Schweizerische Demokratie - Wolf Linder - E-Book

Schweizerische Demokratie E-Book

Wolf Linder

0,0
47,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Schweizerische Demokratie ist geprägt von starkem politischem Wandel. Das Parteiensystem hat sich mit dem Aufstieg der SVP und mit dem Zerfall des Bürgerblocks völlig verändert. Neue Kräfteverhältnisse führen zu wechselnden Mehrheiten im Parlament. Die politische Polarisierung teilt das Land und stellt die Konkordanz in Frage. Gesellschaftliche Spaltungen vertiefen sich. Ohne Mitglied der EU zu sein, europäisiert sich die Schweiz in raschem Tempo. Das alles hat tief greifende Folgen für die Institutionen, Prozesse und Perspektiven schweizerischer Politik. Die neueste Auflage dieses Studienbuchs - aktualisiert, umfassend überarbeitet und in Teilen neu geschrieben - zeichnet diesen Wandel nach und bleibt damit für Studierende, Medienschaffende und politisch Interessierte ein Referenzwerk zur schweizerischen Demokratie.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 891

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wolf LinderSean Mueller

Schweizerische Demokratie

Wolf LinderSean Mueller

Schweizerische Demokratie

Institutionen – Prozesse – Perspektiven

4., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage

Haupt Verlag

Der Haupt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

4. Auflage: 2017

3. Auflage: 2012

2. Auflage: 2005

1. Auflage: 1999

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

E-Book-ISBN 978-3-258-48009-1

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Alle Rechte vorbehalten.

Copyright © 1999 Haupt Bern

Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig.

Umschlaggestaltung: Atelier Nicholas Mühlberg, Basel

Satz: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen

www.haupt.ch

Vorwort

In den letzten 20 Jahren hat sich «Schweizerische Demokratie» als Grundlagenwerk zum Studium des schweizerischen Politiksystems etabliert und bewährt. Darüber hinaus wird das Buch von politisch Interessierten, Medienschaffenden und Politikerinnen unvermindert nachgefragt. Eine neue, vierte Auflage konnte und wollte ich – seit sieben Jahren emeritiert – allerdings nicht mehr allein bewältigen. Mit Sean Mueller habe ich nun einen Co-Autor gefunden, der das Buch mit mir zusammen umfassend überarbeitet und aktualisiert hat. Er wird künftige Ausgaben der «Schweizerischen Demokratie» in eigenem Namen übernehmen. Nicht jedem Autor eines Lehrbuchs fällt solches Glück tüchtiger und engagierter Nachfolge zu.

Das «Blaue Buch», wie es die Studierenden nennen, legt weiterhin grossen Wert auf Verständlichkeit. Es stützt sich auf die aktuelle politikwissenschaftliche Forschung, will aber auch einer nicht akademischen Leserschaft vertiefte Einblicke in die faszinierende schweizerische Demokratie verschaffen. Die Neuauflage des Buchs erforderte, wie alle vorangehenden, eine gründliche Überarbeitung des Texts und die Aufdatierung aller statistischen Angaben. Denn die politischen Institutionen, die schweizerische Politik und ihre internationale Verflechtung sind einem tief greifenden und schnellen Veränderungsprozess unterworfen. Mit dem Aufstieg der SVP und der Spaltung des ehemals geschlossenen Bürgerblocks hat sich die Parteienlandschaft nachhaltig verändert. Die politische Polarisierung zwischen Links und Rechts ist stärker geworden, und die Konkordanz als «Politik der Verständigung» hat mehrere Krisenmomente überstehen müssen. 25 Jahre nachdem die Stimmbürgerschaft entschieden hat, den EWR-Beitritt abzulehnen, ist die schweizerische Gesellschaft in der EU-Frage immer noch tief gespalten. Der bilaterale Weg entspricht zwar den Wünschen eines Grossteils der Wählerschaft, hat aber die Europäisierung und Globalisierung der Wirtschaft weit über die Verträge mit Brüssel hinaus vorangetrieben. Beides hat die schweizerische Politik schneller und womöglich stärker verändert als alle vorherigen Jahrzehnte der Nachkriegszeit. Der damit verbundene Wandel ist gerade in jüngster Zeit von heftigen gesellschaftlichen Konflikten begleitet: Die Annahme der Volksinitiative «gegen die Masseneinwanderung» hat nicht nur die Stimmbürgerschaft gespalten, sondern zu Konflikten mit Brüssel und Ungewissheit über die Zukunft unseres Verhältnisses mit der EU geführt. Vermehrt nimmt die politische Öffentlichkeit wahr, wie Globalisierung und Europäisierung die institutionelle Politik verändern: Der Einfluss der Regierung nimmt zu auf Kosten des Parlaments, die Kräfteverhältnisse unter den Verbänden ändern sich, Volksinitiativen reiben sich an der Internationalisierung des Rechts. Die einst klare Trennung zwischen Innen- und Aussenpolitik wird unscharf, und trotzdem haben sich zwei sehr unterschiedliche Regimes im Entscheidungsprozess herausgebildet: Die Innenpolitik folgt nach wie vor dem langsamen Rhythmus bedächtiger Schritte, die, wie die Reform der Gesundheits- und Sozialpolitik, nur gegen den Widerstand vieler zu erringen sind. Ganz anders die Aussenpolitik: In ihren europäisierten Bereichen hat sie sich dem Entscheidungstempo und Veränderungsdruck aus Brüssel anzupassen – ein Prozess, der von vielen als Diktat von aussen und oben empfunden wird und der deshalb die interne Polarisierung laufend verstärkt.

Dies alles sowie der Wunsch, die jüngsten Forschungserträge der schweizerischen Politikwissenschaft zu berücksichtigen, machten erneut eine gründliche Überarbeitung der «Schweizerischen Demokratie» notwendig: Die institutionellen Reformen der Verfassung, des Finanzausgleichs, der Volksrechte, der Justizreform etc. sind nachgeführt; Gleiches gilt für alle statistischen Daten. Letztere veralten zwar schnell und sind heute zudem über das Internet leicht zugänglich. Dennoch behalten wir sie in diesem Lehrbuch bei – nicht um eine falsche Zahlengläubigkeit zu fördern, sondern um den Sinn für Proportionen zu schärfen. Inhaltliche Veränderungen gibt es in allen Kapiteln, vor allem in jenen zu den Parteien, zum Föderalismus und zur Konkordanz. Der letzte Teil – die «Perspektiven» – thematisiert vor allem die Zukunftsfragen von Europäisierung und Globalisierung.

Anders als die Verfassungslehre, welche sich auf die Interpretation der institutionellen Rechtsregeln beschränkt, beschreibt und analysiert Politikwissenschaft auch die Prozesse der gesellschaftlichen Konfliktbewältigung; sie verbindet also gewissermassen die institutionellen Regeln mit den Spielen, die darin stattfinden. Dabei steht die Auseinandersetzung mit der Demokratie im Vordergrund. Die Schweizerinnen und Schweizer leben heute mit dem ererbten Privileg der Volksrechte, das ihnen ein Stück mehr Volksherrschaft in die Hand gibt als den Bürgerinnen und Bürgern im europäischen Umfeld. Und doch erfährt auch die Schweizer Stimmbürgerschaft die Grenzen unverfälschter und gleicher Partizipation in der realen Demokratie. Dieses Spannungsfeld zwischen idealer und realer Demokratie auszuloten, ist unser besonderes Anliegen. Denn im aktuellen Prozess der Globalisierung und internen Polarisierung steht die Demokratie vor neuen Herausforderungen, aber auch vor Gefährdungen.

Beibehalten bleibt die Struktur des Stoffes: Nach einer kurzen Einführung präsentieren wir kapitelweise die grundlegenden Elemente schweizerischer Demokratie – Staatsvolk, Parteien und neue soziale Bewegungen, Verbände, Parlament, Regierung, Volksrechte und Föderalismus. Wie all diese Elemente zusammenwirken, wird im Kapitel «Das Entscheidungssystem der Konkordanz» gezeigt. Wer mit dem schweizerischen Politiksystem wenig vertraut ist, kann dieses Kapitel zuerst lesen und zusammen mit der Einleitung als Übersicht zur Kenntnis nehmen. Obwohl zwar immer «alles mit allem» zusammenhängt, lässt sich jedes Kapitel als selbständige Einheit lesen, was Benützer auch immer wieder als besonderen Vorzug des Buches bezeichnen. Um die Zahl der Verweise auf andere Kapitel in Grenzen zu halten, haben wir gewisse Wiederholungen in Kauf genommen. Die zeitgeschichtliche Perspektive scheint uns wichtig. Erst sie erschliesst die Bedeutung vieler tagespolitischer Ereignisse. Wir haben daher nicht nur die Entwicklung der Institutionen, sondern auch die Entscheidungsprozesse einzelner Politikbereiche über mehrere Jahrzehnte dokumentiert, so etwa der Energie-, der Einwanderungs- oder der Europapolitik. Lehrpersonen und Studierende, welche die Kernaussagen des Buches samt Videobeiträgen, Beispielen und Animationen suchen, finden sie auf einer Multimedia-DVD des EDA auf Deutsch, Französisch, Englisch und Spanisch oder online unter www.wolf-linder.ch.

Dieses Buch hat einen Vorläufer. 1994 erschien «Swiss Democracy – Possible Solutions to Conflict in Multicultural Societies». Mittlerweile sind zwei Neuauflagen sowie Übersetzungen und Teilübersetzungen auf Polnisch, Nepalisch, Serbokroatisch, Rumänisch und Russisch entstanden, gefolgt 2013 von einer Publikation in arabischer Sprache. Sie belegen das ausserordentliche Interesse, das in jungen Demokratien und kulturell gespaltenen Gesellschaften den Institutionen eines Landes entgegengebracht wird, das die Integration seiner sprachlichen und konfessionellen Minderheiten den Besonderheiten seiner Demokratie verdankt: der Staatsbildung von unten sowie der Verbindung von direkter Demokratie, Föderalismus und politischer Konfliktlösung durch Verständigung. Das könnte zu einem doppelten Missverständnis beitragen. Das eine wäre, die schweizerische Demokratie als Modell für andere zu betrachten und zum Exportartikel zu machen. Alle Erfahrung zeigt, dass derartige Exporte nicht funktionieren: Jedes Land hat seine Institutionen auf seinem eigenen kulturellen Erbe zu entwickeln. Das zweite, noch mehr verbreitete Missverständnis: Die Besonderheiten der schweizerischen Demokratie werden nicht selten entweder über- oder unterschätzt. Deshalb sind die wichtigsten Strukturelemente des schweizerischen Systems – direkte Demokratie, Föderalismus und politische Machtteilung – in den Kapiteln 12–14 im internationalen Vergleich dargestellt. Der Vergleich zeigt, dass direkte Demokratie auch in andern Ländern praktiziert wird, in einzelnen Staaten der US sogar so intensiv wie in den schweizerischen Kantonen. Gleichzeitig wird damit belegt, dass die rund 30 Föderationen ihren Föderalismus auf ganz unterschiedliche Weise praktizieren. Sodann wird verständlich gemacht, dass Konkordanz als «konsensuale Demokratie» mehr ist als ein helvetischer Sonderfall – nämlich ein eigentliches Alternativmodell zur angelsächsischen «Mehrheitsdemokratie». Ansätze zu konsensualer Demokratie und politischer Machtteilung verbreiten sich heute weltweit und haben sich in Ländern wie Nordirland, Bosnien, Südafrika oder Indien unter zum Teil ungleich schwierigeren Verhältnissen zu bewähren als im historischen Fall der Schweiz. Die vergleichenden Teile des Buches dienen daher insgesamt dazu, das eigene Politiksystem aus Distanz und mit dem neugierigen, aber auch nüchternen Auge eines Dritten zu betrachten.

In der Vorbereitung der früheren Auflagen des Buchs habe ich von aufmerksamen und kritischen Studierenden in meiner Vorlesung «Schweizerische Innenpolitik» während langen Jahren immer wieder wertvolle Hinweise bekommen. Ebenso hatte ich von den Anregungen vieler Kollegen und Kolleginnen profitiert: von Clive Church, Adrienne Héritier, Stefano Bartolini, Peter Mair und Philippe Schmitter, Pascal Sciarini und Simon Hug, von Hubert Treiber, Jürg Steiner, Walter Kälin, Adrian Vatter sowie von Andreas Ladner. Unterstützt wurde ich in früheren Auflagen von meinem Team am Berner Institut für Politikwissenschaft. Dazu gehörten, in wechselnder Besetzung, André Bächtiger, Christian Bolliger, Michael Brändle, Marina Delgrande, Sophia Hänny, Claudia Heierli, Oliver Hümbelin, Andrea Iff, Georg Lutz, Michael Meyrat, Daniel Schwarz, Monika Spinatsch, Isabelle Stadelmann-Steffen, Michael Sutter, Emanuel von Erlach, Reto Wiesli und Regula Zürcher sowie weitere Mitarbeiter, vor allem Michelle Beyeler, Hans Hirter, Christian Rosser und Bianca Rousselot. Ihnen allen sowie jenen Mitarbeitenden des Haupt Verlags, die zum Gelingen des Buchs beigetragen haben, bin ich zu Dank verpflichtet. Ein besonderer Dank gilt meiner Frau Verena Tobler Linder, die den gesamten Text kritisch durchgelesen und stilistisch geschliffen hat.

Die vorliegende, vierte Auflage wurde allein vom Team Linder/Mueller aufbereitet. Ein herzliches Dankeschön gehört Sean, nicht nur für die fruchtbaren Diskussionen zum gemeinsamen neuen Text, sondern auch für die umsichtige und höchst effiziente Aufarbeitung aller Daten.

Bern, im Juni 2017

Wolf Linder

Inhalt

Vorwort

Grundlagen

Kapitel 1: Einführung

A. Die Schweiz zwischen Erfolgsgeschichte und Identitätskrise

B. Zur Rolle der politischen Institutionen für die schweizerische Gesellschaft

1. Die Funktionen von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft

2. Die Schweiz als «paradigmatischer Fall politischer Integration»

3. Die Eigenart schweizerischer Demokratie

4. Die schweizerischen politischen Institutionen im Kontext der Globalisierung

C. Zum Aufbau des Buches

Kapitel 2: Durch politische Integration zur multikulturellen Gesellschaft

A. Die Schaffung des Bundesstaats von 1848

B. Aus Nachteilen werden Vorteile, oder: Bedingungen, die den multikulturellen Nationalstaat ermöglichten

1. Ein grösserer Markt für die industrielle Wirtschaft

2. Wachsender politischer Druck von aussen

3. Die Kultur gegenseitiger Hilfe und Zusammenarbeit in der Kleingesellschaft

4. Die kantonale Demokratisierung

5. Die Verbindung von Demokratie- und Föderalismusprinzip

C. Die Integration von konfessionellen und sprachlichen Minderheiten: Von der Koexistenz zum Pluralismus

1. Der politische Katholizismus

2. Mehrsprachigkeit: Verständnisse und Missverständnisse

3. Der Jura – die Ausnahme der Integration einer kulturellen Minderheit

D. Kapital und Arbeit: Vom Klassenkampf zu Sozialpartnerschaft und Konkordanz

1. Arbeiterklasse ohne Heimat

2. Sozialpartnerschaft und Konkordanz

E. Grenzen der politischen Integration und des schweizerischen Pluralismus

Institutionen und Prozesse

Kapitel 3: Das Volk

A. Wer ist das Volk?

1. Ausländerstimmrecht

2. Frauenstimmrecht

B. Die Wählerschaft

1. Politische Kultur: Einige Einstellungen und Werthaltungen im internationalen Vergleich

2. Politische Teilnahme

3. Das Profil der schweizerischen Wählerschaft

4. Motive des Wahlentscheids

5. Die schweizerische Wählerschaft zwischen Stabilität und Wandel

C. Die aktive Zivilgesellschaft

1. Das Milizsystem

2. Medien und politische Öffentlichkeit

3. Aktive politische Öffentlichkeit

Kapitel 4: Parteien und Parteiensystem

A. Funktion und Entstehung

B. Das nationale Parteiensystem

1. Das Vielparteiensystem und seine politische Fragmentierung

2. Gesellschaftliche Spaltungen als Determinanten des Parteiensystems

3. Die Neutralisierung des kulturell-konfessionellen Konflikts

C. Die föderalistische Fragmentierung

1. Das schweizerische Parteiensystem – eine prekäre Einheit?

2. Föderalistische Organisation, innerparteiliche Willensbildung und Finanzierung

3. Unterschiedliche Verbreitung und Mehrheitsverhältnisse in den Kantonen

D. Der Einfluss des Wahlsystems

1. Die Grundidee von Majorz- und Proporzwahl

2. Die Auswirkungen der Proporzregel

3. Die Auswirkungen der Majorzregel

4. Ergebnis und Diskussion

E. Die Parteien in der Gesellschaft

1. Verbreitung in den Gemeinden

2. Parteien und Volk

F. Zukunft des Parteiensystems

Kapitel 5: Verbände

A. Entstehung und Funktion

B. Die Organisation der Wirtschaftsverbände

C. Sozialpartnerschaft

D. Die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Staat

1. Der Einfluss auf die Gesetzgebung

2. Vom parastaatlichen Politikvollzug zur Liberalisierung und Privatisierung

E. Wie bilden Verbände politische Macht?

F. Verbände und das Demokratiemodell des Gruppenpluralismus

Kapitel 6: Soziale Bewegungen

A. Zur Entwicklung: Politik für das Volk – Politik durch das Volk

B. Soziale Bewegungen und politischer Protest in der Schweiz

1. Hauptgruppierungen des politischen Protests 1970–2000:

2. Neuere Entwicklungen: Vernetzung, neue Medien und Internationalisierung

C. Soziale Bewegungen zwischen Integration und Repression

D. Soziale Bewegungen und direkte Demokratie

1. Bewegungsprotest und partizipative Planung

2. (Neue) soziale Bewegungen und der versierte Bürger

E. Demokratietheoretische Perspektiven

F. Populismus

Kapitel 7: Föderalismus

A. Institutionelle Grundlagen

1. Die schweizerischen Ideen des Föderalismus

2. Föderalistischer Staatsaufbau und Aufgabenverteilung

3. Das Verhältnis zwischen Bund und Kantonen

4. Die vertikalen und horizontalen Institutionen des Föderalismus: Eine Übersicht

B. Die Aufgaben- und Ausgabenentwicklung

1. Die Entwicklung der Bundesaufgaben

2. Ressourcen, Ausgaben und Gesetzgebung im föderalistischen Vergleich

3. Der internationale Vergleich: Bescheidener Staat, geringe Zentralisierung

4. Warum in der Schweiz kein grosser Zentralstaat entstehen konnte

C. Die Vielfalt politischer Institutionen in den Kantonen

D. Die Bedeutung der Gemeinde und der Gemeindeautonomie

1. Die Gemeindeautonomie

2. Grundzüge des lokalen Regierungssystems

3. Die Beziehungen zwischen Gemeinden und Kanton

E. Empirische Politikanalyse des Föderalismus

1. Kooperativer Föderalismus: Der Vollzug von Bundesaufgaben auf kantonaler und kommunaler Ebene (Politikverflechtung)

2. Zwischen politischer Blockierung und Innovation: Die Kernenergie-Frage und die experimentellen Energiesparprogramme der Kantone

3. Föderalismus als Politik des regionalen Ausgleichs

4. Umgang mit dem Separatismus: Die schwierige Geburt eines neuen Kantons

5. Die Kehrseite kantonaler Autonomie, oder: Wie das Bundesgericht die Schwäche der politischen Bundesbehörden gegenüber den Kantonen kompensiert

6. Der Engpass des schweizerischen Vollzugsföderalismus: Politischer Konsens

7. Föderalismus versus Demokratie: Wieso eine Urnerin 35 Zürcherinnen überstimmt

8. Ungenutzte Chancen des Föderalismus: Das Beispiel der Agglomerationen

F. Föderalistische Gebietsreform: Theorie und Praxis

Kapitel 8: Das Parlament

A. Die Stellung des Parlaments im politischen System

1. Das Parlament als «oberste Gewalt des Bundes»?

2. Die eidgenössischen Räte zwischen präsidialem und parlamentarischem System

3. Die eidgenössischen Räte: Rede- oder Arbeitsparlament?

4. Das Zweikammersystem

5. Milizidee oder Semiprofessionalismus?

B. Die Organisation des Parlaments

1. Allgemeines

2. Die Kommissionen als Organe des Arbeitsparlaments

C. Die Funktionen des Parlaments

1. Die Bundesversammlung als Wahlbehörde

2. Die Gesetzgebung

3. Budget, Rechnung, Kontrolle und Oberaufsicht

4. Das Parlament als Forum der Nation

D. Der politische Entscheidungsprozess

1. Die Rolle der Fraktionen

2. Parlamentarierinnen zwischen Partei- und Verbandsloyalität

3. Erfolg von Parteifraktionen und -koalitionen

4. Parlamentarier zwischen Eigennutz und Altruismus

5. Der Entscheidungsbeitrag des Parlaments im politischen Gesamtprozess

Kapitel 9: Die Regierung

A. Die Stellung des Bundesrats im schweizerischen System

B. Wahl und parteipolitische Zusammensetzung

C. Der Bundesrat als Kollegialbehörde

D. Der politische Entscheidungsprozess im Kollegialsystem

E. Die Funktionen der Regierung und der politischen Verwaltung

1. Departementalisierung, oder: Das Überhandnehmen des Departementalprinzips in der Politikformulierung

2. Bürokratisierung, oder: Die Entwicklung der politischen Verwaltung

3. Die Zunehmende Bedeutung von Expertinnen

F. Regierungsreform?

Kapitel 10: Direkte Demokratie

A. Entwicklung und Grundzüge der halbdirekten Demokratie

1. Zur Geschichte der Volksrechte

2. Das Grundkonzept der halbdirekten Demokratie

3. Das Volk als institutionelle Opposition

4. Direkte Demokratie als Konkordanzzwang

5. Modifikationen und Erweiterungen des Grundkonzepts halbdirekter Demokratie bei den Kantonen und Gemeinden

6. Ausgestaltung und Begrenzungen des Konzepts halbdirekter Demokratie beim Bund

B. Die Spielregeln direkter Demokratie beim Bund

1. Übersicht

2. Das obligatorische (Verfassungs-)Referendum

3. Das fakultative (Gesetzes-)Referendum

4. Das resolutive (aufhebende) Referendum

5. Die Volksinitiative

C. Funktionen und Entscheidwirkungen des Referendums

1. Zur Wahrscheinlichkeit des fakultativen Referendums

2. Die innovationshemmenden Entscheidungswirkungen des Referendums

3. Die Integrationswirkungen der Referendumsdemokratie

4. Der Einfluss des Verfassungsreferendums auf die Staatsentwicklung

D. Funktionen und Entscheidwirkungen der Volksinitiative

1. Die Volksinitiative als Instrument politischer Innovation

2. Die vier Funktionen der Volksinitiative

3. Zwischen Erfolg und Innovation: Zur Entscheidungslogik der Volksinitiative

4. Längerfristige Systemwirkungen der politischen Innovation und Integration

E. Der Gebrauch des Referendums und der Volksinitiative in den Kantonen

F. Die Volksabstimmung

1. Von der Lancierung eines Volksbegehrens bis zur Vorlage vor das Volk

2. Die Meinungsbildung im Abstimmungskampf

3. Wählerinnen und Wähler zwischen Wissen, Vertrauen und Propaganda

4. Determinanten des Abstimmungserfolgs

5. Der Entscheid und seine Folgen

G. Partizipation und Abstimmungsverhalten der Bürgerschaft

1. Die entscheidende Mehrheit

2. Regelmässige, gelegentliche Urnengänger und Abstinente

3. Wer sind die Urnengängerinnen und die Abstinenten? Ein Profil des Stimmvolks

4. Das Problem der Partizipation aus demokratietheoretischer Sicht

H. Das Abstimmungsverhalten

1. Praxisorientierte Abstimmungsforschung anhand der Asylgesetzgebung

2. Die Bedeutung von Theorien für die Interpretation des Abstimmungsverhaltens

I. Reform der Volksrechte?

1. Die 1990er-Jahre: Ausbau oder Einschränkung der Volksrechte?

2. Die 2000er-Jahre: Verunglückte Reformen und die unbewältigte Internationalisierung der direkten Demokratie

Kapitel 11: Das Entscheidungssystem der Konkordanz

A. Konkordanz als System der Machtteilung und Interessenvermittlung

1. Das Konkordanzsystem: Kind einer Wirtschaftskrise

2. Die schweizerische Konkordanz als Modellfall der «Consensus Democracy»

3. Konkordanz und Verbandsstaat als Form des «Neokorporatismus»?

4. Das vorparlamentarische Entscheidungsverfahren: Die Arena des Gruppenpluralismus

B. Das Gesamtsystem von Volk, Parlament, Regierung, Verbänden und Verwaltung

C. Konkordanz und Machtteilung – demokratietheoretisch betrachtet

1. Das schweizerische System im Vergleich zur parlamentarischen Mehrheitsdemokratie

2. Der Trade-off zwischen Wahl- und Abstimmungsdemokratie: Wer hat mehr politischen Einfluss, die Britin oder die Schweizerin?

3. Zur Theorie der Verhandlungsdemokratie

4. Konkordanz und direkte Demokratie: Ein ambivalentes Verhältnis

5. Die Folgen der Globalisierung auf das Entscheidungssystem und die Konkordanz

D. Kritik an der Konkordanz

1. Die politische Umstrittenheit der Konkordanz

2. Input-Kritik: Ungleiche Beteiligung und privilegierte Stellung kurzfristiger Partialinteressen

3. Output-Kritik: Geringe Innovation und Privilegierung saturierter Interessen

E. Alternativen zur Konkordanz

1. Die «grosse» Alternative: Konkurrenz statt Konkordanz

2. Die «kleinen» Alternativen: Revitalisierung der Konkordanz

Perspektiven

Kapitel 12: Perspektiven direkter Demokratie

A. Zur globalen Verbreitung direkter Demokratie

1. Verbindlichkeit

2. Auslösung der Volksabstimmung

3. Nationale und subnationale Volksabstimmungen

B. Praxis und Wirkung direkter Demokratie: Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der Schweiz und den US-Einzelstaaten

1. Gemeinsamkeiten

2. Unterschiede

C. Die demokratietheoretische Perspektive: Direkte Demokratie zwischen Realität und Utopie

1. Die Kontroverse: Parlamentarismus gegen direkte Demokratie

2. Halbdirekte Demokratie: Das Modell «sensibler Demokratie»

3. Möglichkeiten und Grenzen direkter Demokratie aus theoretischer Sicht

D. Fazit

Kapitel 13: Föderalismus im internationalen Vergleich

A. Kernelemente des institutionellen Föderalismus

B. Föderalismus: Struktur, Prozess und politische Kultur

C. Moderne Bedeutungen des Föderalismus

1. Föderalismus im Zeitalter der Globalisierung

2. Der Schutz kultureller Differenz und Vielfalt

D. Nicht territorialer Föderalismus

E. Zur Frage der Sezession

Kapitel 14: Zur Bedeutung des Modells der Konsensdemokratie

A. Die schweizerische Konsensdemokratie im internationalen Vergleich

B. Machtteilung als friedliche Lösung eines ethnopolitischen Konflikts

C. Folgerungen

Kapitel 15: Zur Zukunftsfähigkeit der schweizerischen Institutionen

A. Der Zusammenhang von Globalisierung, Nationalstaat und Demokratie

B. Rückblick: Die Europäisierung auf dem bilateralen Vertragsweg

1. 1992: Das Nein von Volk und Ständen zum EWR-Vertrag

2. Die Strategie des Bilateralismus

3. Unilaterale Integrationspolitik

4. Europäisierung als Teil der Globalisierung

C. Die politischen Folgen der Europäisierung

1. Europäisierung und neue gesellschaftliche Spaltungen

2. Institutionelle Veränderungen

3. Zunehmende Polarisierung

4. Die polarisierte Konkordanz

D. Alternativen zum Bilateralismus

E. Vom Bedarf an Reformen und von der Weisheit, auf solche zu verzichten

1. Die Verbindung von Föderalismus, direkter Demokratie und Konkordanz: Eine zukunftsfähige Grundstruktur

2. Postdemokratie Swiss made

3. Direkte Demokratie im globalisierten Umfeld

Anhang

Literatur- und Quellenverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Grafikverzeichnis

Kastenverzeichnis

Kapitel 1: Einführung

«Der Schweizer hat … den dialektischen Vorteil, dass er gleichzeitig frei, Gefangener und Wärter ist.»

Friedrich Dürrenmatt, Schriftsteller

«In der Schweiz ist übrigens alles schöner und besser.»

Adolf Muschg, Schriftsteller

A. Die Schweiz zwischen Erfolgsgeschichte und Identitätskrise

Die Schweiz ist ein privilegiertes Land. Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast ganz Europa in die Katastrophen des Ersten und Zweiten Weltkrieges gezogen wurde, überlebte die Schweiz als Demokratie, als direkter Nachbar der kriegführenden Mächte und als unabhängiger Kleinstaat. Und war das Land im 19. Jahrhundert noch arm und ohne eigene Rohstoffe, so weist die schweizerische Gesellschaft heute den nahezu höchsten Lebensstandard unter den industrialisierten Ländern aus. Dazu hat vor allem ein anhaltendes Wirtschaftswachstum in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen. Neben dem Tourismus, der starken Baubranche und den Mittel- und Kleinbetrieben des Binnenmarktes bauten die schweizerische Pharma-, Uhren-, und Maschinenindustrie sowie Banken, Versicherungs- und Handelsunternehmen ihre Geschäftstätigkeit weltweit aus. Die Wirtschaft ist stark exportorientiert und hat sich im letzten Jahrzehnt einen Spitzenrang in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit erhalten können. Die Schweiz bezeichnet sich als Kleinstaat; das ist sie jedenfalls bevölkerungs- und flächenmässig. Wirtschaftlich jedoch gilt sie als mittlere Macht im europäischen Raum; sie ist im Jahr 2015 drittgrösster Kunde der Europäischen Union (nach den USA und China) und ihr viertgrösster Lieferant (nach den USA, China und Russland) (DEA 2017:9).

Zur wirtschaftlichen Stärke gesellt sich ein leistungsfähiger Staat. Die Verschuldung der öffentlichen Hand ist im Vergleich zu jener in den OECD-Staaten gering. Schweizerinnen und Schweizer bezahlen weniger Steuern als die meisten Europäer, vor allem aber wenig im Vergleich zu den Leistungen, die sie vom Staat in Anspruch nehmen. Das Bildungswesen weist in einigen Bereichen wie der Berufsbildung hohes Niveau aus; in einzelnen Forschungsbereichen geniesst die ETH Weltruf. Das System des öffentlichen Verkehrs ist zuverlässig und dicht. Es erschliesst nicht nur die grossen Städte, sondern reicht bis in kleine Bergdörfer. Das Preis-Leistungs-Verhältnis im Gesundheitswesen und bei den Sozialversicherungen ist vergleichsweise gut. Die politische Stabilität gilt als aussergewöhnlich. Obwohl Volk und Stände im Jahresdurchschnitt etwa sechsmal über Verfassungsänderungen abstimmen, ist die Schweiz nicht das Land politischer Revolutionen. Schon eher beklagt man sich über das geringe Interesse der Stimmberechtigten, von denen sich meistens weniger als die Hälfte zur Urne bewegen.

Neben dieser Erfolgsgeschichte ist aber auch eine andere zu hören – diejenige der Schweiz, die in einer ungewissen Zukunft mit sich selbst ringt. Die Jahrzehnte jenes Wirtschaftswachstums, in denen unser Land leichter zu Wohlstand kam als andere, sind vorbei. Die Standortvorteile der Vergangenheit haben nach 1989 an Bedeutung eingebüsst. Mit dem Ende der bipolaren Ost-West-Welt ist auch die Sonderstellung der Schweiz zu Ende gegangen. Aus der Verbindung neutralitätspolitischer Abstinenz bei gleichzeitiger handelspolitischer Verflechtung lassen sich weniger Vorteile ziehen als früher. Statt des Beitritts zum EWR hat das Land 1992 den Weg bilateraler Verträge mit der EU gewählt. Sie sind das Kernstück einer weitgehenden Integration in den europäischen Wirtschaftsraum ohne institutionelle Anbindung an die EU. Damit bleibt die Schweiz allerdings verletzbar: Die Zukunft des bilateralen Wegs ist ebenso ungewiss wie die weitere politische Entwicklung der EU selbst. In Konflikten mit den USA und der EU um Bankgeheimnis und Steuervorteile spürt die Schweiz, dass sie zunehmend isoliert ist. Die unkontrollierten Risiken der globalen Finanzmärkte trafen auch die Schweiz: Die «systemrelevante» Grossbank UBS, die sich im Zuge der US-Immobilienkrise an den Rand der Insolvenz brachte, beanspruchte 2008 ein milliardenschweres Rettungspaket des Bundes. Die Schweiz hat an ideellem Kredit im Ausland eingebüsst. Historiker schreiben Abschnitte der schweizerischen Geschichte neu. Die Schweiz hat nicht nur ihren Platz in einer veränderten weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung zu behaupten, sondern auch ihre Identität neu zu bestimmen. Zwei bekannte Bonmots bringen den Gegensatz zwischen Erfolgsgeschichte und Identitätskrise auf den Punkt: «je pense, donc je suisse» und «Suiza no existe»1.

B. Zur Rolle der politischen Institutionen für die schweizerische Gesellschaft

1. Die Funktionen von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft

Die Schweiz teilt mit den liberal-demokratischen, entwickelten Industrieländern eine Reihe von Strukturmerkmalen. Dazu gehört vor allem die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in die Bereiche eines wirtschaftlichen, sozialen und staatlichen Systems. Diese sind zwar miteinander verflochten, erfüllen aber unterschiedliche Funktionen. Auch ihre Selbststeuerung folgt unterschiedlichen Medien des geldförmigen Tauschs, der sozialen Normen und des rechtlichen Zwangs. Das wirtschaftliche, das soziale und das staatliche System der demokratischen Industriegesellschaft lassen sich auf abstrakter Ebene wie in Grafik 1.1 unterscheiden.

Grafik 1.1: Funktionen von Wirtschaft, Staat und Sozialbereich aus systemtheoretischer Perspektive

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Offe (1972).

Die drei Systeme erfüllen unterschiedliche Funktionen:

– Wirtschaftssystem: Mit der Industrialisierung wurden Formen der Subsistenzwirtschaft (d. h. Produktion für den Eigenbedarf) durch die kapitalistische Erwerbswirtschaft abgelöst. Die Produktion der meisten Wirtschaftsgüter erfolgt in Betrieben und Unternehmungen, die Verteilung über den Markt. Wettbewerb, Gewinnstreben sowie eigennütziges Verhalten von Produzentinnen und Konsumenten prägen den geldförmigen Austausch der Güter. Der freie Wettbewerb stimuliert Innovation, Differenzierung und Wachstum. Die industrielle und später die Dienstleistungswirtschaft werden zum Motor der gesellschaftlichen Entwicklung: Sie bringen neben dem materiellen Wohlstand auch neue Schichten, Klassen und Lebensmilieus hervor sowie die Emanzipation des Individuums aus traditionalen Bindungen. Aus dem Interessengegensatz von Kapital und Lohnarbeit ergibt sich indessen ein andauernder Grundkonflikt um wirtschaftlich-soziale Ungleichheiten. Die Nichtbewertung von freien, öffentlichen Gütern durch den Markt produziert Folgeprobleme wie den ökologischen Raubbau. Der Konflikt zwischen Wirtschaftswachstum und ökologischer Nachhaltigkeit bleibt bis heute politisch ungelöst.

– Sozialsystem: Mit der Industrialisierung verlor der Familienverband seine zentrale Funktion der Produktion und Verteilung in der Subsistenzwirtschaft. Weitere traditionelle Aufgaben wurden aus der Familie ausgelagert. Der laizistische Staat enthob die Sozialorganisationen der Kirche gesellschaftlicher Aufgaben des Bildungswesens oder der Regelung der Eherechtsverhältnisse. Der Familie und weiteren sozialen Vereinigungen verbleiben einzig jene Reproduktions- und Sozialisationsfunktionen, für die sich die Logik der Erwerbs- und Geldwirtschaft nicht eignen. Die Beziehungen im Sozialsystem beruhen auf nicht geldwertem Austausch: Individuen handeln aufgrund von bestimmten Rollenerwartungen (z. B. der Geschlechter- und Lebenslaufrollen in der Familie) sowie aufgrund kultureller Konventionen oder Moralvorstellungen.

– Staatliches System: Mit der Entwicklung des modernen Flächenstaats garantiert die politische Gewalt Unabhängigkeit gegen aussen und gesellschaftliche Sicherheit gegen innen. Das staatliche Gewaltmonopol sichert Eigentum und Freiheit der Bürger, organisiert den Wirtschaftsmarkt und zivilisiert Konflikte durch eine allgemein verbindliche Rechtsordnung. Die Kontrolle des Gewaltmonopols erfolgt durch den Rechts- und Verfassungsstaat. Der Staat beschränkt sich auf die Bereitstellung öffentlicher Güter2 für das Wirtschafts- und Sozialsystem. Dazu gehören Vorleistungen für die private Produktion (Infrastruktur), die Kompensation von wirtschaftlicher Ungleichheit durch Umverteilung von Einkommen und die Bereitstellung sozialstaatlicher Leistungen sowie die Reparatur von Folgeschäden der industriellen Produktion und des Konsums (z. B. durch den Umweltschutz). Die Finanzierung staatlicher Leistungen erfolgt durch die Besteuerung der privaten Wirtschaftstätigkeit. Die Staatstätigkeiten werden durch die Verfassung und das Gesetz geregelt. In westlichen Industriegesellschaften legitimiert sich Demokratie als einzige dauerhafte, friedliche und stabile Regierungsform, weil sie ihren Bürgern unverzichtbare Freiheits- und Partizipationsrechte gewährt und die Ausübung der Regierungsmacht nach den Präferenzen der politischen Mehrheit verspricht.

Diese Funktions- und Arbeitsteilung von Wirtschaft, Staat und Sozialsystem (das wir auch als Gesellschaft im engeren Sinn bezeichnen können) folgt in der Schweiz einigen Besonderheiten. Bis in die jüngere Zeit beschränkten Kartelle und Absprachen zwischen den Unternehmen den Wettbewerb auf dem Binnenmarkt stark. Das schweizerische Politiksystem gehört im europäischen Vergleich zu jenen liberal geprägten Staaten, die sich durch geringere Bürokratisierung, geringere Staatsausgaben und eine relativ bescheidene Sozialstaatlichkeit auszeichnen. Gegen aussen verband die Schweiz eine aussenpolitische Abstinenz (Maxime bewaffneter Neutralität) mit wirtschaftspolitischem Engagement für den globalen Freihandel. Die schweizerische Gesellschaft leistet sich mit ihren 26 Kantonen und 2300 Gemeinden auf bloss acht Millionen Einwohner eine fast luxuriös zu nennende politische Struktur. Wirtschaft, Staat und Gesellschaft sind stark verflochten. Der weitreichende politische Einfluss von Wirtschaftsverbänden und Sozialorganisationen, die zahlreichen Milizämter und das dichte Netz gemeinnütziger Organisationen illustrieren dies.

2. Die Schweiz als «paradigmatischer Fall politischer Integration»

Staatsbildungen des 19. Jahrhunderts zeigten sich, wie etwa in Deutschland und Italien, als politische Bewegung «nationaler Einigung». Dementsprechend vereinigte der Nationalstaat ein Volk gleicher Ethnie, Kultur oder Sprache. Dies gilt für die Schweiz gerade nicht. Der Bundesstaat von 1848 brachte die Völker von 25 Kantonen und vier Sprachgruppen zusammen, die sich durch unterschiedliche Geschichte und Kultur auszeichneten. Die Zustimmung der Kantone zur Bundesverfassung war darum der politische Akt einer multikulturellen Staatsgründung, und deren Resultat keine Kulturnation, sondern eine politische Staatsnation.3

Die politischen Institutionen hatten daher besondere Integrationsleistungen zu erbringen. Diese gingen über die Bewältigung jener wirtschaftlich-sozialen Konflikte hinaus, die in allen Staaten im Zuge der Industrialisierung anzutreffen waren. Denn die konfessionelle Spaltung nach der Reformation hatte zu vier Bürgerkriegen unter den alten Kantonen der Eidgenossenschaft geführt, und der Staatsgründung ging der Sonderbundskrieg zwischen konservativen Katholiken und fortschrittlichen Protestanten voraus. Die konfessionelle Spaltung setzte sich im «Kulturkampf» fort, und ihre Nachwehen reichen weit ins 20. Jahrhundert. Auch das sprachpolitische Verhältnis zwischen Deutschschweiz und Romandie war nicht immer ungetrübt. Trotz der politischen Neutralität kam es in der kritischen Zeit des Ersten Weltkriegs zu einer gefährlichen Spaltung des Landes, als die politischen Eliten sich je auf eine Seite der Kriegführenden schlugen: Die Mehrheit der Deutschschweiz sympathisierte mit Deutschland, die Romands dagegen mit Frankreich.4

Dass die Schweiz an solchen internen Konflikten nicht zerbrach, sondern trotz kultureller Heterogenität sogar noch zusammenwuchs, verdankt sie zu einem grossen Teil ihren politischen Institutionen. Nicht zufällig bezeichnete der Gesellschaftstheoretiker Karl Deutsch (1976) die Schweiz als «paradigmatischen Fall politischer Integration». Der Aufbau einer schweizerischen Nation gelang, obwohl es, überspitzt gesagt, eine schweizerische Gesellschaft 1848 noch gar nicht gab. Nationale Identität musste zum einen über Symbole gesucht werden, von der Figur der Helvetia, des Tells und seiner Armbrust auf den Briefmarken bis zu den Wirtshausschildern des «Weissen Kreuz» oder den «Drei Eidgenossen» und ihrer idealisierten Geschichte. Zum anderen waren das eidgenössische Stimm- und Wahlrecht, die Armee und das Recht auf Niederlassung in jedem Kanton auch etwas Reales und womöglich das erste Gemeinsame zwischen Appenzellern und Genfern. Das Dach des Föderalismus, das den Kantonen grosse Freiheiten liess, war eine politisch-institutionelle Voraussetzung dafür, dass die historischen Konflikte zwischen den Konfessionen in der Folge auskühlen konnten und dass die sprachlichen und kulturellen Minderheiten ihre Identität zu erhalten vermochten. Sprach- und Konfessionsminderheiten erhielten Sitz und Stimme im Bundesstaat. Dies trug dazu bei, dass durch politische Integration überhaupt eine schweizerische Gesellschaft entstehen konnte. Freilich gab es auch Ausgrenzungen. Der wirtschaftlich-soziale Klassenkonflikt zwischen Lohnarbeit und Kapital blieb bis zum Zweiten Weltkrieg ungelöst. Gewerkschaften und die politische Linke hatten bis zu diesem Zeitpunkt wenig Einfluss auf die Bundespolitik und blieben während Jahrzehnten aus der rein bürgerlichen Landesregierung ausgesperrt. Auch für kulturell-sprachliche Konflikte gibt es Ausnahmen vom Muster politischer Integration. Nach dem Zweiten Weltkrieg brach ein Minderheitenkonflikt offen und heftig aus, als der französischsprachige, katholische Teil des Kantons Bern die Legitimität der bernischen Regierung in Frage stellte und in einem langen Kampf 1978 die Errichtung eines eigenen Kantons erreichte.

Auch haben neben den politischen Institutionen andere Faktoren – etwa das Zusammenrücken in den Zeiten äusserer Bedrohung vor und während des Zweiten Weltkriegs – zur Abschwächung gesellschaftlicher Konflikte beigetragen. Trotzdem bleibt die erfolgreiche Überwindung gesellschaftlicher Spaltungen und die friedliche Lösung ihrer Konflikte bis heute eine der wichtigsten Leistungen des schweizerischen Systems. Aus politologischer Sicht spielen dabei zwei institutionelle Einrichtungen eine besondere Rolle, nämlich der Föderalismus sowie die proportionale Machtteilung oder Konkordanz.

3. Die Eigenart schweizerischer Demokratie

Die Eigenart schweizerischer Demokratie zeigt sich an mehreren Punkten. Erstens setzte sich das Prinzip demokratischer Legitimation politischer Herrschaft früher durch als in den anderen europäischen Ländern, wo im 19. Jahrhundert der Republikanismus der Französischen Revolution auf die konstitutionelle Monarchie zurückfiel. Später, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, war die schweizerische Demokratie so stark gefestigt, dass sie den Tendenzen des Totalitarismus zu widerstehen vermochte.

Zweitens setzten sich im 19. Jahrhundert unter der Devise der «Volkssouveränität» jene Formen der direkten Demokratie durch, die der Stimmbürgerschaft über das Wahlrecht hinaus die Mitwirkung an den wichtigsten Sachgeschäften erlauben. Die Abstimmungsdemokratie gewährt ihren Bürgerinnen und Bürgern eine Mitgestaltung der «res publica», die erheblich über das hinausgeht, was sich in den Demokratisierungswellen des 20. Jahrhunderts als Repräsentativsystem global durchsetzte.

Drittens gehört die Schweiz zu den föderalen Systemen. Die föderative Teilung staatlicher Macht zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten ist zwar keineswegs einzigartig, und die Kombination von Demokratie und Föderalismus durch das Zweikammersystem des Parlaments wurde auch nicht in der Schweiz erfunden, sondern aus dem amerikanischen Verfassungssystem entlehnt. Dagegen erfüllt der Föderalismus besondere politische Funktionen in der sprachlich-religiös segmentierten Gesellschaft der Schweiz: 1848 das Ergebnis eines politischen Verfassungskompromisses zwischen Katholisch-Konservativen und Protestantisch-Freisinnigen, sichert Föderalismus bis heute die kulturellen Eigenheiten der Kantone. In den weitreichenden Kompetenzen von Kantonen und Gemeinden und in deren hohem Anteil an den öffentlichen Einnahmen und Ausgaben drückt sich sodann die Präferenz der Stimmbürgerschaft für ein möglichst dezentrales Gemeinwesen aus. Dem Bund wird nur, und nur zögerlich, zugewiesen, was die Kantone nicht zu leisten vermögen.5 Die schweizerische Zentralregierung dürfte die einzige auf der Welt sein, die bis heute über keine dauerhaften, sondern bloss zeitlich befristete Einkommenssteuern verfügt.

Viertens verwandelte sich unter dem Einfluss der Volksrechte das Politiksystem von der ursprünglichen Mehrheitsdemokratie allmählich zur Verhandlungs- oder Konsensdemokratie. Das sog. Konkordanzsystem ist geprägt durch die proportionale Vertretung und Zusammenarbeit der verschiedenen Parteien in Regierung, Parlament und bei der Besetzung von Verwaltungsstellen und Gerichten. Zudem werden in der Gesetzgebung all jene gesellschaftlichen Gruppierungen und Verbände angehört, die sich über die Fähigkeit ausweisen, ein Referendum auszulösen. Das führt zur Politik der Verständigung durch Verhandeln und zum Suchen von Kompromissen. Die Konkordanz begünstigt jene Integrationsleistungen, die für die schweizerische Gesellschaft mit ihren kulturellen Minderheiten dauerhaft erforderlich sind. Direkte Demokratie bietet die Möglichkeit der Opposition: Parteien und Verbände, die gegen Vorschläge des Parlaments zu einer Verfassungsänderung sind, bringen diese in der obligatorischen Volksabstimmung nicht selten zu Fall. Oppositionelle Kräfte ergreifen gelegentlich das Referendum gegen ein neues Gesetz, und mit Volksinitiativen bringen verschiedenste Gruppen neue Probleme und Tendenzen in die politische Arena ein. Hingegen fehlt im schweizerischen System der wichtigste Grundzug aller repräsentativen Demokratien: Es gibt keinen regelmässigen Machtwechsel zwischen Regierung und Opposition, der die Ausübung politischer Macht zeitlich begrenzt und mittels Wahlen die Belohnung oder Bestrafung der Regierung für ihre vergangene Politik ermöglicht.

Ein fünfter Punkt schweizerischer Eigenheit darf allerdings nicht unerwähnt bleiben: Im krassen Gegensatz zur frühen Demokratisierung steht die Tatsache, dass das Frauenstimmrecht in der Schweiz erst spät, nämlich 1971 eingeführt wurde. Diese weniger rühmliche Eigenheit schweizerischer Demokratie hat Gründe, die nicht notwendigerweise nur auf einer konservativeren Haltung schweizerischer Männer beruhen.6 Trotzdem hatte die Männerdemokratie bis dahin die Hälfte der Bürgerschaft von der politischen Partizipation ausgeschlossen.

4. Die schweizerischen politischen Institutionen im Kontext der Globalisierung

Das Gefühl, die schweizerische Demokratie sei etwas Einzigartiges, bildete in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen prominenten Teil gesellschaftlicher Identität und nationalen Selbstverständnisses. Diese Vorstellung mag in den Bedrohungen des Zweiten Weltkriegs auch einen wichtigen Beitrag zur Behauptung der äusseren Unabhängigkeit und des inneren Zusammenhalts des Landes geleistet haben, ist jedoch Vergangenheit und Geschichte. Ein feindliches Umfeld europäischer Nachbarn gibt es nicht mehr, dafür die wirtschaftspolitische Integration der EU-Länder sowie gesamteuropäische Bemühungen, den Frieden kollektiv zu sichern. Demokratie verbreitet sich weltweit über den Kreis der entwickelten Industrieländer hinaus. Globalisierung, mit all ihren Licht- und Schattenseiten, befördert die weltweite Liberalisierung der Wirtschaft. Staatliche Grenzen öffnen sich. Innenpolitik wird zur Aussenpolitik, Aussenpolitik zur Innenpolitik. Was den Nationalstaaten an der Kontrolle über die Zirkulation von Kapital, Gütern, Informationen und Arbeitskräften entgeht, wird teilweise aufgefangen durch internationale, transnationale und supranationale Organismen. Dorthin verlagern sich gewichtige Teile der Politik. Der nationale Staat gewinnt Mitbestimmung im äusseren, grösseren Rahmen, verliert aber an Autonomie und Bedeutung im Inneren. Diese Verluste treffen auch die Demokratie, denn die meisten internationalen oder supranationalen Organismen sind demokratisch nur schwach legitimiert, auch wenn national legitimierte Staats- und Regierungschefs entscheiden.

Diese Vorgänge erschüttern traditionelles schweizerisches Selbstverständnis. Dieses hat sich neu zu definieren, zumal sich Schweizerinnen und Schweizer stark mit den Werten ihres politischen Systems identifizieren. Ob nationale Autonomie, schweizerischer Föderalismus und direkte Demokratie im Falle eines EU-Beitritts noch mehr gefährdet wären als bei der Fortsetzung des bilateralen Vertragswegs, ist darum politisch stark umstritten, im Grunde aber eine noch harmlose Frage. Fundamentaler müsste gefragt werden: Welcher Stellenwert kommt nationaler Staatlichkeit und Demokratie in der Globalisierung überhaupt noch zu? Nach den Krisen des globalen Finanzkapitalismus und der europäischen Staatsschuldenkrise stellt sich diese Frage verschärft. Unterdessen ist aber auch die Einsicht gewachsen, dass der Nationalstaat mit der Globalisierung noch keineswegs irrelevant geworden ist oder abzudanken hätte. Die Beschäftigung mit den politischen Strukturen eines Nationalstaats bleibt damit von Bedeutung.

C. Zum Aufbau des Buches

Das folgende Kapitel 2 behandelt die Geschichte der Staatsgründung und die Entwicklung der schweizerischen Demokratie. Es steht unter dem Leitthema der politischen Integration einer multikulturellen Gesellschaft.

Die Kapitel 3–11 analysieren die einzelnen Institutionen und Prozesse der schweizerischen Politik. Es schien angebracht, die Stimmbürgerschaft nicht wie üblich auf die Teilaspekte von Wahlen, Abstimmungen und Parteien zu reduzieren, sondern dem «Volk» als dem eigentlichen Subjekt der Demokratie ein eigenes Kapitel zu widmen (Kapitel 3). Parteien, politische Bewegungen, Verbände werden als wichtigste Organisationen der Artikulation und Bündelung von Interessen dargestellt. Besonderes Augenmerk gilt ihren je spezifischen Einflussmöglichkeiten auf politische Entscheide (Kapitel 4–6). Föderalismus (Kapitel 7) ist mehr als eine Verfassungsstruktur vertikaler Machtteilung; er ist auch Ausdruck einer politischen Kultur, welche der dezentralen Selbstbestimmung gegenüber der Macht des Zentralstaats den Vorzug gibt. Die Frage, wie schweizerischer Föderalismus die Prozesse und das Ergebnis der politischen Entscheidungen beeinflusst, wird an einer Reihe von Fallbeispielen untersucht. Kapitel 8–10 sind den drei Organen gewidmet, welchen die Verfassung die formalen Entscheidungsbefugnisse zuordnet: Regierung, Parlament und Stimmbürgerschaft. Der politologischen Analyse der Referendumsdemokratie wurde dabei besondere Beachtung geschenkt, bevor das Konkordanzsystem mit seinen Vernetzungen zwischen vorparlamentarischem, parlamentarischem, direktdemokratischem und administrativem Entscheidungskomplex in Kapitel 11 dargestellt wird.

Wer die Eigenheiten des schweizerischen Systems verstehen will, kommt um eine vergleichende Betrachtung nicht herum. Die Kapitel 12–14 gehen der Frage nach, wie direkte Demokratie, Föderalismus und Machtteilung in anderen Ländern praktiziert werden. Dabei zeigt sich, dass Konkordanz nicht einfach einen helvetischen Sonderfall darstellt. Vielmehr kann «Konsensdemokratie» als ein Gegenmodell zur Mehrheitsdemokratie angloamerikanischer Prägung begriffen werden. Länder wie Südafrika, Belgien oder Indien zeigen, dass politische Machtteilung in anderen historischen und gesellschaftlichen Situationen Ähnliches leistet wie in der Schweiz, nämlich die Überwindung kultureller Konflikte und Spaltungen. Solche Erkenntnisse bedeuten keine Abwertung der Eigenheiten schweizerischer Demokratie – im Gegenteil. Sie öffnen erstens den Blick dafür, was diese Eigenheiten wirklich sind und was die eigenen Institutionen im Vergleich zu anderen zu leisten vermögen und was nicht. Zweitens zeigt die vergleichende Perspektive, wie weit und warum die Strukturen schweizerischer Demokratie über das eigene Land hinaus von Bedeutung sind. Das abschliessende Kapitel 15 versteht sich als Diskussionsbeitrag zur Frage, wie schweizerische Demokratie zu bestehen vermag im Prozess einer Globalisierung und Europäisierung, deren Schatten immer länger werden.

1 Beide stammen vom Künstler Ben Vautier; letzteres war auch das Motto des Schweizer Pavillons an der Weltausstellung in Sevilla 1992.

2 Zu den öffentlichen Gütern und Dienstleistungen gehören: a) Kollektivgüter: Der private Markt stellt sie nicht bereit, weil sie auch von Nichtbezahlenden konsumiert werden können (z. B. öffentliche oder nationale Sicherheit) und/oder weil sie als frei zugängliches Gut durch viele übernutzt oder zerstört werden (Rivalität des Konsums z. B. von sauberer Umwelt); b) Meritorische Güter: Sie können an sich von Privaten hergestellt werden, jedoch nicht zur Menge, zum Preis oder in jener Qualität, wie sie von der Gesellschaft gewünscht werden (z. B. Bildung, Gesundheit, Kultur). Neben diesen allgemeinen ökonomischen Kriterien bestimmen Verfassung und Gesetz den Kreis und den Umfang öffentlicher Güter und Dienstleistungen.

3 Zur näheren Unterscheidung vgl. Kapitel 2.

4 Der Graben zwischen Deutsch- und Westschweiz war nach Jost (1983:120) in erster Linie ein Problem der politischen Elite und ihrer agitierenden Presse und weniger eines der Bevölkerung.

5 Der hier angebrachte Begriff der Subsidiarität lässt sich umschreiben als «Was du selber kannst besorgen, das verschiebe nicht nach oben.»

6 Näheres dazu in Kapitel 3, Abschnitt A2.

Kapitel 2: Durch politische Integration zur multikulturellen Gesellschaft

«Den Bedrohungen von aussen kann nur ein Volk Widerstand leisten, das trotz aller Verschiedenheit der Sprache, der Konfession und der Rasse das Bewusstsein der nationalen Zusammengehörigkeit besitzt.»

Arbeitsgemeinschaft «Frau und Demokratie» zum 1. August 1933

«Switzerland is not peaceful because of its people but because of its institutions.»

Walter Kälin, Völkerrechtler

A. Die Schaffung des Bundesstaats von 1848

Nach dem Wiener Kongress von 1815, als in Europa viele Strukturen des vorrevolutionären Ancien Régime wieder etabliert wurden, erwartete niemand, dass die schweizerischen Kantone eine der ersten Demokratien und einen eigenen Nationalstaat schaffen würden. Zwar hatten sich Uri, Schwyz und Unterwalden als erste Kantone im 13. Jahrhundert von den Habsburgern unabhängig gemacht. Andere Orte folgten dem Beispiel und traten dem Bündnis bei, in dem sich die Eidgenossen gegenseitige Hilfeleistung zur Wahrung ihrer Unabhängigkeit versprachen. Zur Zeit der Französischen Revolution bildeten dreizehn Kantone einen losen Staatenbund. Hatten diese sogenannten «Alten Orte» zunächst erfolgreich für die Befreiung von feudalistischer Herrschaft gekämpft, so hinderte sie das später nicht, sich selbst Untertanengebiete anzueignen und diese auszubeuten. Kein Wunder also, dass das morsche «Ancien Régime» der alten Kantone auch aus inneren Gründen zusammenbrach, als 1798 Truppen der Französischen Revolution auf ihrem europäischen Befreiungszug die Schweiz besetzten.

Mit dem Diktat Napoleons von 1798 wurden die Kantone zu einer Republik nach dem Muster der französischen Direktorialverfassung. Während es gelang, die Vorrechte der Alten Orte durch Gleichstellung der ehemaligen Untertanengebiete als neue Kantone zu brechen, scheiterte der Versuch, die Kantone im Einheitsstaat der Helvetischen Republik zu verschmelzen. 1803 kam auf Geheiss Napoleons die Mediationsakte zustande, welche die gliedstaatliche Autonomie der Kantone wiederherstellte. 1815 schliesslich gewann die Eidgenossenschaft ihre volle Unabhängigkeit zurück. Die Gleichberechtigung aller Kantone blieb dabei als dauerhafte Errungenschaft der Französischen Revolution bestehen. Aber man näherte sich wieder dem alten System eines Staatenbunds, einem lockeren Zusammenschluss von nunmehr fünfundzwanzig Kantonen, die sich als souveräne Staaten betrachteten. In ihrem «Bundesvertrag» garantierten sich die Kantone gemeinsame Sicherheit durch gegenseitige Hilfeleistung. Eine Konferenz von Delegierten – die Tagsatzung – konnte gemeinsame Entscheide fällen. Diese Delegierten waren jedoch an die Weisungen ihrer kantonalen Regierungen gebunden, deshalb war ein Konsens nur schwer zu erreichen. Der Staatenbund von 1815 hatte also weder ein Parlament noch ein Exekutivorgan, und der Bundesvertrag enthielt anders als die vorherigen Verfassungen keine Freiheitsrechte zugunsten der Bürger (Kölz 1992:184). Mit andern Worten: Der Schweiz fehlten wichtige Eigenschaften eines Nationalstaats.1

Die folgenden Jahrzehnte waren von einer zunehmenden Polarisierung zwischen den politischen Bewegungen des Freisinns und der Konservativen gekennzeichnet. Die Konservativen stammten vor allem aus katholischen und ländlichen Gebieten. Als Minderheit lehnten sie die Aufhebung der Einstimmigkeitsregel für Beschlüsse der Tagsatzung ab, und noch mehr widersetzten sie sich der Idee einer starken Zentralregierung. In einer Zeit der beginnenden Demokratisierung auf kantonaler Ebene wollten die Konservativen auch die starke politische und kulturelle Stellung der katholischen Kirche bewahren. Auf der anderen Seite stand die Bewegung der Freisinnigen. Sie war vorwiegend in den protestantischen, städtischen und industrialisierten Gegenden verwurzelt. Ihr politisches Ziel der Demokratisierung erreichte sie in elf Kantonen in der sog. Regenerationszeit nach 1830.2 Unter der Devise der «Volkssouveränität» und des «Fortschritts» entstanden liberale Verfassungen, die das Stimm- und Wahlrecht für die erwachsenen Männer, die Gewaltentrennung, die Öffentlichkeit der Parlamentsdebatten, aber auch die Trennung von Kirche und Staat brachten (Blum 1983).

Das laizistische Staatsverständnis des Freisinns verweigerte der konservativen Minderheit die Bewahrung der gesellschaftlichen Vorrechte ihrer Kirche. Damit verschärfte sich zu Beginn der kantonalen Demokratisierung nochmals der konfessionelle Konflikt. Dieser hatte in der Alten Eidgenossenschaft zu vier Religionskriegen geführt. An deren Ende stand aber immer der Versuch zur Verständigung und des friedlichen Zusammenlebens zwischen den katholischen und protestantischen Gebieten. Statt zur politischen Vorherrschaft einer Seite kam es zu einem labilen Gleichgewicht (vgl. Kasten 2.1).

Kasten 2.1: Religiöse Konflikte vom 16. bis zum 18. Jahrhundert zwischen protestantischen und katholischen Kantonen

1529:

Ein militärischer Konflikt zwischen dem protestantischen Zürich und den fünf katholischen Kantonen wird durch den «Ersten Kappeler Landfrieden» verhindert, der konfessionelle Toleranz garantiert.

1531:

Die protestantischen Truppen von Zürich und Bern verlieren Kämpfe gegen die Katholiken. Im «Zweiten Kappeler Landfrieden» wird zwar die protestantische Konfession anerkannt, doch setzen die siegreichen Katholiken einige Vorrechte durch. Dieser «Zweite Kappeler Landfrieden» stabilisiert die Machtverhältnisse zwischen katholischen und protestantischen Kantonen bis 1656.

1656:

Bern und Zürich versuchen, ihre Position gegenüber den Katholiken zu verbessern, verlieren aber den «Ersten Villmerger Krieg», der die katholische Dominanz bestätigt.

1712:

Den «Zweiten Villmerger Krieg» gewinnen die Protestanten. Der Sieg beendet die katholische Vorherrschaft in der Alten Eidgenossenschaft und sichert den protestantischen Kantonen Bern und Zürich einen ihrer wirtschaftlichen Grösse angemessenen politischen Einfluss.

Die Religionsfrage stellte in der Regenerationszeit nicht den einzigen Konfliktpunkt zwischen Freisinnigen und Konservativen dar. So waren Schutzzölle für die kantonale Industrie und ihre Tarife heftig umstritten. Die religiöse Frage trug aber besonders zur Vergiftung des politischen Klimas zwischen den beiden Lagern bei, nachdem freischärlerische Truppen den Kanton Luzern von seiner konservativen Regierung «befreien» wollten, was Letztere mit militärischen Mitteln verhinderte. 1845 schlossen sich die katholischen Kantone zur Verteidigung ihrer gemeinsamen Interessen zu einem Sonderbund zusammen. Ausserdem versuchten sie auf diplomatischem Wege, Unterstützung für ihre Anliegen von Österreich, Frankreich und Sardinien zu erhalten. Nach erfolglosen Vorstössen zur Änderung des Bündnisses von 1815 verliessen die katholischen Kantone 1846 die Tagsatzung. Das wurde den Sonderbundskantonen als Sezession ausgelegt. Die protestantischen Kantone intervenierten 1847 mit ihren Truppen. In einem kurzen Bürgerkrieg und nach 26 Kampftagen mit etwa hundert Toten waren die Sonderbundskantone besiegt.

Für die siegreichen Freisinnigen war der Weg nun frei für ihr Vorhaben, einen Bundesstaat auf der Grundlage einer nationalen, demokratischen Verfassung einzurichten. Dessen Grundzüge waren:

1. Eine Staatsbildung von unten: Der Übergang vom Staatenbund zu einem schweizerischen Bundesstaat, in welchem die 25 Kantone alle Hoheitsrechte und Aufgaben behielten, die sie nicht ausdrücklich dem Bund übertrugen.

2. Die Beschränkung der Bundesgewalt auf wenige Aufgaben, so vor allem die Wahrung der Unabhängigkeit, die Vereinheitlichung von Zoll, Mass und Gewicht oder das Postwesen.

3. Das Prinzip des Föderalismus, das in den Angelegenheiten des Bundes jedem Gliedstaat eine gleiche Stimme unabhängig von seiner Grösse einräumte.

4. Die Einrichtung einer demokratischen Grundordnung mit Exekutive und eigenem Parlament, mit Grundrechten, Gewaltentrennung und freien Wahlen, deren Minimalanforderungen auch für alle Kantone verbindlich erklärt wurden.

Der Verfassungsvorschlag wurde 1848 der Volksabstimmung unterbreitet. Da ein schweizerisches Staatsvolk noch nicht existierte, oblag die Abstimmung den Kantonen im Rahmen ihrer eigenen politischen Ordnung. So entschied in Freiburg und Graubünden das kantonale Parlament «im Namen des Volkes». In Luzern kam die Zustimmung des Kantons dadurch zustande, dass die freisinnige Regierung jene dreissig Prozent, die der Urne fernblieben, den Ja-Stimmen zurechnete. Für den Zusammenschluss vom Staatenbund zum Bundesstaat wäre eigentlich – gemäss den Regeln des Staatenbunds – die Einstimmigkeit der Kantone erforderlich gewesen, die sich als «souverän» betrachteten. Die freisinnige Mehrheit definierte die Regeln aber anders: Sie liess es bei der unbestimmten Formel einer «genügenden Mehrheit» bewenden. Nachdem zwei Drittel der Kantone zugestimmt hatten, gab die Tagsatzung am 12. September 1848 bekannt, dass die Bundesverfassung von einer grossen Mehrheit angenommen worden sei (Kölz 1992:608–610; Ruffieux 1983a:10 f.).

B. Aus Nachteilen werden Vorteile, oder: Bedingungen, die den multikulturellen Nationalstaat ermöglichten

Die Schaffung des Bundesstaats von 1848 ist nicht selten als «revolutionär» bezeichnet worden. In der Tat: Im europäischen Umfeld des 19. Jahrhunderts war die Einrichtung eines föderalistisch-republikanischen Verfassungsstaates auf der Grundlage der Volkssouveränität ein einzigartiger Vorgang. Ebenso widersprach ein Zusammenschluss unterschiedlicher Völker dem Zeitgeist. Während sich nämlich die nationalen Vereinigungen Deutschlands (1866–71) oder Italiens (1860–70) unter der Devise einer gemeinsamen Kultur, eines «Staatsvolks», vollzogen, gab und gibt es in der Schweiz kein Staatsvolk gleicher Ethnie, Sprache, Religion oder Kultur.3 In der Bundesverfassung von 1848 sucht man deshalb den Begriff des Staatsvolks vergeblich. Ihr erster Artikel lautete: «Die durch gegenwärtigen Bund vereinigten Völkerschaften der zwei und zwanzig souveränen Kantone … bilden in ihrer Gesamtheit die schweizerische Eidgenossenschaft.» Es sind also die Kantone als Gliedstaaten, die den Bund konstituieren. Mit 1848 beginnt die Schweiz als eine multikulturelle Nation (Richter 2005:88 ff.).

Diese Zusammenführung verschiedener Kulturen kantonaler Kleingesellschaften zur gesellschaftlich-politischen Einheit ist von ähnlicher Bedeutung wie die Einrichtung der Demokratie. Der vom Staatsrechtler Carl Hilty betonte Begriff der «Willensnation» hat hier seine Berechtigung, besonders wenn man sich die Schwierigkeiten der Staatsgründung vergegenwärtigt. Denn innerhalb der politischen Lager der widerstrebenden Konservativen und des staatsgründenden Freisinns versteckte sich eine Reihe von gesellschaftlichen Gegensätzen und Konflikten, die noch zu überwinden waren. Es gab erstens ein voraussehbares Minderheitenproblem für die Französisch, Italienisch und Romanisch sprechenden Volksteile, denen eine deutschsprachige Mehrheit von 70 Prozent der Bevölkerung gegenüberstand. Wegen dieser sprachlichen und religiösen Teilung mussten die Minderheiten befürchten, in einem Nationalstaat zurückgesetzt zu werden. Zweitens unterschieden sich die ökonomischen Strukturen der Kantone grundlegend voneinander. Einzelne Regionen waren Orte früher Industrialisierung. Diese forderten den weiteren Abbau von Handelshemmnissen, was aber den Interessen des Konkurrenzschutzes der Agrarkantone (aber auch der Zünfte einzelner Städte wie Basel) entgegenlief. Drittens waren einzelne Kantone intern wenig integriert oder zerbrachen gar an internen Konflikten. In Basel zum Beispiel war die Stadt zu lange nicht bereit, ihre politische Vorherrschaft über die umliegenden Gebiete aufzugeben. Als ein Kompromiss über die Vertretung beider Teile im Parlament scheiterte, spalteten sich Stadt und Landschaft in zwei unabhängige Halbkantone.4

Die gesellschaftlichen Spaltungen zwischen Sprache, Religion, Zentrum-Peripherie sowie Stadt und Land finden sich zwar überall auf den historischen Landkarten Europas. Die Politologen Lipset und Rokkan (1967) haben auf ihre generelle Bedeutung für die modernen Staatsgründungen in ganz Europa hingewiesen. Die Frage lautet aber für uns: Warum haben die schweizerischen Kantone angesichts ihrer Spaltungen und ihrer divergierenden Interessen überhaupt zu einer Staatsgründung gefunden? Mindestens so wahrscheinlich wie die Bildung eines modernen Territorialstaats wäre gewesen, dass sich die Kantone in ihren gegenseitigen und internen Machtkämpfen blockiert hätten, um vielleicht eines Tages von der Landkarte zu verschwinden. Was also brachte die Kantone zu einem demokratischen Nationalstaat zusammen? Unserer Ansicht nach waren fünf Faktoren ausschlaggebend.

1. Ein grösserer Markt für die industrielle Wirtschaft

Mitte des 19. Jahrhunderts war bereits eine beachtliche Anzahl der Kantone industrialisiert. Die Nutzbarkeit der Wasserkraft entlang der Flüsse begünstigte eine dezentrale Industrialisierung bis in die Täler der Voralpen hinein. Die erste Eisenbahnstrecke wurde 1847 zwischen Baden und Zürich eröffnet. Die neuen Eliten, deren Macht und Ansehen nun weniger auf Familientraditionen beruhten als auf Kapital und geglückter unternehmerischer Initiative, sahen in den Kantonsgrenzen ein Hindernis für ihre ausgreifende Industriewirtschaft. Dem kam die neue Verfassung entgegen, indem sie versprach, Handelshemmnisse zu beseitigen und einen gesamtschweizerischen Binnenmarkt zu schaffen: Kantonale Zölle wurden aufgehoben, Masse und Gewichte vereinheitlicht, eine Landeswährung eingeführt und ein nationaler Postdienst gegründet. Zusätzlich hielt die Verfassung als Ziel die «gemeinsame Wohlfahrt» fest und garantierte gleiche Rechte sowie die Niederlassungsfreiheit für alle Schweizer Bürger. Dies alles diente dem privaten Handel und der Industrie, was den Historiker Martin (1926:265) zu folgender Aussage veranlasste: «Die Bundesverfassung ist nicht aus einer Idee, sondern aus einem Bedürfnis entstanden … Die wirtschaftliche Einheit ist in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Existenzbedingung für den Bund angesehen worden. Aus dieser Notwendigkeit ist die politische Einheit hervorgegangen, und diese hat zur Aufgabe gehabt, die wirtschaftliche Einheit zu schaffen.»5

2. Wachsender politischer Druck von aussen

An den Verhandlungen des Wiener Kongresses 1815 waren die Grossmächte bei der Suche nach stabilen Verhältnissen im nachrevolutionären Europa nicht unglücklich über eine neutrale Zone zwischen Österreich, Sardinien-Piemont und Frankreich. Damit wurde die aussenpolitische Neutralität des schweizerischen Staatenbundes, welche sich die Alten Orte seit 1648 zu ihrer Vertragspflicht gemacht hatten, zum ersten Mal von den grossen europäischen Mächten anerkannt. Zwischen 1815 und 1848 spürten die Kantone dennoch, dass sie den guten oder weniger guten Absichten der angrenzenden Länder ausgesetzt waren. Zwar war die territoriale Unabhängigkeit der Kantone nie in Gefahr, doch mischten sich die Grossmächte auf diplomatischer Ebene in innere Angelegenheiten ein. Der Sonderbund und die diplomatischen Versuche seiner Mitglieder, die Nachbarstaaten für ihre Zwecke zu gewinnen, wiesen aber auch auf die innere Zerbrechlichkeit des Staatenbunds hin. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kündigten sich für die Schweiz bedeutungsvolle Veränderungen in der Nachbarschaft an: Im Prozess der nationalen Einigung wurden die Königreiche Bayern, Baden und Württemberg Teile Deutschlands und Lombardei-Venetien sowie Sardinien-Piemont Teile Italiens. Was würde die Zukunft bringen, wenn sich die Nachbarn der Schweiz zu grossen Nationalstaaten wandelten, zu denen auch noch sprachliche Affinitäten bestanden? Dem gesteigerten Bedürfnis nach kollektiver Sicherheit der Kantone entsprach einzig ein Bundesstaat. Dessen Verfassung von 1848 nannte denn auch die gemeinsame Wahrung der Unabhängigkeit der Nation in «Einheit, Kraft und Ehre» gegen aussen sowie die Garantie von Ruhe und Ordnung im Innern als eines seiner Hauptziele und übertrug diese Aufgaben einer handlungsfähigen Behörde.

3. Die Kultur gegenseitiger Hilfe und Zusammenarbeit in der Kleingesellschaft

Die Schweizer hatten die moderne Demokratie nicht erfunden; ihre Ideen kamen vielmehr von aussen durch die Französische Revolution. Erst das Verfassungsdiktat der Helvetik hatte Vorrechte der Geburt beendet, individuelle Freiheitsrechte deklamiert und die Gewaltentrennung eingeführt. Auch die erste Erfahrung mit einer nationalen «Volkssouveränität» auf der Grundlage individueller politischer Rechte entstammt der Revolutionszeit: 1802 fand anlässlich der Genehmigung der Zweiten Helvetischen Verfassung die erste schweizerische Volksabstimmung statt (Kölz 1992:140). Von aussen stammt auch das Konzept der Verbindung von Föderalismus und Demokratie: Dafür standen die USA Modell.6

Monarchische, nicht republikanische Staatsformen waren im Europa des frühen 19. Jahrhunderts die Regel. Bei allen Ideen und Anleihen von aussen musste sich deshalb der schweizerische Demokratisierungsprozess auch auf eigene gesellschaftliche Strukturen stützen können, um Erfolg zu haben. Verschiedenste kulturelle und soziale Traditionen dürften den Weg dahin geebnet haben. Die jahrhundertealte Unabhängigkeit war den kleinen Kantonen zwar teuer. Aber für den Aufbau einer grösseren Verwaltung fehlten die Mittel. Die Kleingesellschaften der Kantone befriedigten darum viele ihrer Bedürfnisse auf der Grundlage gegenseitiger Hilfe und Selbstverwaltung. In ländlichen Gebieten wie etwa des Wallis gab es die Einrichtung des «Gemeinwerks»: Jeder Einwohner war verpflichtet, einige Tage oder Wochen des Jahres für gemeinsame Einrichtungen der Gemeinde zu arbeiten (Niederer 1956). Auch die lokalen Berufszweige – wie etwa das Handwerk in den Städten – waren in Selbstorganisationen eingebunden, die z. B. die Entscheide über die Marktordnungen gemeinsam fällten. Gegenseitige Abhängigkeit zwang so zur lokalen Zusammenarbeit. Selbstbindung zur Zusammenarbeit ermöglichte aber auch die Realisierung gemeinsamer Vorteile in der Kleingesellschaft (Barber 1974). Deren lokale Versammlungen waren vielfach an Eigentum oder berufliche Stellung geknüpft. Dem setzte das französische Revolutionsrecht das politische Bürgerrecht jedes Einzelnen gegenüber und erzwang damit eine Neuschaffung der Kantons- und Gemeindebürgerrechte. Dies bedeutete einen erheblichen Einschnitt in die alte Tradition lokaler Selbstverwaltung. Es kann aber auch als Beginn einer neuen Tradition lokaler Demokratie gesehen werden: Die kommunalen Primärversammlungen bildeten in der Helvetik das «institutionelle Fundament des neuen Staates» und bestimmten jährlich die Wahlmänner der kantonalen Behörden (Kölz 1992:112 f.). Noch heute ist eine Schweiz ohne (Einwohner-)Gemeinden nur schwer vorstellbar.

4. Die kantonale Demokratisierung

Auf diesem kulturellen Boden und im Sog der französischen Julirevolution (1830) setzte in den Kantonen eine politische Demokratisierungsbewegung ein, für welche Historiker den Begriff der «Regeneration» (1831–1848) geprägt haben. Ihre Wortführer kamen aus der neuen bürgerlichen Elite: vor allem Juristen, Ärzte, Lehrer, Industrielle und Kaufleute in den Landstädten der Mittellandkantone. In einer Vielzahl von Flugblättern und Petitionen an die Behörden der Hauptorte fassten sie ihre liberal-demokratischen Forderungen zusammen: Rechtsgleichheit, persönliche Freiheitsrechte, Volksbildung, Gewaltentrennung, Volkssouveränität im Sinne von repräsentativer Demokratie sowie die Bildung eines Bundesstaates. Die Bewegung wuchs schnell über den Kreis der Eliten hinaus und war erfolgreich. Im kleinen Kanton Thurgau etwa, der weniger als 80 000 Einwohner zählte, wurden in den Gemeinden über hundert Petitionen mit 3000 Vorstössen für eine demokratische Verfassung zusammengetragen und diskutiert (Soland 1980:69 ff.). Auch anderswo verfehlten die Aufrufe ihre Wirkung auf die Bevölkerung nicht, wie die grossen Volkstage zwischen Oktober 1830 und Januar 1831 zeigten. Das Volk erzwang die Wahl von Verfassungsräten, die sofort mit den Verfassungsrevisionen begannen. Im Sommer 1831 verfügten bereits zehn sogenannte liberale Kantone über neue Verfassungen.

Selbstverständlich ging es in dieser staatspolitischen Revolution auch um handfeste, wirtschaftliche Interessen. Kölz (1992:227 ff.) nennt drei verschiedene Gruppen als treibende Kräfte der Regeneration. Mit der Erlangung von Bildung und Besitz strebte erstens ein neues Bürgertum nach mehr politischem Einfluss und Zugang zu allen öffentlichen Ämtern. Es verlangte die Aufhebung des Zunftzwangs, Handels- und Gewerbefreiheit sowie die Verminderung von Zöllen und Gebühren. Die bäuerlichen, gewerblichen und ländlichen Schichten als zweite Kraft forderten vor allem die Beseitigung alter Zehnten und Grundlasten, die Aufhebung indirekter Steuern und Abgaben, die Einführung direkter Steuern (auf Einkommen und Vermögen), eine Reform des Hypothekarwesens, die Verkürzung des Militärdienstes, die Senkung des Salzpreises sowie die Verbesserung und Verstaatlichung des Armenwesens. Mit den letzten Forderungen waren auch soziale Fragen angeschnitten, von denen vor allem die industrielle Landbevölkerung betroffen war. Die liberalen Regimes sollten in der Folge allerdings wenig mit ihnen anfangen. Als dritte Gruppe nennt Kölz die aufgeklärten «Stadtliberalen» etwa Zürichs oder Berns, die nicht die Demokratisierung im Auge hatten, sondern vor allem staatspolitische Anliegen vertraten. Trotz der breiten Volksbewegungen bleibt es schwierig zu sagen, ob die liberale Bewegung eine soziale Revolution «von oben» oder «von unten» war. So meinen Masnata/Rubattel (1991:42 ff.) kritisch, dass die Demokratisierung die alten Machteliten nicht beseitigte, sondern dass sie, zusammen mit der Bundesverfassung von 1848, vor allem die politische Voraussetzung für eine ungehinderte Entfaltung des Industriekapitals geschaffen hätte.

Die erfolgreiche Demokratiebewegung in den Kantonen war aber in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Im Zeichen der Volkssouveränität realisierte sie – mit wenigen Einschränkungen – ein allgemeines Männerstimmrecht, wie es zu jener Zeit nur die USA kannten. Und während die amerikanischen Verfassungsväter die Risiken und Launen eines unberechenbaren «Demos» durch viele Regeln – etwa die Teilerneuerung des Senats und die «checks and balances» zwischen den staatlichen Gewalten – eindämmten, gingen die Kantone genau den umgekehrten Weg. Sie begnügten sich nicht mit der Rolle des Volks als Wahlkörper, sondern übertrugen ihm auch materielle Entscheidungsbefugnisse. In den Kantonen brachten das «Veto» und das Referendum die Anfänge der Abstimmungsdemokratie, die dem Volk eine direkte Nachkontrolle parlamentarischer Entscheidungen erlauben.

Die kantonale Demokratisierung begünstigte die Gründung des Nationalstaats. Denn zunächst waren die erfolgreichen liberal-demokratischen Kräfte zugleich Träger der Idee des Bundesstaats. Sodann erleichterte die Erfahrung kantonaler Demokratie die Übertragung des Demokratiekonzepts auf die nationale Ebene. Schliesslich war das allgemeine Stimm- und Wahlrecht in gewissem Sinn ein Ersatz für die noch fehlende schweizerische Gesellschaft: Es gab kaum etwas Gleiches zwischen Deutschschweizern, Romands und Tessinern oder zwischen Protestanten und Katholiken ausser dem demokratischen Recht auf politische Teilnahme, zuerst in den Kantonen und dann auch im neuen Staat. Das allgemeine Stimm- und Wahlrecht sowie die Volkssouveränität wurden dadurch zu den wohl wichtigsten symbolischen und realen Elementen, welche die abgekapselten Gesellschaften der Kantone miteinander verbanden und ihre politische Integration gestatteten.

5. Die Verbindung von Demokratie- und Föderalismusprinzip

Unsere letzte Behauptung, dass das Demokratieprinzip der nationalen Einigung förderlich war, stösst sofort auf einen zentralen Einwand: Wo bleibt der Einfluss der Minderheiten, wenn die einfache Mehrheit der Stimmen entscheidet? Die theoretische Antwort lautet: Auch die Beschlüsse einer Mehrheit sind nie endgültig. Die Minderheit darf versuchen, Entscheide neu zur Diskussion zu stellen. Zudem können sich die Mehrheitsverhältnisse im Parlament oder nach Wahlen ändern. Diese theoretische Antwort kann konfessionelle oder ethnische Gruppen als permanente Minderheiten freilich nicht befriedigen. Denn das Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition ist nur möglich bei der Änderung von Präferenzen, die der Bürgerschaft als Ganzem offenstehen. Die Interessen struktureller Minderheiten der Sprache, Kultur, des Geschlechts oder der Ethnie jedoch haben kaum eine Chance, durch veränderte Präferenzen mehrheitsfähig zu werden: Demokratie macht aus Deutschschweizern keine Romands und aus Protestanten keine Katholiken. Für die Interessen struktureller Minderheiten ändert sich darum das Mehrheitsverhältnis in einer Demokratie nicht. Umgekehrt kann es sich eine strukturelle Mehrheit leisten, Minderheiten systematisch zu übergehen. Eine Mehrheitsdemokratie kann also zu «ewigen» Machtverhältnissen und Diskriminierung führen. Genau dies waren die Befürchtungen der Minderheitskantone. Katholiken, Romands und Tessiner hatten Grund zur Annahme, dass sie in einem Nationalstaat unter deutschschweizerisch-freisinniger Hegemonie die ewigen Verlierer wären, ihre Bedürfnisse und Interessen systematisch benachteiligt blieben.

Ein zweites Problem: Auch die Freisinnigen waren keineswegs frei in der Errichtung des Bundesstaats. Denn auch für ihre Kantone bedeutete der Zentralstaat den Verzicht auf Teile eigener Autonomie. Die Zentralisierung konnte also nur so weit stattfinden, als plausibel gemacht werden konnte, dass die Vorteile der Zusammenarbeit im Bundesstaat die Nachteile des Verlustes eigener Autonomie überwogen. Die Antwort auf beide Probleme bestand in der Kombination von Demokratie- und Föderalismusprinzip. Dies beinhaltete zweierlei:7

1. Mitwirkung beim Bund als Ersatz für den Verlust kantonaler Souveränität: Die Verfassung gab den Kantonen die Möglichkeit, sich am Entscheidungsprozess auf nationaler Ebene zu beteiligen. Ähnlich dem amerikanischen Zweikammersystem wird der Nationalrat, dessen kantonale Sitzverteilung der Bevölkerungsgrösse entspricht, von einem Ständerat ergänzt, in dem die Kantone unabhängig von ihrer Grösse mit zwei Stimmen repräsentiert sind. Zudem reden die Kantone bei Verfassungsänderungen mit, da neben dem Volksmehr auch eine Mehrheit der Kantone zustimmen muss. In der Gesetz- wie in der Verfassungsgebung wird also die demokratische Entscheidungsregel «eine Person – eine Stimme» ergänzt durch die föderalistische Entscheidungsregel «ein Kanton – eine Stimme». Da bindende Entscheidungen nur durch Zustimmung beider Räte zustande kommen, wurde der Einfluss der kleinen (und das waren vornehmlich konservative) Kantone verstärkt.

2. Nichtzentralisierung: Die politische Heterogenität der Kantone setzte der Zentralisierung enge Grenzen. Dem Bund von 1848 wurden nur wenige Kompetenzen eingeräumt. Damit beliess das Verfassungsprojekt den Kantonen die meisten ihrer Aufgaben und eine grösstmögliche Autonomie. In allen Fragen, die den Kantonen vorbehalten blieben, waren weiterhin unterschiedliche Antworten gemäss den besonderen Präferenzen der jeweiligen kantonalen Mehrheiten möglich. Diese Nichtzentralisierung versprach den Fortbestand kulturell verschiedener Lebensstile und den Schutz der konfessionellen und sprachlichen Besonderheiten der Kantone. Sie bedeutete auch eine Konzession an die katholisch-konservative Minderheit. So enthielt das Verfassungsprojekt einen doppelten Kompromiss: einen Interessenausgleich zwischen Zentralisten und Bewahrern kantonaler Autonomie und einen Teilausgleich zwischen Freisinn und Katholisch-Konservativen. Beides erhöhte die Chancen einer Annahme in der ersten Volksabstimmung, die für die Gründung des Bundesstaats erforderlich war.

Kasten 2.2: Geschichtsmythen als schweizerische Erinnerungskultur