kälte, die Hände in die Jackenärmel gezogen, bis Jason mit Moss zusammen aus der Eishalle kam. Er hatte sich die wuchtige Hockeytasche über die Schulter gehängt, und er lachte.

Hoffnung gehörte ebenso pathologisch zur Pubertät wie Akne und tobende Hormone. Und wenn man der Welt ein zynisches Gesicht zeigte, so war das bloß ein Schutzmechanismus, wie ein Abdeckstift bei Pickeln, weil es zu beschämend gewesen wäre, irgendwem oder sich selbst einzugestehen, dass man trotz der Abfuhren, die man sich einhandelte, noch immer nicht ganz aufgegeben hatte.

Als Jason sie bemerkte, versuchte Trixie, nicht auf den Ausdruck zu achten, der kurz über sein Gesicht huschte – Bedauern oder vielleicht auch Resignation. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Tatsache, dass er allein auf sie zukam. »Hi«, sagte sie gelassen. »Kannst du mich nach Hause fahren?«

Er zögerte so lange, dass es ihr erneut fast das Herz zerriss. Dann nickte er und schloss sein Auto auf. Sie schob sich auf den Beifahrersitz, während Jason seine Sportsachen verstaute, den Motor anließ und das Gebläse aufdrehte. Trixie gingen tausend Fragen durch den Kopf – Wie war das Training? Meinst du, es gibt wieder Schnee? Fehl ich dir? –, aber sie konnte nicht sprechen. Es war zu viel, hier auf dem rosa Beifahrersitz nur ein Stückchen von Jason entfernt zu sitzen, so wie sie schon zigmal neben ihm in diesem Auto gesessen hatte.

Er fuhr aus der Parklücke und räusperte sich. »Geht’s dir besser?«

Als wann?, dachte sie.

»Du bist heute aus dem Unterricht gelaufen«, rief Jason ihr in Erinnerung.

Es kam ihr vor, als wäre das schon ewig her. Trixie strich sich die Haare hinter die Ohren. »Ja«, sagte sie und blickte nach unten. Sie musste daran denken, wie sie immer den Schaltknüppel festgehalten hatte, damit Jason automatisch ihre Hand ergriff, wenn er schalten musste. Sie schob die Hände unter die Oberschenkel und umklammerte den Sitzrand, um keine Dummheiten zu begehen.

»Was machst du eigentlich hier?«, fragte Jason.

»Ich wollte dich was fragen.« Trixie atmete tief ein, nahm all ihren Mut zusammen. »Wie machst du das?«

»Was denn?«

»Na, alles eben. In die Schule und zum Training gehen. Den Tag durchstehen. So tun, als ob … als ob das mit uns nicht wichtig gewesen wäre.«

Jason fluchte leise und hielt wieder an. Dann streckte er die Hand aus und strich ihr mit dem Daumen über die Wange. Bis zu diesem Moment hatte sie gar nicht gemerkt, dass sie weinte. »Trix«, seufzte er, »es war wichtig.«

Jetzt ließ sie ihren Tränen freien Lauf. »Aber ich liebe dich«, sagte Trixie. Es gab keinen Hebel, den man umlegen konnte, um den Gefühlsstrom zu stoppen, keine Möglichkeit, die Erinnerungen vertrocknen zu lassen, die sich wie Säure in ihrem Magen sammelten, weil ihr Herz nicht mehr wusste, was es damit anfangen sollte. Sie machte Jason keinen Vorwurf; sie konnte sich so ja selbst nicht leiden. Aber sie konnte auch nicht einfach wieder das Mädchen werden, das sie gewesen war, ehe sie ihm begegnete. Dieses Mädchen gab es nicht mehr.

Jason schwankte, das merkte sie ihm an. Als er sie in seine Arme zog, schob sie den Kopf an seinen Hals und öffnete die Lippen für das Salz auf seiner Haut. Danke, sagte sie leise, zu Gott oder Jason oder vielleicht auch zu beiden.

Seine Worte bewegten die Haare neben ihrem Ohr. »Trixie, du musst damit aufhören. Es ist vorbei.«

Der Satz – oder das Urteil – sauste zwischen ihnen nieder wie das Beil einer Guillotine. Trixie löste sich von ihm, wischte sich die Augen mit dem wattierten Ärmel ihrer Jacke. »Aber es geht doch hier um uns«, flüsterte sie, »wie kannst du das dann allein entscheiden?«

Als er nicht antwortete, wandte sie sich ab und starrte aus dem Fenster. Sie sah, dass sie noch immer auf dem Parkplatz waren. Sie waren kein bisschen weitergekommen.

Auf dem gesamten Nachhauseweg überlegte Laura, wie sie es Seth beibringen sollte. So schmeichelhaft es auch war, dass ein junger Mann von Anfang zwanzig sie mit ihren achtunddreißig Jahren attraktiv fand – es war auch falsch. Laura war seine Professorin. Sie war verheiratet. Sie war Mutter. Sie gehörte in eine Wirklichkeit, die aus Fakultätskonferenzen und Fachaufsätzen und Kolloquien im Hause des Dekans bestand, ganz zu schweigen von Elternsprechtagen in Trixies Schule und der beunruhigenden Erkenntnis, dass ihr Stoffwechsel sich allmählich verlangsamte. Es war unwichtig, so redete sie sich ein, dass sie sich bei Seth fühlte wie eine reife Sommerfrucht, die bald vom Baum fällt, ein Gefühl, das sie bei Daniel schon seit zehn Jahren nicht mehr gehabt hatte.

Etwas Falsches zu tun löste einen betörenden Adrenalinrausch aus, wie sie festgestellt hatte. Seth war dunkel und unausgeglichen und unberechenbar und – oh Gott, schon allein bei dem Gedanken an ihn fuhr sie viel zu schnell auf dieser Straße. Andererseits war Lauras Ehemann der solideste, verlässlichste, freundlichste Mensch in ganz Maine. Daniel vergaß nie, die Biotonne rauszustellen. Er bereitete abends schon die Kaffeemaschine für den nächsten Morgen vor, weil Laura ohne Kaffee einfach nicht gut in den Tag kam. Er hatte sich noch kein einziges Mal darüber beschwert, dass er gut zehn Jahre länger gebraucht hatte, um sich als Comiczeichner einen Namen zu machen, weil er zu Hause geblieben war und sich um Trixie gekümmert hatte. So absurd das auch klang, je perfekter er war, desto wütender wurde sie manchmal, als ob seine Großzügigkeit nur dazu diente, ihren Egoismus zu entlarven. Aber das war ganz allein ihre Schuld – schließlich hatte sie ihm damals ein Ultimatum gestellt und verlangt, dass er sich änderte.

Leider hatte sie (wenn sie ehrlich war), als sie ihn bat, sich zu ändern, nur an die Dinge gedacht, die sie zu brauchen glaubte. Was sie alles verlieren würde, war ihr nicht in den Sinn gekommen. Was sie an Seth am meisten geliebt hatte – den Nervenkitzel, etwas Verbotenes zu tun, das Wissen, dass Frauen wie sie nichts mit Männern wie ihm anfingen –, war genau das Gleiche gewesen, was sie damals in Daniels Arme getrieben hatte.

Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, Daniel von ihrer Affäre zu erzählen, aber das hätte ihn nur verletzt und nichts Gutes bewirkt. Stattdessen würde sie alles wiedergutmachen. Sie würde ihn mit Nettigkeiten überschütten. Sie würde die beste Ehefrau, die beste Mutter, die aufmerksamste Geliebte werden. Sie würde ihm etwas zurückgeben, von dem er hoffentlich noch gar nicht gemerkt hatte, dass es fehlte.

Selbst bei Dante konnte man, wenn man die Hölle durchschritten hatte, hinauf ins Paradies finden.

Im Rückspiegel sah Laura ein Feuerwerk aus roten und blauen Lichtern aufblitzen. »Verdammter Mist«, knurrte sie und fuhr rechts ran.

Ein groß gewachsener Officer stieg aus dem Streifenwagen und kam auf sie zu. »Guten Abend, Ma’am, haben Sie gemerkt, dass Sie mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren sind? Zeigen Sie mir bitte Ihren Führerschein und … Sind Sie das, Professor Stone?«

Laura spähte in das Gesicht des Polizisten. Er war noch recht jung, und er kam ihr bekannt vor. Möglicherweise ein ehemaliger Student. Hatte sie ihn gut genug benotet, um jetzt an einem Strafzettel vorbeizukommen? Sie sah ihn so zerknirscht an, wie sie konnte.

»Bernie Aylesworth«, sagte er und lächelte zu Laura hinab. »Ich hab in meinem letzten Semester Ihre Dante-Veranstaltung besucht. Das war 2001. Im Semester davor hatte ich keinen Platz mehr gekriegt.«

Ende der Leseprobe