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*schweben gleiten tiefer* – Ein atmosphärischer Roman über Verlust, Verdrängung und die Suche nach Wahrheit. Als Edith stirbt, zerbricht nicht nur ihre Familie – ihr Tod entfesselt eine Kette von Ereignissen, die alles ins Wanken bringt. Ihr Mann Alvis kann nicht akzeptieren, was geschehen ist. In seiner Trauer stößt er auf eine Sammlung von Briefen, die eine verborgene Wahrheit offenbaren: eine geheime Liebe, ein Doppelleben, eine Spur, die ihn bis nach Frankreich führt. Jona, ihr Sohn, flieht vor der Vergangenheit und vor dem Mann, den er seinen Vater nennen soll. Doch wie kann man sich selbst entkommen? Während ihn das Meer ruft, bleibt die Frage: Wer war seine Mutter wirklich? Und was hat sie ihm verschwiegen? Ein literarisch intensiver Roman, der schmerzhaft und hypnotisch zugleich ist – für Leser, die tiefgründige Geschichten lieben, in denen sich zwischen den Zeilen eine Wahrheit verbirgt, die erst entdeckt werden will. Perfekt für Fans von melancholischer Spannung, psychologischer Tiefe und einem Erzählstil, der nachhallt.
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Seitenzahl: 368
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Impressum
Texte: © Copyright by Amy G. Dala
Umschlaggestaltung: © Copyright by Amy G. Dala
Verlag:
Amy G. Dala
Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:
Copyright-Seite
Epigraph
1 Wohin fliegt ihr?
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About the Author
Die Reise beginnt...
Die Luft knisterte. Abertausend Schmetterlinge schwebten über ihr. Sie spürte einen sanften Windhauch. Die Schmetterlinge schwebten über sie hinweg. Ihr Flügelschlag füllte die Luft mit Knistern und ließ den Boden vibrieren. Sie wankte. Sie stolperte. Die Beine glitten weg. Sie fiel.
Wohin fliegt ihr? Nehmt mich mit!
Der Nachbar sah sie fallen. Er konnte sie nicht auffangen, konnte nur neben ihr auf die Knie gehen. Ihre Lippen bewegten sich ein letztes Mal. Sie flüsterte: Wohin fliegt ihr? Nehmt mich mit. Und hörte auf zu atmen. Der Nachbar sah sie sterben und legte seinen Mund auf ihre Lippen. Er küsste sie. Er küsste sie zärtlich. Sein Kuss war ein Hauch. Kleine prickelnde Wellen. Ein Hauch. Er bog leicht ihren Kopf zurück, setzte seinen Mund fester auf und blies Atemluft mit Druck in sie hinein. Er blies, er presste Luft in sie. Er erhöhte den Druck. Ihre Brust hob sich nicht, senkte sich nicht. Er massierte ihr Herz und presste Luft in sie hinein. Mehrmals. Sie sollte atmen.
Atme!
Es war zu früh zum Sterben.
Atme!
Du bist zu jung zum Sterben.
Er presste. Er massierte. Aber ihre Brust hob sich nicht, senkte sich nicht.
Edith starb. Die Erschütterung erreichte Alvis. Edith lag vor dem Glashaus. Dort, wo er sicher war, wo seine Zuflucht war, lag Edith und starb. Die Erschütterung kam mit einer Wucht und Alvis verlor seine Sicherheit, die Zuflucht. Das Glashaus konnte ihn nicht mehr schützen. Er hob den Blick. Er sah den Nachbarn. Er sah seine Frau am Boden. Der Nachbar hatte seinen Mund auf ihre Lippen gelegt.
Etwas stimmte da nicht!
Da stimmte was nicht!
Verdammt, was war da los?
Alvis rannte aus dem Glashaus und stieß Rainer zur Seite. Rannte, und legte sich auf seine Frau. Bedeckte ihre zierliche Gestalt mit seinem wuchtigen Körper. Er wollte sie beschützen. Es gab keine Lebendigkeit mehr. Er wollte sie halten. Es gab keinen Funken, der den anderen anzündete. Er wollte sie nicht verlieren. Und spürte, dass es zu spät war. Da waren nur noch ihre starren Augen. Alvis benetzte sie mit seinen Tränen, um ihr neues Leben einzuträufeln, um von vorne zu beginnen. Hätte er noch eine Chance, nur eine Chance...
Die Sanitäter lösten ihn von ihrem Körper und trugen ihn ins Bett, wo er lag, als sei er mit Edith gestorben. Irgendwann stand er auf und ging ins Glashaus. Sein Kopf war leer, bis auf einen Gedanken, der sich in ihm festgesetzt hatte und der um die Frage kreiste, ob eine Stimme Edith am Morgen zugeflüstert hatte: „Hey Edith, heute ist dein letzter Tag. Gleich wirst du sterben.“ Eine Stimme, die sie nicht wahrgenommen hatte, und wenn doch, der sie nicht glaubte und die nicht einmal eine kurze Irritation auslöste, da es sie nicht geben konnte.
Sind alle tot. Können nicht erzählen, ob es so eine Stimme gibt.
Und überhaupt – was hätte es verändert. Selbst wenn Edith den ganzen Tag im Bett geblieben wäre; sie wäre gestorben. Schicksal ist Schicksal. Davon war Alvis überzeugt. Was ihn quälte, war die Ungewissheit, ob der letzte Morgen anders gewesen wäre, hätte Edith etwas geahnt. Vielleicht hätte sie Alvis geküsst, leidenschaftlich, wie sie es getan hatte, als sie jung waren. Vielleicht hätte sie ihm gesagt, was ihr das gemeinsame Leben bedeutet hatte. Die vielen Jahre, die sie verheiratet gewesen waren.
„Gleich ist die Beerdigung und wir müssen bald los. Bist du fertig?“
Alvis hielt inne. Er sah den Jungen, der vor ihm stand, den er von Geburt an kannte, der sein Fleisch und Blut war. Er sah ihn und erkannte ihn nicht. Hatte ihn nie erkannt. Vielleicht, weil er diese feingliedrigen Finger, sehr dünnen Arme und Beine hatte mit einem rundlichen Körper dazwischen. Oft war er ängstlich. Das war seine Art, eine andere Art. Fast wie ein Insekt. Anders war er. Fremd war er. Immer war er ein Fremder gewesen. Ein Eindringling, mit dem Alvis nichts anzufangen wusste. Die Feingliedrigkeit gepaart mit der Angst, die Alvis riechen konnte. Er roch die Angst.
Wovor hatte er so viel Angst?
Und er sprach in einer fremden Sprache mit ihm, die Alvis nervte, die Alvis kolossal aufregte. „Ich verstehe dich nicht“, brüllte er. Und der Junge zuckte zusammen. Reflexartig zog er seinen Kopf in den runden Körper. Der Geruch der Angst wurde intensiver und Alvis brüllte weiter. „Sprich ein einziges Mal so mit mir, dass ich dich verstehen kann. Klar und deutlich. Klar und deutlich. Oder ist das zu viel verlangt?“
Schweigen.
Keine Antwort, keine Gegenwehr.
Er stand da und glotzte ihn an.
„Hör auf zu glotzen. Hör auf, aus deinem widerlichen Insektenkörper zu glotzen und mir die Schuld zu geben. Schuld an allem. Schuld an deinem Leben. Hau ab! Hau einfach ab! Geh zurück, wo du hergekommen bist, du Schneckenfurz.“
Jona flüchtete. Er lief. Er hetzte. Jona rannte um sein Leben. Weg. Nur weg. Wie ein Tier. Raus aus dem Glashaus, in dem er saß, seitdem Jona denken konnte. Weg von der Wut. Jona flüchtete vor der Realität, die hartnäckig behauptete, dass dieser Mann sein Vater war. Er hatte immer gehofft, dass sich der Irrtum aufklären würde. Er hatte gehofft, der Irrtum würde sich am Grab des Vaters aufklären. Die Mutter neben ihm flüsternd, dass dieser Mann ein Fremder gewesen war. Am Grab des Vaters flüsterte sie, was er immer gewesen war - ein Fremder. Dieser Mann war ein Fremder, den sie nicht gekannt hatte. Der Mann hatte Mutter und Säugling verschleppt und gedroht, sie zu töten, würde sie es einem verraten.
Jona hatte sich oft vorgestellt, wie es sein würde, an seinem Grab zu stehen, dass ihm die Realität wie eine hinterlistige Verräterin vorkam. Er stand am Grab. Es war das Grab der Mutter. Er stand vor dem Loch, das klaffte wie eine Wunde und nichts würde sich aufklären. Niemals. Nie. Seine Mutter war es, die tot war. Und die Erde in der sie lag war nass und klebrig, fast schmuddelig. Mit großer Anstrengung widerstand Jona dem Wunsch nach vorne zu fallen, direkt auf den Sarg und liegen zu bleiben. Er wollte sich zu ihr legen. Er wollte die klumpige Erde auf sich spüren. Wollte sehen, wie es dunkel wurde, wenn die Erde fiel und alles bedeckte. Wollte bei ihr sein in dieser Höhle. Wollte in ihrem Schoß sein. Wollte bei ihr liegen, weil er wusste, dass es das letzte Mal sein würde, dass es nie mehr möglich sein würde, wenn er die Chance verpasste, sich zu ihr ins Grab zu legen.
Etwas Hartes rollte durch seinen Körper und er hielt dagegen an. Es rollte wie eine Welle der Brandung entgegen und er hielt dagegen an. So gut er konnte hielt er dagegen an. Es rollte weiter. Er wollte es reiten. Er wollte es wegdrücken. Wegdrücken, wie etwas, das ihm übel aufstieß. Er schaffte es nicht. Es kam als lautes Schluchzen an die Oberfläche. Er sehnte sich nach jemandem, der ihn in den Arm nahm. Er zitterte. Seine Schultern bebten. Jemand sollte ihn in den Arm nehmen. Schützende Arme. Jemand sollte ihn in den Arm nehmen und wiegen wie ein Kind, trösten wie ein Kind. Jemand sollte zärtlich flüstern, dass alles gut werden würde. Dass es nur ein böser Traum war.
Niemand war da.
Niemand nahm ihn in den Arm.
Wo war sein Vater?
Er schluchzte hemmungslos. Er schluchzte laut und hemmungslos, weil er wusste, das war kein Traum. Er war alleine. Kein Vater weit und breit. Vor ihm ein Sarg im schmuddeligen Erdloch. Darin lag seine Mutter. Kein Vater. Kein Traum. Der Sarg war Realität. Fiese Realität. Harte Realität. Und Jona war alleine. Der Vater nicht da. Abwesend.
Er schluchzte.
Er weinte.
Tränen tropften ins Grab.
Seine Tränen legten sich zu ihr. Sie legten sich auf den Sarg und drangen durch das rötlich schimmernde Holz ins Innere. Sie benetzten ihre Hände, ihre Augen, ihre Nase, ihren Mund. Und wenn es Wunder gäbe, würde sie nun auferstehen. Es gab keine Wunder. Es gab nur die Stille.
Die Stille des Friedhofes.
Die Ruhe, wenn alles vorbei ist.
Die Ruhe, eine Stille auf dem Friedhof.
Jona schloss die Augen und zählte bis 50. Ein Trick, der immer funktionierte. Als er die Augen wieder öffnete, war er zurück am Haus. Vom Vater war nichts zu sehen. Er schlich zielstrebig in ihr Schlafzimmer und suchte im Schrank nach der geheimen Kiste, von der Jona wusste, dass es sie gab. Seitdem er sie einmal beobachtet hatte, wie sie hingebungsvoll in den Inhalt versunken war, wollte er diese Kiste besitzen. Er fand sie tief im Inneren, packte sie ein und verließ das Haus.
Draußen sah er den Nachbarn an der Stelle, wo sie gestorben war. Jemand hatte dort eine Kerze angezündet. Der Nachbar hieß Rainer und lebte alleine. Jona stellte sich wortlos zum ihm. Sie standen vor der Kerze und starrten in die lodernde Flamme, als erwarteten sie ihre Rückkehr. Als erwarteten sie, dass sie neben ihnen auftauchte und lachend fragte, warum sie Maul offen feilhielten. Sie hat das Leben zu leben gewusst. Jona hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Sie war seine Mutter gewesen. Was wusste er schon davon, wie sie gelebt hatte. Soweit Jona sich erinnerte, hatten sie sich kaum gekannt. Die Mutter war nett zu Rainer gewesen, wenn der Vater nicht in der Nähe war. Sie hatte sich für seine Gemeinheiten geschämt, wie Jona es tat. Einmal hatte er die Mutter gefragt, wieso sie nicht Rainer geheiratet hatte, der viel netter war als der Vater. Lange glaubte er, dass Menschen, die sich nicht mögen, heiraten müssen. Er dachte, das Leben würde es so einfädeln, da eine tiefe Tragik und Herausforderung darin lag, bis ihn seine beste Freundin Chili über die romantische Liebe aufklärte. Er erinnerte sich, wie absurd er das fand. Das ist doch bekloppt. Total bekloppt. Wieso denkst du dir so einen Quatsch aus? Das ist kein Quatsch. Das ist die Wahrheit. Die Wahrheit! Und die ist schön. Das ist Liebe! Sie stritten und Chili war enttäuscht, dass Jona so unromantisch war.
Bleibst du? Rainer riss ihn aus seinen Gedanken. Jona schüttelte den Kopf. Was soll ich noch hier? Wollte er sagen, aber sagte nichts. Er schwieg. Er wollte nicht reden, wollte nur in die zuckende Flamme starren, die etwas Beruhigendes hatte. Ich bleibe auch nicht. Was soll ich noch hier? Jona war irritiert, dass Rainer exakt aussprach, was er gedacht hatte und antwortete provokativ. Weiter mit Vater streiten! Rainer hob den Blick und schaute ihn eindringlich ein. Er hatte unfassbare Augen. Sie leuchteten grün. Sie leuchteten grün von innen heraus und hatten gelbe Punkte. Ja. Gelbe Punkte.
Wie konnte ein Mann so grüne Augen haben?
Jona versank in ihrer hypnotischen Tiefe. Es war unmöglich, den Blick abzuwenden. Die Augen hypnotisierten ihn. Er verlief sich darin. Er versank darin. Und er hört ihn sagen: Er wird mich töten. Und er hört sich gekünstelt lachen.
Diese Tiefe.
Diese unendliche Tiefe.
Wo war er?
Wie war er in diese Augen gekommen?
In das gelbe lodernde Feuer.
Fegefeuer. Höllenfeuer. Lagerfeuer.
Eine lodernde Kerze.
Die Erinnerung an sie. Darin war eine Erinnerung.
Nur welche?
Welche war es?
Rainer ließ ihn frei. Gute Reise Jona. Und denke an den Wal! Es gibt einen Weg raus aus dem Wal. Der ist lang und gefährlich. Im Gehen wedelte er mit dem linken Arm und holte Jona in die Wirklichkeit zurück. Er war der Teufel. Geheimnisvoll, gefährlich, allwissend. Wieso erwähnte er den Wal? Wie konnte er davon wissen? Der Wal gehörte ihm und seiner Mutter. Der Wal hatte nichts mit Rainer im Nachbarhaus zu tun, der auch der Teufel sein konnte. Der Wal: Das waren Mutter und Sohn.
Hast du jemals seine Augen gesehen? Jona telefonierte mit Chili. Er dachte immer noch an die Augen. Sie hatten ihn komplett verwirrt. War es nicht eher die Beerdigung, die Beerdigung, die dich verwirrt hat? Die Beerdigung! Sie fiel ihm wieder ein.
Er schwieg.
Joni. Joni. Joni. Wenn sie mit dieser Stimme sprach, fast gurrte, dann wusste er, alles würde gut werden. Irgendwann. Würde alles gut sein. Und er in Sicherheit. Er nicht mehr auf hoher See. Wo die Wellen den Ton angaben. Wo sich die Wellen auftürmten und tobten, sich außer Rand und Band gebärdeten.
Joni. Joni. Joni. Was machst du bloß für Sachen?
Er war auf der Fähre und setzte über auf die Insel, auf der er wohnte und arbeitete, ein Leben hatte. Sie sprach von Sibirien, wo sie war und von den Vögeln, die sie fing, beringte und wieder frei ließ. Sie würde bald zurück sein. Sie würde ihn auf der Insel besuchen. Der Wellengang war hart. Die Fähre taumelte auf dem Wasser und die Menschen stolperten durch die Gänge, als wären sie betrunken. Sie hielten sich an Tischen, Türen und Wänden fest. Das machte sie schwach und sie lachten unsicher.
Jona saß und wankte nicht. Er spürte den Sturm, der das Wasser gegen die Fähre trieb. Pitsch! Patsch! Er sprach von Alvis. Chili unterbrach ihn. Wie sah Edith aus, der Sarg? Wie war es vor dem Grab und wie ist es ohne sie? Jona zögerte, dann antwortete er: Er war nicht auf der Beerdigung. Er hat mich alleine gelassen. In seinen Worten lag ein tiefer Schmerz, der ihn überraschte. Seine Stimme war voller Empörung. Chili seufzte. Jona hörte es und wusste nicht weshalb. Er war es, der sich neu ausrichten musste. Der sich fügen musste. Dem Leben fügen musste. Wieso seufzte sie? Sie sagte, dass sie bald da sei. Sie sagte, sie müsse nur noch ein zwei Vögelchen beringen, dann wäre sie frei. Kommst du so lange alleine klar? Die Frage war seltsam. Bevor Jona eine Antwort geben konnte, brach die Verbindung ab. Er war nicht alleine. Das wusste sie doch. Jona hatte ein Leben, wie andere auch. Was ihm gefiel, war die Geborgenheit, die in der Frage lag, die Jona einhüllte.
Das war Chili - seine Rettung.
Chili wie immer.
Chili war da.
Chili - seine beste Freundin.
Für immer! Hatten sie sich geschworen und es mit ihrem Blut besiegelt, das sie tranken als sei es Wasser. Das sie tranken als seien sie Vampire. Die grünen Augen mit den gelben Punkten. Nun fiel es ihm ein. Die Augen- es waren die Augen eines Vampirs.
Ein Hund bellte. Unaufhörlich und hartnäckig. Das war doch wieder einer seiner Tricks. Er erkannte im Gebell, Joachim, den Hund von nebenan. Wie lange er im Glashaus gesessen hatte, wusste Alvis nicht. Er konnte sich auch nicht erinnern, ob er gestorben war oder Edith. Als er das kalte Haus betrat, holte ihn die Gewissheit ein.
Edith war tot.
Alvis machte, was er immer getan hatte. Er heizte und kochte, begleitet von dem Bellen des Hundes.
Kein Licht im Nachbarhaus.
Kein Lebenszeichen.
Nur das Bellen.
Ein halbes Leben quälte und terrorisierte die Kreatur von nebenan Alvis. Sie waren Nachbarn und Feinde. Fragte ihn jemand, wie alles angefangen hatte, wich Alvis der Frage mürrisch aus. Gewöhnlich antwortete Edith. Sie erinnerte sich an jeden Streit. Schlichten konnte sie nicht. Edith war begraben, mit ihr die Erinnerung, nicht aber die Feindschaft.
Alvis aß, schaufelte Essen in sich hinein und starrte dabei auf das Nachbarhaus.
Der Hund bellte, aber wo war die Kreatur?
Kein Licht. Dunkelheit. Der Hund bellte die ganze Nacht. Alvis lag im Bett, war wach, konnte nicht einschlafen. Er hörte den Hund. Sonst war alles ruhig. Nur der Hund und seine Gedanken. Sie bellten wie der Hund und erinnerten ihn, wie sich die Kreatur über Edith gebeugt hatte, die am Boden lag. Wie er seinen Mund auf ihre zarten Lippen gepresst hatte.
Sicherlich war er schuld an ihrem Tod.
Wie konnte einer nur so viele Tricks haben?
Der Hund bellte und bellte. Und zerrte an Alvis’ Nerven. Du bist auch kein Engel, flüsterte ihm Edith zu. „Wehren! Einer muss sich doch wehren!“ rief Alvis in das dämmrige Licht, durch das Ediths Lächeln schimmerte und fast glaubte Alvis, darin einen Anflug von Enttäuschung zu sehen. Hastig schlug er die Bettdecke zurück und wischte damit das Lächeln beiseite.
Edith war nicht enttäuscht.
Sie war auf seiner Seite.
Sie war immer auf seiner Seite gewesen.
Alvis suchte und fand einen roten Gehörschutz, den er beim Schneiden des Holzes trug. Er setzte ihn auf. Das Bellen war gedämpft, aber immer noch da. Alvis hockte sich mit dem Fernglas an den Küchentisch. Das macht man nicht, hätte Edith wahrscheinlich getadelt und ihm das Fernglas sanft aus der Hand genommen. Da niemand da war, der ihm sagte, was richtig oder falsch war, starrte Alvis durch das Fernglas. Suchte Millimeter für Millimeter des Hauses nach Lebenszeichen ab. Es gab keine. Nur das gedämpfte Bellen.
Der Morgen kroch ans Licht. Der nächste Tag begann - ohne Edith. Alvis brühte sich einen Kaffee, aß eine Butterstulle. Dabei war sein Kopf leer. Er nahm den Gehörschutz den ganzen Tag nicht ab und hatte immer ein Auge auf das Nachbarhaus. Dort rührte sich nichts. Das war seltsam. Normalerweise ging Rainer dreimal mit dem Hund und warf seine Gartenabfälle über den Zaun, um Alvis zu ärgern. Das Bellen war mittlerweile in ein Jaulen übergangen und Alvis konnte es nicht länger ertragen. Er rief bei der Polizei an und beschwerte sich.
Eine gelangweilte Stimme sagte: „Gehen Sie doch selber und schauen nach!“ Alvis explodierte. „Wozu bezahle ich Steuern?“ „Sicherlich nicht, damit wir einen Beamten extra für Sie und ihren Nachbarschaftsstreit beschäftigen, Herr Steiner!“ „Eine Unverschämtheit ist das“, brüllte Alvis in den Hörer. Dann legte er auf. Und ging nervös auf und ab. Der Hund jaulte, bellte, jaulte. Mit jedem Ton spannten sich Alvis Nerven mehr an.
Wieso war Edith denn nicht da?
Er nahm wieder das Telefon. Er wählte eine Nummer, von der er glaubte, dass es die von dem Jungen sein könnte. Eine Frau meldete sich am anderen Ende. „Edith!“, rief Alvis erleichtert in den Hörer.
Natürlich - das er darauf nicht eher gekommen war. Edith war bei dem Jungen.
Ein unendliches Glücksgefühl durchströmte ihn. Sie würde ihm sagen, was er tun sollte, damit es wieder werden würde, wie es gewesen war.
„Der Hund von nebenan, er bellt schon den ganzen Tag!“
„Hallo!! Sie sind falsch verbunden.“
„Aber, der Hund ...“, stotterte Alvis.
„Wenn der Hund bellt, erschießen Sie ihn. Erschießen Sie ihn!“
Stille.
Die Frau am anderen Ende hatte aufgelegt. Alvis ließ den Hörer sinken und starrte aus dem Fenster. Der Hund jaulte. Um ihn zu erschießen, musste er rüber.
Wie konnte sie das von ihm verlangen?
Sie kannte doch die Regel, die lautete: Die Grenze ist magisch. Sie zu überschreiten, bedeutet großes Unglück. Deshalb blieb Alvis immer auf seiner, der sicheren Seite. Nebenan hauste die Kreatur, der Teufel, dessen Hund bellte. Dann kam ihm ein Gedanke und Alvis kicherte wie ein Kind. Wie absurd. Das Unglück war längst da. Größer konnte es gar nicht mehr werden. Edith hatte recht.
Er nahm sein Gewehr und überschritt mit kräftig ausholenden Schritten die magische Grenze. Alvis pochte an die Tür, entschlossen ihm von Angesicht zu Angesicht, entgegenzutreten.
Diese Rücksichtslosigkeit war typisch für ihn.
Der Mann hatte weder Anstand noch Herz.
Durch das Pochen öffnete sich die Tür. Sie war nicht verschlossen. Fast verließ Alvis der Mut. Fremder Geruch hing überall. Nicht unangenehm, doch anders. Der Geruch machte ihn schwindelig. Alvis hielt sich am Türrahmen fest und tastete sich vorwärts ins Innere. Das Haus war modern eingerichtet, unerwartet hell und offen. Es hatte nach hinten viele große Fenster und nur die nötigsten Möbel. Es saugte Alvis förmlich in sich hinein.
Lautlos bewegte er sich von Raum zu Raum, schlich angespannt umher, jede Sekunde darauf vorbereitet, der Kreatur entgegenzutreten. Doch da war niemand. Das Haus war leer, bis auf den Hund, den er im Schlafzimmer fand. Er stand auf einem Doppelbett und bellte zum angelehnten Fenster hinaus.
Alvis legte das Gewehr an und drückte ab. Der Hund schoss an ihm vorbei. Die Kugel traf das große Gemälde von Rainer im Andy-Warhol-Stil. Glas zersplitterte. Die Kugel bohrte ein Loch ins rechte Auge.
Wie geschmacklos.
Alvis setzte sich auf das Doppelbett. Froh, dass der Hund nicht länger bellte, starrte er aus dem Fenster und grübelte, wieso ein kleiner Mann, der alleine lebte, so ein großes Bett brauchte?
Kingsize – einem König würdig.
Edith und er hatten die Enge bevorzugt, sodass sie sich an den Händen halten konnten und die Beine ineinander verschlungen waren. In einem so großen Bett ging doch jeder jedem aus dem Weg.
Danach war sein Kopf wieder leer. Er saß da und wusste nicht weiter. Der Hund kackte hektisch in sämtliche Ecken des Gartens. Der Nachbar war verschwunden. Edith war tot. Er könnte zurückgehen nach Hause, wo nichts mehr war, wie es sein sollte. Stattdessen öffnete er die Schublade vom Tisch am Bett. In der Schublade lagen Briefe, deren Handschrift ihm seltsam vertraut vorkam. Er nahm den obersten Brief und begann zu lesen.
Mein Geliebter,
du bist eine Sehnsucht. Wir teilen ein Geheimnis, das inniger nicht sein kann. Ich weiß, ich werde dich wiedersehen. Und hoffe, wir erkennen uns dann. Es wird keine Erinnerung geben, aber ein gegenseitiges Klingeling der Seelen. Daran glaube ich.
In ewiger Verbundenheit.
Deine Edith
Briefe. Unendlich viele Briefe. Geschrieben von Edith an ihren Geliebten Rainer, der ihr Nachbar war und Alvis größter Feind. Die Briefe waren Beweise ihrer Liebe, seiner Blindheit. Sie lagen ausgebreitet auf dem Küchentisch. Er saß davor und starrte sie an. Unschlüssig, was er damit machen sollte.
Verbrennen.
Zerreißen.
Vergraben.
Lesen.
Ab und zu schweifte sein Blick aus dem Fenster zum Nachbarhaus, nur um festzustellen, dass dort noch immer kein Licht brannte. Der Hund kratzte an der Tür. Alvis zögerte, doch dann ließ er ihn hinein. Mit einem Seufzer sank er neben den Stuhl und gab keinen Mucks mehr von sich.
Ihrem Mann hatte Edith nie einen einzigen Brief geschrieben. Für Alvis hatte sie Einkaufslisten verfasst.
Wann und wo hatte sie das alles geschrieben?
Wie hatten sie sich getroffen, ohne dass er etwas gemerkt hatte?
Es musste zu der Zeit gewesen sein, als sie im Außendienst gearbeitet hatte. Er wollte nie genau wissen, was sie eigentlich tat, wenn sie unterwegs war. Sie hatte diesen Job geliebt, für Alvis war er der Beweis seiner Unterlegenheit. Er war nicht fähig gewesen, für den Unterhalt seiner Familie zu sorgen.
Seine Finger hatten ihn im Stich gelassen, als er sie am dringendsten brauchte. Sie wurden weiß und taub, verbunden mit einem Kribbeln und Stechen. Alvis war nicht länger in der Lage, seine Arbeiten termingerecht fertigzustellen. Er konnte die Maschine nicht mehr bedienen, die ihm half, den Stein zu bearbeiten. Die ihm half, aus der kargen Rohheit sinnliche Schönheit freizulegen.
Der Arzt nannte es ein ‚Vibrationsbedingtes Vasospastisches Syndrom’. Eine Krankheit, die Steinmetze häufig trifft. Er erklärte Alvis, dass langjähriges Arbeiten mit vibrierenden Geräten bei Kältekontakt zu zeitweiliger Unterbrechung der Durchblutung und damit verbundener Weißfärbung der Finger führte.
Alvis verstand nicht, was er sagte. Er fühlte es. Irgendwann fand er sich damit ab und zog sich ins Glashaus zurück. Edith war unterwegs, und er war da für seine Falter und manchmal auch für den Jungen, wenn er ihn brauchte, was nicht oft vorkam. Alvis wusste nicht einmal, dass Edith im Ausland zu tun gehabt hatte.
Er erinnerte sich, dass Frankreich eine Sehnsucht von Edith gewesen war. Alvis wollte nie verreisen. Es war ihm kein Bedürfnis, wie es anderen kein Bedürfnis ist, Sport zu treiben oder einen Garten zu bepflanzen. Alvis hatte sein Glashaus. Mehr brauchte er nicht. Er hatte nie gefragt, ob Edith das akzeptierte. Er hatte es vorausgesetzt. Nun musste er schmerzhaft erkennen, dass sie mit Rainer diese Reisen gemacht hatte – während ihres Außendienstes, der dazu gedacht gewesen war, für die Familie das Notwendigste sicherzustellen.
Ausgleich schoss Alvis durch den Kopf.
Er war ihr Ausgleich.
Er, der Nachbarn, sein Feind, musste ihr eingeflüstert haben, dass sie das verdiente und brauchte. Wie die Schlange, die Eva den Apfel eingeflüstert hatte. Wieder einer seiner Tricks und der bisher fulminanteste. Um den zu überbieten, brauchte es eine Meisterleistung. Fast schon dachte Alvis ans Aufgeben, doch das konnte er nicht. Der Zwang, es ihm heimzuzahlen, war größer. Der Wunsch nach Vergeltung, endgültiger Vernichtung der Kreatur, schwellte in ihm und war das Einzige, was seinem Leben jetzt noch einen Sinn gab. Die Feindschaft zwischen ihnen war so lebensnotwendig geworden, wie Essen und Schlafen. Wie Trinken und Schweigen.
Diesmal war er zu weit gegangen.
Diesmal würde Alvis ihm alles in letzter Konsequenz heimzahlen.
Dafür musste er ihn finden.
Alles, was er hatte, waren die Briefe. Er würde ihre Spur verfolgen. Dieser Gedanke setzte sich in ihm fest. Er musste die Orte des Betruges mit eigenen Augen sehen. Und er musste den finden, der ihm nach all den Jahren in einem neuen Licht erschien. Er, der Nachbar, der Feind, die Kreatur, war auch der Mann, mit dem er seine Frau ein Leben lang geteilt hatte.
Alvis zweifelte nicht einen Moment daran, dass Rainer verschwunden war, um die Stationen des Betruges noch einmal zu besuchen. Die Orte, an denen er mit Edith glücklich gewesen war. Die Orte, an denen er Alvis grandios ein Schnippchen geschlagen hatte. Heimlich verbündet mit Edith, seiner Geliebten, der Frau des Erzfeindes.
Welche Genugtuung musste es für Rainer gewesen sein.
Alvis konnte die Gedanken kaum ertragen, noch konnte er sie stoppen. Sie erschütterten ihn wie ein Erdbeben. Und als er dachte, er hätte das Gröbste überstanden, überschwemmten ihn die dazugehörenden Gefühle in einer meterhohen Welle. Trauer, Eifersucht, Enttäuschung brachen über ihn herein, breiteten sich in ihm aus, öffneten Türen, von denen er nicht wusste, dass sie existierten.
Alvis rang nach Luft.
Alvis wimmerte wie ein Kind.
Alvis krümmte sich im Stuhl.
Der Hund sprang auf und verkroch sich mit eingezogenem Schwanz unter dem Tisch. So schnell, wie sie gekommen waren, wichen die Gefühle und ließen Alvis zurück im inneren Chaos. Um der Verwüstung zu entkommen, packte er hektisch die Briefe zusammen, eine kleine Tasche und sein Gewehr.
Er machte sich auf den Weg. Er stieg in Ediths Wagen. Der Hund folgte ihm auf den Fuß und eh sich Alvis versah, saß er hinter ihm auf der Rückbank. Alvis startete den Wagen und fuhr los. Die Lichter seines Hauses, der Straße, seines Lebens verblassten im Rückspiegel. Alvis blickte starr geradeaus. Seine knotigen Hände hielten das Lenkrad und der rechte Fuß erhöhte langsam aber stetig den Druck auf das Gaspedal. Als Alvis zum ersten Mal in den Rückspiegel sah, traf ihn der Blick des Hundes. Mit großen Augen schaute er ihn hechelnd an, als wollte er fragen: Und Alvis Steiner? Wohin geht die Reise?
Jona war müde. Gleichzeitig unruhig. Er stellte die Kiste der Mutter behutsam auf den Tisch und sah die Flasche Whiskey.
Warum nicht?
Warum eigentlich nicht?
Den habe ich mir verdient.
Den habe ich mir nach all den Strapazen und der stürmischen Überfahrt verdient.
Er schenkte sich ein. Und hörte ihre Stimme. Was ist das für eine Kiste? Bitte nicht. Bitte nicht jetzt, bitte nicht hier. Bitte, hau ab! Anstatt sich zu freuen, dass jemand da war, dass jemand auf ihn gewartet hatte, dass er nicht alleine war, dass sie da war, freute er sich nicht.
Jona freute sich nicht. Er drehte sich abrupt um und verschüttete dabei seinen Drink, ärgerte sich, dass er sich ertappt fühlte. Was machst du hier? Ich warte auf dich. Sie sagte das mit einer Selbstverständlichkeit und lächelte ihn an, als ob sie noch nie etwas von Privatsphäre gehört hatte und von Einladungen, die erst ausgesprochen werden mussten, bevor man auf jemanden warten durfte. Bevor man im Haus des anderen auf ihn warten durfte.
Die Wut kam langsam. Erst war es nur Ärger. Ein kleines Ärgernis, dass sie da war, dass er nicht alleine war. Mit seinem Whiskey alleine. Whiskey gegen die Strapazen und mit der geheimen Kiste der Mutter.
Könnte es nicht auch schön sein,
dass sie da ist,
flüsterte der Usurpator.
Nein!!
Könnte Sex nicht schöner sein
gegen die Strapazen
anstatt Alkohol.
Sex gegen den Verlust.
Sex,
um die stürmische Überfahrt
zu vergessen?
Nein! Nein! Nein!
Ich dachte, du freust dich, seufzte sie. Aber du freust dich nicht. Stattdessen trinkst du am Nachmittag. Hast du Sorgen? Lief der Kongress nicht gut? Werden die Hummer auf der Insel aussterben? Jona zog Luft tief ein und atmete sie schwer und verbraucht wieder aus. Ich bin müde. Sehr müde. Und du stellst zu viele Fragen, die ich nicht beantworten kann. Willst. Beantworten willst. Du willst diese Fragen nicht beantworten.
Es war wie Jona befürchtet hatte. Sie war in Angriffsstimmung. Tessa stand auf, ging zur Flasche und schenkte sich auch einen Schluck ein. Ohne Eis. Sie nippte und verzog kurz ihre rosafarbenen Lippen, sodass die Zähne frei lagen und für einen Moment sah Jona ein ungerades Gebiss, das ihrem weichen Gesicht einen gewissen Schliff gab. Jona wollte ihre unschönen Zähne nicht sehen und ließ das Eis im Glas klirren.
Da war gar kein Kongress.
Sie lauerte.
Sie lauerte.
Keine Regung entging ihr.
Aber Jona regte sich nicht. Er trank und verschluckte sich nicht. Er trank und hatte weder Zuckungen im Gesicht, noch wurde er rot. Er fühlte sich nicht ertappt. Er saß da, hob das Glas, führte es an seine Lippen. Neigte das Glas, sodass die Flüssigkeit in den Mund floss, kurz auf der Zunge und im Gaumen brannte, bevor er schluckte.
Schluckreflex.
Ganz normal.
Dabei sah er ihr in die Augen. Also setzte sie nach. Da war kein Kongress. Du hast eine Affäre. Du warst bei einer anderen. Du hast in ihren Armen geschlafen. Ich kann sie riechen. Jona lachte und trank das Glas mit einem Schluck leer, stellte es auf den Tisch und streckte sich auf der Couch aus. Jedes Wort kannte er. Sie hatte die Wörter oft gesagt. Jedes einzelne Wort immer und immer wieder. Es langweilte ihn. Er wollte seine Ruhe. Er wollte alleine sein und nicht darüber diskutieren was ist, war oder sein könnte.
Wenn wir zusammen sind, spüre ich, wie tief du in mir versinkst. Ihre Stimme zitterte leicht und bekam einen weinerlichen Ton. Das ist Sex. Davon rede ich nicht. Ich rede vom Gefühl. Das bildest du dir ein. Tessa fixierte ihn mit klitzekleinen Augen. Ich weiß jetzt was los ist. Es macht dir Angst. Es macht dir so große Angst, dass du es nicht wahrhaben willst. Aber ich spüre es. Ich habe keine Angst vor so was Großem. Und es ist groß. Es ist richtig groß. Wir gehören zusammen. Vertraue mir und du wirst sehen, es ist gut, wir sind gut. Gut zusammen. Du holst das Beste aus mir raus. Das ist Liebe.
Jona schnarchte leicht. Er sah aus, als ob er eingeschlafen war. Tessa verstummte. Ihr Blick hing an der Kiste auf dem Tisch. Vorsichtig streckte sie die Hand danach aus. Sie bewegte sich dabei kaum. Ihre Hand verwandelte sich in das Eiskalte Händchen und als sie die Kiste fast erreicht hatte und sie zu sich ziehen wollte, schnellte Jona vor. Seine Finger umklammerten ihr zartes Gelenk und hielten sie davon ab, die Kiste auch nur zu berühren. Fass das nicht an. Niemals! Das kleine Ärgernis wuchs. Es verwandelte sich in Wut. Tessa wollte ihren Arm aus seiner schmerzhaften Umklammerung befreien. Er hielt sie fest und verstärkte seinen Griff. Du tust mir weh. Sie war beleidigt, trotzdem empört. Was bildest du dir eigentlich ein? Denkst du, weil wir ab und zu miteinander schlafen, darfst du hierum wühlen? Darfst hier sein, wenn ich nicht zu Hause bin? Er sprang vom Sofa auf und zog Tessa brutal nach oben. Du bist kompletter Schwachsinn. Such dir einen, der den Liebesquatsch glaubt und werde glücklich mit dem.
Tessa wehrte sich gegen seinen Griff. Sie kratzte ihn. Jona hielt sie fest umklammert. Es gibt keinen anderen auf der Insel. Es gibt doch keinen anderen hier. Genau. Das ist das Problem. Deshalb ficken wir. Fang endlich an, auf dem Festland zu studieren, wie du es schon so lange planst, aber hau ab. Hau endlich ab hier. Das willst du nicht! Das willst du nicht! Sie kreischte. Er hatte sie getroffen. Sie sollte schweigen, endlich schweigen. Und nicht mehr von ihm verlangen, als er geben konnte. Doch! Das will ich. Hör auf, dein Leben zu vergeuden. Hör auf, darauf zu hoffen, dass ich meine große Liebe für dich entdecke. Wir ficken, weil es hier sonst nichts gibt.
Er zerrte sie zur Tür und schubste sie aus dem Haus. Sie taumelte. Vor ihrer Nase knallte Jona die Tür zu. Geschockt von seinem Ausbruch starrte sie die Holztür an, deren Farbe abblätterte. Nach einer Weile schüttelte sie sich, streckte die Hand zaghaft aus, legte sie auf den glatten Knauf, der sich so kalt anfühlte wie Jonas Umklammerung vorher. Von drinnen drang kein Geräusch. Nur das Meer war zu hören.
Jona lebte in einem kleinen Haus am Leuchtturm. Es gab keine Nachbarn, die ihren Streit und die vielen anderen davor hätten beobachten können. Es gab nur den Leuchtturm. Und der stand, wo er immer gestanden hatte. Der Leuchtturm hatte einen Platz. Er bewegte sich nicht. Der Leuchtturm hatte auch einen Zweck. Beides hatte Tessa nicht. Weder einen Platz noch einen Zweck. Tessa war nutzlos. In dem Sinne nutzlos für Jona. Jona wollte nichts mit ihr teilen, außer ab und zu ein bisschen Lust, wenn es ihn überkam und er dem Drang folgte, eine Frau berühren und sich in ihr versinken zu wollen. So fühlte sich Tessa in diesem Moment: Nutzlos und benutzt. Sie zog ihre Hand zurück und versenkte sie in ihrer Jackentasche. Nachdenklich drehte sie sich um und stapfte davon.
Sie kannte seine Ausbrüche. So schnell wie die Wut gekommen war, verflog sie auch wieder. Dann kam das schlechte Gewissen. So würde es auch diesmal sein. Irgendwann würde Jona eine Nachricht schicken und sich entschuldigen. Jedes Mal nahm sich Tessa vor, ihn zappeln zu lassen, es ihm nicht so einfach zu machen. Immer blieb es bei dem Vorsatz. Nie schaffte sie es. Würde man alle die Stunden zusammenzählen, die sie mit ihren Freundinnen darüber geredet hatte, warum sie war, wie sie war, was Jona in ihr auslöste und was überhaupt mit Jona los war, käme man auf Wochen, vielleicht sogar Monate. Tessa wusste nicht, wieso sie bei Jona immer schwach wurde. Sie konnte es sich nicht anders erklären und nannte es Liebe. Das musste Liebe sein. Ihm konnte sie vergeben. Jona weckte ihn ihr eine Selbstlosigkeit, die ihr bis dahin komplett fremd gewesen war. Und war Selbstlosigkeit nicht eine gute Eigenschaft? Tessa schlussfolgerte, dass Jona für sie geboren war und umgekehrt. Ihm konnte sie verzeihen, bei ihm war sie selbstlos. Deshalb musste er der Vater ihrer Kinder werden. Es konnte gar nicht anders sein. Sie glaubte fest daran, dass sie noch geduldiger sein musste, dann würde bald der Tag kommen, an dem auch Jona begriff, dass Tessa die Liebe seines Lebens war.
Jona war froh, dass sie weg war. Sie war in seine Privatsphäre eingedrungen und hatte bekommen, was sie verdiente. Dafür würde er sich nicht entschuldigen. Diesmal würde er sich nicht entschuldigen. Er nahm die Kiste der Mutter und verschloss sie in der untersten Schublade seines altmodischen Schreibtisches. Den filigranen Schlüssel zog er ab. Einen Moment drehte und wendete er den Schlüssel in seiner Hand.
Was sollte er damit tun?
Was überhaupt sollte er jetzt tun? Nach allem was passiert war.
Er hatte keine Mutter mehr. Und einen Vater hatte es nie gegeben. Das nannte man wohl Waise. Jona war ein Waisenkind. Der Mann, der im Glashaus saß und vor sich hin brödelte, der ihm fälschlicherweise als Vater vorgesetzt worden war, diesen Mann wollte Jona nie wiedersehen. Das beschloss er mit dem Schlüssel in der Hand.
Und was nun damit tun?
Unschlüssig trat er an das geöffnete Fenster. Kühler Küstenwind wehte ihm ins Gesicht. Er hörte, roch und schmeckte das Meer.
Er liebte das Meer.
Er achtete das Meer.
Er vertraute dem Meer.
Beim Meer war er sich über seine Gefühle im Klaren. Das wusste Jona sehr sicher. Wenn es um das Meer ging, hatte er Gefühle, konnte er Gefühle beim Namen nennen. Bei Menschen war das schwieriger. Jona stand still, die Augen halb geschlossen, er atmete tief ein und aus. Das Rauschen in seinen Ohren überdeckte alles. Das Rauschen füllte seinen Kopf. Das Rauschen durchflutete den Körper. Das Rauschen war überall. Das Rauschen des Meeres. Das Meer war sein Freund. Das Meer war sein Zeuge. Das Meer war seine Leidenschaft. Jona hatte eine Leidenschaft. Er lebte auf einer Insel, weil die Insel von Wasser umschlossen war. Weil die Insel überschaubar und kontrollierbar war. Die Insel gab Jona Halt, wo sonst nur rauschendes Meer war. Unergründlich tiefes, tiefes Wasser. Und Jona stand still, ganz still, dann holte er aus und warf den Schlüssel aus dem Fenster.
Mein Geliebter,
wir teilen eine unerforschte Intimität.
Die Überraschung, dich zu sehen. Der erste zaghafte Kuss, das Wissen etwas Verbotenes zu tun, jagt mir wohlige Schauer über den Körper.
Ich erbebe.
Und sehne mich nach einem Abenteuer, in dem niemand zu Schaden kommt, das uns berührt wie ein Traum, uns entführt in andere Welten, und wenn wir aufwachen, ist alles wie es war. Wenn du diese Sehnsucht erfüllen kannst, komm wieder.
Deine Edith.
Alvis las den ersten Brief. Er war zwei Tage gefahren und hatte die Briefe nicht angerührt. Er hatte in anonymen Zimmern an der Autobahn kurz und hart geschlafen und in Raststätten, die alle gleich aussahen, gefrühstückt, gegessen, getrunken, sich entleert und wieder befüllt. Er hatte nicht darüber nachgedacht, auf welcher Mission er sich befand. Er war nur einem Ziel gefolgt, dem der französischen Grenze. Als er das Ziel erreicht hatte, stoppte er auf einem Rastplatz.
Er wusste, er musste den ersten Brief lesen. Das war seine Aufgabe. Nur so konnte er die Kreatur finden. Er stand auf dem Parkplatz, umringt von Lkw, saß in dem kleinen Auto. Es dauerte lange, bis er den Brief aus dem Umschlag nahm, bis er ihn auseinanderfaltete, bis seine Augen ihren Weg über die Buchstaben fanden. Er las jedes Wort sorgfältig, er machte Pausen, las weiter und wieder. Er las, doch die Worte und Sätze drangen nicht tiefer vor als zu seinen Augen. Dort blieben sie hängen, blieben ohne Bedeutung.
Alvis legte den Brief zur Seite und kletterte aus dem Wagen. Der Hund kratzte an der Scheibe. Alvis ließ ihn raus und folgte ihm in das nahegelegene Waldstück. Autos rasten hinter ihm über die Autobahn. Eines schneller als das andere. Sie alle hatten ein Ziel. Darum beneidete Alvis sie. Er fühlte sich verloren und wusste nicht, wohin es ihn zog. Er folgte dem Hund, der mit der Nase auf dem Boden eine Fährte aufgenommen hatte. Alvis kletterte über die Brüstung des Rastplatzes.
Er sollte das nicht tun.
Es dämmerte und er traute den Franzosen nicht. Aber er musste raus aus dem engen Wagen, weg von den Briefen, dem Verrat und Betrug. Trockene Äste knackten unter seinen Schritten. Keuchend kletterte er einen kleinen Hang hinauf, immer dem Hund hinterher. Ein Mann kam ihm entgegen. Alvis nahm dessen neugierige Blicke nicht wahr. Er lief weiter. Sein Kopf war leer. Die frische Luft tat ihm gut. Als er zwischen den Bäumen angekommen war, hielt der Hund inne und bellte kurz. Etwas raschelte. Der Hund bellte wieder. Alvis fühlte sich beobachtet, konnte aber niemanden sehen. Es raschelte. Dann zischte jemand: „J’ai presque fini. Continuer!“ Ein anderer machte „Psst!“ und der Hund bellte laut. Den Schwanz steil in die Höhe gerichtet, stand er neben Alvis, der versuchte, zwischen den Bäumen jemanden zu erkennen.
Wieso hatte er das Gewehr im Auto gelassen?
Er wusste doch, dass den Franzosen nicht zu trauen war.
„Continuer!“ zischte es zwischen den Bäumen.
„Un voyeur!“
Alvis stand da. Regungslos und lauschte der Sprache, die er nicht verstand. Er könnte sich umdrehen und den Hang hinuntergehen, über die Brüstung steigen, und in die Sicherheit des kleinen Wagens flüchten. Doch in dem Wagen war keine Sicherheit. In dem Wagen waren die Briefe, die ihm mehr wehtaten, als zwei französische Gauner, die er in ihrem Versteck aufgeschreckt hatte.
Sollten die ihn kaltmachen.
War Alvis auch egal.
Was hatte er zu verlieren?
Eh er sich versah, setzte er einen Fuß vor den anderen und ging in die Richtung, in der er die Gauner vermutete. Bereit, von ihnen niedergeschlagen zu werden. Bereit, zu sterben. Das Gebell des Hundes wurde mit jedem seiner Schritte aufgeregter, als wollte er ihn davon abhalten und warnen: Alvis, tu es nicht. Alvis, das ist ein Fehler. Alvis, gleich wirst du sterben!
„Le chien est gênant.“
„Non, non, ça m’excite!“
Und es folgte ein langgezogenes, befreiendes Stöhnen. Alvis dessen Augen sich endlich an die Dämmerung gewöhnt hatten, erkannte direkt vor ihm zwei Männer. Der eine war nach vorne gebeugt und stützte sich mit einer Hand auf einer braunen Plastikbank ab. Mit der anderen hielt er seinen erschlaffenden Penis. Die Hose hing am Knöchel. Sein Arsch war nackt und in ihm steckte der Penis eines anderen, der ihn schnell mit geschlossenen Augen und erhobenem Kopf penetrierte. „Merde, le chien, merde!“ stieß er immer wieder hervor.
Alvis drehte sich abrupt um und lief mit großen Schritten aus den Schatten der Bäume den Hang hinunter. An der Brüstung stoppte er heftig atmend.
Die Franzosen waren irre.
Aus den Augenwinkeln sah er zwei Typen den Hang hinaufklettern und zwischen den Bäumen verschwinden. Einige Meter entfernt, kamen drei zurück. Alvis kletterte über die Brüstung und sank auf den Asphalt. Der Hund legte sich neben ihn mit dem Kopf auf Alvis Füße.
„So was sieht man nicht alle Tage, was?“ Alvis fuhr erschrocken zusammen. Neben ihm lehnte ein schmächtiger Kerl an der Brüstung und rauchte. „Hast wohl nicht gewusst, dass das hier der deutsch-französische Sex-Spot ist, was?“ Der Schmächtige grinste Alvis an, der die Worte im Kopf sortierte. „Ich hab mir schon gedacht, dass du nicht auf ein schwules Abenteuer aus bist“, fuhr der Kerl fort und kicherte ein bisschen. „Oh man, du bist ja durch den Wind. Warte!“
Der schmächtige Kerl ging zu dem riesigen Lkw, der neben Alvis kleinem Wagen stand, öffnete die Fahrertür, kletterte auf den Bock und kam mit einer Thermoskanne zurück. Er schenkte Alvis dampfenden Kaffee in einen Becher. Alvis zögerte. Als der Geruch in seine Nase stieg, konnte er nicht widerstehen. Er nahm den Becher und trank hastig von dem starken Getränk.
„Ich bin Bernie 05. Keine Sorge, ich bin keiner von den warmen Brüdern. Willste ne Kippe auf den Schreck?“ Alvis schüttelte den Kopf. „Nen schönen Hund haste. Ist ein Mischling oder?“ Bernie 05 ging in die Hocke und streichelte dem Hund den Kopf, was der sich gerne gefallen ließ. „Ist nicht meiner“, presste Alvis zwischen zwei Schlucken hervor. Der Kaffee machte seinen Kopf klar und beruhigte sein klopfendes Herz. „Weißte, ich muss hier noch ein paar Stunden rumhängen. Haste Lust auf ne Runde Skat?“ Alvis schaute ihn mit großen Augen an.
Skat?
Er hasste Kartenspiele!
Ächzend rappelte er sich hoch. Der Hund sprang ebenfalls auf und lief zum Wagen vor. Alvis gab Bernie 05 den leeren Becher zurück und brummte: „Ich kann nicht!“ Bevor Bernie 05 was sagen konnte, ging er schnell zum Wagen. „Kein Problem. Vielleicht beim nächsten Mal!“ rief ihm der Trucker hinterher. Alvis hörte ihn nicht mehr. Er hatte die Tür hinter sich zugeschlagen und startete den Wagen, setzte zurück und fuhr zügig auf die Autobahn, wo er sich in die Reihe der Autos einfügte, die auf dem Weg nach Frankreich waren.
Chili war da. Ihre