Schweiß, Blut und Drogen - Eddie Meier - E-Book

Schweiß, Blut und Drogen E-Book

Eddie Meier

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Beschreibung

Anfrage aus Ukraine, ob Bobbby Nationaltrainer werden will. Kriminalkommisar Igor und Nicolai kapern Kleinlaster bei Panne mit viel Heroin, offerieren es russischem Grossmachtpolitiker Kirinowski. Zirkusnummer mit ukrainischen Riesenwildschweinen, fressen wie bei "Hannibal Lecter" Feinde auf. Igor lernt von Polizei neueste Drogenbekämpfung, findet so Abnehmer für geraubte Ware. Französischer Radprofi wird "Capitain de Route". Sein Grossvater ist führender Wissenschaftler für Antimaterie. Besucht Enkel an TdF. Kirinowski will Geheimnis der Antimaterie. Plant französischen Präsidenten in die Luft zu sprengen. Wird Kiri gefährlichster Mann der Welt?

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Seitenzahl: 398

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Inhalt

Impressum 4

Widmung 5

sbd 0: Prolog: Am Ziel 6

sbd 1: Am Boden zerstört 17

sbd 2 Uraine, Uzgorod, im Hotel KORONA 20

sbd 3: Saudi Arabien 40

sbd 4: Der Brief 46

Sbd 6: Eva angelt Adam 54

sbd 7 Der Fax aus der Ukraine 64

sbd 8: Der Musik-Express rollt 68

sbd 9 Nikolai auf Talentsuche 72

sbd 10: Musikalische Schatzsuche 76

sbd 11: Wenn zwei eine Reise tun, dann können sie was erleben... 81

sbd 12: Noch vor dem ersten Zusammenzug und Igor’s unsportliche Genie-Idee mit den Zwillingen 90

sbd 13: Fortsetzung der Schatzsuche bis zum Verlust der Fatima 102

sbd 14: Der Horror von Bratislava und Bobby’s gewaltigster Spurterfolg 121

sbd 15: Bobby nimmt das National-traineramt an leitet das erste Trainingslager 134

sbd 16: Und über allem steht die allmächtige Politik 148

sbd 17: Quasimodo auf ukrainisch 161

sbd 18: Suche nach den Vermissten 178

sbd 19: Die Mädchen tauchen wieder auf 184

sbd 20: Die Journalisten-Viererbande 194

sbd 21: Bigi wird in die Schweiz überführt, wobei sie von Igor mit einigen Müsterchen begleitet wird 198

sbd 22: Bigis Genesungsweg und Igors Kontakte zur original italienischen Mafia 212

sbd 24; Racheengel Igor wird zurück beordert 221

sbd 25: Eine Wildschweinerei wird vorbereitet und exekutiert 229

sbd 26: Die Zirkusidee nimmt konkrete Formen an 251

sbd 27: Die PR-Orgie rollt westwärts 260

bsd 28: Drehscheibe Schweiz 275

sbd 29: Liebe Deine Feinde - zum Fressen gern. Igors persönliche Rache 286

sbd 29: Vorbereitung auf die ersten Frühlingsrenn 297

sbd 30: Der grosse Zirkusgala von Monte Carlo 302

sbd 31 Ostersonntag, an der Flèche-Wallonne, der klassischen Wallonien-Rundfahrt in der Hölle des französischen Nordens. 308

sbd 32: An der Tour de France - hinter dem Rücken des Schweizer Nationaltrainers 312

sbd 33: Wird das Geheimnis der Antimaterie doch noch gelüftet? 326

sbd 32: Vor und nach dem „Big Bang“ 329

sbd 35: Gleichzeitig 2‘828.4 km entfernt in Moskau in Kirinowski’s geheimer Parteizentrale 331

sbd 36: Und danach? 343

Ueber den Verfasser: 348

Impressum

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Für den Inhalt und die Korrektur zeichnet der Autor verantwortlich.

© 2022 united p. c. Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-7103-5479-3

ISBN e-book: 978-3-7103-5504-2

Umschlagfoto: www.pixabay.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz:united p. c. Verlag

Autorenfoto: Dinah Akeer

www.united-pc.eu

Widmung

Diesen Roman widme ich meinen sportlichen Familienmitgliedern, Gattin Victoria, Söhnen Norman Victor und Michael Harry, Tochter Dinah Akeer als Dank für ihre Mithilfe bei Computerproblemen und Carmen Monica und Ruth Frieda für gute Stimmung.

sbd 0: Prolog: Am Ziel

Es ist wirklich ein megageiles Supergefühl, praktisch alles erreicht zu haben, was ich mir in meiner grenzenlosen jugendlichen Überheblichkeit vorgenommen hatte... Ich befinde mich tatsächlich auf einem himmelstürmenden Erfolgsgipfel, wie wenn ich den trutzigen Eiger über die überhängende Nordwand, die kniffligste und mörderischste Route im Alleingang erklettert hätte. Ich, Bobby Bergmann, der sportliche Leiter der blutjungen und wie eine zarte Jungfrau unerfahrenen ukrainischen Profi- oder wie sie neuerdings genannt werden Elite- Radnationalmannschaft, hier an der Siegerehrung der Tour de France, dem grössten und beinhärtesten Radsport-Ereignis der Welt. „La grande boucle“, die grosse Bucklige nennen sie die Franzosen, wohl wegen den grausamen, sehnen-zerreissenden Etappen in den Pyrenäen und in den Alpen, bei welchen den zu Beginn des Rennens etwa zweihundert Fahrern, den Helden der Landstrasse, das Blut vor Anstrengung in den Adern kocht, der Schweiss gleich hektoliterweise über die geschundenen Körper rinnt, wie ein Berg-bach nach einem Dammbruch und das Salz der Tränen brennender ist, als das-jenige des toten Meeres. Und mit ihnen lei-den und jubeln die Zuschauer, die zu hunderttausenden während drei Wochen und rund 4’000 Kilometern jeden Tag die Strassen säumen, nur um einen flüchtigen, blitzlichtartigen Blick auf ihre Idole zu werfen, wenn diese im Eilzugstempo an ihnen vorbeisausen, dass der Fahrtwind in den Speichen singt. Und am Fernsehen sind es nicht nur alle Franzosen, eingeschlossen Zittergreise und Babies in verschissenen Windeln, da ihre Mütter gebannt vor der Glotze sitzen, und sich an den massageölglänzenden Rennfahrerbeinen er-götzen, sondern rund die Hälfte der Weltbevölkerung, die sich für die „Tour des Leidens“ interessiert, dem Giga-Sport-ereignis, das ausser olympischen Spielen und Fussballweltmeisterschaften keine Konkurrenz um die Gunst des Publikums zu fürchten hat. Als vor Jahren mit Greg LeMond erstmals ein Amerikaner die Tour gewann, löste dies einen nie für möglich gehaltenen Radboom im Autoland Amerika aus und seit die deutsche Telekom-Mannschaft Spitzenleistungen erbracht hat, ist das brennende Interesse sintflutartig auch über den Rhein geschwappt. Von den Spaniern wegen ihres Miguel Indurain, den seine Konkurrenten ein „Tier“ nennen und den Schweizern mit dem rasenden Buch-halter Toni Rominger und Alex Zülle, dem Kämpfer bis zum Umfallen, sowie den Dänen mit dem glatzköpfigen Gentlemanathleten Bjarne Riis ganz zu schweigen. So kurzlebig sonst sportliche Erfolge sind, die Helden der Tour werden unsterblich, an deren Leis-tungen erinnert man sich noch nach Jahrzehnten.

Und wo sich auf einem so hohen Niveau die Räder drehen, da rollt auch das riesengrosse Geld. Auch die Zahlen der Tour sind beeindruckend, hat sie doch ein Budget von 38 Millionen Schweizer Franken oder fast 35 Millionen Euros, vom dem für die erfolg-reichen Profis über drei Millionen Franken auf der Strasse liegen, die sie auf verschiedenste Arten „auflesen“ können. Ein Etappensieg ist immerhin über 12‘000 Franken wert, der Gesamtsieg mit 550‘000 Franken dotiert. Dann kommen die weiteren Rangpunkte hinzu und vor allem, was uns brennend interessierte, die Spezialklassemente wie das für den Bergkönig, das für den Punktesieger, den Mann, der bei allen Etappen gesamthaft die niedrigsten Rangpunkte gesammelt hat, weil er immer so weit vorne klassiert war und unser erklärtes und erreichtes Ziel, das des besten Jungprofis, den Rooky- oder Baby-preis. Und dann die Zahlen der Organisation: 46 Festangestellte, 13‘000 Ordnungskräfte und eine reklameschreiende Karavane von 3‘500 Personen, die die Tour zu einem fahrenden Volksfest machen. Wenn ich zurückdenke, wie ich noch im letzten November völlig am Boden zerstört war und mich vor Selbstmitleid fast aufgefressen hätte, wie ein gerupftes Huhn in Batterie-haltung. Wie ich damals meine dumpfe, hirn-fressende Verzweiflung über die Auflösung meiner Sportgruppe mangels Sponsoren-gelder bejammerte, wie ein mohame-danisches Klageweib kurz nach dem Tod eines Paschas. Doch statt meinen tiefsten Blues in hochprozentigem Alkohol zu ersäufen habe ich mir meine Trübsal mit einer extra saftigen, mich selbst wie ein mittelalterlicher Sektierer kasteienden Trainingsfahrt aus dem Leib gestrampelt, aus dem weidwunden System geschwitzt. Um dann ging plötzlich an einem der biergetränkten Hintertische im Restaurant Seehof im aargauischen Rüebliland, mitten in der Bilderbuch-Schweiz, durch einen simplen Brief das Traumschloss-Tor auf, zu einem völlig neuen Lebensabschnitt, wie die Frühlingssonne mit Morgenrot am Himmel im Osten. Und dabei eroberte ich erst noch, fast als Zugabe oder Nebeneffekt, die holde Traumfrau meines Lebens.

Ein bisschen unheimlich ist mir diese unerwartete und unbegreifliche Glücks-strähne aus heiterem Märchen-Himmel immer noch. Gestern noch Pech-Mario, und heute der Strahleprinz auf dem Renn-fahrerthron. So manchmal beschlich mich seither ein sehr komisches, magenflaues Gefühl. Ob dabei wirklich alles mit rechten Dingen zu und her gegangen war? Persön-lich glaube ich nicht, dass ich mir etwas Gravierendes zu schulden habe kommen lassen, was das Tageslicht hätte scheuen müssen. Doch diese vielen unerklärlichen Zufalle. Oder waren es am Ende gar keine, sondern irgend ein unerklärliches Geheimnis steckte hinter allem?

Zum Beispiel am Ostersonntag, an der Flèche-Wallonne, der klassischen Wallonien- Rundfahrt in der Hölle des französischen Nordens. Mit ihren von allen Rennfahrern gefürchteten „Pavés“, den archaischen, hodenschüttelnden Kopfsteinpflasterweg- strecken aus der Steinzeit des Radrenn-sports. Als an der satanisch steilen „Mauer“, dem letzten selektiven Hindernis, einer Stei-gung, bei der selbst die Grossen aus dem letzten Loch pfiffen, die Gruppe mit den Assen im Begriffe war, meine beiden schon vor vielen Kilometern ausgerissenen ukrainischen Nachwuchsfahrer wieder einzu-holen. Als genau dort, keine zwanzig Kilo-meter vor dem Ziel und erst noch an einer Stelle, wo keine feste TV-Kamera installiert war, die als unbestechlicher Zeuge der Sportöffentlichkeit hätte fungieren können, ein grosser schwarzer Hund den belgischen Classique-Spezialisten und Favoriten Johann Musieuw jämmerlich zu Fall brachte, dass man die blutig geschmirgelten Hautab-schüfungen richtiggehend hören konnte. Und damit einen speichenkrachenden Massensturz auslöste, wie bei einem Zug durchgedrehter Lemminge, die auf ein Hinderniss aufliefen. Eine Massenkaram-bolage wie im suppendichten Nebel auf der Autobahn, die es meinen beiden ausgekotzten Schützlingen ermöglichte, nochmals wegzukommen, wie Diebe in stockfinsterer Nacht. Irgendwie hatte dieser „Glücksfall“ in den beiden neue Kräfte erweckt, ja ihnen goldige Flügel verliehen, sodass sie bis ins Ziel nicht mehr eingeholt wurden. Oh wie sie den Favoriten hinter sich aus weiter Ferne ihre strampelden Ärsche zeigten, sodass die sich alle kurz-sichtig, oder war es doch eher weitsichtig, wie Schleiereulen vorgekommen sein muss-ten. Dass so eine Radsportsensation reali-siert wurde, wie sie alle hundert Jahre höchstens einmal vorkommt, die meiner Mannschaft von unbeschriebenen Renn-fahrerkücken und bisherigen Nobodies für die Tour de France, die Mutter aller Rund-fährten, eine heissbegehrte „Wildcard“, also eine ausserordentliche Startberechtigung einbrachte. Seltsamerweise waren an die-sem historischen Abend unser Sicher-heitschef Igor und unsere riesige fast weisse ukrainische Hirtenhündin spurlos verschwunden, deren Aufgabe es sonst war, unseren Materialanhänger vor der elsterhaften Langfingerzunft zu beschützen. Als sie damals als etwa einjähriger ver-spielter, aber lernbegieriger Tolpatsch, der aber schon ganz bös knurren und bellen konnte, zu unserem Team stiess, kamen die Fahrer gerade von einer jener gnadenlosen Trainingsfahrten zurück, welche nicht nur den letzten Saft aus den Muskeln gesogen hatte, sondern auch den Schmalz aus den Gehirnen der Fahrer. Denn der demokratisch einstimmig angenommene Namensvorschlag für unser „Elefantenbaby“ lautete nämlich „Cuvatsch“, was nichts anderes als die Bezeichnung ihrer Hunderasse war. So wie wenn jemand einen Schnauzer „Schnauzer“tauft. Auch unser Mannschaftsarzt, der neunmalkluge, mit allen medizinischen Wassern gewaschene Nikolai, hatte sich sofort nach der Betreuung der Rennfahrer von den Strapazen und den Bobos des mörderischen Rennens, mit seiner schwarzen Arzttasche und der Shampoo-flasche aus der Duschkabine mit mir unbekanntem Ziel und ohne Erklärung aus dem Staub gemacht. Nach einigen Tagen waren Igor und Cuvatsch, unsere fast weise. etwas strähnige, kalbsgrosse Hündin plötzlich wieder zu uns gestossen, wie wenn sie kein Wässerchen getrübt hätten. Wobei meinem Adlerauge nicht entging, dass das Biest vorne rechts etwas lahmte, wie ein Karrengaul, der zulange auf dem Asphalt galoppiert war und ihr Fell glänzte, wie wenn sie bei einem Hundefriseur gewesen war. Ob da alles mit rechten Dingen zu-gegangen war? Da ich von nichts wuss-te, hatte ich wie der bekannte Vogel Strauss meinen Kopf in den heissen Sand gesteckt und keine unnötigen Fragen gestellt.

Ebenfalls erstaunlich war die relative Frische unseres Spitzenfahrers Gregor an verschie-denen Etappenzielen, während mich die Erschöpfung unseres überzähligen und deshalb vom Rennfahrer temporär zum Mechaniker umfunktionierten Pjotr ver-wunderte. Ich wusste zwar, dass er immer wieder Teilstücke trainingshalber dem Renngeschehen vorausfuhr und dann irgendwo von Nikolai mit dem Auto wieder „aufgelesen“ wurde. Meine Entscheidung zugunsten von Gregor war also goldrichtig gewesen - doch irgendwie wurde ich auch hier ein mulmiges Gefühl nicht los, wie wenn mir ein rotes Waldameisenheer im Magen rumkrabbelte und an dessen Wände pinkelte. Wenn ich bloss besser ukrainisch gesprochen hätte, denn sehr viel Heimliches schien sich hinter meinem breiten Rücken zu tun... Es war zwar sicher löblich und professionell, dass es sich Nikolai nicht nehmen liess, mit einigen der Fahrer jeweils die Strecke vor besonders wichtigen Etap-pen mit dem Auto zu rekognoszieren, wie ein preussischer Feldherr sein künftiges Schlachtfeld - und immer war auch Pjotr dabei gewesen, den die Strecken-topographie doch für dieses Jahr gar nicht zu interessieren brauchte.

Ein gutes Klima in der Mannschaft war immer meine Vorstellung von richtiger Team-führung gewesen. Darum tolerierte ich auch manchen Jux, den sich die Kameraden unterwegs leisteten. Das Einstreichen der Rennhandschuhe mit Knoblauch, sodass der Betroffene zum Himmel stank, wie ein Clochard unter einer Sainebrücke und alle anderen einen weiten Bogen um ihn machten, konnte mit ukrainischem oder rus-sischem Aberglauben begründet werden, wie das Bespritzen der Frauen mit Parfum oder Wasser an Ostern. Aber das heimliche Vertauschen der Rennschuhe von unserem Spitzenfahrer und Jungstar Gregor mit de-nen von Igor, unserem Sicherheitschef durch Nikolai, das verwunderte mich doch sehr. Zu Hause war Igor Kriminalkommisar und seit einiger Zeit hatte er angefangen mit einem der Ersatzräder zu trainieren wie ein ge-lauster Affe,. Ich hatte den Tausch rein zufällig und ohne entdeckt worden zu sein beobachtet - und das vor der letzten, alles entscheidenden Etappe. Sie hatten zwar beide genau die gleiche Schuhgrösse, aber ob das nicht ein brandgefährlicher Scherz war, so kurz vor dem grossen Ziel? Gregor hatte über Beschwerden durch die Schuhe geklagt... Auch wenn anzunehmen war, dass das Feld bis kurz vor Paris bummeln und die wohlverdiente Triumpf-Fahrt geniessen würde, bevor es dann zum letzten Finale nochmals brandheiss und gnadenlos zu und her gehen würde.

Ob wohl ein weiteres tageslichtscheuendes Geheimnis dahinter steckte, dass unsere Mannschaft, die anfangs fast keine finan-ziellen Mittel zur Verfügung hatte und stier war wie eine Kirchenmaus, nach unserer Ankunft in Zürich plötzlich im Geld schwamm, wie Dagobert Duck im Gold-tresor? Wir hatten sogar alle im Mann-schaftswagen gewohnt und geschlafen und wie Zigeuner selber gekocht und not-vegetarisch billigen Kohlenhydrat-Schlangenfrass mit Gemüse gegessen, um an allen Ecken und Enden Kohlen zu sparen, Auch hier hatte ich mich nicht erkundigt, woher der plötzliche Geldsegen kam. Hauptsache, wir waren unsere arsch-beissenden Sorgen los...

Welche tiefere, undurchsichtige Bedeutung steckte wohl dahinter, dass mir Nikolai und Igor kurz nach meiner Ankunft im ersten unkrainischen Trainingslager, als ich meine Tätigkeit als sportlicher Leiter eben aufgenommen hatte, den Vorschlag unterbreiteten, den zur Zeit ohne Vertrag da-stehenden französischen Rad-Profi François Fischer als „Chef de Route“ zu verpflichten, um unsere „Kücken“ von seiner profes-sionellen Erfahrung profitieren zu lassen. Die Idee war wirklich gut gewesen und François war den in ihn gesetzten Er-wartungen als Kücken-Glucke und um-sichtiger Strampelstratege vollauf gerecht geworden. Seit Beginn der Tour hatten wir mehrmals Besuch von seinem radsport-verrückten Grossvater, dem weltbekannten französischen Atomphysiker Prof. Dr. Dr. Pierre Fischer erhalten, der immer von einem „Assistenten“ begleitet wurde, der seinem Körperbau nach eher Sylvester Stallone glich, als Albert Einstein. Dass es sich dabei um einen Bodyguard handeln musste, hatte sogar meiner schweizerberglerischen Naivität ein-geleuchtet. Also musste der französische Professor ein ziemlich „wichtiges Tier“ sein. Jetzt stand er zusammen mit Igor an der rückseitigen Abschrankung der Preis-verleihung am Champ Elysée, die für die Mannschaften reserviert war. Igor steckte, wie in der letzten Zeit bei ihm üblich, im knallbunten Mannschaftsrenndress als wäre er ein Rennfahrer - wobei seine spindel-dünnen, unterentwickelten Waden und seine immer noch nicht wegtrainierten Speck-wülste an den Hüften, sowie seine maus-grauen Haare bestimmt nicht sehr „renn-fahrer-like“ aussahen und ein solches Verhalten nur dem Konto menschlicher Eitelkeit und eher kindischer Protzerei zugeschrieben werden konnte. Zusammen mit ihnen lehnten sich auch „Einstein“, wie wir den bodybuildergestaltigen Leibwächter, der vor lauter Kraft kaum laufen konnte, spasshalber nannten, sowie unser kleines rothaariges, buckliges Faktotum Kaspar, einige Schritte neben mir an die Ballustrade. Der Professor strahlte wie ein Maienkäfer in der Frühlingssonne, hatte sein spritziger, tempofester Enkel doch vor wenigen Minuten die prestigeträchtige Schlussetappe des schwersten Radrennens der Welt gewonnen. Auf diesen durch meine fuchsschlauen mannschaftstaktischen Anweisungen und dem restlosen, fast blutkotzenden Einsatz des ganzen Teams zustande gekommenen Supererfolg war auch ich stolz wie ein radschlagender Pfau. Diesen unsterblich machenden, mit Haken und Ösen von allen Spitzenmannschaften angestrebten Etap-penerfolg geschafft zu haben, war bestimmt eine taktische Meisterleistung gewesen. François Fischer konnte, von drei seiner schweisstriefenden Teamgefährten clever abgeschirmt, noch knapp einen Kilometer vor dem heissbegehrten Ziel in der letzten Haarnadelkurve auf dem Champ Elysée innen mit Schwung dem auf dem letzten Zacken hechelnden Feld entwischen, wonach seine Kollegen sofort das Loch hermetisch dicht machten, wie die Luke bei einem russischen Unterseeboot. Dadurch kamen die kamikazeartig wuchtenden Sprinter einen klitzekurzen Moment aus dem Konzept. Abduschupov, die Sprinterrakete aus Kasakstan hätte ihn auf der Ziellinie fast noch abgefangen, aber eben nur fast.

Soeben hatte François den riesigen Blumenstrauss, den kuscheligen gelben Plüschlöwen der Credit Lyonnaise und die obligate Büchse Coca Cola für das Fernsehpublikum in Empfang genommen und war auf die oberste Stufe des Treppchens gestiegen, welche für den strahlenden Sieger reserviert war. Wohl wegen dieser weltweiten Fernsehpräsenz hatte es sich auch in diesem Jahr der französische Staatspräsident nicht nehmen lassen, persönlich den Siegern zu gratulieren. Sowohl dem des Gesamt-klassements, dem der heutigen Triumpffahrts-Etappe, wie auch denen der einzelnen Disziplinenwertungen. Nach dem rot- weissgetupften Bergpreisleader und dem ebenfalls täglich neu in ein grasgrünes Trickot eingekleideten Leader im Punkte-klassement, war jetzt gerade unser Gregor dran, den Pokal aus den erlauchten Händen des Präsidenten der „grande Nation“für den Rooky, den besten Nachwuchsfahrer oder Jungprofi der Tour entgegen zu nehmen. Dies war von Anfang an unser erklärtes Ziel gewesen, auf das wir monatelang bis aufs Blut geschuftet und alle fast über-menschlichen Entbehrungen und Strapazen auf uns genommen hatten.

Genau in diesem Augenblick zerriss eine gewaltige, ohrenbetäubende Detonation die relative Stille vor dem nächsten Applaus. Ich wurde von etwas am Kopf getroffen, das wie die Fernbedienung eines Farbfernsehers aussah. Während ich kurz einmal „das Feuer in Holland sah“ und gleich darauf das Bewusstsein verlor, begann sich blitzschnell vor meinem inneren Auge der Film der Erlebnisse der letzten dramatischen Monate abzuspulen, wie eine von einem rasenden Fernsehreporter kommentierte Me-ga-Sportreportage...

sbd 1: Am Boden zerstört

Wenn er nicht als ehemaliger Radrennfahrer ein harter Kerl wäre, hätte er heulen können. Alles was er sich in jahrelanger, harter Arbeit aufgebaut hatte war futsch. Einfach im Eimer, nur weil sich in der angeblichen heutigen Rezession - die ja längst nicht alle Branchen erfasst hatte - kein Sponsor für seine Profi-Rennsportgruppe mehr finden liess. Am meisten enttäuscht hatte ihn sein früherer Brötchengeber, die Schweizer Lebens-Versicherung, für die er sich vor seinem Engagement als Leiter einer Profimannschaft nun wirklich abgerackert hatte. Fast alle Schweizer Amateure und auch viele Ausländer hatten dort über ihn ihre Lebensversicherungen mit Invaliditäts-absicherung abgeschlossen, bevor sie zu den Profis übertraten und nicht mehr ver-sicherbar waren. Pferdesportanlässe und Rock-Konzerte wurden gesponsort, aber er, Bobby Bergmann, er, der Insider, war schmählich fallen gelassen worden wie eine heisse Kartoffel. Dabei hatte das Konzept gestimmt, war die Strategie aufgegangen.

Eine Gruppe hochtalentierter Amateure ge-meinsam ins Profilager überzuführen, sie vorsichtig aufzubauen - ohne die besten Talente zu früh zu verheizen - und trotzdem in den für die Sponsoren wichtigen Rennen an vorderster Front präsent zu sein, ja sogar oft zu gewinnen, das war sein erklärtes Ziel gewesen und das hatte er auch geschafft. Sogar weit besser, als er es sich hätte träumen können. Und trotzdem war er ohne Geldgeber. Er konnte keine Löhne mehr zahlen, keine Trainingslager finanzieren, kein neues Material zur Verfügung stellen - da nützten die besten Seminare über Mentaltraining und positives Denkens nichts mehr, die er mit seinen Schützlingen regelmässig „in sich hinein-gezogen“ hatte.

Seine Truppe der „Aufrechten und Auf-strebenden“, die Equipe Bergmann, würde also in alle Winde zerstreut. Den meisten sollte es gelingen, in anderen Sportgruppen unterzukommen, aber würden sie dort die Betreuung erhalten, die sie bei ihm hatten? Nach aussen sind die Radrennfahrer ja harte Kerle, die unendlich leiden konnten... aber innen? Wie oft hatte die Psyche, bei manchen fast mimosenhaft ausgeprägt, nicht mehr mitgespielt. Nur seinem Einfühlungs-vermögen und seinem unerschütterlichen Optimismus war es zu verdanken gewesen, dass manche Krise hatte vermieden werden können. Und nun war er selber am Ende.

In seiner Aktivzeit als einer der erfolg-reichsten Elite-Amateure der Schweiz und als Trainer hatte er immer Mässigkeit gepredigt in Bezug auf Alkohol und schon gar auf andere „Mittel“ für die der Radsport verschrien ist. Doch heute hatte er zu ersten Mal Lust, sich einfach voll-laufen zu lassen, sich zum ersten Mal in seinem Leben sinnlos zu betrinken. Nur noch vergessen, nichts mehr wissen wollen. Bestimmt hätten die meisten Menschen, die ihn kannten, vollstes Verständnis dafür gehabt. Aber irgendwie brachte er diese billige Lösung doch nicht übers Herz. Es war schlimm genug, dass er in der ganzen internationalen Sportpresse als bedauernswertes Opfer der „harten Zeiten“bemittleidet wurde - sie sollten ihn nicht auch noch als persönlichen Versager zerreissen können. Dafür war er zu lange ein Vorbild für junge Sportler gewesen.

Obwohl das nasskalte Novemberwetter gar nicht zum Radfahren einlud, es sogar ein Spiegelbild seiner inneren Stimmung war, entschloss sich Bobby, sein „Stahlross“aus dem Stall zu holen und seine kleine Haus-strecke auf Höchstleistung zu absolvieren. Dass das immerhin rund 100 Kilometer waren, mit zweimaliger Überwindung des Brünigpasses, war für ihn keine grosse Sache, hatte er sich doch nach Beendigung seiner aktiven Rennfahrerlaufbahn un-verändert fit gehalten. Wenigsten konnte er sich mit professionellem Thermomaterial so einkleiden, dass ihn die Kälte nicht zu arg in die Knochen biss - doch der Anblick der Werbeaufschriften der Firmen, die ja nicht mehr länger seine Jungs finanzieren wollten, schlug ihm schon wieder wie eine Keule aufs Gemüt. Auch das Rauschen des stür-mischen Wetters und der eigenartige feuchtkalte Novembergeruch hieben in die gleiche Kerbe. Sollte er wirklich jetzt trainieren gehen, wo doch alles keinen Sinn mehr hatte. Wie oft hatten wohl seine Schützlinge solche Gedanken gehabt, wenn es ihnen einmal nicht so richtig lief, wenn die Form noch nicht stimmte.

Eigentlich könnte ich auf dem Rückweg mein Postfach leeren und bei Bigi, der netten Serviertochter im Restaurant Seehof einen heissen Tee trinken, dachte er, als er sich auf sein Rennrad schwang und die Look-Sicherheitspedalen einklinkte. Und wer weiss, vielleicht hat der Pöstler gerade heute wieder einmal etwas Erfreuliches für mich.

Wenn er gewusst hätte, was wirklich auf ihn zukam, wäre er möglicherweise direkt zum Postamt gefahren...

sbd 2 Uraine, Uzgorod, im Hotel KORONA

2 Wochen früher...

Das Hotel KORONA hatte schon bessere Zeiten gesehen. Vor dem ersten Weltkrieg, 1908 im Jugendstil erbaut, hatte es über 70 Jahre kommunistischer Herrschaft überlebt, in denen es zwar jede Menge Ideologie, von allem andern aber zu wenig gab. Ausser natürlich, wenn es darum ging, nach aussen einen Schein zu wahren. All dies hatte an ihm und an der ganzen Stadt genagt wie der sprichwörtliche Zahn an der Zeit. Nur durch einen gepflasterten Platz vom Ufer des majestätischen Flusses Uch getrennt, am Rande der Fussgänger-Einkaufszone gelegen, in der fast jeder nur mögliche Luxus angeboten wurde, den sich aber kaum jemand leisten konnte, war seine gelbe Fassade zwar neu renoviert worden, doch überall dort, wo nicht der erste Blick hinfiel, herrschte der Verfall.

Das Konferenzzimmer im ersten Stock über der mit Mamorplatten herausgeputzten Eingangshalle und dem mit viel Stukatur verzierten Ballsaal, war von dicken Rauchschwaden eingenebelt. Auf dem Tisch standen mehrere Vodkaflaschen der Marke Rasputin, von denen eine sich bereits ihrem Ende zu neigte. Dazu russischer Champagner, Mineralwasser und übervolle Aschenbecher. Einige Köpfe der Konferenz-teilnehmer waren gerötet und zeigten erste Auswirkungen des hochprozentigen Ge-brannten. Schweissige Strähnen klebten an glitzernden Stirnen und ein stickiger Geruch füllte den Raum. Die vielen Kunststoff-Fasern in den Anzügen und Hemden der Anwesenden förderten zusätzlich deren Ausdünstung. Von aussen drang gedämpf-ter Verkehrslärm von der anderen Seite des Flusses durch die mit schweren Vorhängen verdunkelten Fenster - nur nach draussen, von dem was in dieser geheimen Besprechung diskutiert wurde, konnte nichts gelangen. Dafür war gesorgt worden. Auch wenn die kommunisitische Diktatur offiziell zu Ende gegangen war, wirkte die Angst vor KGB-Überwachungsmethoden unvermindert nach. In diesem Fall sicher nicht unbegründet. Darum hatte auch ein früherer KGB- (Komitet Gosudarstvennoi Bezopast-nosti) Agent den ganzen Raum nach Wanzen gefilzt, indem der mit einem Tonbandgerät Wände, Decken, Lampen und Fussboden überprüft hatte. Wäre irgendwo ein Abhörgerät, respektive Mikrofon ver-steckt gewesen, hätte es sofort eine Rückkoppelung gegeben, die sich durch einen lauten Pfeiffton manifestiert hätte. Sogar das Telefon war ausgeschaltet wor-den. Nichts durfte diese geheimnisvolle Sitzung stören, zu viel stand auf dem Spiel.

Unbestrittener Anführer der Runde war Alexander Kirinowski, der rechtsradikale Politiker, der an den ersten freien Wahlen in Russland einen so unerwartet hohen Stimmenanteil für sich hatte gewinnen können. Teils war dies auf seine Persönlichkeit zurückzuführen - kantiges Gesicht, hohe Stirn mit Augen, die wie von einer Vision durchdrungen leuchteten. Seine Stimme war sonor und sehr weit tragend, etwas was er (was natürlich niemand zu wissen brauchte) wie weiland der alte Seneca durch viel Training und Schulung erreicht hatte. Sogar den Trick mit den Steinen im Mund, um die Artikulation zu perfektionieren, hatte er nachgeahmt.

Andernteils lag es an seiner Botschaft: „Als die Kommunisten noch an der Macht waren, hatten wir zwar nicht viel, aber wenigstens einigermassen Ordnung. Jetzt mit dieser „freien Machtwirtschaft“ haben sich nicht nur die Lebensbedingungen der kleinen Leute drastisch verschlechtert, sondern es herrschte ein absolutes Chaos im Land, an dem sich mehr als zwielichtige Gestalten eine goldene Nase verdienten. Durch die Aufsplitterung in viele Einzelstaaten war das Ansehen und die Macht, welche die ehemalige Sowjet Union darstellte und auf die man doch noch stolz sein konnte, auch noch verschwunden. Kein Wunder also, dass sich viele Menschen nach einem neuen Halt sehnten, nach jemandem, der ihre Wunschträume zu realisieren versprach - ohne dass er wieder den Kommunismus zurück brachte“. In diesem Potential der Un-zufriedenen sah Alexander Kirinowski seine politische Chance. Hier fielen seine Visionen auf fruchtbaren Acker.

Verschiedene Eskapaden hatten westliche Journalisten dazu veranlasst, ihn einen Politclown zu nennen. Doch dies war ein absoluter Trugschluss. Der Mann war todernst und knallhart in seinen Vorstellungen und Zielen, aber auch wie er sie zu erreichen trachtete. Dass er wegen einer kleinen Feier mit ein paar kaputten Stühlen aus Kroatien ausgewiesen worden war, das würde er nicht so schnell ver-gessen. Wenn einmal sein erstes Ziel erreicht war, nämlich absoluter Herrscher über das ganze Territorium der dann wiedervereinten ehemaligen Sowjet Union zu sein, dann würde es für ihn eine Kleinigkeit sein, sich diesen ex-jugoslawischen Kleinstaat einzuverleiben. Dann gnade Gott den damals Verantwortlichen.

Was er mit Frankreich vorhatte, nach der Schmach von Strassburg, davon wollte er offiziell noch nicht einmal träumen. Da er jedoch seiner Fantasie keine Grenzen setzte, konnte er sich auch eine EU, eine europäische Union, unter seiner Diktatur gut vorstellen. Allerdings war er sich bewusst, dass dies mit konventionellen Mitteln wohl kaum möglich war, der Westen war zur Zeit noch zu stark. Aber es gab ja noch viele andere Wege - fanatische Araber hat-ten es - jeweils nach russischer Aus-bildung - während Jahren der Welt gezeigt.

Selbstverständlich hatte er auch die jüngere Geschichte, vor allem die des früheren Feindes Deutschland intensiv studiert und genau analysiert, wie sein heimliches Idol Adolf Hitler damals vorgegangen war. Wenn sich auch vieles an den Zeiten geändert hatte, die Menschen reagierten immer noch fast gleich wie früher. Nur hatte er heute ganz andere medientechnische Mög-lichkeiten zur Verfügung. Rhetorik, Dialektik und Massenpsychologie gehörten zu seinen Hobbies - und natürlich Sport, vor allem der Radsport.

Tief in seinem Innern bewunderte er die Härte und die Leidensfähigkeit der Rad-rennfahrer, die bei Hitze und Kälte, bei Regen und heulendem Gegenwind - weder im Training, noch im Rennen aufsteckten. Dieser Durchhaltewille - auch wenn alles schmerzte - war auch sein Symbol für seinen politischen Kampf. Darum hatte er sich auf vorgenommen, diese Sportart einmal ganz besonders zu fördern, sobald er politisch so weit war. Dabei ahnte er nicht, dass die Realisation dieses Wunschzieles viel näher war, als er es sich je hätte träumen lassen.

Was er um sich versammelt hatte, war sein erstes ukrainisches Schattenkabinett. Wenn er einmal an der Macht war, dann würden diese seine Wegbereiter politisch hoch belohnt. So hatte er es ihnen zumindest aus-drücklich versprochen. In jedem Land der nun in so viele „kleine“ Einzelstaaten zer-splitterten früheren Union war er dabei, sich mit präzise ausgesuchten Leuten stra-tegische und taktische Schlüsselpositionen zu sichern. Dabei war die Flexibilität seiner Kooperationsbereitschaft genau so sprich-wörtlich, wie seine mangelnde Loyalität, wenn ein Partner ihm nicht mehr dienlich war. Ob dies nun die russische Mafia, die orthodoxe oder die katholische Kirche, oder irgendwelche politische Gruppierungen be-traf, spielte keine Rolle. Dass dabei nach aussen der Schein möglichst aufrecht erhalten werden sollte, versteht sich. Seine Grundphilosophie hatte er auch aus dem Ausland übernommen, nämlich von Rom. Dort hatte ein Papst einmal den Spruch getan: „Der Zweck heiligt die Mittel“. Wenn dies der katholischen Kirche recht war, dann konnte es ihm nur billig sein. Denn genau um diese Mittel drehte sich die heutige Verhandlung.

Igor Pantelijewitsch Borodin war Minister für innere Sicherheit im Schattenkabinett. In Wirklichkeit bedeutete diese Funktion die Position des obersten Polizeichefs und Chefs des Sicherheitsdienstes. Er war früher einmal eine ganz kleine Nummer im KGB gewesen und er war es auch, der die Wanzenfilzung mit dem Cassentengerät durchgeführt hatte. Auch seine Ambitionen gingen höher hinaus - viel höher als seine derzeitige Stellung als Inspektor bei der lokalen Kriminalpolizei von Uzgorod. Sein einstmals brandrotes, heute silbergraues Haar wellte sich wie die Wogen des schwarzen Meeres in einem mittleren Sturm über sein breites Haupt. Sein Kinn war ebenfalls breit und eckig, aber am auffallendsten waren die vier Warzen, die fast regelmässig über sein Gesicht verteilt den Blick auf sich zogen. Eine kleine gleich neben der rechten Augenbraue kontrastierte mit einer grossen schwarzen auf der linken Seite seines Kinns, während auf der ebenfalls schiefen horizontalen Ebene je eine die rechte und die linke Wange zierten. Seine Nase bog sich markant und lenkte von seinen wachen, aber oft tückischen Augen ab, die sich unter buschigen, ebenfalls grauen Augen-brauen fast versteckten. Sein Gesicht war gerötet und glänzte schweissig, was auf seinen Anteil am Vodka-Konsum hindeutete. Allerdings hatte er sich diesen Freudentrunk auch redlich verdient, auch wenn er nur zufällig auf das Geschäft des Jahrhundert gestossen war.

Mit seinem Neffen, den er den Anwesenden gleich vorstellen wollte, war er gestern am späteren Abend von einem Besuch bei einer alten Tante, die etwas ausserhalb von Uzgorod ganz in der Nähe der Staats-Grenze zur Slowakei lebte, mit seinem Dienstauto und rein zufällig in Uniform in Richtung Stadt zurück gefahren. Obwohl jetzt Kriminalbeamter, hatte er seine Ausbildung als Verkehrspolizist bis heute nicht aus seinem System gebracht, denn automatisch stoppte er, als er einen un-beleuchteten, ungesicherten Lieferwagen am Strassenrand sah, der offensichtlich eine Motorpanne hatte. Er hatte nicht die Absicht gehabt, einen Bussenzettel wegen Gefähr-dung der öffentlichen Strassensicherheit auszustellen, er wollte lediglich darauf auf-merksam machen und veranlassen, dass ein Pannendreieck aufgestellt wurde oder mindestens die Parklichter eingeschaltet würden. Als er sich, gefolgt von seinem Neffen, den beiden Gestalten näherte, die über die offene Motorhaube gebeugt waren, hörte er plötzlich, wie der eine dem andern in einem Moskauer Dialekt zuzischte „verdammt, das ist eine Falle“ und ganz plötzlich waren beide in der Dunkelheit verschwunden. Jetzt war natürlich seine Neugierde geweckt. Verstärkt wurde sie durch den Fund einer Kalaschnikow-Maschinenpistole im Laderaum und einem Revolver im Handschuhfach. Blitzartig schloss sein Kriminalistengehirn, dass die Bande - um so etwas musste es sich zweifelsfrei handeln - durch die Panne im dümmsten Moment überrascht und etwas aus dem Konzept gebracht worden war. Vermutlich war der Mann aus dem Laderaum irgendwo zu Fuss unterwegs um Hilfe zu organisieren, während die beiden andern sich über dem Motor die Köpfe zerbrachen. Und nun hatte er den Einfall seines Lebens, den Geistesblitz, der alles von nun an ändern würde. Ein Griff in seinen Koffer-raum, das Abschleppseil über das Anhänger-horn seines Ladas gestülpt und das andere Ende an der Stoss-Stange des Lieferwagens befestigt, bellte er seinem Neffen zu „Setz dich ans Steuer“ und raste mit dem gekaperten Kleinlaster im Schlepp davon. Nach etwa 500 Metern bog er links in eine kleine Nebenstrasse ab. Jetzt galt es, potentiellen Verfolgern das Leben so schwer wie möglich zu machen. Wo er hinwollte, war ihm von Anfang an klar. Ein weit entfernter Verwandter besass einen Schuppen, der seit Jahren leer stand, und in dem der Kleinlaster gerade Platz finden würde. Um den Weg dorthin, möglichst von niemandem gesehen, zu finden, durfte er auf seine ausgezeichneten Ortskenntnisse vertrauen, war er doch in dieser Gegend aufgewachsen und kannte jeden Stein. Vielleicht eine halbe Stunde fuhren sie kreuz und quer auf Feldwegen und ganz kleinen Neben-strässchen, bis sie das vorgesehene Versteck in den Hügeln erreicht hatten. Der Schopf war tatsächlich immer noch leer, allerdings klemmte das Tor infolge jahre-langem Nichtgebrauch gewaltig, sodass sie es nur mit gemeinsamer Anstrengung und mit der Hilfe der Hebelwirkung einer Eisen-stange schliesslich aufbrachten. Da die Einfahrt etwas ansteigend war, gelang es ihnen nicht, den Lieferwagen von Hand hinein zu schieben. Ein dickes Brett, das irgendwo herumlag, als Puffer dafür verwendet, dass am Dienstwagen keine Beschädigungen entstanden, die schwierig zu erklären gewesen wären, und statt zu ziehen, wurde diesmal geschoben. Endlich war das Kapergut ausser Sicht, obwohl ihnen schon vorher ein mondloser, wolkenverhangener Nachthimmel zu Gute gekommen war. Um jedes Risiko aus-zuschliessen, versteckte Igor seinen Dienstwagen hinter einem Gebüsch und zog seine Uniformjacke aus. Auf dem Rücksitz fand er die Plastiktüte mit dem dunkeln Pullover drin, den ihm die alte Tante als „Erbstück“ ihres verstorbenen Mannes vor weniger als einer Stunde geschenkt hatte, der ihm in diesem Augenblick äusserst gelegen kam.

Seinem Neffen, der schon vorher durch seine dunkle Lederjacke nicht besonders aufgefallen war, drückte er die erbeutete Kalaschnikow-Maschinenpistole in die Hand, von der er wusste, dass sie ihm durch seinen Militärdienst vertraut war und wies ihn an, die Gegend nach möglichen Verfolgern zu überwachen. Zwischenzeitlich wollte er den Kleinlaster respektive dessen Fracht etwas genauer unter die Lupe nehmen...

Irgendwie war ihm sein Onkel nie wirklich ganz geheuer gewesen. Eigentlich war er jeglicher Obrigkeit gegenüber sehr skeptisch und schon gar der Polizei. Doch schliesslich war Igor der Bruder seiner Mutter und Blut verbindet doch mehr, als Behörden trennen können. Sie war es auch gewesen, die ihn gebeten hatte, zusammen mit Onkel Igor wieder einmal Tante Anja zu besuchen, die Frau des verstorbenen Bruders ihres Vaters. Für ihn war sie also eigentlich seine Grosstante, aber solche Details kümmerten ihn nicht sonderlich. Viel wichtiger war, dass sie sich, als er noch ein kleiner Junge war, wie eine Mutter um ihn gekümmert hatte, während seine Mutter in der Fabrik arbeitete. Und nun hatten sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen, da er den zweiten Teil seines Sportmedizinstudiums im fernen Moskau absolviert hatte. Ein richtiger Mann sei aus dem kleinen Nikolai geworden, hatte Tante Anja mit Tränen in den Augen gemeint, als sie vor kaum einer Stunde das Wiedersehen gefeiert hatten. Er müsse sicher Hunger haben, hatte sie gemeint und Fleisch, Käse, Essiggurken, Brot und Vodka aufgetischt. Vom Vodka hatte er nur genippt, denn sein Sportlerherz, resp. Verstand stand über der russischen Sauftradition, darum hielt er sich lieber an Mineralwasser. Zwischenzeitlich war er schon fast dreissig, körperlich top-fit durch ständiges Training auf dem Rennrad. Aber als Rennfahrer hatte es ihm einfach nicht ganz zur natio-nalen Spitze gereicht. Vielleicht wenn er sein Studium nicht ganz so ernst genommen und noch seriöser trainiert hätte, wer weiss? Aber das war heute nicht mehr so wichtig. Sein sehnlichster Wunsch war, einmal eine möglichst professionelle Radrennsportgruppe medi-zinisch und im Trainingsaufbau zu betreuen und sein heimlicher Traum waren die grossen klassischen Profi-Rennen im Westen, besonders die grossen Rund-fahrten. Seit Jahren verfolgte er die Resultate in Zeitungen und manchmal am Fernsehen, wobei in der Zeit des Staats-amateurismus herzlich wenig über die Profis in Russland zu erfahren war. Der Kultur-attache der Schweizer Botschaft, der ein angefressener „Gümmeler“ (Velofan) war, mit dem er öfters rund um Moskau Trainingsfahrten unternahm, schenkte ihm regelmässig die Schweizer Boulevard zeitung „Blick“ mit dem besten Sportteil, wenn er sie gelesen hatte. So konnte sich Nikolai ein Bild der Ereignisse auf der internationalen Bühne machen und wusste auch „who is who“. Er war erst seit einigen Tagen wieder einmal zu Hause in der Ukraine und hatte vor, sich ein Bild über den Stand der Rennsportszene in seiner Heimat zu machen. Vielleicht konnte einer wie er gebraucht werden. Und nun war er mitten in diesen Krimi hineingerutscht, völlig unvorbereitet und unbefangen, so wie eine Jungfrau zu einem Kind kommt. Was war wohl Geheimnisvolles auf dem Kleinlaster, weshalb die panische Flucht der beiden Insassen, wofür die Waffen? Nicht einmal in seinen kühnsten Träumen hätte er sich ausmalen können, was in der Folge auf ihn zukommen sollte. Zwar sollten viele seiner Wünsche in Erfüllung gehen, aber auf eine ganz andere Art und Weise, wie er es sich je gedacht hatte.

In der Zwischenzeit war Igor Panteli-jewitsch Borodin sehr aktiv gewesen. Zuerst hatte er die Führerkabine genauer unter die Lupe genommen um wenn möglich etwas über die Intentität des oder der Besitzer oder wenigstens der Insassen zu erfahren. Leider war sein Suchen nicht sehr ergiebig. Ausser dem Fahrzeug-ausweis, der auf eine unbekannte Transportfirma in Odessa lautete, konnte er keinerlei Anhaltspunkte finden. Vermutlich war das Fahrzeug eh gestohlen. Auch im Hinterteil, auf der Laderampe schien zuerst alles ganz normal. Ein Transport ver-schiedener Lebensmittel wie Mehl, Zucker und verschiedene Konserven. Alles war in separaten Kisten abgepackt und mehr-sprachig angeschrieben. Für den Export bestimmt, dachte er - aber warum dann die Waffen und die überraschende Flucht? Irgend etwas konnte da nicht stimmen, nur was? Intuitiv schien ihn der Zucker anzuziehen. Um an die Kisten mit dem süssen Pulver heranzukommen, musste er erst die Schachteln mit den Konserven wegräumen. Dies stellte sich als eine ziem-liche Schinderei heraus, die ins Kreuz ging, sich aber mehr als lohnen sollte. Als er endlich zu den Zuckerkisten vorgedrungen war und die erste geöffnet hatte, stellte er fest, dass diese mit tausenden kleinen, bedrucken Papiertüten mit etwa 10 Gramm Inhalt gefüllt war. So wie sie im Restaurant zum Kaffee angeboten werden. Noch grösser wurde sein Erstaunen, als er vor-sichtig so eine Papierzuckertüte aufriss und darin eine zweite Verpackung aus Plastik zum Vorschein kam. Der darin enthaltene Puderzucker schien viel feiner, als er sich das von der Küche seiner Schwester, bei der er wohnte, gewohnt war. Seit seine Frau mit einem fahrenden Schauspieler durch-gebrannt war und ihn ohne Abschieds- oder Erklärungsbrief einfach so verlassen hatte, lebte er wieder in seinem früheren Eltern-haus, im gleichen Zimmer, das er als Junge mit seinem älteren Bruder geteilt hatte. Für seine Schwester war das Arrangement finanziell eine grosse Erleichterung, da weder sie noch ihr Mann wirklich genug verdienten, um das Medizinstudium des Sohnes in Moskau zu finanzieren, auch wenn der grössere Teil der benötigten Mittel vom Staat dafür zur Verfügung gestellt wurden. Auch bedeutete die Polizei im Hause ein höheres Mass an Sicherheit, etwas was in der Ukraine von ganz wesentlichem Wert war. Dies wog bei weitem den kleinen Aufwand in der Küche auf, wenn Igor wieder einmal etwas für sich gekocht hatte und er das Geschirr erneut nicht so sauber abgewaschen hatte, wie sie es sich als Frau vorstellte. Eben weil er ein Hobby-Koch war, fiel ihm etwas an diesem Puderzucker auf. Ganz besonders, als er vorsichtig seinen leicht befeuchteten Zeigefinger hinein steckte und das Pulver überhaupt nicht süss schmeckte. Erst jetzt - auch wenn er kein Rauschgiftspezialist war - ging ihm nicht nur ein Licht, sondern eine ganze Morgenröte auf, was für einen Fang sie da gemacht hatten. Wenn nur der mit Puderzucker angeschriebene Teil Heroin war, dann hatten sie sich ein Millionenvermögen an Land gezogen. Nicht nur Millionen Rubel, nein echte, harte amerikanische Dollar, Euros, Schweizer Franken - welche stabile Währung er sich nur wünschen konnte. Jetzt galt es kühlen Kopf zu bewahren, denn es wurde ihm mit einem Mal klar, mit welchem Gegner er sich da eingelassen hatte. Die russische oder die ukrainische Mafia würde sich dieses Piratenstück nicht einfach so ohne weiteres gefallen lassen. Sie würde nicht nur alle Hebel in Bewegung setzen, die Ware wieder in ihre Hände zu bekommen, sondern auch die Frechheit ihres Überfalles mit gebühren-den, an Grausamkeit wohl kaum über-treffbaren Massnahmen zu bestrafen wissen.

Wie Blitze zuckten ein ganzes Gewitter von Fragen gleichzeitig durch sein Gehirn. War dieses Versteck sicher genug und für wie lange? Welche Spuren musste er allenfalls verwischen? Ob die Gangster wohl sein Auto identifizieren konnten, ob sie sich die Nummer gemerkt haben konnten? Wie konnte er aus dieser heissen Ware möglichst gefahrlos den höchsten Gewinn erzielen? Nur eine Frage kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, vielleicht im Gegensatz zu einem Polizeibeamten in einem westlichen Land. Nämlich die, ob er seine Beute nicht offiziell den Behörden abliefern sollte. Zudem über-legte er sich, wie weit er seinen Neffen einweihen sollte. Dagegen sprach die Tat-sache, dass er den Gewinn allenfalls teilen musste, dafür jedoch handgreiflich viel mehr. Erstens war der Junge viel zu clever, als dass er ihn mit irgend welchen faulen Sprüchen hätte abspeisen können. Und zweitens war ein Komplize in der jetzigen Situation mehr als Gold wert. Vermutlich war es sowieso klüger, wenn zwei Köpfe zu-sammen rauchten, als nur einer. Und festzustellen, wieviel Stoff sie genau an Land gezogen hatten, war im augenblicklichen Zeitpunkt nicht relevant - es war sicher mehr als genug um bis an ihr Lebensende den internationalen Playboy spielen zu können. Aber nun war auch nicht der richtige Zeitpunkt, um zukünftige Weibergeschichten im Kopf zu schlemmen. Wenn ihm nur der geringste Fehler unterlief, dann konnte er damit rechnen, für alle Zeiten das Gras von unten wachsen zu sehen.

Vorsichtig kletterte er aus dem Laderaum und löschte die Innenbeleuchtung, nicht ohne vorher das geöffnete „Zuckerpäckchen“ eingesteckt und die Kiste wieder verschlossen zu haben. Dann rief er seinen Neffen und fragte, ob er irgend etwas Verdächtiges entdeckt habe. Als dieser verneinte, bat er ihn, vom Ausblick auf dem kleinen Hügel, der den Schuppen so praktisch hinter sich versteckte, herunter zu kommen. Zuerst sollten sie gemeinsam die Reifenspuren auf dem Zufahrts-strässchen so verwischen, dass sie nicht einmal ein Indianerscout mehr entdecken konnte. Der Wind hatte genügend goldfarbenes Herbstlaub zusammen ge-blasen, dass sich dieser Teil der Vertuschung relativ leicht realisieren liess. Auch vom Dienstwagen, der etwas weiter vorn hinter einem Gebüsch versteckt stand, durften keinerlei Erkennungszeichen zurück-bleiben.

Nikolai half zwar zügig und kompetent mit, als hätte er sein ganzes Leben im wilden Westen Amerikas verbracht, doch konnte Igor die immer stärker wachsende Neugier ganz deutlich auf dem jugendlichen Gesicht seines Neffen ablesen. Um nicht alle Stricke reissen zu lassen, bat er ihn zu sich in den Dienstwagen und offerierte ihm eine Ziga-rette. Dankend lehnte der Sportler ab, was aber Igor nicht daran hinderte, sich selber einen ziemlich stinkenden Glimmstengel in den Mund zu stecken. „Was würdest Du wählen, wenn ich der liebe Gott oder eine Fee wäre: Millionär zu sein, oder tot?“ „Bist Du übergeschnappt, lieber Onkel, oder war der Wagen voller Vodka?“

„Keines von beiden, aber die Frage war trotzdem sehr ernsthaft gemeint. Hier, sieh Dir einmal dieses Säckchen an. Fällt Dir etwas auf?“ Nikolai nahm das Muster in die Hand und betrachtete es von allen Seiten. Dann befeuchtete er wie sein Onkel etwas früher die Spitze seines Zeigefingers und testete mit seiner Zunge. Nicht süss und zu fein, also kein Puderzucker, sondern säuerlich bitter... Plötzlich durchzuckte auch ihn ein goldener Wahrnehmungsblitz: „Verflucht und zugenäht, das muss Heroin sein - und fast sicher sehr reines! Hast Du dies im Lieferwagen gefunden, Onkel?“ „Sicher und da gibt es noch hunderte, wenn nicht tausende mehr davon“.

„Mensch, weisst du überhaupt, wie Heroin hergestellt wird?“ fragte Nikolai als Arzt seinen Onkel. „Nur ganz wage - erklär du es mir“ antwortete sein Onkel. „Nun der ganze Prozess beginn mit Poppy-Pflanzen, einer Art Mohn. In einem der führenden An-bauländern wie Afganistan zum Beispiel allein, beträgt die Jahresproduktion 6‘100

Tonnen. Als erster Schritt wird aus Roh-Opium Morphium-Paste hergestellt, indem das teerähnliche klebrige Zeug in grossen Oelfässern in kochendem Wasser mit Kalk aufgelöst wird, wobei eine klare braune Brühe entsteht. Diese wird gefiltert, sodass Pflanzenreste und Dreck auf den Boden des Fasses sinken und die entstandene Morphium-Paste separiert wird. Das alkaloide Morphium im Opium reagiert mit dem Lime Slake und es bildet sich eine weisse Kruste von Moprhium-Paste an der Oberfläche. In einem weiteren Fass wird diese dann erneut erhitzt mit konzentriertem Ammoniak. Die Paste verfestigt sich und sinkt auf den Boden des Fasses und wird zu grossen, braunen Klumpen Morphium Basis. Die Regel besagt, dass aus zehn Kilogramm Roh-Opium ein Kilo Morphium-Basis gewonnen wird. Diese wird dann in backsteinartigen Blöcken geformt und für den Versand an Heroin-Labors verpackt, von denen es eine ganze Menge in Russland gibt“.

Unvermittel riss Nikolai die Wagentüre auf und stürzte ins Freie, um dort irgend so eine Art Indianertanz aufzuführen. Irgendwie musste er den Hormonstoss abreagieren, der gerade durch seinen Körper raste. Als er sich wieder etwas beruhigt hatte, fragte er den Onkel, was er oder besser sie beide jetzt tun sollten? Dessen Kriminalistenhirn war in der Zwischenzeit nicht untätig geblieben und hatte bereits verschiedene Problemstellungen und auch einige Lös-ungen dazu. Als erstes musste sein Dienstwagen verschwinden und zwar möglichst weit weg und das, ohne dass es auf der Polizei auffiel. Wie er das angattigen wollte, hatte er bereits ausbaldowiert. Ein Kollege sollte noch am heutigen Abend mit seinem Offizialgefährt dienstlich nach Odessa fahren. Wenn plötzlich dieser Wagen nicht ansprang, konnte er grosszügig sein eigenes Vehikel offerieren. Sollte die Bande sich die Nummer gemerkt haben, dann würden sie seinen nicht besonders sympatischen Kollegen in die Mange nehmen, was ihm sehr schnell zu Ohren kommen würde, da es üblich war auf solchen längeren Fahrten, sich regelmässig in der Dienststelle zu melden. Dann müssten sie beide allerdings blitzschnell von der Bildfläche verschwinden. Wohin hatte er sich auch schon überlegt. Am sichersten wäre bestimmt ein Ort im Ausland, wobei die Frage offen blieb, wie weit die „Mafia“ die Grenzen überwachen würde. Ein weiteres Problem stellte die Visapflicht dar. Igor hatte Dauervisas für sich selber für Polen und die Slowakei, aber für Nikolai konnte dies Wochen dauern. Also musste für ihn ein sicheres Versteck im eigenen Land gefunden werden. In dieser Hinsicht war noch grössere Vorsicht geboten, denn wie früher der KGB hatte die „Mafia“ überall ihre Spitzel.

Sie hätten noch stundenlang „brainstormen“ können, doch die Zeit drängte, sollte der Dienstwagen noch heute nach den Fahrer wechseln. Daher beschlossen sie, sich an der nächsten Bushaltestelle zu trennen. Nikolai sollte mit dem öffentlichen Verkehrsmittel direkt nach Hause zurück-kehren - unter höchster Aufmerksamkeit, ob er nicht verfolgt wurde. Allenfalls sollte er mehrmals den Bus wechseln und notfalls ein grosses Restaurant durch den Vordereingang betreten und blitzschnell durch den neben den Toiletten gelegenen Hinterausgang wieder verlassen. So müsste er sogar einen Profi-Verfolger abschütteln können.

Ohne Komplikationen erreichten sie die Stadt, Nikolai verduftete an einer belebten Kreuzung und Igor parkierte seinen Dienstwagen direkt neben dem seines Kollegen im Polizeihauptquartier. Dank seiner technischen Ausbildung, die er damals im Verkehrsdienst genossen hatte, war es ihm ein Leichtes, mit wenigen Handgriffen den Vergaser des Wagens seines Kollegen so zu verstellen, so dass die Kiste mit Sicherheit nicht anspringen würde. „Zufällig“stand er dann gerade dabei, als der Kollege endlich losfahren wollte und er konnte sich sogar noch hohes Lob einstreichen, für seine Bereitschaft, einem Berufskollegen durch die Überlassung seines Fahrzeuges einen grossen Dienst zu erweisen. Jetzt galt es nur noch abzuwarten, ob die „Mafia“ auf den Wagen an-sprang, oder ob ihre Identität verborgen geblieben war. Die Vermutung lag nahe, dass die Gangster eh glaubten, dass es sich nicht um einen echten Polizeiwagen gehandelt hatte und dass sie einer unlauteren Konkurrenz aus der Unterwelt aufgesessen waren.

Zwei Stunden später sassen Igor und Nikolai in Igors Zimmer und hirnten weiter. Da sie es bis hier hin geschafft hatten, durften sie sich erste gedankliche Schwelgereien erlauben, was sie mit dem „Bärenfell“ anfangen wollten. Nikolai träumte von einem eigenen „Rennstall“ von jungen ukrainischen Rad-rennfahrern, mit denen er im internationalen Profi-Rennsport Furore machen wollte. Igor gingen mehr „fleischliche“ Wünsche mit wunderschönen Mietzen in den deka-dentesten Nobelorten wie Monte Carlo oder Las Vegas durch den Kopf. Aber schon nach kurzer Zeit landeten sie beide wieder auf dem Boden der Wirklichkeit, denn die Aufgabe, die noch vor ihnen stand, nämlich wie sie das „Zeug“ möglichst gewinnbringend loswerden konnten, war nicht von schlechten Eltern. Immer mehr dämmerte es in ihnen, dass sie sich da an etwas heranwagten, von dem beide bisher keine grosse Ahnung hatten. Der internationale Drogenhandel war ein knallhartes Geschäft, in dem sich Amateure die Finger ganz entsetzlich verbrennen konnten. In einem waren sie sich schnell einig. Mit dem „Gift“ wollten sie nicht auf den russischen Markt, zum einen aus patriotischen, zum andern aus finanziellen Erwägungen heraus. Aber wie sollten sie möglichst unauffällig die „Märkte“ in den grossen Städten des Westens erobern? Beim Gedanken, dass sie sich auch in politischen Dimensionen bewegten, kam Igor plötzlich ein goldener Einfall: Kirinowski und sein Schattenkabinett! Vielleicht wäre es besser, nicht zu habgierig zu sein und alles für sich behalten zu wollen, sondern etwas von dem „Kuchen“ abzugeben, statt sich an der Immensität der Aufgabe aufzureiben.