SCHUMACHER - Romain Buffat - E-Book

SCHUMACHER E-Book

Romain Buffat

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Beschreibung

Über ihn weiss man fast nichts, nur gerade was nötig ist, um aus ihm einen Mythos zu machen. Man weiss, dass er aus den Staaten kam, dass er Ende der Fünfzigerjahre in der Luftwaffenbasis der US Air Force von Évreux in der Normandie stationiert war, und dass er dort eine Französin namens Colette kennenlernte. Der Rest ist Spekulation. Eine dichte Geschichte über einen amerikanischen Traum, eine unmögliche Liebe und nicht eingelöste Versprechen. Ein bemerkenswerter erster Roman, der im französischen Original 2018 mit dem Prix littéraire chênois und 2019 mit dem Terra Nova Preisder Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet wurde. Auf wunderbare Weise aus dem Französischen übersetzt hat Gabriela Zehnder.

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Romain Buffat

SCHUMACHER

verlag die brotsuppe

Romain Buffat

SCHUMACHER

Roman

aus dem Französischenvon Gabriela Zehnder

verlag die brotsuppe

Inhalt

Schumacher

Der Autor

Die Übersetzerin

Der Held ist dem Zufall ausgeliefert, sein Biograph der Unsicherheit der Hypothesen.

Pierre Michon, Leben der kleinen Toten

Über ihn weiss man fast nichts, nur gerade was nötig ist, um aus ihm einen Mythos zu machen.

Man weiss, dass er aus den Vereinigten Staaten kam, dass er Ende der Fünfzigerjahre in der Luftwaffenbasis der US Air Force von Évreux in der Normandie stationiert war und dass er dort eine Französin namens Colette kennenlernte.

Der Rest ist Spekulation.

Ich greife sein Leben in dem Alter auf, da er sich für eine Zukunft entscheiden muss: mit zweiundzwanzig Jahren, an einem schönen Juniabend, einem glücklichen Abend, man hat ihm sein Ingenieurdiplom überreicht. Stolz steht er vor dem Spiegel in seinem Zimmer; der schwitzende Körper schmort unter dem Talar, die Haare unter dem Bachelorhut sind nass und schlaff. Er nimmt den Hut ab, schlüpft aus der Robe und zieht ein einfaches helles Poloshirt und Jeans an. »Heute Abend wird gefeiert!«, würde man ihn mehrmals sagen hören. Er fühlt sich leicht, er ist in einem schönen Alter, eine der wichtigen Türen des Lebens hat sich eben geöffnet: Er ist jetzt erwachsen.

Vielleicht hat Lisa, seine Mutter, das Ohr an die Zimmertür ihres Schützlings gepresst, ebenfalls gehört, wie er ausrief: »Heute Abend wird gefeiert!« Ihr wurde bange, als sie spürte, wie aufgeregt ihr Sohn war, befreit vom Studium, parfümiert, um den Mädchen zu gefallen, bereit, eine ganze Menge Bier zu trinken. Dass ihn dieses Diplom in die Welt der Grossen beförderte, liess das Herz derjenigen, die ihn zweiundzwanzig Jahre früher zur Welt gebracht hatte, zwangsläufig erzittern. Im Bestreben, ihn an diesem Abend, wie auch an den kommenden Abenden vor seinem endgültigen Weggang, zu Hause zu behalten, sprach sie mit Peter, dem Vater, und äusserte ihre Bedenken gegen das Fest bei diesem Bobby Stein, »von dem man nur den Namen und das Vermögen kennt«. Der Ton wurde lauter; der Vater wollte, dass der Sohn sein Diplom begoss. »Es gibt nichts Wichtigeres als ein Diplom, ohne Diplom ist man niemand.« Er selbst hatte keines: Er war in Youngstown geboren und hatte den einzigen möglichen Weg eingeschlagen, denjenigen der Vorfahren, den Weg der Hochöfen im Nordosten von Ohio. Dank seinem Vater, Frank Schumacher, der nach seinem Tod mehr hinterliess, als er im Leben je gegeben hatte, eröffnete er aus einer Laune heraus eine Brasserie, die, ursprünglich nichts als ein Bluff, inzwischen rentabel war. Von einem russverschmierten Arbeiter wurde Peter zu einem erfolgreichen Unternehmer; seine Wahlzettel wechselten von Blau zu Rot; von einer anonymen Familie stiegen die Schumachers zu einer Youngstowner Familie auf. »Wir brauchen uns nicht mehr zu verstecken«, das war es, was er seiner Frau beibringen wollte, die zu bescheiden war und nur allzu rasch bereit, jede Ambition aufzugeben. »Wenn John zum Fest gehen will, wird er zum Fest gehen. Wenn er morgen in Nebraska Trecker fahren will, wird er nach Nebraska gehen. Und wenn er nach Afrika gehen will, soll er gehen. Einem Schumacher steht nichts im Weg, Lisa. Nichts.«

Schumacher hörte durch die Tür hindurch seinen Vater, der ihm sein Vertrauen schenkte und ihn unterstützte; genau das, was man von einem mutigen Vater, oder ganz einfach von einem Vater, erwartet. Er liebte ihn nie mehr als an diesem Abend. Nachdem sich die Wogen geglättet hatten – die Mutter trocknete die Tränen, der Vater schenkte sich ein Bier ein –, kam Schumacher aus seinem Zimmer. Er drückte der Mutter einen Kuss auf die Wange, »mach dir keine Sorgen«, bekam eine männliche Umarmung vom Vater, der ihm den schönsten Abend und die schönste Nacht wünschte – und die schönste Eroberung; das sagte er nicht, dachte es aber wahrscheinlich.

Der Abend hatte ein festes Programm: Man würde zuerst zu Stein gehen, um zu trinken, man würde zum Ball gehen, um zu tanzen, und dann würde man zurück zu Stein gehen, um weiter zu trinken.

Dennis O’Brien wartete an der Ecke der Campbell Street, wo Schumacher wohnte. O’Brien verwaltete die Zigaretten. Die Taschen seiner Jeansjacke waren vollgestopft damit, zwei Pakete für ihn, zwei für Schumacher. Der Ire, dachte Schumacher, der Ire durfte rauchen. Er machte, was er wollte: Er trank mit dem Vater Jameson, rauchte mit der Mutter Zigaretten; wobei jeder seinen Hass gegen den anderen beim Sohn entlud. Das war der Zusammenhalt der O’Briens. Er hielt die Familie am Leben, dieser Hass, den Dennis anhören, aufnehmen und ableiten musste, damit die Ehe nicht auseinanderbrach, und vor allem, das muss gesagt werden, um in den Genuss eines guten Whiskys oder einer Zigarette zu kommen. Schumacher hingegen, der schüchterne Schumacher, der es satt hatte, schüchtern zu sein, wollte seine Mutter nicht ängstigen, die Glucke von einer Mutter, die, hätte sie von seiner Abhängigkeit vom Tabak gewusst, entrüstet gewesen wäre und ihn bestraft hätte – ohne Erfolg.

Schumacher war schön an diesem Abend, erleichtert, dass er mit der Schule fertig war und endlich das richtige Leben begann. Er zog an den Zigaretten, als wollte er sie verschlingen, als wäre darin die Welt enthalten: Er hätte sie am liebsten ganz aufgesaugt, hätte sie besitzen und noch mehr lieben wollen. Dieses Diplom, dachte Schumacher, erlaubte es, die Schranken zu überwinden; alles, was vorher passiert war, hatte keine Bedeutung mehr oder würde ihm verziehen werden; er würde sich selbst verzeihen, dass er so gefügig gewesen war, ohne Format. Er war nicht länger der kleine Schumacher, er war jetzt John Schumacher.

Die beiden jungen Burschen rauchten und tranken unter dem Vordach eines Schuppens, hinter den grossen Bäumen, die den Mahoning River säumten, unweit des Yellow Creek. Hier trafen sie sich gewöhnlich am Freitagabend, wenn die Eltern sich weniger ängstlich, weniger streng zeigten. Sie wollten schon ein wenig angetrunken sein, wenn sie bei Bobby Stein ankamen, umso mehr, als Celia Prince anwesend sein würde, die schöne Celia Prince, der Schumacher ausgesuchte Worte sagen wollte. Vor dem Schuppen ein Haufen leerer Bierdosen, ein Denkmal ihrer Trinkgelage im Freien. Dort standen sie also, die beiden Amerikaner: Schumacher, der Nachkomme deutscher Einwanderer, die am Anfang des 19. Jahrhunderts hierhergekommen waren, und O’Brien, dessen irische Vorfahren in den gleichen Jahren und aus dem gleichen Grund gekommen waren: die blühende Metallindustrie in Youngstown. Sie hörten die gequälten Schreie der Züge, sahen zu, wie der Rauch aus den Hochöfen aufstieg, deren Funktionsweise sie kannten, ohne je dort gearbeitet zu haben; sie hoben jedes neue Bier in Richtung eines der Schlote und tranken auf das Wohl ihrer Ahnen. O’Brien und Schumacher gehörten zu den wenigen jungen Männern, denen es gelungen war, der Fabrikarbeit zu entgehen, oder deren Eltern es vielmehr gelungen war, ihnen die Fabrikarbeit zu ersparen. Im Herzen fühlten sie sich als Arbeiter, auch wenn ihre Hände immer sauber blieben und keine anderen Werkzeuge als den Bleistift und die Feder kannten. An der Universität galten sie als die Proletarier der Klasse – was sie nicht daran hinderte, von ihren wohlhabenderen Kameraden akzeptiert zu werden –, wobei sie beide den berühmten Grundsatz verkörperten: Wo ein Wille ist, da ist ein Weg.

Auch wenn er sich bei Bobby Stein aufspielt und raucht, eine Jeansjacke trägt wie O’Brien, tanzt und flirtet oder an der Gitarre Bill Haley nachahmt: Für Schumacher ist das nicht selbstverständlich. Er übertreibt, ihm fehlt der Stil. Die anderen mögen noch so viel trinken und wenig denken, ihre Selbstsicherheit bleibt unerschütterlich. Und als Schumacher sich in eine Gesprächsrunde drängt, ermisst er nicht, wie weit man über das, was er sagt oder nicht sagt, urteilen wird. Zuerst beglückwünscht man einander mit einer Umarmung oder einem festen Händedruck; dann erkundigt man sich, wie es weitergeht, man möchte die Zukunftspläne der anderen erfahren. Einer will nach New York gehen, um »Geld zu machen«; ein anderer weiterstudieren, Diplome sammeln; zwei weitere denken nur an ihre Heirat. Schumacher, zu ehrlich und glücklich, es zu sein, wirft leichthin in die Runde: »Ich habe keine Ahnung!« Das Grüppchen bricht in schallendes Gelächter aus, man glaubt, Schumacher sei betrunken und wisse nicht mehr, was er sage. Aber nein, Schumacher ist ernst; nüchtern war er nie an diesem Tag, an dem man ihm immer wieder mit einem Glas Champagner gratulierte; er bekräftigt, dass er sich keine Fragen stellen will, dass er nicht im Sinn hat, die Brasserie seines Vaters zu übernehmen, nicht sofort jedenfalls, er will sich Zeit lassen, er möchte etwas tun. Er fügt hinzu: »Etwas Bedeutendes tun.« Die Runde wird grösser, das Gelächter lauter. Man hört ihm zu, er ist allein (O’Brien hat sich davongemacht, um mit einem Mädchen zu spielen). Nicht zu glauben, was für eine Nummer, dieser Schumacher! Soll er doch einfach in der Brauerei seines Vaters arbeiten, und die Sache ist geritzt, der Weg geebnet, sein Leben erfolgreich. Schumacher will nichts hören und geht sogar so weit zu erklären, er könne sich gut vorstellen, ein Dichter oder Abenteurer zu werden. Man ist vielleicht gerührt oder amüsiert, doch ernst nimmt ihn niemand.

Schumacher wunderte sich vermutlich, als er merkte, dass sie verunsichert waren, besorgter um seine Zukunft, als er selbst es war. Dann kam Celia Prince, in einem blauen Kleid, mit einem Haarreif, der zart wie ein Diadem auf ihrem Kopf sass. Man berichtete ihr von Schumachers Verrücktheit. Sie prustete kurz los. Er glaubte sie zu beeindrucken. Er schmückte seinen Monolog aus, verlieh ihm einen Hauch Romantik, für die – so glaubte er – Celia empfänglich sein würde. Doch die Boote, die Vögel, die einsamen Strände Frankreichs oder Italiens, die glutroten Sonnenuntergänge, dieser ganze Wortschwall blieb ohne Wirkung auf die Schöne. Sie trank einen Schluck Brandy, und ohne Schumacher eines Blicks zu würdigen, erklärte sie, als sie die Runde verliess: »Er wird gar nichts tun.« Ihre sanfte Stimme passte nicht zum Gesagten. Er hätte antworten müssen, doch Schumacher war unfähig dazu. Was er sagte, klang hohl, er geriet ins Stocken; der Mund war wie tot. Er stotterte eine Rechtfertigung, die noch pathetischer wirkte als seine falsche Poesie von vorhin; niemand hörte ihn. Man hatte auch die Härte von Celias Urteil nicht kommentiert. Vielleicht hatte sie ihn gar nicht zu demütigen versucht. Man wechselte das Thema, die Runde löste sich auf, man ging wieder tanzen. Schumacher fühlte sich für den Rest des Abends wie ein geprügelter Hund. Er holte sich ein Bier.

Beim Ball. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er die Kühnheit besass, Celia zum Tanzen aufzufordern. Ich denke mir, dass ihm die Theke als Stütze und O’Brien als Seelentröster diente. Er erzählte ihm von der Szene. Von der Runde, seinen grossartigen Reden, vom Höhepunkt, als Celia dazukam, und dann vom Fall, von den schroffen Worten, die, wenn auch ohne Boshaftigkeit ausgesprochen, ihm seinen winzigen Triumph verdarben. Und schliesslich von der Unmöglichkeit, ein Verhältnis anzufangen mit Celia, die, so grübelte Schumacher, ihn nicht mochte, ihn nicht einmal angeblickt hatte. Nach dem Ball brachten die beiden jungen Burschen nicht die Energie auf, wie vorgesehen zu Bobby Stein zurückzukehren. Sie kippten noch zwei Bier beim Schuppen und verabredeten sich für den nächsten Tag – sie würden auf diesen Abend zurückkommen, aber mit etwas Abstand, wenn der Rausch ausgeschlafen war.