Schwarzer Freitag - Peter Schmidt - E-Book

Schwarzer Freitag E-Book

Peter Schmidt

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Beschreibung

"Die Schittecks waren moralisch und sozial zutiefst minderwertig … Wenn ich jetzt in der Vergangenheitsform von ihnen rede, dann weil niemand nach ihrem mysteriösen Verschwinden mehr etwas von ihnen gehört hat, außer dass sie wie ein tropischer Wirbelsturm über unser Viertel hinweggefegt sind und genauso viele Spuren der Zerstörung hinterlassen haben. Sie zogen vor siebeneinhalb Monaten ins Nachbarhaus ein, und seitdem hat sich mein Leben grundlegender verändert als in den vierzig Jahren davor. Die Schittecks haben mich mehr in Atem gehalten als ein Monsterfilm."

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Peter Schmidt

Schwarzer Freitag

Thriller

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

ZUM BUCH

PRESSESTIMMEN

ÜBER DEN AUTOR

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WEITERE TITEL

Impressum neobooks

ZUM BUCH

Erotischer Thriller, rabenschwarz und voller hintergründiger Überraschungen ...

"Die Schittecks waren moralisch und sozial zutiefst minderwertig … Wenn ich jetzt in der Vergangenheitsform von ihnen rede, dann weil niemand nach ihrem mysteriösen Verschwinden mehr etwas von ihnen gehört hat, außer dass sie wie ein tropischer Wirbelsturm über unser Viertel hinweggefegt sind und genauso viele Spuren der Zerstörung hinterlassen haben. Sie zogen vor siebeneinhalb Monaten ins Nachbarhaus ein, und seitdem hat sich mein Leben grundlegender verändert als in den vierzig Jahren davor. Die Schittecks haben mich mehr in Atem gehalten als ein Monsterfilm."

PRESSESTIMMEN

http://autor-peter-schmidt-pressestimmen.blogspot.de/

„Unter den deutschen Kriminalschriftstellern ist der Westfale Schmidt fraglos einer der wenigen, die wirklich erzählerisches Format besitzen.“

(Hamburger Abendblatt)

"Schmidt weiß Pointen zu setzen, mit dramaturgischen Kniffen zu spielen, den Spannungsbogen klug aufzubauen. Der Roman bietet sich zur Verfilmung an. Schmidts Stärke liegt in der Präzision, mit der er Charaktere und Situationen beschreibt."

(WAZ)

„In der deutschen Krimilandschaft ist Schwarzer Freitag ein literarisches Geschenk! So durchtrieben, hintergründig, ironisch und überaus unterhaltsam hat wohl noch kaum ein deutscher Kriminalschriftsteller seinem überragenden Talent freien Lauf gelassen.“

(Hans Walther, Kritiker)

Peter Schmidt versteht es ausgesprochen gekonnt, spannende, nervenaufreibende Unterhaltung mit ironischen Seitenhieben, hellsichtigen Extrapolationen und tiefsinniger philosophischer Unterfütterung zusammenzuführen.

ÜBER DEN AUTOR

Peter Schmidt, geboren im westfälischen Gescher, Schriftsteller und Philosoph, gilt selbst dem Altmeister des Spionagethrillers John le Carré als einer der führenden deutschen Autoren des Spionageromans und Politthrillers. Darüber hinaus veröffentlichte er Kriminalkomödien, aber auch Medizinthriller (zuletzt „Endorphase-X“), Wissenschaftsthriller, Psychothriller und Detektivromane.

Bereits dreimal erhielt er den Deutschen Krimipreis („Erfindergeist“, „Die Stunde des Geschichtenerzählers“ und „Das Veteranentreffen“). Für sein bisheriges Gesamtwerk wurde er mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet.

1

Die Schittecks waren moralisch und sozial zutiefst minderwertig …

Wenn ich jetzt in der Vergangenheitsform von ihnen rede, dann weil niemand nach ihrem mysteriösen Verschwinden mehr etwas von ihnen gehört hat, außer dass sie wie ein tropischer Wirbelsturm über unser Viertel hinweggefegt sind und genauso viele Spuren der Zerstörung hinterlassen haben.

Sie zogen vor siebeneinhalb Monaten ins Nachbarhaus ein, und seitdem hat sich mein Leben grundlegender verändert als in den vierzig Jahren zuvor. Die Schittecks haben mich mehr in Atem gehalten als ein Monsterfilm …

Alles begann damit, dass ich im Lehnstuhl saß und für Xaveria Arbeiten im Leistungskurs Geschichte durchsah.

Seitdem sie dreißig Kilo abgespeckt hatte und alle Anzeichen einer magersüchtigen Asketin entwickelte, fiel ihr das Korrigieren von Klausurarbeiten immer schwerer.

Für mich dagegen hatte es sich gerade zu einer Art meditativer Rückbesinnung auf die wahren Werte des Lebens entwickelt.

Eines der Schitteckkinder war auf den großen Apfelbaum vor unserem Wohnzimmerfenster geklettert. Es hing dort mit beiden Armen und Beinen einen starken Ast umklammernd, den Kopf nach unten wie ein Kletteraffe und musste mich so schon eine ganze Weile beim Korrigieren beobachtet haben …

Ob es männlichen oder weiblichen Geschlechts war, konnte ich aus dieser Entfernung nicht erkennen, weil ich gerade meine Brille verlegt hatte.

Als es eine Weile zu mir hereingestarrt hatte, rief es: "He, du vertrocknete alte Religionsschwuchtel ..."

Was auch immer das Wort "Schwuchtel" in seiner kindlichen Vorstellung bedeuten mochte und warum es glaubte, dass ich Religionslehrer sei (ich war zwar Lehrer für Philosophie und Religion, momentan aber Leiter eines "Schulversuchs im Unterrichtsfach Ökologie" an der örtlichen Gesamtschule, einem glatten, finsteren Felssteinbau) – dies schien der Tag zu sein, an dem ich im Sinnen und Trachten der Schittecks einen festen Platz einzunehmen begann.

Die Schittecks bestanden aus einer nicht genau zu ermittelnden Anzahl von Familienmitgliedern, und jedes von ihnen besaß die Gabe, einem Alpträume zu verursachen, gegen die gewöhnliche Alpträume wie das Zählen von Schäfchen beim Einschlafen sind.

Ich bin zu einem Monstrum, einer kriminellen Bestie ohne Gewissen geworden, jederzeit bereit, in die Landeszentralbank einzubrechen, wenn das Risiko in einem vernünftigen Verhältnis zum Gewinn steht. Oder dem Papst obszöne Briefe zu schicken, falls es meinem seelischen Wohlbefinden dient.

Man jagte mich durch die finstersten Höllen der Selbsterkenntnis. Ich zünde mir mit den Seiten des Neuen Testaments einen Joint nach dem anderen an und rauche Marihuana, dem Opium zugesetzt wurde. Oder noch schlimmer: Crack.

Denn Crack, das aus Kokain mit Backpulver zu hitzebeständigen weißen Klümpchen verbacken wird, dringt innerhalb von zehn Sekunden in jene mysteriöse Bereiche des Gehirns ein, wo sich das seltsam flackernde Etwas befindet, das wir "Ich" nennen, und schädigt die normale Funktion der Gehirnnerven auf Jahre.

Ich erwache manchmal, während ich nachts auf der anderen Seite des Erdballs unter der Dusche stehe, und frage mich, wie ich dorthin gelangt bin. Durch Telekinese oder posthypnotischen Auftrag?

Ich glaube, ich habe noch nicht erwähnt, dass die Schittecks medial überdurchschnittlich begabt waren?

Xaveria behauptete sogar, dass sie Hundezwinger und Igel durch die Luft fliegen lassen konnten.

Die Schittecks waren Kraken. Böse Geister in Menschengestalt, der Hades hatte sie ausgespieen, und wenig später trieben sie in unserer friedlichen Kommune ihr Unwesen und ließen den Boden durch rauschende Feste erbeben.

Saß man gemütlich auf der Veranda, um ein paar Psalmen zu lesen und darüber nachdenken, warum Jesus wohl so unchristlich gewesen war, den Teufel in die Gadarener Säue fahren zu lassen, so machte sich ihre Anwesenheit schon dadurch bemerkbar, dass die Gläser auf dem Tisch zu zittern begannen.

Die Gegend hatte einen neuen Erdbebenherd bekommen …

Nun gut, mag sein, dass ich parteiisch bin und übertreibe, und dass sie nur ein weniger ausgelassener als normale Menschen feierten. Aber soviel ist jedenfalls verbürgt:

Ich habe in meinem Leben noch keine Familie kennengelernt, die weniger Wert auf das Urteil und die Meinung ihrer Mitmenschen legte.

Schitteck senior war ein arbeitsloser Dieb und Betrüger. Seine Frau Elvira schien alles auf einmal zu sein, Hausfrau und Stripteasetänzerin, Medium spiritistischer Sitzungen, Wahrsagerin, Reinemachefrau.

Aber am liebsten lag sie in ihrer Hängematte zwischen den alten Gartenbäumen und überließ die Schitteckkinder ihrer natürlichen Raubtiergesinnung. Oder sann darüber nach, womit sie eine arme Seele wie mich dem Teufel zuführen könnte ...

Vier ihrer acht bis fünfzehn Gören lebten als sogenannte "Vollwaisen" bei sozial gesinnten Familien und tauchten nur zu Geburtstagen und ähnlich lukrativen Festlichkeiten im Hause der Schittecks auf. Das genialste Schitteckkind aber dürfte Lutz gewesen sein.

Lutz war ungefähr zwölf Jahre alt, trug das Haupt eines frühzeitig gealterten Mannes auf den schmächtigen Schultern und galt in seiner Familie als hellster Kopf der Neuzeit.

Er trank täglich bis zu zwanzig Tassen Kaffee oder, alternativ, fünf Literflaschen Coca-Cola, und verzehrte, bequem auf der Bordsteinkante hingeflegelt, die Flasche griffbereit, wahre Unmengen von Lakritzschnecken.

Das Koffein schien die kreativen Zentren seines Gehirns zu stimulieren, denn wahrscheinlich war kurz darauf der Motor meiner Ökopumpe als Antrieb für einen neuen Typ von Schlauchboot zweckentfremdet worden, das heulend über den Teich jagte.

Oder ich entdeckte, dass er mein Verandageländer an einen vorbeifahrenden Antiquitätenhändler verkauft hatte. Und einige dieser kreativen Anfälle waren auch dafür verantwortlich, dass ich nicht mehr bin, was ich war, sondern auf meine alten Tage (ich bin fünfzig, fühle mich aber eher wie achtundsechzig) die Polizei mehr fürchte als den Ausschluss aus der evangelischen Kirche.

Jemand behauptete zwar, die Schitteckkinder besäßen gar kein Gehirn und wollte sogar das Bild einer Kernspin-Tomografie gesehen haben. Die betreffende Stelle im Kopf habe einen weißen Fleck gezeigt.

Aber das war angesichts ihrer schöpferischen Energien wohl nur eine böswillige Verleumdung.

Ich glaube, dass sie sehr wohl Gehirne hatten – und dass sie gleich nach der Geburt dem Teufel geweiht wurden.

Den Schittecks war nichts heilig. Sie kippten ihre Abfälle aus dem Fenster auf die Straße und ließen das Haus um Mitternacht von Rock- und Popmusik erbeben.

Unbarmherzig helle Scheinwerfer erleuchteten das Areal, damit jemand, der sich der Veranda näherte und höflich um ein wenig Nachtruhe bat, unweigerlich von einem aus dem Fenster fallenden Blumentopf oder dem Schuss aus einer Luftpistole getroffen wurde.

Denn die Schittecks waren begabte Schützen, sie hatten, wie man so schön sagt, "Zielwasser getrunken". Ihre manuelle Geschicklichkeit ließ jeden professionellen Jongleur erbleichen.

Ich sah in ihren Gesichtern die rumänische Abstammung und das – genetisch nur unwesentlich verwischte – Zigeunerblut.

Andere dagegen behaupteten, nichts von alledem darin entdecken zu können, sondern eine eher nordische Herkunft. Wären die Schittecks gewöhnliche Asylanten gewesen – wie einfach, sie mit ein paar Eisenstangen oder Molotowcocktails aus der Stadt zu jagen.

Aber leider waren sie nie so dumm oder leichtsinnig, bei der Ausländerbehörde Anträge wegen politischer Verfolgung zu stellen.

2

Meine erste Begegnung mit Dagmar, der minderjährigen Tochter aus einer "eingeschobenen Beziehung" (wie der Terminustechnicus im Hause der Schittecks lautete), hinterließ in mir beträchtliche Zweifel an meiner sexuellen Verfassung.

Ich habe in meinem Leben Lolita von Nabokow vielleicht zwölf bis achtzehnmal gelesen und bin mit den dort beschriebenen Problemen älterer Männer bestens vertraut.

Von der Theorie her sollte es also kein nennenswertes Defizit bei mir geben.

Aber leider hat sich auch für mich herausgestellt, das Theorie und Praxis wohl immer zwei verschiedene Schuhe bleiben werden.

Es war einer jener sonnigen Samstagnachmittage, an denen ich gern hinter dem Haus im Schatten zweier knorriger Walnussbäume saß, um mich ganz meinen weltanschaulichen Überlegungen hinzugeben.

Ich atmete die Freiheit des Geistes, das heißt, ich dachte darüber nach, warum ich in einer Zeit wie dieser, wo der materielle Verstand die Oberhand über die Vernunft erlangt hat und die Welt von Mikroprozessoren und Antibabypillen gesteuert wird, einem so antiquiert anmutenden Beruf wie dem des Philosophielehrers nachging.

Die Antwort ist, dass ich ihn als Bastion und Oase empfand. Irokesenhaarschnitt, infrarotgesteuerte Bomben, Latexpenisse und Computerspiele, bei denen Asylanten gejagt und Kopfprämien vergeben werden – das alles verliert seine Wirkung, wird aufgehoben und verwandelt angesichts eines zweieinhalbtausend Jahre alten Nachdenkens über die Frage, was es mit der Welt auf sich hat.

Durch das Küchenfenster hörte ich Xaveria zum sechsten Male in dieser Woche den Eichenboden schrubben (man hatte sie wegen ihrer nervösen Beschwerden für ein paar Tage vom Schuldienst beurlaubt).

Dass er so hygienisch wie ein ausgeglühtes Pizzabrett war, verschaffte mir ein sicheres Gefühl, denn schon die Vorstellung von schädlichen Keimen löst allergischen Schnupfen bei mir aus.

Den Schittecks bereitete es gerade Vergnügen, den größten, als "Feuchtbiotop" deklarierten Badesee des Landes anzulegen. Die Überschwemmung reichte bis zum Anwesen der Klein-Familie ...

Glücklicherweise stand ihr Bungalow auf einer natürlichen Anhöhe. Die Häuser von BIO-EINS waren wie Rom auf sieben Hügeln erbaut, jedes mit eigener Holzveranda, Gras- und Kräuteranpflanzungen, Sträuchern und langstieligen Wildblumen.

Wir hatten vor elf Jahren einen verfallenen Militärkomplex zwischen verkehrsumtosten Wohnsilos und dem Chemiewerk erworben, um darauf eine umweltbewusste Musterlandschaft anzulegen, ein Vorbild für das Wohnen der Zukunft.

Durch einen etwa hundertfünfzig Meter langen Hohlweg, über den zwei Reihen dicker Rohre des Chemiewerks in die benachbarte Entsorgungsstation und zur Raffinerie laufen, gelangte man von BIO-EINS zu BIO-ZWEI.

BIO-ZWEI war so etwas wie die größere Schwester von BIO-EINS.

Das Areal wurde unserer Schule eigens von der Landesregierung für meinen "Schulversuch im Unterrichtsfach Ökologie" zur Verfügung gestellt, um die Richtigkeit der ökologischen Weltauffassung zu demonstrieren – unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten übrigens, was der örtlichen Presse immer wieder Anlas bot, kleine Artikel über unsere Arbeit zu verfassen.

Ihr besonderes Interesse galt dabei einem Lebewesen, das BIO-ZWEI zum fast schon mystischen Wallfahrtsort der Biologen und Umweltschützer machte.

Dort hatte sich nämlich – offenbar durch Mutation und wohl nicht ganz ohne Zutun des benachbarten Chemiewerks und der Bodenstrahlung – aus dem gewöhnlichen gelbbraunen Grasfrosch, der früher in den Feuchtbiotopen der Teiche und Bäche lebte, der "schwarzgrau melierte Kohlenfrosch" entwickelt.

Obwohl in BIO-ZWEI an manchen Tagen immer noch kleine Rauchsäulen aus dem im Boden glühenden Koks aufstiegen, war das Gelände inzwischen vollständig bepflanzt und wieder so verwildert, dass man von einer nachindustriellen Urlandschaft sprechen konnte.

Allerdings wurde es wegen des leicht radioaktiv strahlenden Abraums nie zur Bebauung freigegeben.

BIO-EINS dagegen stand trotz der Nachbarschaft des Chemiewerks und der Raffinerie auf bestem Grund und Boden, weil der Wind gewöhnlich in nördliche Richtung wehte.

Aus den Fenstern der Mietskasernen, die uns wie hohe Gefängnisbauten umgaben, beobachtete man ungläubig und immer noch voller Argwohn das Spiel der drei Windkrafträder auf den Hügelkuppen, die Solarzellen und bepflanzten Erddächer, und wartete darauf, ob nicht doch noch ein einziger starker Regenguss unsere Bungalows aus Holz und Lehm-Knochenleim-Sägemehl-Mischung einfach hinwegschwemmen könnte.

Das Material wurde am Institut für ökologische Rohstoffe entwickelt und soll haltbarer sein als gewöhnlicher Mörtel.

Es war eine heile Welt, gegen die alle Lustwogen der Spielsalons, Peepshows und Sexläden aus den angrenzenden Bezirken immer wieder vergeblich anbrandeten. Zwar fraß sich das Unheil trotz unseres erfolgreichen Versuchs wie beim Tageabbau der Braunkohle unaufhörlich weiter, aber es hatte sich dafür die ergiebigeren Randzonen der Stadt ausgesucht.

Die Schittecks hatten genau wie wir eine völlig unbefangene Beziehung zum Unkraut. Es konnte gar nicht hoch genug wachsen.

Darin waren sie ökologisch durchaus auf der Höhe der Zeit und "Alternative" im wahrsten Sinne des Wortes. Vielleicht glaubten sie ja, der alte Brookmann habe ihnen mit dem Haus und seinem Anteil am Gelände von BIO-EINS auch das Recht vererbt, ungehemmt und ohne jeden Skrupel ihre ökologischen Schnapsideen auszuleben.

Brookmann hatte in unserer letzten Mitgliederversammlung vor seinem mysteriösen Verschwinden gegen die Satzung von BIO-EINS durchgesetzt, dass er selbst einen würdigen Nachfolger bestimmen dürfe. Mit einer Einschränkung allerdings:

Seine Erben sollten die Ideale von BIO-EINS genauso ernst nehmen wie seine Gründer. Und genau an jenem Samstagnachmittag, als das Unkraut etwa Mannshöhe erreicht hatte, begannen die Schittecks mit der Einleitung undefinierbarer graubrauner Flüssigkeiten in die Senke. Ich saß in meinem Liegestuhl und versuchte eben eine gedankliche Beziehung zwischen Heideggers "Abgrenzung der Daseinsanalytik gegen Anthropologie, Psychologie und Biologie" und meiner Vorstellung von einem selbstverantwortlichen menschlichen Wesen herzustellen, als ein ungewöhnliches Glucksen zu hören war.

Es schwappte und brodelte jenseits der kniehohen, von Farnen überwucherten Lehmmauer, die unsere Gärten trennt. Dann trieb eine leere Apfelsinenkiste vorüber.

Gleich darauf sah ich den alten Schitteck bis zur Brust im Wasser waten. Er trug einen grünen Angleranzug mit angeschweißten Stiefeln. Die Stange in seiner Hand diente offenbar dazu, den Wasserstand zu ermitteln.

Als er ein paarmal damit herumgestakt hatte, warf er sie weg, riss seine Arme über den Kopf – und irgendwo im Haus ertönte Freudengeheul.

Die Einleitung der trüben Flüssigkeit wurde gestoppt.

Seitdem sind wir Anlieger eines beachtlichen Weihers. Anfangs hatte ich dem Teich keinerlei Überlebenschancen gegeben. Ich hoffte, die jaucheähnliche Brühe würde sofort wieder im Boden versickern. Aber das Erdreich wehrte sich zu Recht und mit Erfolg dagegen, auf diese scheußliche Weise verunreinigt zu werden.

Ein paar Minuten, nachdem sich das Ufer wie bei der Erschaffung der Erde als braune Kruste im Dunst abzuzeichnen begann, tauchte Dagmar mit Handtuch, Luftmatratze und Sonnenbrille am "Strand" auf.

Sie hatte sich einen Flecken ausgesucht, der neben meinen Walnussbäumen lag. Ein Radio plärrte, und der Geruch von stark parfümiertem Sonnenschutzmittel wehte zu mir herüber. Dagmar war frühreif, was ihre obere Körperhälfte anbelangte, und sie bemerkte, dass ich es bemerkte.

Wir spielten eine Zeit lang das Spiel: "Niemand schaut hin, wenn ich gerade hinschaue", aber die Sache wurde ihr schnell langweilig.

Als ich mich wieder meinem Buch widmete, erfasste sie deutliche Unruhe. Ich nahm es aus den Augenwinkeln wahr – die Sonne hatte sich schamhaft hinter ein paar aufgetürmten Gewitterwolken versteckt –, und plötzlich wisperte ihre Stimme gerade so laut, dass der alte Schitteck es bei seiner Uferbegehung durchs hohe Unkraut nicht hören konnte:

"Hallo Alter, wie wär's denn mit uns beiden? Ein paar flotte Minuten im Kartoffelkeller gefällig? Müsste mal wieder meine Kasse aufbessern. Die Eintrittspreise in eueren verdammten Vorort-Diskos sind ja kaum noch zu bezahlen."

Ich horchte so ungläubig dem Klang ihrer Worte nach, als ertöne Marias Stimme vom Nebenaltar (obwohl das für einen evangelischen Christen keinen allzu großen Stellenwert haben sollte.)

"Hat's dir etwa die Sprache verschlagen? Sieh mal, was ich dir mitgebracht habe ..."

Sie hob ihre Schätze, zwei volle Hände. Es waren glatte weiße Jungmädchenbrüste, und mir rutschte vor Verblüffung der Heidegger ins Gras.

"Deine Frau schrubbt gerade wieder mal die Küche, und mein alter Herr wird sich jetzt ins Haus verdrücken, um die Goldfische im Weiher auszusetzen."

"Haben Sie denn gar keinen Freund, der Sie in die Disko einladen könnte?"

"Was denn, nur einen Freund? Ich bin ein Mädchen, das auf mehr als einer Flöte bläst, falls dir das was sagen sollte. Las uns hier verschwinden und schenk mir ein paar klitzekleine Ohrringe."

"Und wohin, wenn ich fragen darf?"

"Am Bahnhof gibt's ein hübsches kleines Stundenhotel mit Hintereingang."

Ein Angebot, wie dazu geschaffen, um mir in meiner beruflichen Stellung Läuse in den Pelz zu setzen. Aber ich sagte mir, dass ich schon viele junge Menschen auf den rechten Weg zurückgebracht hatte, und dieses Mädchen hatte es sicher bitter nötig.

Wenn ich ihr jetzt einen Korb gab, würde vermutlich ein anderer an meine Stelle treten. Aids, Schwangerschaft, Suizidgefahr.

Die Zahl möglicher Nachrücker aus den freudlosen Wohnsilos der Umgebung lag nahe bei unendlich.

"Na, wie steht's denn mit uns beiden?"

Ihre Stimme war so scharf und schneidend, dass der alte Schitteck, der eben eine volle Zinkwanne aus dem Haus trug, sich angesprochen fühlte und mit zahnlosem Mund herüberrief: "Ich setze Zappel und Wuddi gerade am Nordufer aus, Dagmar."

"Hab verstanden, Paps ... und pass gut auf, dass Wotan Zappel keine Kinder macht."

Xaveria erschien wegen des Lärms am Fenster und warf einen argwöhnischen Blick auf mich und das Walnussgehölz. Glücklicherweise waren die Kronen so dicht, dass sie ihr den Blick auf Schittecks brünstige Tochter versperrten.

Ich winkte Xaveria zu, und sie winkte dank dieser unerwarteten Liebesbezeigung verhalten zurück.

"Dein Heidegger ist ins Gras gefallen", rief sie herunter.

"Ja, ich weiß."

"Las dich doch vom Eierhändler bespringen", wisperte Dagmars böses Stimmchen hinter der Mauer.

"Der Eiermann ist im Urlaub", rief Xaveria, die Behinderte, die Schwerhörige. "Wenn du zum Abendbrot Eier willst, musst du dir welche im Konsum besorgen."

Hinter mir antwortete ein wasserhelles Kichern.

Ich sagte: "Nein, danke, hab's mir anders überlegt. Wahrscheinlich werde ich heute Abend fasten."

"Du wirst dich noch wie ich zu Tode hungern."

"Jesus hat in der Wüste vierzig Tage gefastet, und es hat weder ihm noch seiner Sekte irgend etwas anhaben können."

"Du und dein religiöser Tick", erwiderte sie und schlug das Fenster zu. Sie war eine Frau, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Realitäten stand (wenn diese Beine nicht gerade wegen exzessiven Fastens ins Zittern gerieten).

Dass sie ausgerechnet einen evangelischen Philosophielehrer geheiratet hatte, konnte ihr nur in einer Lebensphase jugendlichen Leichtsinns und romantischer Umnachtung unterlaufen sein. Heutzutage hätte sie sicher einen Schlossermeister vorgezogen, der um Mitternacht aufstand, um tropfende Wasserhähne zu reparieren.

Oder einen Anstreicher, der ihr zweimal im Monat das Haus tapezierte.

Wahrscheinlich würde sie einen hysterischen Schreikrampf bekommen, wenn sie das schmutzigbraune Feuchtbiotop der Schittecks entdeckte. Aber da ihr Blick niemals die Grenze unseres Gartens zu überschreiten pflegte, war die Gefahr gering.

Sie war wie jemand, der nicht über den Rand seiner ganz privaten kleinen Welt hinauszublicken vermochte, es sei denn, als für die Schule aufbereitete "Lehreinheit".

"In fünfzehn Minuten an der Bushaltestelle", sagte ich über die Mauer. Es gab Seelen, die gerettet werden wollten, und andere, bei denen jeder Versuch vergeblich sein würde. Jesus oder Ludwig Wittgenstein stehe mir bei.

3

Wenn keine besonderen Gründe (Schwangerschaften, lebensbedrohliche Krankheiten) dagegen sprachen, begann der Tag der Schittecks gewöhnlich mit Sirenengeheul – einem auf- und abschwellenden Ton wie beim Luftalarm.

Dagmar hatte mir anvertraut, dass dieser nervenaufreibende Lärm der einzige Schachzug sei, ihre Familie vor dem Mittagessen aus den Betten zu treiben. Angesichts einer Welt, deren Sinn sich dem Wachen immer mehr verschließt, vielleicht gar keine schlechte Methode, um dem Schicksal eins auszuwischen.

Möglicherweise ahnten oder witterten die Schittecks auch schon wie Tauben und Katzen beim Erdbeben den kommenden Weltuntergang – die Endzeit, die für weniger medial begabte Gemüter leicht am Treibhauseffekt, an der Zunahme der UV-Strahlung, der Verseuchung des Grundwassers und dem Anstieg der Ozeane abzulesen ist.

Als Beweis für die medialen Fähigkeiten der Schittecks brauchte man sich nur unsere Telefonverbindungen anzusehen.

Jeder normale Mensch greift bei so erbarmungslosen Ruhestörungen sofort zum Hörer, um Anzeige zu erstatten. Aber die Leitungen waren während ihres Sirenengeheuls tot.

Klein, der an Herzasthma leidet, gab nach drei Versuchen auf, und ich selbst konnte seine Beobachtung nur bestätigen, weil ich der Sache schon aus beruflichem Interesse an jeder Art von okkulten Phänomenen nachging.

Jesus' Gang über den See Genezareth erscheint mir immer noch als eine der großen paranormalen Leistungen des Altertums. Kaum war der Lärm verstummt – und die Beweislast auf Seiten der Kläger –, funktionierten auch die Telefone wieder.

Mag sein, dass die Störung eine völlig natürliche Ursache hatte und die Vibrationen ihrer Weckmethode bloß ein Relais im Schaltkasten außer Gefecht setzten. Um so erstaunlicher bei diesem Ruhebedürfnis, dass eines Morgens die älteste Tochter der Schittecks an meiner Haustür läutete.

Xaveria befand sich gerade wegen ihrer nervösen Anfälle zur Beobachtung im Krankenhaus, deshalb nahm ich an, es sei etwas Unvorhergesehenes passiert. Um vier Uhr morgens würde ich unter normalen Umständen niemandem öffnen.

Dass ein Mitglied der Schitteckfamilie so früh wach sein könnte, lag jenseits meiner Vorstellungskraft.

Tanja hatte einen Strauß lilafarbener Rosen mit grünen Einsprengseln mitgebracht. Ein Anblick, der das Herz jedes Kenners höher schlagen lässt, denn diese Variante ist äußerst selten und besonders kostbar.

Nach langem Suchen war es mir endlich gelungen, die Wahrheit der alten Blumenzüchter-Legende zu beweisen, dass solche Farbschattierungen genetisch überhaupt möglich sind. Sie wuchsen ganz ohne unser Zutun (sieht man einmal von der Bodenstrahlung und den Schadstoffen ab) in einer Grassenke oberhalb der "kleinen Grotte" von BIO-ZWEI, und als ich sie eines Morgens bei einem Spaziergang entdeckte, war es, als wohnte ich einem der großen Wunder der Schöpfung bei ...

Seitdem hütete ich fünf Exemplare in dem winzigen Experimentaltreibhaus unseres Gartens, das sonst der genetischen Rekonstruktion von Urpflanzen dient.

Allerdings muss ich gestehen, dass mich die Frage, ob Tanja denn nun wirklich auf den Strich ging (wie seit ihrem Einzug im Viertel gemunkelt wurde), momentan mehr beschäftigte als alles andere. Deshalb klang ihre Stimme Welten entfernt, als sie sagte:

"Im Namen der Familie Schitteck überreiche ich Ihnen und Ihrer Frau feierlich diesen Strauß – auf gute nachbarschaftliche Beziehungen ..."

"Meine Frau ist nicht da", murmelte ich geistesabwesend – Freud würde behaupten, um Tanja unbewusst darauf hinzuweisen, dass meine Wohnung sturmfrei sei. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt guten Gewissens das Gegenteil hätte behaupten können. Aber so verhält es sich nun mal mit den unbeleuchteten Tiefen unseres Bewusstseins.

Tanja war ein dürrer Klepper und so knochig, dass man sie, ohne weiter darüber nachzudenken, sofort zum Frühstück einlud.

Ihr Katzenblick erinnerte mich auf frappierende Weise an Charlotte Rampling, deshalb nannte ich sie fortan in Gedanken nur noch Charlotte.

Charlotte, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Char-lot-te: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Char.Lot.Te – falls es erlaubt ist, vorzugreifen und für meine Liaison einen berühmten Dichter zu zitieren.

Die schlichten Worte eines Lehrers der Philosophie wären Charlottes Reizen sicher nicht gerecht geworden. Mein Leben lang habe ich von knochigen Frauen geträumt. Doch das Schicksal hat mich bis zum Auftauchen der Schittecks und Xaverias Hungerkuren nie erhören wollen.

Sie werden sich vermutlich fragen, was einen asketischen Denker wie mich schon nach zwei, drei Wochen Bekanntschaft mit den Schittecks dazu bringen konnte, soviel Fleischeslust zu entwickeln?

Dasselbe habe ich mich auch gefragt – und des Rätsels Lösung schließlich mangels besserer Erklärungen den geheimnisvollen hormonellen Ausdünstungen der Schitteckfrauen zugeschrieben. Vielleicht war es auch nur der Hunger, die Austrocknung.

Doch anders als Dagmar machte Charlotte (Tanja) keine Anstalten, ihre Bluse zu öffnen. Ich entdeckte, dass die Schitteckkinder alle verschieden waren. Nicht nur äußerlich, das wäre schließlich zu erwarten gewesen, sondern auch charakterlich. Vielleicht kamen sie auf unterschiedliche Väter heraus.

Meine begeisterte Bemerkung über ihre Blumen konnte ihr nur ein unmerkliches Lächeln entlocken.

"Darf ich Ihnen etwas von unserem Lebkuchen anbieten? Leider habe gestern nichts mehr zum Frühstück besorgen können."

"Gern, wenn er nicht von Weihnachten ist."

Als ich mit dem Tablett zurückkam, saß sie am Fenster und sah deutlich fülliger aus als vorher in ihrem grau-schwarzen Leinenkostüm (ein Eindruck, den ich mir erst später erklären konnte).

Sie verzehrte eindreiviertel Karton von dem süßen Zeug, und danach die Bruchstücke der Glasur, die sie mit ihren spitzen, muschelfarben lackierten Fingernägeln aufpickte, um sie sich Krümel für Krümel mit zurückgelegtem Kopf und herausgestreckter rosa Zunge einzuverleiben.

In meinem Unterleib heulten Alarmsirenen so laut und schrill wie die Weckinstrumente der Schittecks.

Ich sagte mir, mein augenblicklicher Zustand von Verwirrtheit könne nur durch die Ausdünstung eines besonders gefährlichen weiblichen Hormons hervorgerufen werden – dieses und keines anderen.

Denn gewöhnlich reagierte ich auf weibliche Schönheit wie jeder x-beliebige Mann meines Alters. Unter gebildeten Männern unserer Kreise pflegen die Kommentare niemals vulgär oder schwülstig sein. Es war eine Vergiftung, die mich augenblicklich in die Verblödung und Unzurechnungsfähigkeit führte.

Das Gefühl, Charlotte beim Essen zuzusehen, übertraf jeden gewöhnlichen sexuellen Kontakt. Als ich den dritten Karton heranschleppte, entschuldigte ich mich undeutlich murmelnd dafür, dass er bereits angebrochen war.

"Ist Ihnen nicht gut?" Sie stemmte ihre Arme in die knochigen Hüften und wandte keinen Blick mehr von mir. Ich studierte mit bebenden Lippen ihre tiefliegenden Augen, ihre schlanke Nase, so aristokratisch wie die einer spanischen Gutsbesitzerstochter.

Ich sah in ihnen die Glut, die im Mittelpunkt der Erde brennt. Ich hörte Nachtigallen singen, Gebirgsbäche plätschern. Ihre rosafarbene Zunge umschlang ein Stück Lebkuchen. Ich war von der Zwangsvorstellung besessen, meine Gedanken seien mir von der Stirn abzulesen.

"Nein, wieso?"

"Sie machen so einen entrückten Eindruck."

"Sicher, weil ich noch nicht gefrühstückt habe."

"Hier, möchten Sie?“, fragte sie mit vollem Mund und hielt mir den angebrochenen Karton Lebkuchen hin.