Schwanensee - Mark Helprin - E-Book

Schwanensee E-Book

Mark Helprin

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Beschreibung

Mark Helprin hat die berühmte Geschichte von Schwanensee neu erzählt und der romantischen Fassung des Stoffs, wie sie in Peter Tschaikowskis Ballett zum Klassiker geworden ist, eine tiefere Bedeutung hinzugewonnen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Mark Helprin

Schwanensee

Aus dem Amerikanischen von Hans Heinrich Wellmann

FISCHER Digital

Inhalt

Für Alexandra und Olivia [...]Einst bargen die Berge [...]Der alte Mann erzählte [...]»Ich werde dir berichten, [...]Gerüchte verbreiteten sich durch [...]»Der junge Prinz war [...]»Als der Prinz volljährig [...]»Als der Prinz zu [...]»Die Prinzessinen versammelten sich [...]»Zwei Jahre vergingen. Der [...]»Bald war der alpine [...]»Ich hoffe, daß es [...]»Mit einhundertundfünfzig seiner besten [...]»Als von Rothbart auf [...]

Für Alexandra und Olivia

M.H.

Einst bargen die Berge zwischen ihren silbergrauen Wänden einen Wald, der so abgeschieden und der Erinnerung so sanft entrückt war, daß er über den Sorgen der Welt thronte – leicht wie die blendendweißen Wolken, die manchmal an zerklüfteten Gipfeln hängenbleiben und sich wie eine Melodie auflösen. In dem Grün verstreute kalte Seen waren so tief, daß sie sich nicht ausloten ließen, und die im Licht schwebenden Wiesen an der Baumgrenze waren glatt und grün wie Jade-Tafeln.

Hier suchten die Vögel Zuflucht vor den Jägern in der Ebene und fanden höhere Reiche in Ruhe und Vollkommenheit. Und wenn auch die Kaiser- und Königreiche unten immer wieder auf ihn Anspruch erheben mochten, war doch der Wald auf seine Weise unverletzlich – eine Domäne des Herdrauchs, der vor einem makellos blauen Himmel in unbewegten Säulen aufstieg, der Berge, die mit Eis, glatt vom Wind, überzogen waren, der zartesten Luft, der weißschäumenden und sauerstoffreichen Flüsse.

Vielleicht habt ihr die Gegenwart eines solchen Ortes schon einmal gespürt, wenn in einem abgedunkelten Konzertsaal die Musik den Mond aufgehen läßt, vollkommen neu und hell, als ob das Dach sich über euch geöffnet hätte, oder wenn die Bäume in einem plötzlichen Windstoß erschauern und die Sonne unverhofft die Unterseite ihrer raschelnden Blätter aufleuchten läßt. Es gibt sie, diese Orte, wenn sie auch so schwer zu finden sind, daß man gern geneigt ist, sie für eine Illusion zu halten. Aber sie können nicht alle völlig gleich sein. Einige sind etwas besser als die anderen; einige sind viel besser; einige unvorstellbar viel besser. Wenn die Welt überall gleich wäre, könntet ihr eine Stecknadel nicht von einer Nähnadel unterscheiden. Aber das könnt ihr natürlich. Und wie steht’s mit einer Stecknadel und einem Flußpferd? Und das ist erst der Anfang. Was diejenigen betrifft, die leugnen, daß es verborgene Wälder zwischen den Bergkronen gibt, geschützte Orte, mesmerische Landschaften, die zerbrochene Herzen wieder zusammenfügen oder zumindest davor bewahren können zu zerspringen – fragt sie nach den Flußpferden und den Stecknadeln.

Der Wald war der Zufluchtsort eines alten Mannes und eines kleinen Mädchens. Sie glaubte, daß ihre Mutter und ihr Vater noch unten in der Ebene seien, in Kämpfe verstrickt, von denen sie kaum eine Vorstellung hatte. Obgleich sie sich nicht an sie erinnerte, liebte sie sie; auch hatte sie gerade ein Alter erreicht, in dem sie nichts sehnlicher wünschte, als bei ihnen zu sein. Da der alte Mann verstand, daß sie wenig mehr kannte als ihre Kindheit, gedachte er ihr etwas von der Welt zu erzählen, die sie entschlossen war zu sehen.

Das ist lange her, und in vielerlei Hinsicht war die Zeit so anders damals, daß ihr sie kaum wiedererkennen würdet, außer tief in eurem Herzen – denn euer Herz würde euch sagen, daß alle Dinge, auf die es im Leben ankommt, mehr oder weniger so sind, wie sie immer waren und immer sein werden, und daß ihr, wie jung ihr auch seid, wie glücklich ihr auch sein mögt, diese Dinge irgendwie kennt, irgendwie die Trauer kennt, irgendwie mit dabeigewesen seid.

Der alte Mann erzählte dem kleinen Mädchen oft Geschichten, wenn es in einem kleinen, mit duftendem Zedernholz getäfelten Zimmer in ihrem Bett lag. Geschichten, die zum Träumen anregten. Aber diese Geschichte hier war bestimmt für das helle Tageslicht, und er wollte sie ihr erzählen und tat es an einem späten Sommernachmittag, als die Rosen warm waren und sich ganz geöffnet hatten und das Heu in trockenen, blonden Garben stand.

Sie hatten seit dem Morgengrauen gearbeitet. Sie waren erschöpft. Die schwere Arbeit, sommers wie winters, hatte das kleine Mädchen immer für etwas Selbstverständliches gehalten, und sie war stets mit der Sonne aufgestanden und war ins Bett gegangen, wenn die Sonne unterging. Doch er hatte Mädchen gekannt, mit genauso blauen Augen und flachsfarbenem Haar wie sie, die nicht eine Minute ihres Lebens gearbeitet hatten und nicht daran dachten, es jemals zu tun. Deswegen sah er ihr manches nach, wenn sie sich neben ihm abmühte. Sie wußte schließlich, daß die Milch, die sie trank, und der Käse, den sie aß, von ihren Kühen stammten und daß die Kühe das Heu fraßen, das sie geschnitten und aufgeworfen hatte. So erschien ihr die Arbeit nicht nur durch die Gewohnheit, sondern auch durch die wirtschaftliche Notwendigkeit gerechtfertigt.

Dennoch war er gerührt und stolz, wenn er sie in einer Ecke der Veranda sitzen sah, wo sie sich, Spuren von Salz auf dem sonnengebräunten Gesicht, von der Hitze erholte. Obgleich sie Stürme, Hagelschloße und dunkle Tage erlebt hatte und obgleich sie Einsamkeit, Kälte und Hunger kannte, war sie doch nie dem Betrug, der Bosheit oder der Habsucht begegnet und war überzeugt, sie gegebenenfalls leicht besiegen zu können. Ihr Vertrauen spiegelte sich in dem reinen und offenen Ausdruck ihres Gesichtes.

»Hast du immer noch die Absicht, in die Ebene hinabzusteigen, um nach deiner Mutter und deinem Vater zu suchen?« fragte er, da er nicht, besonders jetzt nicht, wollte, daß sie wegging.

»Ja«, antwortete sie.

»Also gut«, sagte er. »Nächstes Jahr, Anfang des Sommers, schicke ich dich mit Anna hinunter. «

»Wer hilft dir dann bei der Ernte?« fragte sie.

»Ich schaffe es allein. Anna nimmt dich mit. Im übrigen bist du bis zur Erntezeit vielleicht schon wieder zurück.«

»Warum nimmst du mich nicht mit? Warum muß ich mit Anna gehen? Ich möchte nicht mit ihr gehen. Ihre Augen wollen ja nichts anderes sehen als das Ende ihres Besenstiels.«

»Sag das nicht über Anna. Das ist nicht nett. Ich kann ohnehin nicht hinuntergehen.«

»Warum nicht?«

»Ich will nicht.«

»Willst du nicht, oder kannst du nicht?«

»Beides. Wenn man älter wird«, sagte er, »geht das eine leicht in das andere über. Du wirst manche Dinge leid, vor allem, wenn sie sich wiederholen – sei es in Wirklichkeit oder in deinen Gedanken. Mir wäre unerträglich, mein Leben dort noch einmal aufnehmen zu müssen. Hier brauche ich all meine Kämpfe nicht noch einmal zu kämpfen.«

»Aber du hast große Dinge vollbracht«, beharrte sie. »Du kanntest den Kaiser. Anna hat es mir gesagt. «

»Anna hätte nicht darüber sprechen sollen.«

»Stimmt es denn nicht?«

»Ja, ich kannte den Kaiser. Aber er ist nicht mehr Kaiser, und obwohl die Menschen seiner Umgebung glaubten, an seinem Glanz teilzuhaben, wachten sie eines Tages auf, um zu entdecken, daß alles vergeblich gewesen war. Mein Leben hatte keinen Sinn, bis ich hier herkam und mich von meinem Ehrgeiz befreite.«

»Wie alt warst du da?«

»Fast sechzig.«

Sie sah ihn ausdruckslos an, da sie sich einen Zeitraum von sechzig Jahren nicht vorstellen konnte.

»Du solltest vielleicht etwas darüber wissen, was in meinem Leben geschah, bevor du geboren wurdest«, sagte er, »jetzt, da du dort hinunterziehen willst, wo alles so anders ist.«

Als er zu sprechen begann, zog sie die Knie an die Brust und ließ – geschmeidig, wie nur ein Kind unter zehn Jahren sein kann – völlig entspannt das Kinn auf ihnen ruhen. Die Grillen sangen in der Hitze des Nachmittags, und der Hintergrund, den sie seiner Geschichte gaben, war wie golddurchwirkter Brokat.

»Ich werde dir berichten, wie ich den Kaiser kennenlernte, aber du darfst es nie jemandem weitererzählen. Das sage ich nicht, um mich zu schützen, sondern um dich zu schützen. Ich bin sicher vor Vergeltungsmaßnahmen, und seine Herrschaft ist lange vorüber.

Ich bin in meinem Leben immer meiner eigenen Nase gefolgt und hatte nichts dagegen, arm zu sein und verachtet zu werden, da mein Vater mich in der Überzeugung großgezogen hatte, daß Einigkeit zwischen mehr als zwei Menschen, mögen sie noch so vernünftig oder gerecht sein, rasch zu einer gefährlichen Form der Illusion wird und bald in Anmaßung und Machtlust ausartet. So ließ ich meinen Meinungen in den Büchern und Artikeln, die ich schrieb, freien Lauf – ein großer Luxus, zugegeben –, und ich konnte das tun, weil ich die Strafen mißachtete, die denen drohten, die nicht mit der öffentlichen Meinung übereinstimmten. Ich war immer bereit, körperlich zu arbeiten – wie ich es auch getan habe –, da ich seit meiner Kindheit die Freude kannte, die einem ein guter Arbeitstag auf dem Felde beschert.«

»Aber er ist sehr schwer«, sagte das kleine Mädchen, und sie sprach aus Erfahrung.

»Natürlich ist er schwer, aber je härter du arbeitest, desto besser fühlst du dich – vorausgesetzt, du hast, wie wir, ein Stück Land und kannst eine gute Ernte erwarten.«

Sie nickte ernst.

»Wenn du in der Sonne arbeitest, auf deinem eigenen Feld, gibt es keine Illusionen, die wertvolle Zeit kosten, keine Meinungsverschiedenheiten, keine Intrigen – nur unfehlbare Naturgesetze, und sie verraten dich nie …«

»Und wenn du krank bist?«

»Das ist kein Verrat. Gott und die Natur verheißen Sterblichkeit, und Krankheit ist eine Probe der Sterblichkeit.« Er hielt einen Augenblick inne. Obgleich sie aufmerksam zuhörte, verstand sie ihn nicht, was wahrscheinlich ihrem Alter angemessen war. So fuhr er fort.

»Wie die Dinge lagen, hatte ich es schwer im Leben, und in nur wenigen Jahren schaffte ich es, fast jedem in der Hauptstadt fremd zu werden; und doch bat ich niemanden um Hilfe oder Schutz. Wie du weißt, empfinde ich die bloße Tatsache, daß Menschen in bequemer Übereinkunft leben, als fragwürdig. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, daß afrikanische Termiten über meinen ganzen Körper krabbelten – dasselbe Gefühl, das ich habe, wenn ich Gesellschaftskleidung tragen muß.

Je älter ich wurde, desto ärmer wurde ich, bis ich mich schließlich gezwungen sah, auf dem Dachboden einer Scheune, auf einem Truthahnhof am Stadtrand, zu hausen. Das Dach war so niedrig, daß ich nur in der Mitte des Bodens aufrecht stehen konnte, und ich stieß immer mit dem Kopf gegen die Balken.«

»Das ist ja schrecklich!«

»Ich kam zurecht. Ich hatte gelernt, über den Tellerrand hinauszuschauen, und ich war nicht enttäuscht von dem, was ich sah.«

»Ich meine die Sache mit den Balken.«