Schwedischer Hering und Türkischer Mokka - Fethi Pınar - E-Book

Schwedischer Hering und Türkischer Mokka E-Book

Fethi Pınar

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Beschreibung

Nach achtzehn Jahren voller Abenteuer rund um die Welt kehrt Fethi mit leeren Händen nach Istanbul zurück. In der Heimat erwarten ihn Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Hunger. Dem Alkohol und anderen Süchten seit Jahrzehnten total verfallen, beschließt er in seiner Hoffnungslosigkeit sich an den Strand zu legen, um dort zu sterben. Da geschieht das Wunder. Durch die Begegnung mit einem heiligen 'Baba' und später mit einer schwedischen Touristin aus Deutschland, verändert sich sein Leben grundlegend. Aus einem gewalttäigen 'Großmaul' wird zunehmend ein demütiger, weiser Mann. Eine unglaubliche Geschichte verbindet die drei ungleichen Personen auf schicksalhafter Art und als Ergebnis ist dieses Buch entstanden. Spannend, lehrreich, ergreifend und einmalig!

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Seitenzahl: 1174

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FETHI PINAR

SCHWEDISCHER HERING UND TÜRKISCHER MOKKA

Impressum

© 2017 Autor: Fethi Pinar

Titel: Schwedischer Hering und Türkischer Mokka – Die wahre Geschichte eines unglaublichen Lebens

Titel der türkischen Vorlage: Swedish sill and turkish coffee / Isveç baliği ve türk kahvesi

Co-Autorin: Annika Langer:Grundlegende sprachliche und inhaltliche Überarbeitung des gesamten Textes auf Grundlage der deutschen Erstübersetzung, Umformulierung, Verfassen des Prologs und kleinerer Textabschnitte, Übersetzung des Epilogs und des Kapitels 66 (kursiv), Beratung, Lektorat, Korrektorat

Originalgetreue Erstübersetzungaus dem Türkischen ins Deutsche:Sebiha DoğanUmschlagsillustrationHolzschnitt:Anne Weigel

Weiteres Lektorat/Korrektorat: Cornelia Schirren, Gisela Anger, Volker Bradke

Kontakt Email: [email protected]

ISBN:978-3-7345-8318-6(Paperback)

978-3-7345-8319-3(Hardcover)

978-3-7345-8320-9 (e-Book)

Verlag: tredition GmbH Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Das Zustandekommen des vorliegenden deutschen Textes ist von der Vorgehensweise her ausgesprochen ungewöhnlich und bedarf einer kurzen Erläuterung.

Das Original ist auf Türkisch geschrieben.

Die erste, im Auftrag der Co-Autorin Annika Langer angefertigte Rohübersetzung des türkischen Originaltextes ins Deutsche durch Frau Sebiha Doğan, wurde von Annika Langer in enger Zusammenarbeit mit dem Autor, Fethi Pinar, sprachlich und inhaltlich in erheblichem Maße überarbeitet. Da der Autor der deutschen und die Co-Autorin der türkischen Sprache nicht mächtig sind, erfolgte die Verständigung zwischen Autor und Co-Autorin und der Vergleich des türkischen Urtextes mit der deutschen Fassung in englischer Sprache, meist über Skype, und dauerte über zwei Jahre. Ziel dieser Überarbeitung war es, einen gut lesbaren, qualitativ hochwertigen, deutschen Text zu erstellen, der sich inhaltlich so nah wie möglich am Originaltext orientieren sollte. Dabei wurde besonders darauf geachtet, dass nichts Wesentliches verlorenging oder falsch wiedergegeben wurde.

Bei dem endgültigen, sprachlichen Schliff leistete Cornelia Schirren in besonderem Maße wertvolle Hilfe.

Das Resultat dieser ungewöhnlichen Vorgehensweise ist eine deutsche Fassung, die die Gedanken und Intentionen des Autors sehr genau wiedergibt, auch wenn es sich nicht immer um eine wortwörtliche Übersetzung handelt.

Den Prolog, einen kleinen Teil des Epilogs und einige weitere, kurze Textabschnitte hat Annika Langer im Laufe der Überarbeitungsphase auf Wunsch des Autors selbst verfasst. Diese Abschnitte sind von Cecelia Salmonson-Krieg ins Englische übertragen und Herrn Pinar vorgelegt worden.

Den größeren Teil des Epilogs hat Annika Langer mit Unterstützung von Gisela Anger aus dem Türkischen übersetzt.

Obwohl sich der Autor aufgrund dieser komplizierten Umstände in der absurden Situation befindet, als vermutlich einziger Autor sein eigenes Werk mangels deutscher Sprachkenntnisse nicht lesen zu können, ist sein Vertrauen in die Arbeit von Annika Langer so groß, dass er vollkommen sicher ist, dass sie ganz in seinem Sinne gehandelt und geschrieben hat.

Somit ist der Autor, Fethi Pinar, auch für die Inhalte der deutschen Fassung seines Textes voll verantwortlich.

Die in Klammern ( ), [ ] gesetzten Wörter sind Anmerkungen und Übersetzungen der Co-Autorin.

Fethi Pinar

Schwedischer Hering und Türkischer Mokka

Die wahre Geschichte eines unglaublichen Lebens

Wer dieses Buch aufschlägt, hält den Beweis in seinen Händen, dass nichts unmöglich ist.

Widmung

Für Soydan, meinen vaterlosen Sohn.

Danksagung an all diejenigen, die an der Entstehung dieses Buches mitgewirkt haben.

Mein größter Dank geht an meine Co-Autorin,Annika Langer (Egede).Kein Dank der Welt reicht aus, um meine Gefühle für sie auszudrücken. Zuerst dachten wir, dass es der pure Zufall sei, dass wir uns begegnet sind. Aber jetzt weiß ich, dass Gott uns mit Absicht zusammengeführt hat, damit wir dieses Buchprojekt angehen und vollenden würden. Gott hat sie mir geschickt, um ein Wunder zu vollbringen. Durch ihre unerschöpfliche Geduld, ihre jahrelange finanzielle, psychologische und emotionale Unterstützung, schuf sie das Fundament, auf dem sich das Wunder verwirklichen konnte. Ohne ihren unermüdlichen Einsatz, ihre Ermunterung, ihre Beratung und ihr Verständnis hätte es dieses Buch nie gegeben. Sie wurde zu meiner einzigen, wahren Freundin. Nachdem sie dafür gesorgt hatte, dass mein ursprünglicher Text aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzt worden ist, hat sie, in enger Absprache mit mir, das ganze Buch, Satz für Satz, grundlegend überarbeitet. In einem meiner Träume hatte sie hierzu den Auftrag bekommen. Die Schwierigkeit dabei bestand darin, den Sinn und den Wortlaut des Ursprungstextes niemals aus den Augen zu verlieren, gleichzeitig aber ein sprachlich einwandfreies und in sich geschlossenes Werk zu schaffen, welches der Leser würde mühelos lesen und verstehen können. Dieses neu entstandene Werk ist unser gemeinschaftliches Werk und obwohl ich dadurch wohl der einzige Autor auf der Welt bin, der sein eigenes Buch nicht wirklich kennt und nicht lesen kann, vertraue ich hundertprozentig darauf, dass sie alles in meinem Sinne formuliert und wiedergegeben hat. Aus einem zugigen Rohbau hat sie ein wunderschönes, bewohnbares Haus mit solider Statik geschaffen. Nachdem sie sich an der Uni Marburg als Gasthörerin die Grundlagen der türkischen Sprache angeeignet hatte, gelang es ihr sogar, mit tatkräftiger Unterstützung von Gisela Anger (auch Gasthörerin), den von mir später hinzugefügten Epilog selbständig aus dem Türkischen zu übersetzen. Sie hat dann alles Erdenkliche unternommen, um das Manuskript auf den Buchmarkt zu bringen. Ich danke Gott und Egede für all das.

Herzlichen Dank auch anSebiha Doğan, die mit ihrer originalgetreuen Erstübersetzung den Grundstein für die weitere Bearbeitung dieses Buches gelegt hat.

Besonders danken möchte ich auch den folgendendrei Personen, die ihre unentgeltliche Hilfe angeboten haben beim Lektorieren und Korrekturlesen der von Egede bearbeiteten deutschen Übersetzung. Ohne deren konstruktive Kritik, deren aufmunternde, unterstützende Teilnahme und deren unermüdlichen Arbeitseinsatz hätte Egede allein wohl kaum die Kraft aufgebracht, dieses Werk in so tadelloser Form zu vollenden:

Cornelia Schirren, der es hervorragend gelungen ist, die teilweise etwas holprigen Formulierungen durch wenige, geniale Veränderungen in eine flüssige Sprache umzuwandeln. Durch ihre unermüdliche Arbeit, ihr sicheres Gespür für Sprache und ihr Einfühlungsvermögen in die Person des Autors, wurde aus einem guten Text ein hervorragender.

Gisela Anger, die mit Adlerblick dafür gesorgt hat, dass die Regeln der Grammatik, der Rechtschreibung und der Interpunktion eingehalten wurden, die aber auch inhaltliche Ungereimtheiten aufzuspüren vermochte. Darüber hinaus hat sie Egede auch bei der Übersetzung des Epilogs aus dem Türkischen wertvolle Hilfe geleistet.

Volker Bradke, ehemaliger Lektor, der kompetente, wertvolle Lektorenarbeit geleistet hat und uns mit fachlich fundierten Ratschlägen unterstützt hat.

Großen Dank auch anCecelia Salmonson-Krieg,in Deutschland lebende Amerikanerin mit schwedischen Wurzeln, die einige größere, ergänzende Textabschnitte, die Egede in meinem Auftrag auf Deutsch verfasst hat, ins Englische übersetzt hat, um sie mir dann vorlegen zu können. So konnte ich genau nachlesen, was Egede geschrieben hat und mein Einverständnis dazu geben.

Mein Respekt und mein Dank gilt auchUte Weber,die, trotz eigener Arbeitslosigkeit, mit einer großzügigen Spende dazu beigetragen hat, dass ich am Leben bleiben konnte.

Dank auch an die IllustratorinAnne Weigelfür die wunderbare Gestaltung des Buchcovers.

November 2016 Fethi Pinar

Inhalt

1. Prolog

2. Heimkehr

3. Anfang und Ende

4. Antalya

5. Baba

6. Versöhnungsversuch

7. Der innere Kampf

8. Der Auftrag

9. Die Bekanntschaft mit Egede

10. Heimatlos

11. Der Garten

12. Hunger und Rettung

13. Egedes erster Besuch

14. Der Kreis wird geschlossen

15. Ich fange an zu schreiben

16. Meine Kindheit in Hançerli

17. Egedes zweites Kommen

18. Vögel ohne Flügel

19. Istanbul

20. Die Zeit auf dem Gymnasium

21. The Lost Generation

22. Beginn der Seefahrt

23. Rumänien

24. Das Viertel, die Freunde und der Terror

25. Rückschau

26. Das Projekt schreitet voran

27. Sebil

28. Die Militärzeit - Silvan

29. Sonderurlaub

30. Foça

31. Über die Liebe

32. Kartal

33. Ende der Liebe

34. Das Schiff Norsun – Syrien und Antalya

35. Libanon

36. Nigeria

37. Kamerun

38. Zurück nach Europa - Gran Canaria, Jugoslawien und Italien

39. Das Leben verstehen

40. Italienischer Zirkus

41. Grenzüberquerung

42. Eintritt in die Fremdenlegion

43. Paris

44. Gescheitert

45. Umzug

46. Egedes viertes Kommen

47. Die Reederei Anadolu – USA

48. Algerien und Belgien

49. Somalia

50. Kenia, Tansania und Südafrika

51. Südamerika

52. Zurück in die Heimat

53. Das Schiff Ince

54. Selim, der Fuchs

55. USA - Business as usual

56. Vera

57. Krebsfang

58. Wieder allein

59. Farmingdale

60. Isabella, El Parral und das Malergeschäft

61. Die Nabelschnur reißt nicht ab

62. Achterbahn in den Abgrund

63. Im Drogensumpf

64. Goldrausch

65. Urlaub

66. Mein Freund Müfit

67. Stehaufmännchen

68. Deedra und die Jericho Cider Mill

69. Countdown

70. Epilog

71. Glossar

72. Über die Autoren

Prolog

Da ich diese Zeilen schreibe, ist es fast auf den Tag genau zehn Jahre her, dass ich Fethi zum ersten Mal begegnet bin.

Ich sehe noch vor mir, als wäre es gestern, wie ich erschöpft den verstaubten, schummrigen Teppichladen in der Altstadt von Antalya betrat, wie nach einiger Zeit des allein Herumstöberns ein dunkler Schatten zwischen den gestapelten Teppichbergen hervorkam und eine tiefe Männerstimme sehr unaufdringlich fragte, ob ich Hilfe benötigte. Das anschließende gemeinsame Teetrinken und die angenehme Unterhaltung mit dem recht unscheinbar wirkenden Besitzer dieses Schattens wurden zum Auftakt für etwas Lebensentscheidendes, etwas, was ich im Nachhinein als die Geburtsstunde dieses Buches bezeichnen möchte.

Mein Çayglas war leer und mein Gesprächspartner stand auf, um es aufzufüllen.

Dieses Bild vergesse ich nie. Mühsam, sehr mühsam löste sich sein schwerer Körper wie aus einer hundertjährigen, depressiven Verschmelzung mit dem gepolsterten Lehnsessel, in dem er während unserer Unterhaltung gesessen hatte. Als es ihm schließlich gelungen war, auf die Beine zu kommen, packte er mit seinen beiden kräftigen Händen den Hosengürtel rechts und links und versuchte, seine Jeanshose etwas hochzuziehen, was aber aufgrund des natürlichen Widerstandes seiner Leibesfülle gänzlich misslang. Kapitulierend und entmutigt fielen daraufhin die Arme nach unten, wo sie wie leblos hin und her schlenkerten, zwei totgeschossenen Kaninchen auf dem Jagdgewehr eines Jägers ähnlich.

Mit dem leicht rollenden Gang eines Seemannes entfernte sich Fethi und verschwand hinter einem Vorhang.

Dies war der Augenblick, als ich ihn „sah“.

Es war, als hätte eine unscheinbare, schwarze Miesmuschel ihre beiden harten Schalen plötzlich aufgeklappt und mir für einen kurzen Moment, nicht länger als ein Blinzeln, ihr Innerstes, eine glänzende weiße Perle, gezeigt, um sich dann wieder zu verschließen.

In diesem Moment wusste ich alles über ihn, ohne etwas zu wissen.

Genau da verbanden sich unsere Schicksale durch unsichtbare Fäden; Schicksalsfäden, die sich miteinander verknüpften, in ähnlicher Weise wie die unendlich vielen Knoten in den wertvollen handgeknüpften Teppichen neben uns, um dann schließlich in märchenhaft schönen Mustern und Farben als strahlendes Unikat sichtbar zu werden.

Von nun an fügte sich Puzzlestück um Puzzlestück zu einem Ganzen. Mein Leben nahm eine unerwartete neue Wendung und ich wurde zur Mitgestalterin eines Projektes, dessen Drehbuch schon längst geschrieben war. Ich geriet in einen mächtigen Sog hinein, der mich wie eine Naturgewalt, Ebbe und Flut ähnlich, in die unglaublichste Geschichte meines Lebens mitriss.

Alles, was seitdem geschah, war vorherbestimmt, und ich handelte von nun an wie ferngesteuert.

Wie sonst war es denkbar, dass ein paar Worte, die ich am folgenden Tag ziemlich unbedacht, aus einem kurzen Impuls heraus an diesen wildfremden Mann richtete, den ich erst seit ein paar Stunden kannte, eine solche Wirkung haben konnten?

Wie konnte es sonst sein, dass mein so lässig locker daher gesagter Satz:„Wieso schreibst dukein Buch über dein Leben?“, Realität werden würde?

Wieso gerade ich? Was hatten Fethi, ein heruntergekommener obdachloser Alkoholiker und Gewalttäter, der kurz davor war, seinem Leben ein Ende zu setzen, und ich denn gemeinsam? Zwei größere Gegensätze als uns beide konnte man sich wohl kaum vorstellen. Obwohl meine Ratio sämtliche Argumente und Hindernisse aus der Tasche zog, um die Unmöglichkeit dieses Buchprojektes zu belegen, übernahm ich, ohne mit der Wimper zu zucken, meine neue Funktion, Jahr für Jahr aufs Neue.

Allmählich ist mir dann immer klarer geworden, dass wir beide uns für diese Aufgabe perfekt eigneten und ergänzten. Der göttliche Plan war in genialer Weise auf unser beider Bedürfnisse, Fähigkeiten und Persönlichkeiten abgestimmt. Das Gleichgewicht von Geben und Nehmen war die ganze Zeit gegeben. Der persönliche Austausch schweißte uns immer mehr zusammen und half uns, den langen, beschwerlichen Weg, der geradezu gespickt war mit Schwierigkeiten, gemeinsam zu bewältigen. Keiner von uns hat jemals ernsthaft daran gedacht, die Flinte ins Korn zu werfen.

Die Beschäftigung mit dem Buch hat sowohl mir als auch Fethi das Leben gerettet.

Fethi ist im Laufe der Zeit zu meinem besten Freund geworden. Durch ihn sind mir Türen zu einer spirituellen Welt geöffnet worden, von der ich bis dahin nichts geahnt hatte. Durch ihn habe ich das grausame Schicksal eines Menschen hautnah kennengelernt, der nicht das Glück hatte, wie ich aufzuwachsen - in Schweden, einem Land, das seit 200 Jahren keinen Krieg mehr erlebt hat, seit 1979 körperliche und seelische Gewalt gegen Kinder gesetzlich verbietet und streng bestraft, wo weitgehend soziale Gerechtigkeit herrscht und welches für seine Bürger, ob jung oder alt, ob Mann oder Frau, eine breite Palette von Bildungschancen und kulturellen Angeboten bereithält.

Das Schicksal von Fethi hat mich tief berührt; wie konnte ein menschliches Wesen dies alles aushalten? Wo hielt sich bloß in all den Gewaltexzessen seine Seele verborgen? Fethi hat mich wie kein anderer Mensch beeindruckt, weil sein ganzes Handeln, sein ganzer Ausdruck durch und durch von Echtheit geprägt ist. In allem, was er sagt oder tut, ist er vollkommen authentisch, ganz gleich, ob er sich wie ein gekränktes unreifes kleines Kind verhält oder den von Spiritualität durchdrungenen, weisen Hoca verkörpert.

Er hat eine starke Ausstrahlung, ein phänomenales Gedächtnis, ein faszinierendes Erzähltalent, eine unnachahmliche Stimme, eine vielfältige Begabung, kombiniert mit einer hohen Intelligenz.

Es gehört untrennbar zu seiner Persönlichkeit, dass er Führungsqualitäten besitzt und die Menschen auf ihn hören.

Leider hat er all diese Talente früher nicht zum Wohle der Menschheit eingesetzt, sondern viel Schlimmes angerichtet. So sehr ich auch viele seiner ehemaligen Verhaltens- und Denkweisen ablehne und verurteile, so entsetzt ich auch bin über die viele Gewalt, die er anderen Menschen angetan hat, so sehr bewundere ich, dass es einem Menschen, der sich so lange auf diesem Irrweg befunden hat, der so lange von Süchten beherrscht worden ist, der so vollgestopft gewesen ist mit Hass und Wut, gelungen ist, ohne fremde Hilfe sein Leben so grundlegend zu ändern und als Krönung auch noch dieses Buch zustande zu bringen.

Aus therapeutischer Sicht würde man meinen, bei so einem "Typen" sei Hopfen und Malz verloren. Dass es ihm nicht nur gelungen ist, seine Süchte zu überwinden und seine Neigung zur Gewalt in den Griff zu bekommen, sondern dass es ihm mittlerweile auch klargeworden ist, dass nicht die anderen, sondern er selbst für seine Probleme verantwortlich ist, rechne ich ihm hoch an. Dass er verstanden hat, welche Ursachen seiner Fehlentwicklung zugrunde liegen, dass er Kritik an seinem eigenen Verhalten zulässt und inzwischen Reue, Scham und Schuld empfindet, lässt mich Hochachtung vor ihm und Bewunderung für ihn empfinden.

Er ist nach wie vor ein schwieriger Mensch, das Leben hat ihn dazu gemacht. Mit ihm zusammen zu sein und mit ihm zusammenzuarbeiten, war für mich nicht immer leicht. Um es in seiner Nähe auszuhalten und eine gelungene produktive Zusammenarbeit zustande zu bringen, brachte ich aber eine wichtige Voraussetzung mit: Wenn er schlechte Laune hatte, seine Empfindlichkeiten zur Schau stellte oder sich aufregte, bezog ich das grundsätzlich nicht auf mich. Diese Kunst beherrsche ich ziemlich gut und ließ solche Verhaltensweisen meistens an mir abprallen wie Wassertropfen auf Bienenwachs. So kam es, dass ich daneben oft das Vergnügen hatte, hinter der ruppigen Fassade den anderen, den wirklichen Fethi mit seinem goldenen Herzen, seinem Sinn für Gerechtigkeit und Ehrlichkeit, seiner Empathie und seiner Charakterstärke, die ihn niemals klagen lässt, obwohl er unsäglich leidet, seinem oft unverhofft hervorblitzenden Humor, seinem übermenschlichen Durchhaltevermögen und seinem unerschütterlichen Glauben, der Berge versetzen kann, zu erleben und kennenzulernen.

Fethi wurde zu meinem spirituellen Lehrmeister. Durch ihn habe ich gelernt auf Gott zu vertrauen, habe verstanden, dass die vielen schwierigen Umstände und die vielen Steine, die uns in den Weg gelegt wurden und mich manchmal an der Durchführbarkeit dieses 'verrückten' Vorhabens haben zweifeln lassen, sich im Nachhinein als notwendig erwiesen haben, um zu einem guten Ergebnis zu gelangen.

Die Arbeit mit diesem Buch war eine große Herausforderung für mich, hat mir aber gleichzeitig unendlich viel Spaß und Freude bereitet und meinen Horizont erweitert.

Fethis Vertrauen in mich und in den Erfolg seines Buches war über die Jahre unerschütterlich. Ich habe das erst lernen müssen.

Möge er mit diesem Buch anderen durch sein Beispiel Mut machen.

Egede

Heimkehr

Achtzehn Jahre später und nach einer zwölfstündigen Flugreise kam ich am Flughafen Atatürk an: Nach all diesen Jahren betrat ich wieder meine türkische Heimat. Am liebsten hätte ich den Boden geküsst, aber ich schämte mich zu sehr. Ich war erfüllt von einer bittersüßen Aufregung. Es war, als ob meine Füße den Boden nicht berührten, als ob alles nur eine Halluzination und ich ein Geist wäre. Ein Mitreisender, den ich im Flugzeug kennengelernt hatte und der von seinem Bruder abgeholt werden sollte, bot mir an, mich zu Hause abzusetzen. Er lebte ebenfalls in dem Istanbuler Stadtteil Kadiköy, in dem ich aufgewachsen war.

Der Flughafen war ziemlich modern. Bei meiner Abreise war er sehr viel kleiner gewesen und noch recht unansehnlich. Ich schaute mir die Leute an, ihr Erscheinungsbild hatte sich kaum verändert. Als wir bei der Passkontrolle ankamen, sah sich eine junge Frau meinen Pass an und geriet ins Grübeln. Sie wandte sich zu dem Beamten neben ihr und sagte etwas unschlüssig: „Der ist achtzehn Jahre lang nicht mehr hier gewesen.“ Dieser antwortete: „Macht nichts, lass ihn einreisen.“ Das arme junge Ding, immer noch überrascht, stempelte meinen Pass ab und überreichte ihn mir. Das Datum war der 03.03.2003, das Ende eines achtzehnjährigen Abenteuers.

Mit welchen Träumen war ich damals weggegangen und wie kehrte ich jetzt zurück? Was erwartete mich hier wohl?

Bevor ich nun anfange, meine eigene Geschichte zum Besten zu geben, möchte ich zuerst ein Gleichnis erzählen:

Der Mensch strebt fortwährend nach seinem Glück. Er weiß aber nicht, wie viel ihm davon zusteht und strebt nach immer mehr und mehr. Er lässt sich von Berg und Tal, von Meer und See nicht aufhalten und irrt auf der Suche nach diesem unermüdlich umher. Einer dieser Menschen ist ein einfacher Mann, der kurz nach seiner Heirat in die Fremde zieht, um sein Brot zu verdienen. Um genügend Geld für Haus, Hof und ein Unternehmen zusammenzusparen, verbringt er ganze achtzehn Jahre in der Fremde, immer in Gedanken an seine junge Frau, die er zurückgelassen hat. So spart er in dieser Zeit dreitausend Silbermünzen an. Als er meint, genug gespart zu haben, beginnt er mit den Vorbereitungen für seine Rückkehr. Nachdem er die nötigen Geschenke besorgt hat, schließt er sich einer Karawane an, die in Richtung seines Dorfes unterwegs ist.

Nach einigen Tagen macht die Karawane in einem Städtchen Rast. Wenn ein Mensch sich seinem ersehnten Ziel nähert, hat er dabei manchmal das Gefühl, dass der Weg nicht enden will und die Zeit stillsteht, während sich die Vorfreude in ihm breitmacht. Während der Mann nun, um sich die Zeit zu vertreiben und das Warten erträglicher zu machen, neugierig in dem Städtchen umherschlendert, erregt plötzlich eine Stimme seine Aufmerksamkeit:

„Ein Spruuuuuch für tausend Silbermünzen! Ein Spruuuuuch für tausend Silbermünzen!“

Die Stimme wiederholt immer wieder denselben Satz, während der Mann sich verwundert fragt, ob er sich wohl verhört habe. Obwohl er voller Neugierde ist, zu erfahren, wer wohl tausend Silbermünzen für einen Spruch zahlen würde, macht er sich auf den Weg zurück zur Karawane, kann aber den Satz selbst nicht mehr vergessen.

Was mag das wohl für ein Spruch sein? Es muss wohl ein sehr kostbarer Spruch sein, wenn der Mann dafür tausend Silbermünzen verlangt. Auch wenn unser Mann versucht sich einzureden, dass er sechs Jahre gebraucht hat, um tausend Silbermünzen zu verdienen und dieser Spruch so viel nicht wert sein kann, da ja eigentlich jedes Wort nur ein Wort ist, so kann er es doch nicht lassen. Mit dem Gedanken, dass zweitausend Silbermünzen auch für Haus und Hof reichen würden, kehrt er zurück in die Stadt, ruft den Mann zu sich, überreicht ihm die verlangten tausend Silbermünzen und sagt: „Ich kaufe den Spruch.“ Der Verkäufer beugt sich zu dem Mann vor und flüstert ihm ins Ohr:

„Es kommt wie es kommt, man kann dem Schicksal nicht entgehen.“

Als der Mann diesen Spruch hört, erblasst er und denkt: „Das wusste ich doch schon!" Verärgert verstaut er den Spruch bei seinen restlichen zweitausend Silbermünzen und macht sich zerknirscht auf den Weg zurück zur Karawane. Er denkt, dass er einen Fehler gemacht hat. Gerade als er den Bazar verlassen will, hört er abermals jemanden rufen:

„Ein Spruuuuuch für tausend Silbermünzen! Ein Spruuuuuch für tausend Silbermünzen!“

Während er es sehr bereut, überhaupt auf den Markt gegangen zu sein und sich über sich selbst ärgert, verdrehen ihm der herbe Verlust und der Wunsch nach Gewinn erneut den Kopf. „Vielleicht lohnt es sich diesmal? Tausend Silbermünzen habe ich schon verloren, dann kaufe ich eben kein Haus, auf dem Dorf werden uns tausend Silbermünzen schon reichen“, solche Gedanken schwirren in seinem Kopf umher, während er dem Mann die verlangten tausend Münzen überreicht und sagt: „Nun sprich, wie lautet dein Spruch?“ Der Mann, der das Geld entgegennimmt, mustert die Umgebung, beugt sich zu dem Mann vor und flüstert, nachdem er sich sicher ist, dass niemand zuhört:

„Mein Herr, das Herz begehrt, was es begehrt. Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters.“

Der Mann denkt: „Auch diese Redewendung kannte ich doch schon.“ Er ist wütend über sich selbst und seine große Dummheit. Während die Trauer um das verlorene Geld in seiner Brust wie ein Feuer lichterloh brennt, hört er erneut jemanden rufen:

„Ein Spruuuuuch für tausend Silbermünzen! Ein Spruuuuuch für tausend Silbermünzen!“

Mit neuer Hoffnung übergibt er dem Rufer sein restliches Geld und sagt: „Nun sprich, wie lautet dieser wertvolle Spruch?“ Der Ausrufer schaut sich vorsichtig um, beugt sich zu ihm vor und sagt:

„Am Ende der Geduld wartet der Segen!“

Nachdem unser Mann die Ersparnisse von achtzehn Jahren für drei Sprüche ausgegeben hat, sinniert er darüber, was er jetzt machen soll: Wie kann er mit leeren Händen zum Dorf zurückkehren und was soll er den Leuten wohl erzählen? Da fällt ihm eine Menschenmenge auf, die sich um einen Brunnen geschart hat. Beim Näherkommen hört er den Ausrufer schreien: „Ihr Leute, hört her! Bis heute hat es keiner geschafft, hinabzusteigen und lebendig aus diesem Brunnen wieder herauszukommen. Wer dies schafft, dem verspricht der Sultan, sein Gewicht in Gold aufzuwiegen.“ Von der Menschenmenge erfährt er, dass dieser Brunnen die einzige Wasserquelle des Volkes ist und dass ein Ungeheuer das Wasser nicht freigibt und diejenigen tötet, die in den Brunnen hinabsteigen. In diesem Moment muss er an den ersten Spruch denken, den er gekauft hat:

„Man kann dem Schicksal nicht entgehen!“

So ruft er: „Ich steige hinab!“, und wird mit einem Seil um seine Hüfte in den Brunnen hinabgelassen. Als der Mann unten ankommt, sieht er Menschenknochen unter sich, einen riesigen Drachen vor sich, eine wunderhübsche Prinzessin auf seiner rechten und einen äußerst hässlichen Frosch auf seiner linken Seite. Während der Mann vor Angst zittert, faucht der Drache ihn an: „Mensch! Sag du, wer ist schöner? Die Prinzessin oder der Frosch?“ Gerade als der Mann sagen will, dass natürlich die Frau schöner sei, fällt ihm der zweite Spruch ein:

„Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters!“

Mit dieser Antwort ist der Drache so zufrieden, dass er das Wasser freigibt und verspricht, niemanden mehr zu töten. Weil der Drache sich in die Augen des Frosches verliebt hatte, konnte er es nicht ertragen, zu hören, dass die Frau schöner sei und tötete deshalb die Menschen, die dies behauptet hatten und verweigerte ihnen das Wasser.

Dem Mann wird vom Sultan nun sein Gewicht in Gold ausbezahlt. Als reicher Mann setzt er seinen Weg nach Hause fort. Die Wege werden kürzer, Berg und Tal ebnen sich. Mit tausend Gedanken und voller Vorfreude erreicht er endlich sein Haus. Bevor er aber anklopft, späht er erst durch das Fenster hinein. Doch was sieht er da? Seine Frau sitzt in vertrauter Zweisamkeit neben einem jungen Burschen! Der Mann verliert fast den Verstand, er rast vor Eifersucht. Er zieht seinen Dolch und will beide auf der Stelle erstechen. Gerade als er hineinstürmen will, fällt ihm der dritte Spruch ein:

„Am Ende der Geduld wartet der Segen!“

Er steckt seinen Dolch zurück in die Scheide, tritt ein und fragt: „Meine liebe Gattin, wer ist dieser junge Mann?“ Noch bevor die Frau den Mund aufmachen kann, kommt der junge Mann mit den Worten:„Willkommen zu Hause, Vater!“ auf ihn zu und küsst ihm die Hand.

Für mich gab es keine Frau, die auf mich wartete. Aber auch ich hatte einen 17-jährigen Sohn, von dem ich mich getrennt hatte, als er fünfeinhalb Monate alt war, und den ich jetzt wiedersehen würde. In meiner Generation haben wir jungen Leute uns immer so verhalten, als ob uns Sprüche und Weisheiten nichts angingen. Wenn man uns gefragt hätte, hätten wir wohl behauptet, die Frau sei hübscher als der Frosch oder es gäbe kein Schicksal, es läge alles in unserer eigenen Hand und Geduld - möge Allah sie uns geben - hatten wir nie.

Wir haben uns solche Ratschläge nie zu Herzen genommen, haben sie nie beachtet, haben sie als Märchen abgetan. Zum einen Ohr kamen sie herein und zum anderen wieder hinaus. Dabei wurden sie uns noch nicht einmal teuer verkauft, sie waren umsonst! Wir haben sie nicht gewürdigt, obwohl solche Worte doch eigentlich der größte Schatz sind. Stattdessen haben wir es vorgezogen, selber nach unserem Glück zu suchen. Auf diese Art und Weise haben wir häufig unser kostbarstes Kapital, nämlich unser Leben, aufs Spiel gesetzt oder uns an den Rand des Bankrotts gebracht.

Auch ich habe schließlich einen Schatz gefunden, damals, gerade in dem Moment, als ich angesichts der erdrückenden Last meines Bankrotts überlegte, meinem Leben ein Ende zu setzen.

Und was für einen Schatz: Gold in meinem Eigengewicht ist nichts dagegen.

Nun war ich aber nach einem 18-jährigen Abenteuer wieder von der Fremde, in der ich mein ganzes Leben als Erwachsener verbracht hatte, in die Heimat zurückgekehrt. Völlig mittellos und ohne zu wissen, wie ich in der Türkei überleben sollte, gab es nur einen ersten Rettungsanker - meine Eltern.

Noch vom Flughafen aus rief ich zu Hause an, um mitzuteilen, dass ich angekommen sei und in einer Stunde zu Hause sein würde. Nach so vielen Jahren wollte ich nicht so plötzlich mit der Tür ins Haus fallen. „Vielleicht fällt meine Mutter vor Freude in Ohnmacht, wenn sie mich so plötzlich vor sich sieht", dachte ich. Der Freund aus Kadiköy, den ich im Flieger kennengelernt hatte, brachte mich bis vor die Haustür. Ich dankte ihm und seinem Bruder und wir trennten uns. Ich hörte den Türsummer. Meine Mutter sah aus dem Fenster. Ich öffnete die Tür und begann, die Treppen hinaufzulaufen.

Anfang und Ende

Die Tür stand offen, mein Sohn und mein Vater erwarteten mich. Soydan hieß mich willkommen und half mir mit der großen Tasche. Obwohl ich nicht viele Sachen eingepackt hatte, war sie sehr schwer. Bevor ich auf die Reise ging, hatte ich meine Sachen gewaschen und es nicht mehr geschafft, sie zu trocknen.

Ich zog mir die Schuhe aus und küsste meinem Vater zur Begrüßung die Hand. Mein Vater umarmte mich und weinte, er schluchzte wie ein Kind. Meine Mutter sagte nur ganz formal: „Hoş geldin!" (Willkommen!) Ich küsste auch ihre Hand; sie aber hat mich weder umarmt noch irgendetwas gesagt. Ich konnte mir nicht erklären, warum sie sich so distanziert verhielt. Eigentlich hatte ich erwartet, dass sie sich noch mehr freuen würde als mein Vater: Ihr Sohn, den sie seit achtzehn Jahren nicht gesehen hatte, war zurückgekehrt! Ich hatte zuvor angerufen, denn es hätte ja sein können, dass ein Mutterherz eine so plötzliche Überraschung nicht ausgehalten hätte!

Mein Vater fragte, wie es mir ginge und ich fragte meinen Sohn: „Wie geht es dir, mein Sohn?“ Als er erwiderte: „Mir geht es gut. Wie geht es dir?“, sah ich ihn mir genauer an: Er war ein Mann geworden. Ich hatte ihn aus den USA in die Türkei geschickt, als er fünfeinhalb Monate alt war. Jetzt stand er kurz vor dem Abitur.

Als meine Mutter in die Küche ging, folgte ich ihr. Ich wollte herausfinden, wieso sie so griesgrämig schaute. „Wie geht es dir, Mutter?“, fragte ich. „Es geht mir gut“, sagte sie und sah mich dabei nicht einmal an, und gleich danach: „Gib mir zweitausend Dollar!“ „Ich habe keine zweitausend Dollar! Wozu brauchst du denn zweitausend Dollar?“, fragte ich. In diesem Moment bemerkte ich, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. „Ich will eine neue Waschmaschine kaufen“, antwortete sie. Zweitausend Dollar waren damals annähernd vier Milliarden Lira und die teuerste Waschmaschine kostete um die fünfhundert Millionen Lira. Da begann ich zu ahnen, welche Hintergedanken meine Mutter hatte. Ich schwieg jedoch und kehrte zu den anderen zurück ins Zimmer. Es war Abend geworden und ich fragte meine Mutter nach meinem Bruder. „Wir wissen nicht, wo er ist. In Istanbul ist er nicht, er soll irgendwo in der Nähe von Edirne leben." Ihre Antwort war genauso ausweichend wie in all den Jahren, wenn ich mit ihr telefoniert und nach meinen Geschwistern gefragt hatte.

Aus irgendeinem Grund fand ich nicht die Familiengemeinschaft vor, nach der ich mich so gesehnt hatte. Was war das nur für ein Mutterherz, das sich nicht freuen konnte, obwohl ihr Sohn, der seit Jahren in der Fremde gelebt hatte, zurückgekommen war? Was war das für Vater, der bis auf ein paar Tränen, als er mit mir sprach, keine weiteren Anzeichen von Freude über mein Kommen erkennen ließ? Andere Eltern hätten ihre erwachsenen Kinder wohl angefleht, endlich nach Hause zu kommen, um einander in dieser irdischen Welt noch einmal sehen zu können. Spontan fragte ich mich, ob ich wohl ein Adoptivkind sei?

Diese Mutter, die am Telefon für mein Wohlergehen gebetet hatte, diese Eltern, die ich obwohl sie mich so schlecht behandelt hatten - immer verehrt hatte, die ich jahrelang mit Geld versorgt hatte, deren Leben mir kostbarer gewesen war als mein eigenes, deren Verhalten ich aus naiver Ehrfurcht nie in Frage gestellt hatte - nie hätte ich es mir erlaubt, Gefühle des Hasses gegen sie zu hegen! - diese Eltern waren nicht nur nicht erfreut über mein Kommen! Nein, sie ließen mich deutlich spüren, wie unzufrieden sie darüber waren, dass ich überhaupt zurückgekehrt sei. Ich stand ja nun da ohne Ersparnisse, ohne Einkommen und ohne Arbeit.

Vielleicht betrachteten sie mich ja lediglich als Geldquelle, die nun versiegt war?

Die Haltung meiner Eltern hatte mich zutiefst verstört, nun wollte ich die Sehnsucht nach meinem Sohn stillen. „Lass uns ein wenig spazieren gehen“, sagte ich zu ihm und wir liefen in Richtung Bağlarbaşi. Ich tat mich schwer, die Gegend wiederzuerkennen, in der ich aufgewachsen war, in der ich meine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Sie kam mir so fremd vor. Ich sah weit und breit kein einziges vertrautes Gesicht. So gingen wir in eine Kneipe, ich bestellte etwas zu essen und einen Raki, mein Sohn bestellte sich eine Cola. Wir aßen und unterhielten uns; ich stellte ihm Fragen über meine Eltern und darüber, wie sie ihn behandelten. Er meinte, es sei schon okay; dabei schaute er weg. Von den alten Nachbarn, unseren Verwandten und Freunden berichtete mein Sohn, dass fast alle inzwischen weggezogen seien; nur das vertraute Teehaus von Halis stünde noch an seinem Platz. Endlich erkannte ich in der Kneipe einige Kumpel aus meiner Zeit wieder; auch sie hatten mich inzwischen wiedererkannt.

Nach dem Essen kehrten wir nach Hause zurück. Mein Vater weinte immer noch ununterbrochen, während er mit mir sprach. Er war zwar sehr gealtert, wirkte aber noch rüstig. Meine Mutter war geradezu geschrumpft und hatte den Glanz in ihren Augen verloren. Ihre Gesichtszüge waren finster, als ob ein böser Fluch aus ihnen herausfloss; nur Schimpfwörter und Flüche ergossen sich aus ihrem Mund. Mein Leben lang hatte ich es nicht erlebt, dass diese Frau ein freundliches Wort gesprochen hätte! Sie störte sich an meiner Heimkehr. Laut schreiend verfluchte sie mich und auch meinen Sohn. Die Situation blieb auch am nächsten Morgen unverändert. Während ich frühstückte, stellte sich mein Vater vor mir auf und fragte, was ich denn jetzt vorhätte; ich müsste bald eine Arbeit finden, denn es ginge ihnen nicht so rosig, und schließlich sei da ja auch noch das "Kind" zu versorgen! „Bei uns kannst du nicht länger bleiben“, sagte er abschließend, und obgleich er dabei weinte, war er doch zu einer Marionette meiner Mutter geworden. Beide hatten gemeinsam diese Entscheidung getroffen. Ich begriff, dass sie mir den täglichen Teller Suppe nicht gönnten. Ich legte den Löffel weg und überlegte ernsthaft, ob ich wirklich deren Kind sei.

Meine Verzweiflung war groß. Ich war völlig ratlos, ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war inzwischen fremd hier, kannte niemanden und konnte auch niemanden um Hilfe bitten. Die Arbeitslosigkeit in der Türkei war hoch und ohne Beziehungen war man verloren. So trieb mich die Ausweglosigkeit bald weiter in den Alkohol, dem ich seit meiner Schulzeit verfallen war. Von Tag zu Tag trank ich mehr. Am Verhalten meiner Eltern änderte sich nichts. Jeden Tag steigerten sie die Dosis ihrer Abneigung mir gegenüber, wohl um mich dazu zu bringen, das Haus zu verlassen. So sehr hätte ich mir gewünscht, dass sie mich trösteten und sagten: „Sohn, vertraue auf Gott! Dem Menschen können auch mal schlimme Dinge geschehen, aber das geht vorbei. Wir haben ja schließlich ein Dach über dem Kopf und genug zu essen. Gott möge uns vor Schlimmerem bewahren." Stattdessen trieben sie mich aus dem Haus, obwohl sie wussten, dass ich nirgendwo anders hingehen konnte.

Ich wollte meinem Sohn etwas schenken. Zusammen gingen wir nach Üsküdar in ein Schuhgeschäft. Der Besitzer würdigte uns jedoch keines Blickes. Verwundert und verärgert über dieses seltsame Verkaufsverhalten verließen wir den Laden unverrichteter Dinge. Ich wechselte dann meine letzten fünfhundert Dollar und gab meinem Sohn ein bisschen Taschengeld; meinem Vater gab ich dreihundert Millionen Lira.

An diesem Abend ging ich aus und suchte das Teehaus von Halis auf. Dort saß nicht eine einzige mir bekannte Gestalt. Ich fragte die jungen Leute an der Teetheke: „Ist Halis nicht da?“ Einer der jungen Männer antwortete: „Nein, er wird erst morgen früh hier sein. Was gibt es denn?“ „Nichts Wichtiges, ich wollte ihn nur sehen“, entgegnete ich und drehte mich zur Tür, als derselbe junge Mann fragte: „Bist du nicht Fethi?“ Als ich mich zu ihm umdrehte, sagte er: „Ich bin Murat, Halis Sohn.“ Murat war bei meinem Weggang ein kleines Kind gewesen, nun stand ein erwachsener Mann vor mir. Ich setzte mich wieder und wir unterhielten uns ein wenig. Ich erkundigte mich nach den Freunden aus der Gegend. Manche waren eingebuchtet worden und hatten nach der Entlassung aus dem Gefängnis die Gegend verlassen, andere waren einfach weggezogen.

Allmählich wurde mir klar, dass ich in der Türkei nicht würde überleben können. Ich spielte mit dem Gedanken, wieder in die USA zurückzugehen. Aber wie sollte ich das bewerkstelligen? Ich brauchte einen anderen Namen und einen neuen Pass!

In Amerika hatte ich einen Teppichhändler aus Antalya kennengelernt, der ursprünglich aus derselben Provinz stammte wie ich. Sein Teppichladen lag unterhalb der Yivli-Minare-Moschee in Antalya. Er hatte mir damals erzählt, sein Sohn, den ich damals auch kennengelernt hatte, sei in Antalya in Mafiageschäfte verwickelt. Obwohl inzwischen viele Jahre vergangen waren, entschloss ich mich nun, nach Antalya zu fahren, denn ich hatte sonst niemanden, den ich um Hilfe hätte bitten können. Ich teilte meinem Vater meinen Entschluss mit. Wie immer skeptisch und argwöhnisch, sagte mein Vater dazu: „Was willst du denn da? Wer weiß, ob es den Laden noch gibt! Vielleicht sind sie umgezogen? Hast du denn keine Telefonnummer, die du anrufen kannst, sonst fährst du vielleicht vollkommen umsonst?“ Seine Art, so zu reden, hatte mich schon immer aufgeregt, und auch diesmal regte ich mich auf: „Vater, für wie blöd hältst du mich eigentlich? Meinst du, ich würde hinfahren, um es zu erfahren, wenn ich eine Telefonnummer hätte?! Wie soll ich das denn sonst erfahren? Ich muss da schon selber hin, Vater!“, antwortete ich mit lauter Stimme und verließ die Wohnung in Richtung Halis Teehaus.

Ich spielte geradeTavla(Backgammon) mit Murat, als die Rede auf meinen großen Bruder Şadi kam. Als ich erwähnte, dass er wohl nicht mehr in der Gegend sei, entgegnete Murat: „Doch, doch, Şadi ist hier in der Gegend, er war erst letzte Woche bei uns. Wie kommst du denn drauf, dass er nicht mehr hier wäre?“ Ich erklärte ihm, dass meine Eltern mir dies so gesagt hätten. Murat rief daraufhin sofort meinen Bruder an und gab mir den Hörer. Şadi sagte mir, ich solle dort warten, er würde gleich kommen. Weniger als eine Viertelstunde später war mein Bruder schon im Teehaus. Zusammen mit Murats Bruder Kadir und dessen Cousin Yalçin gingen wir in die nächste Kneipe, um unser Wiedersehen zu feiern. Wir becherten ganz ordentlich und beschlossen in dieser Stimmung, gemeinsam unsere Schwester Kevser zu besuchen.

Ich hatte meine Geschwister vermisst, wir hatten ja seit Jahren nichts mehr voneinander gehört. Meine Mutter hatte sich in der Vergangenheit geweigert, unsere Telefonnummern weiterzugeben, weil sie verhindern wollte, dass mich meine Geschwister um Geld anbetteln könnten. Mit einem Taxi fuhren wir nach Sultan Çiftliği. Mein Bruder war so betrunken, dass er das Haus meiner Schwester nicht fand. Zu mir sagte er: „Dieser Taxifahrer fährt uns absichtlich kreuz und quer herum, um den Weg zu verlängern, gib ihm kein Geld.“ Dabei war er derjenige, der den Fahrer den Weg dirigierte! Schließlich stiegen wir irgendwo aus und gingen zu Fuß weiter. Obwohl wir ganz in der Nähe ihres Hauses sein mussten, hatte mein Bruder die Orientierung völlig verloren, und so riefen wir unsere Schwester an und baten sie, uns den Weg zu beschreiben. Während wir noch überlegten, ob es diese oder jene Straße sei, in der meine Schwester wohnte, sagte mein Bruder plötzlich: „Da, dort ist Kevser!“ „Wo, wo?“, fragte ich. Eine Frau kam uns entgegen - natürlich erkannte ich sie im Dunkeln nicht. Das war sie, meine Schwester, aber sie hatte sich sehr verändert. Sogar, als sie schon ganz nah war, habe ich sie kaum wiedererkannt.

Diese Nacht verbrachten wir bei ihr. In der Frühe gingen wir gemeinsam auf den Markt, kauften ein und kehrten dann in ihre Wohnung zurück. Derweil trank ich immer weiter. Ich blieb noch einige Tage bei meiner Schwester und genoss das Wiedersehen mit ihr. Auch ihre Kinder kamen alle vorbei und unterhielten sich mit mir. Sie waren noch kleine Kinder gewesen, als ich sie zum letzten Mal gesehen hatte, und nun hatten sie alle selbst Kinder. Eines Abends kam eine junge Frau, die Tochter einer Nachbarin, zu Besuch. Sie umarmte und küsste mich und hieß mich willkommen. Ich wunderte mich über die Herzlichkeit dieser Nachbarstochter, als alle anfingen zu lachen. Ich blickte ratlos in ihre Gesichter und versuchte den Grund ihres Gelächters herauszufinden. Da sagte die Frau meines Neffen: „Onkel, weiß du denn nicht, wer das ist? Das ist Emine.“ „Welche Emine?“, fragte ich. „Die Tochter von Onkel Şadi.“ Ich hatte nicht einmal die Tochter meines Bruders erkannt! Er lebte getrennt von seiner Frau.

Während dieser Zeit rief meine Mutter immer wieder bei meiner Schwester an, um sich zu beschweren: „Fethi hat euch all sein gutes Geld gegeben, nicht wahr?“ Alles, woran diese Frau zu denken schien, war mein Geld.

Einige Tage darauf begaben sich mein Bruder und ich nach Bayrampaşa. Mein Bruder setzte mich an einer Kneipe ab und sagte: „Warte du hier und trink ein bisschen, ich hole dich später wieder ab und dann kaufen wir dir dein Busticket nach Antalya.“ Ich tat, was er sagte und begann zu trinken. Mein Bruder verspätete sich, und aus der einen Flasche wurden bald zwei und ich wurde immer betrunkener. Als mein Bruder endlich wiederkam, gingen wir zusammen zum Busbahnhof, wo er mir ein Ticket kaufte und ich in den Bus stieg. In Mecidiyeköy warf man mich wieder hinaus: Ich hatte zu laut herumgeflucht. Zwar bekam ich mein Geld für das Ticket zurückerstattet, aber es war bereits zwei Uhr nachts und es war schier unmöglich, ein öffentliches Verkehrsmittel nach Üsküdar zu finden. So verbrachte ich die Nacht hier und dort. Gegen Morgen war ich wieder zu Hause und legte mich schlafen.

Am Abend kaufte ich erneut ein Ticket vom Busbahnhof Harem, und am nächsten Morgen war ich bereits in Antalya.

Antalya

Als erstes suchte ich die Yivli-Minare-Moschee auf. Das Mittelmeer breitete sich in seiner ganzen Schönheit vor mir aus. Ich liebte das Meer. Ich fühlte mich frei, wenn ich das Meer sah. Obwohl es schon fast neun Uhr war, war niemand zu sehen. Die Läden waren geschlossen. Ein Schmuckverkäufer öffnete eben erst seinen Stand. Ich ging zu ihm und fragte nach dem Teppichladen, den ich suchte. Er war ganz in der Nähe. Ich fand ihn, aber er hatte noch nicht geöffnet. Deshalb lief ich weiter die Straße hinunter, sie führte mich zum Yachthafen. Dort setzte ich mich in ein Café und begann, Bier zu trinken. Antalya gefiel mir. Ich befand mich im berühmtesten Touristenviertel, ‚Kaleici‘. Man nennt diese Gegend auch Antike Stadt; sie schien ein ruhiger Ort zu sein. Die Atmosphäre war genau das, was ich gesucht hatte.

Nach einigen Flaschen Bier war ich angenehm angetrunken. Ich ging davon aus, dass der Laden inzwischen geöffnet hätte und ging die Straße wieder hinauf. Ein sonnengebräunter Jugendlicher trat gerade durch die Ladentür heraus und ich fragte ihn: „Ist das der Laden von Onkel Ismail?“ „Das ist er“, sagte er und fügte hinzu: „Aber er kommt heute nicht. Er geht zur Dialyse und danach nach Hause.“ „Kommt sein Sohn Fikret?“, fragte ich. „Nein, er kommt auch nicht. Er ist in seinem eigenen Büro.“ „Wo ist sein Büro?“, fragte ich und er beschrieb mir den Weg dorthin. Es war leicht zu finden. Als Fikret mich sah, umarmte er mich mit dem Ausruf: „Fethi! Wie schön, dich zu sehen!“ Wir tranken Tee und unterhielten uns. Drei Tage lang war ich sein Gast in einer Pension. Am zweiten Tag kam sein Vater und zeigte mir die Stadt. Die nächsten Tage verbrachte ich bei Fikret. Ich erzählte ihm von der Sache, die mir in den USA passiert war und bat ihn um Hilfe. Er hatte ein breites Netzwerk an Bekanntschaften. „Wir erledigen das, Fethi!“, versprach er. Nach drei Tagen verließ ich die Pension, um in Fikrets Teppichladen zu übernachten, wie auch schon etwa zehn andere Menschen.

Ich trank extrem viel und suchte nach einer Lösung für meine finanzielle Situation: Wenn mein restliches Geld aufgebraucht sei, hatte ich niemanden, den ich um Geld bitten könnte. Außerdem war es mir grundsätzlich unangenehm, jemandem um auch nur einen Cent zu bitten. Und mit diesen Menschen hier war ich noch nicht vertraut genug.

Eines Morgens, als ich mit einer üblen Fahne in Fikrets Büro hineintorkelte, schlug er mir vor: „Fethi, lass uns zu einem Heiligen, einemBabafahren. Er wird dir helfen, von deiner Alkoholsucht loszukommen!“ „Ja, ja“, murmelte ich ohne Interesse. „Schau, das ist der Baba“, fuhr er fort und zeigte mir das Bild eines bärtigen Mannes mit Turban. „Er sieht imposant aus“, entgegnete ich ziemlich lahm. Denn ich war mit den Gedanken ganz woanders. Inzwischen kreisten sie ständig darum, wie ich wohl meine Eltern umbringen könnte, über deren Undankbarkeit ich fassungslos und wütend war. Wie konnten sich nur eine Mutter und ein Vater dem eigenen Kind gegenüber auf diese Weise verhalten? In meiner Fantasie warf ich die eine aus dem Fenster, den anderen stieß ich die Treppe hinunter.

Eines Morgens begaben wir uns zu Fikrets Garten. Unterwegs kaufte er Fleisch und Huhn vom Metzger und holte Brot vom Kiosk nebenan. Ich öffnete derweil die Kühltheke und begann, einige Bierflaschen herauszuholen, als Fikret zu mir sagte: „Fehti, lass das doch bitte!“ Ich hatte das Gefühl, als ob er mir ein Messer ins Herz gebohrt hätte, versuchte aber, mir nichts anmerken zu lassen. „Gut, ich stelle die Bierflaschen zurück“, sagte ich betreten. Wir stiegen ins Auto und fuhren weiter zum Garten. Ein paar Freunde gesellten sich auch dazu. Nach kurzer Zeit wurde mir langweilig. Fikret bemerkte das wohl; er schlug mir vor, doch ein bisschen spazieren zu gehen. Es war, als ob Fikret meine Gedanken lesen könnte. Die Gegend dort war ziemlich eintönig; außer Bergen und Nadelbäumen gab es nichts zu sehen. Ich verließ den Garten und begann, die Straße entlang zu gehen.

Etwas weiter vorn befanden sich eine kleine Moschee und ein Haus. Auf der anderen Straßenseite verlief ein kleiner Bach. Ich trat an sein Ufer und lauschte dem Plätschern des Wassers. Auf einmal war es, als wären alle meine Gedanken wie weggeschwemmt, und ich begann, mich wie ein leeres Gefäß zu fühlen. In diesem Moment überkam mich der Wunsch zu beten, und ich betete am Rande dieses Baches zwei Gebetseinheiten zu Allah und wünschte mir, vom Alkohol loszukommen. Sobald ich zu Ende gebetet hatte, spürte ich eine Veränderung in mir. Meine Sorgen waren auf einmal wie weggeblasen und eine große Ruhe breitete sich in mir aus. Zum Garten zurückgekehrt, fragte ich Fikret: „Wann können wir zu diesem Baba fahren?“ „Gedulde dich ein bisschen. Lass uns einen Kleinbus mieten und am Wochenende gemeinsam zu ihm fahren“, antwortete er mir.

Ich konnte nicht begreifen, was mir soeben geschehen war.

Ich hatte plötzlich kein Verlangen mehr nach Alkohol,nur noch danach, unbedingt diesen Baba zu sehen. Ich wollte mich so schnell wie möglich auf den Weg machen und bedrängte Fikret deswegen. An einem der folgenden Tage nach dem Freitagsgebet schlug ich ihm vor: „Chef, du hast zu viel zu tun. Du kannst ja gar nicht mitkommen. Gib mir diesen Freund Ümit mit, von dem du mir erzählt hast, und ich fahre mit ihm.“ „Gut, dann fahrt morgen", sagte er. Ümit war früher schon dorthin gefahren und kannte den Weg.

Baba

So kauften wir am nächsten Abend unsere Bustickets und machten uns auf den Weg. Zuerst wollten wir in Mersin bei einem Bekannten Ümits vorbeischauen. Der Mann war einSayyid[wie hier alle Nachkommen Mohammeds genannt werden]. Nachdem wir in Mersin am Busbahnhof ausgestiegen waren, nahmen wir einDolmuş(Sammeltaxi/Minibus) und ich fragte Ümit: „Wohin fahren wir?“ „Zur PKK“, war seine knappe Antwort. Ja, man konnte wirklich an Allem erkennen, dass wir in einem kurdischen Viertel angekommen waren. Es unterschied sich äußerlich kaum von den Elendsvierteln der Schwarzen, die ich in Amerika kennengelernt hatte. Die Hauswände waren voller Graffitis mit politischen Parolen wie; ‚APO [der inhaftierte Kurdenführer] ist der Größte‘ oder ‚Freiheit den Kurden‘ Insgeheim dachte ich unentwegt: „Hier kommen wir nicht mehr lebendig heraus."

Schließlich gelangten wir in eine enge Gasse. Ümit klopfte an die Tür eines typisch anatolischen Holz-Lehm-Hauses, ein gut gekleideter Mann mittleren Alters öffnete und bat uns herein. Unser Gastgeber hieß uns willkommen, wir sollten uns wie zu Hause fühlen. Ümit wirkte sehr vertraut mit ihm. In scherzhaftem Ton fragte er: „Ich habe Hunger. Gibt es denn bei Ihnen nichts zu essen?“ Der Mann rief sein Kind und trug ihm auf: „Sag deiner Mutter, sie soll Frühstück bereiten.“ Ümit zeigte dann auf mich mit den Worten: „Bitteschön, ich übergebe ihn jetzt Ihnen, Sie haben jetzt die Verantwortung für ihn.“ Ich verstand gar nichts. Der Mann sah mich an und fragte nach meinem Namen. „Fethi“, antwortete ich. Er setzte sich neben mich, legte seine Hände auf meine Schultern, schaute mir in die Augen und sprach:

„Du wirst eines Tages noch Karriere machen, du wirst ein Stellvertreter von Baba werden und eines Tages als Märtyrer sterben.“

Ümit erzählte, dass ich lange Jahre in den USA und anderswo gewesen und eben erst zurückgekehrt sei. Der Sayyid sagte zu mir: „Wenn du dort in Babas Dorf angekommen bist, sage, dass du eine Woche bleiben willst. Die zwanzig Jahre müssen wiedergutgemacht werden.“ Er schenkte mir eine Gebetskette und eine Gebetsmütze. Inzwischen war der Tisch gedeckt und wir frühstückten gemeinsam. Danach verabschiedeten wir uns, kauften unsere Tickets und machten uns wieder auf den Weg.

Innerlich bereitete ich mich darauf vor, einenEvliya(Heiligen) zu treffen, ihn um viele Dinge zu bitten und seinen Segen zu empfangen. In meinem Herzen komponierte ich Verse und überlegte, wie ich mit ihm wohl sprechen würde. Ich stellte mir vor, wie er von Licht erfüllt sein würde, wie schön er sprechen würde, wie der Ort, an dem er lebte, dem Paradies gleichen würde, und reihte so gedanklich meine Herzenswünsche aneinander. So sehnte ich mich zum Beispiel danach, dass die Kinder mich sehr lieben, die Ungerechten dagegen fürchten sollten.

Es war März, und als wir in den frühen Morgenstunden im Dorf Menzil ankamen, war es kalt und regnerisch und die Straßen versanken regelrecht im Schlamm. In Antalya hingegen war es bereits sommerlich warm gewesen. Das Dorf lag mitten in der Einöde, hoch oben im Gebirge, und hatte ein aus kleinen Läden bestehendes, bescheidenes Dorfzentrum.

Mich beschlich ein unbehagliches Gefühl, das kaum auszuhalten war. Wir gingen ins Teehaus und bestellten uns Tee; andere Leute setzten sich mit an unseren Tisch. Ich fühlte mich hundemüde. Auf dem Weg hierher war ich auf unerklärlicher Weise so aufgeregt gewesen, dass ich nicht einmal die Augen hatte schließen, geschweige denn hatte schlafen können.

Im Teehaus lärmten und lachten Jugendliche aus dem Dorf. Sie kamen mir verwöhnt und ungehobelt vor. Ich verurteilte sie, obwohl ich sie gar nicht kannte. Ümit wusste über diese Menschen besser Bescheid, er war ja zuvor schon ein paarmal hier gewesen. Aber er hatte mir bisher noch nichts erzählt oder erzählen wollen. Wir erhielten unseren Tee und alle sprachen sich gegenseitig alsKurban[Opfer für die Sache Gottes] oderSufian. Ich wusste nichts über das Sufiwesen. Die Umgebung, in der ich mich hier befand, unterschied sich sehr von der Umgebung, in der ich sonst lebte. Mit diesen Gedanken wäre ich beinahe in dem Korbsessel eingeschlafen; ich schreckte auf, als ich gerade dabei war, auf den Boden zu fallen. Ich taumelte, fing mich dann aber, sagte zu Ümit: „Ich gehe kurz spazieren “, und verließ das Teehaus.

Es regnete immer noch. Ich trug einen Anzug. Linkerhand sah ich ein anderes Dorf liegen. Ich ging auf dem schlammigen Weg in Richtung dieses Dorfes. Inzwischen hatte sich das unbehagliche Gefühl bis ins Unermessliche gesteigert. Der Regen war mir egal, ich lief immer weiter. Als ich ganz in der Nähe des Dorfes war, beschloss ich, wieder umzukehren. Bei jedem Schritt wiederholte ich die Worte: „Vergib mir Gott! Vergib mir Gott! Vergib mir Gott! Vergib mir Gott!“, und auf diese Weise kehrte ich wieder zum Teehaus zurück. Äußerlich war ich klitschnass und eiskalt geworden, innerlich dagegen kochte ich vor Wut, weil sich mir dieser Ort so anders präsentierte, als ich ihn mir vorgestellt hatte.

Gerade trat auch Ümit vor die Tür. Ein Mann mit Brille ging vor dem Teehaus umher. Einige der Sufis versuchten dessen Hand zu küssen, er aber schlug nach ihnen und schickte sie weg. Die Verscheuchten versuchten weiterhin hartnäckig seine Hand zu küssen; er verjagte sie immer wieder und schlug manche sogar ins Gesicht. Das mit anzusehen, versetzte mich endgültig in Rage. Ich konnte es nicht fassen: Dies hier geschah an der Heimstätte eines Heiligen! Im Geiste hatte ich mir diesen Ort paradiesähnlich vorgestellt und gedacht, dass Baba, der Freund Gottes, die Menschen zu sich rufen würde mit den Worten „Komm her, mein Sohn“, und ihnen dann liebevolle Ratschläge geben würde. Voller Groll fragte ich Ümit: „Mann, wer ist dieser Kerl?“ „Das ist Sayyid Ahmet“, sagte er. „Wieso schlägt er die Menschen?“ „Er ist ein bisschen zornig, das macht er manchmal“, antwortete er. „Was soll das denn, man kann doch am Heimatort eines Heiligen keine Menschen schlagen. Das gibt‟s doch nicht!“, rief ich lauthals. Die anderen Leute standen in ehrfurchtsvoller, aufrechter Haltung um den Sayyid herum. Ich war so wütend, ich hätte Ümit auf der Stelle umbringen können. Ich schrie ihn an: „Seid ihr denn alle verrückt geworden? Ihr kommt hierher an diesen Ort, um einen Heiligen zu sehen! Das hier sind doch Betrüger, sie haben mitten im Nirgendwo ihr Zelt aufgeschlagen, locken die Leute hierher mit der Aussicht auf einen Heiligen, dann schröpfen sie sie gehörig und schicken sie wieder weg. Schande über euch!“, schrie ich. „Bitte sprich nicht so!“, flehte mich Ümit an. Ich ließ mich aber nicht aufhalten und brüllte weiter: „Halt die Klappe, ich habe mich auf eure Ankündigung eines heiligen Mannes verlassen! Diesen seltsamen Heiligen hier werde ich jedenfalls nicht als Vorbeter akzeptieren!“ Ümit senkte verzweifelt und betroffen den Kopf und schwieg.

Als wir wieder die Teestube aufsuchten, betrat gerade ein bärtiger, junger Mann mit einem Blatt Papier in der Hand den Raum. Auf dem Papier stand: 'Zu Dienen ist ein Segen'. „Was macht der da?“, fragte ich Ümit. „Er sucht Männer, die dienen wollen.“ In diesem Moment überkam mich ein ganz neues Gefühl: Obwohl ich mich darüber ärgerte, hierhergekommen zu sein, wollte ich doch auch an diesem Ort eines Heiligen nichts ohne eine Gegenleistung entgegennehmen. Ich hob die Hand und wusste dabei selbst nicht, was ich tat. Der Sufi lief in der Teestube umher und suchte weitere Freiwillige. Es meldeten sich noch einige andere. Wir folgten ihm gemeinsam in das Untergeschoss eines Gebäudes, in dem wir arbeiten sollten. Sie ließen uns Gewürze eintüten, von großen Säcken in kleine Plastiktüten. Ich war immer noch so aufgebracht, ich hätte platzen können! Trotz der Arbeit ließ die Wut nicht nach.

Zu den Gebetszeiten wurde die Arbeit unterbrochen und die Teestube geschlossen, und alle gingen in die Moschee. Ich aber weigerte mich. Stattdessen wartete ich im Regen darauf, dass die Leute wieder aus der Moschee herauskämen. Ich war so sauer auf Ümit, ich konnte es nicht in Worte fassen. Es wurde Abend und meine Wut war nicht mehr im Zaum zu halten. Auch zum letzten Tagesgebet ging ich nicht in die Moschee. Stattdessen beschloss ich, so schnell wie möglich zu verschwinden. Allerdings gab es so spät abends keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr vom Dorf zur Stadt. Ich lief an die Straße, um per Anhalter weiterzureisen. Aber es fuhr kein einziges Auto vorbei. Ich wartete eine Weile und musste dann gezwungenermaßen zurückkehren. Derweil sah ich ein leeres Taxi stehen. Ein Kind half mir, den Fahrer aufzutreiben und ich fragte ihn: „Was kostet mich die Fahrt bis nach Urfa?“ „Achtzig Millionen“, sagte er. „Das ist zu viel“, sagte ich. Für mich allein hätte das Geld gereicht, aber ich musste auch für die Fahrtkosten von Ümit aufkommen. „Was willst du denn in Urfa?“, fragte der Fahrer. „Ich will nach Hause.“ „Bis du dort bist, haben die Reisebüros geschlossen“, sagte er. „Schließen sie dann auch in Adiyaman so früh?“, wollte ich wissen. „Diese Orte hier sind alle sehr klein, du wirst hier um diese Zeit keinen Bus mehr finden“, klärte mich der Fahrer auf. Ich hatte keine Möglichkeit, wegzukommen. Da war nichts mehr zu machen.

In diesem Moment löste sich die Menschentraube auf, die aus der Moschee herausgekommen war. Ümit kam zu mir, ich blickte finster drein. Er traute sich kaum, mich anzusprechen. „Lass uns ein bisschen spazieren gehen“, sagte er, und nachdem wir im kleinen Dorfzentrum ein wenig umhergelaufen waren, führte er mich in einen Laden und begrüßte den Inhaber. Ihren Gesprächen entnahm ich, dass auch dieser ein Sayyid war. Ümit erzählte von meiner Situation. Der Sayyid drehte sich zu mir um und fragte: „Wie heißt du?“ „Fethi“, sagte ich. „Fethullah, sei heute unser Gast, du kannst doch morgen auch noch fahren.“ Die beiden nahmen in der Nähe der Tür hinter der Kasse Platz, und ich setzte mich voller Trotz in die hinterste Ecke. Unser Gastgeber gab mir eine selbstgedrehte Zigarette und ein Glas Tee. Ich fühlte mich ein wenig erleichtert. Nachdem ich den Tee ausgetrunken hatte, sagte ich zu Ümit: „Lass uns schlafen gehen!“, denn dies war der dritte Tag in Folge, an dem ich nicht geschlafen hatte.

Als wir unterhalb der Moschee den Schlafraum betraten, warteten schon alle auf denjenigen, der dafür zuständig war, die Wolldecken und Kopfkissen für die Nacht zu verteilen, aber der tauchte nicht auf. Vor Müdigkeit und Zorn fluchte ich, was das Zeug hielt. Ümit schämte sich meiner und brachte kein Wort heraus. „Er wird schon gleich kommen“, versuchte er mich zu beschwichtigen. Aber ich hatte keine Kraft mehr, zu warten. Ich legte mich direkt auf den Boden, und kaum, dass ich lag, habe ich auch schon tief und fest geschlafen.

In dieser Nacht träumte ich etwas sehr Schönes.Ich schlief in einem Bett an der Stelle, an der ich mich hingelegt hatte. Das Bett war ringsherum mit Blumen geschmückt. Die unterschiedlichsten Blumensorten waren in Sträußen um mein Bett herum aufgestellt.

Als ich aufwachte, war es noch sehr früh. Der ganze Ärger, mit dem ich mich schlafen gelegt hatte, war spurlos verschwunden! Ich stand auf, ging nach draußen und nahm dann die rituelle Waschung vor. Danach betrat ich die Moschee und wartete auf denScheich. Die Menschen standen eng gedrängt ab der Eingangstür und bildeten einen Korridor. Sie warteten ganz geduldig. Ein wenig später ging eine Tür auf undERerschien. Als ich ihn erblickte, schoss mir der Gedanke durch den Kopf: „Gibt es in dieser Zeit tatsächlich noch einen Menschen wie diesen?" Er ähnelte einem osmanischen Sultan. Mit einem Turban auf dem Kopf, seinem schwarz-weißen Bart und seiner schwarzen Robe lief er RichtungMinbar(Freitagskanzel), und der Anblick seiner Kalifen erinnerte an die Minister und Wesire des Sultans, als sie ihm, ebenfalls mit Turbanen auf dem Kopf, mit bedächtigen Schrittenfolgten. Es war ein prächtiger Anblick. Aufgrund seiner äußerlichen Erscheinung war sofort und ohne jeden Zweifel klar, dass dieser Mann ein Mann Gottes war. Er betrat dieMinbar, drehte sich zur Gemeinde und betrachtete diese. In diesem Moment zog ein unbeschreiblich wohlriechender Duft durch das Innere der Moschee. Dieser süße Duft breitete sich wellenartig aus und verteilte sich im Raum.

Nach derSunnades Morgengebetes [Mohammeds Worte und Handlungen] rief der Muezzin zum gemeinsamen Gebet, und der gesegnete Freund Gottes begann, das Morgengebet vorzubeten. Er rief so demütig und schön‚Allahu Ekbar‘, dass nicht nur jedermann in diesem Dorf, sondern auch jedermann auf der Welt dies gehört haben muss. Aus meinem Herzen verschwand alles Unbehagliche und stattdessen wurde ich von einer inneren Ruhe erfüllt, von der ich nicht genug bekommen konnte.

Nachdem der Baba dieses Gebet mit einer großen Demut beendet hatte, begann er, den Anwesenden dasTuvba[Bereuen der Sünden und das Versprechen, Baba als sprituellen Lehrer anzuerkennen] abzunehmen. Man konnte dazu nach vorne gehen und sich vor ihm hinknien. Auch ich kniete mich zusammen mit fünf, sechs anderen Personen vor ihm nieder. Er umfasste unsere Hände, führte sie senkrecht Seite an Seite aneinander, legte seine rechte Hand darüber und berührte sie dabei, während er sprach:

„Wiederholt leise, was ich euch sage: ‚Vergib mir, mein Gott, ich bereue all meine Sünden. Ich wünschte, ich hätte sie nicht begangen. So Gott will, werde ich sie nicht wiederholen. Ich verspreche dies feierlich. Ich habe seine Hoheit Gavs-i Sani als meinen Scheich akzeptiert.‘“

Nun ließ er unsere Hände wieder los und hieß uns seinen Instruktionen lauschen. So erklärte er uns das Waschritual, durch welches wir in seine Gemeinschaft aufgenommen werden sollten. Alles, was mit mir geschah, geschah ohne mein Zutun. Wir hörten den Instruktionen zu, ohne dass ich ahnte, dass diese Worte mein Leben verändern würden.

Währenddessen bildete sich zur Rechten dieses Gottesfreundes eine Menschenschlange. Ich fragte Ümit, was die Menschen da täten. „Das sind diejenigen, die Sorgen haben. Sie erzählen sie und bitten um Gebete“, antwortete er. „Soll ich auch vorsprechen?“, fragte ich. Ümit sagte: „Stell dich ruhig an.“ „Wie soll ich ihn anreden?“ „Sag: ‚Mein Sultan‘“, antwortete mir Ümit, und ich stellte mich an. Alle beugten sich nach und nach zu ihm nieder und flüsterten ihm etwas ins Ohr. Niemand konnte den anderen hören.

Nun war ich an der Reihe. Ich war nicht geübt in Schicklichkeit und Anstand, ich wusste nichts über diese Dinge und nicht, was sich gehörte. So beugte ich mich nieder, küsste seine Robe über der rechten Schulter und flüsterte:„Mein Sultan, ich war lange Jahre im Ausland und bin erst vor kurzem zurückgekehrt.“

Der Heilige wandte sich mir vollständig zu, schaute mir in die Augen und sagte:

„Herzlich Willkommen.“

Dieses ‚Willkommen‘ klang so angenehm und war Labsal für meine Seele. Seine Stimme hat meinen gesamten Geist regelrecht reingewaschen, denn sie klang, als ob sie direkt aus dem tiefsten Inneren des Paradieses zu mir dringen würde. Das alles hat mich tief beeindruckt, ja förmlich umgehauen. Ich bat den Heiligen:„Um Gottes Wohlgefallen Willen bitte ich dich inständig um ein Segensgebet.“

Er antwortete:„Das werden wir dir erteilen, so Gott will.“