Schwester, bleibt mein Arm so? - Karla Brandt - E-Book
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Schwester, bleibt mein Arm so? E-Book

Karla Brandt

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Beschreibung

Die Wirklichkeit ist krasser – und lustiger! Auf der Intensivstation ist immer was los. Gut – es geht nicht immer um Leben und Tod. Manchmal geht es auch nur um die Frage, warum der Patient in Zimmer 7 im hinteren Teil eines Zebrakostüms angeliefert worden ist oder wie man zwei afghanischen Frauen mit Handzeichen erklärt, dass Tollkirschen nicht unbedingt das beste Mittel gegen Wechseljahrsbeschwerden sind. Karla Brandt beschreibt mit wachem Blick und liebevollem Humor den alltäglichen Wahnsinn auf der Intensivstation. Kurioses, Krasses und vor allem Komisches hat sie in den neun Jahren »auf Intensiv« erlebt, hat Menschen aus allen möglichen Kulturkreisen, Lebensabschnitten und Gehaltsklassen nackt gesehen, physisch wie psychisch. Ihre Einblicke in die »Parallelwelt Krankenhaus« sind mal urkomisch, mal tieftraurig, aber immer voller Scharfblick und Menschenliebe.

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Seitenzahl: 258

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Karla Brandt

Schwester, bleibt mein Arm so?

Geschichten von der Intensivstation

Originalausgabe

eBook 2015

DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 DuMont Buchverlag, Köln

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © Volker Kischkel, Bremen

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

Für Marcel und Fabienne.

Und fürMQ,

weil er so ein gutes Timing hat.

Einleitung — Warum ich Krankenschwester auf der Intensivstation wurde

Mit ausgebreiteten Armen läuft das fünfjährige Mädchen im Kreis um die kleinen Holzkreuze des Tierfriedhofs herum und schreit immer wieder: »Ich werde Feuerwehrmann!«

Ob ihr mal jemand sagen sollte, dass sie in diesem Leben kein Mann mehr wird? Zumindest nicht ohne immensen medizinischen Aufwand? Und dass man sich auf einem Friedhof gefälligst würdevoll benimmt, selbst wenn dort nur Distelfinken und Spitzmäuse ihre letzte Ruhe gefunden haben? Und warum sieht der kleine Lockenkopf eigentlich einen Zusammenhang zwischen Feuerwehrmann und Segelfliegen? Ja, ist denn hier kein Erziehungsberechtigter anwesend?

Das fünfjährige Mädchen bin ich. Gerade formuliere ich zum ersten Mal entschlossen einen Berufswunsch. Die Idee und Leidenschaft habe ich meinem großen Vorbild abgeguckt: Grisu, der kleine Drache – eine Zeichentrickfigur mit klaren Karrierevorstellungen.

Obwohl ich es mehrmals täglich laut und unmissverständlich zu verstehen gab – meine Eltern trauten meinem Feuerwehrmannplan nicht. Nicht nur, weil sie mich aufgrund von unschönen Szenen im Badezimmer für wasserscheu hielten. Die beiden Dickschädel hatten sich in den Kopf gesetzt, dass ich Tierärztin werden würde. Keine Ahnung, wie sie darauf kamen. Bei den Tieren, mit denen ich Umgang pflegte, gab es eindeutig nichts mehr zu verarzten. Beinahe täglich brachte ich tote Vögel und Mäuse und Igel mit nach Hause und beerdigte die niedlichen Kadaver in sorgsam bemalten Pappschachteln. Ich bastelte Mini-Kreuze aus Zweigen und steckte Gänseblümchen zu Grabkränzen zusammen und verwandelte so eine Ecke unseres Gartens in den Friedhof der Kuscheltiere. Alles deutete eigentlich darauf hin, dass ich einmal im Bestattungswesen tätig werden würde.

Doch schnelllebig sind die Schrullen der Kinderzeit. Vom Feuerwehrmann bzw. Bestatter sattelte ich um auf Polizist, von Polizist auf Delphintrainerin, und von da war es nur ein Katzensprung zur Meeresbiologin. Und schließlich fand ich mich unvermittelt mit etlichen anderen verhinderten Delphintrainerinnen und Meeresbiologen in einem Germanistikstudium wieder. Immerhin las ich gerne Romane. Abgesehen davon studierte ich nicht, weil ich einen klaren Plan für meine Zukunft hatte. Ich studierte, weil ich eben keinen klaren Plan hatte. Als planlos muss auch meine erste Hausarbeit eingestuft werden, in der ich so entschlossen wie ungefragt die These vertrat, dass Sprache aus dem Bedürfnis entstanden ist, Musik zu machen. Die Arbeit bekam ein unmusikalisches »befriedigend« und bald verstand ich, dass meine Meinungen und Leistungen an der Uni niemanden interessierten. Toll: Erst lassen sie dich dreizehn Klassen lang unliebsamen Quatsch auswendig lernen und treiben dir jedes persönliche Interesse aus und dann sollst du plötzlich aus eigenem Antrieb mit großer Leidenschaft deinem persönlichen Interesse folgen, ohne dass das so richtig kontrolliert wird.

Na ja, so eine gesellschaftskritische Betrachtung liest sich zumindest allemal besser als: Ich hatte den Kopf voll Kraut und Rüben, fand es schwierig meinen Studientag zu strukturieren und war ohnehin mehr damit beschäftigt, meinen Lebensunterhalt zu finanzieren und meine noch immer nicht ganz abgeschlossene Pubertät zu meistern.

In der Schule war ich in der Regel ohne aufwendiges Lernen ausgekommen. Die Hausaufgaben hatte ich, wenn überhaupt, oft kurz vor Unterrichtsbeginn oder in den Fünf-Minuten-Pausen vor dem jeweiligen Fach erledigt, also irgendwo abgeschrieben. Diese Kindereien ergaben im Studium keinen Sinn, und irgendwann sah ich es ein: In sauerstoffarmen Hörsälen emotionsgebremsten Nicht-Pädagogen dabei zuzuhören, wie sie aus jahrzehntealten Manuskripten über den regelhaften Lautwandel im Bereich des Konsonantismus vorlasen – das fetzte für mich nicht so richtig. Nach drei Semestern mutierte ich zur Karteileiche und nach fünf ließ ich mich exmatrikulieren.

Aber wie sollte es jetzt weitergehen? Konnte ich nicht noch schnell eine berühmte Sängerin oder Schauspielerin werden und dann mit siebenundzwanzig unter tragischen und nie ganz geklärten Umständen abdanken? Das hätte Glamour gehabt, und ich wäre in den Club siebenundzwanzig eingetreten, in dem Größen wie Janis Joplin, Jim Morrison oder Amy Winehouse Mitglieder sind. Andererseits war diese Idee totaler Schwachsinn. Nur weil man mal vorübergehend nicht weiß, was man mit seinem Leben anfangen soll, muss man es ja nicht gleich frühzeitig beenden. Schließlich gab es eine enorm attraktive Alternative zu rauschhaften Rockkonzerten, Blitzlichtgewittern, wilden Partys, Luxuslimousinen, zerstörten Hotelzimmern und einem Abgang als junge Göttin: einfach mal ein Praktikum machen. Also versuchte ich mich in verschiedenen Praktika: Kindergärtnerin – jubelnde Massen und immerhin was mit Menschen, Tontechnikerin – da hallte der Rockstarwunsch noch leise nach, Schreinerin – jetzt mal was mit Holz, PR-Beraterin – was mit Hochglanzbroschüren und wunderschönen Floskeln. Während dieser verschiedenen Tätigkeiten wurde mir klar: Ich wollte einen Beruf, den ich als sinnvoll empfand, der mich herausforderte und bei dem ich in einem Team arbeiten konnte. Ich wollte keinen Beruf, der mich dazu nötigte, stundenlang auf zu kleinen Stühlen zu hocken und mit schrill quiekenden Zwergen Lieder über zehn Finger oder die Puthenne Widewidewenne zu singen. Ich wollte auch nicht den ganzen Tag in schallisolierten Kabinen sitzen und fünfzigmal die gleichen zehn Sekunden Gangster-Rap eines hübsch frisierten Teenagers aus dem Villenviertel hören, dem die Eltern zum Geburtstag eine CD-Aufnahme geschenkt haben. Und erst recht wollte ich mich nicht mutterseelenallein an einer Drechselmaschine verstümmeln oder potentiellen Kunden erklären, wie sie beim Bescheißen ihrer eigenen Kunden glitzern und glänzen, während ich versuche, beim Bescheißen dieser potentiellen Kunden zu glitzern und zu glänzen.

Während meiner Praktika-Serie wohnte ich in einer Zweck-WG, die aus vier Zimmern und einem winzigen Bad bestand. Jedes Zimmer hatte ein Waschbecken und einen Kühlschrank und wurde einzeln vermietet. Mit diesem gewitzten Kniff kam der Vermieter vermutlich zu höheren Einnahmen und erzeugte für uns Bewohner das interessante Gefühl, in einem Motel zu wohnen, und zwar in einem von der Sorte, wie wir sie aus skandinavischen Arthouse-Dramen und amerikanischen Psychothrillern kennen.

Menschen kamen und gingen. Manche grunzten mir nur einmal im Zwielicht des Flurs ihren Namen zu und zogen ein paar Wochen später schon wieder aus. Inmitten des undurchsichtigen Kommens und Gehens gehörte ich bald mit anderthalb Jahren Verweildauer zu den Alteingesessenen. Immer wieder nahm ich mir vor, mich nach einer behaglicheren Unterkunft umzusehen, doch das Psycho-Motel entzog mir zunehmend die Energie. Je mehr mir die Bude zum Hals raushing, desto weniger fand ich die Kraft, ihr den Rücken zu kehren. Ein Teufelskreis, der allerdings sein Gutes hatte. Eines Tages stand nämlich Michael in abgeschabter Lederkombi und mit schwarzem Motorradhelm unter dem Arm vor der Wohnungstür. Seine große Nase war vom Fahrtwind gerötet und ragte über ein Grinsen, das vom Freundlichen schon fast ins Unverschämte spielte. Ich ahnte: Das war endlich ein Mitbewohner nach meinem Geschmack. Und ich behielt recht.

Michael und ich gründeten mitten im Psycho-Motel eine echte Wohngemeinschaft. Ich freute mich, wenn er an meiner Tür klopfte und fragte, ob ich was von seiner Reispfanne haben wollte, selbst wenn ich sie dann erst noch für uns kochen musste. Wir erzählten uns Geschichten, schmiedeten Pläne und sangen. Einmal dichteten wir ein Lied für die unter uns wohnende Nachbarin. Frau Brück klopfte bei jeder Gelegenheit mit dem Besenstiel an die Decke, zum Beispiel sobald man auch nur einen Akkord auf der Gitarre spielte. Das Lied begann so:

Hallo, wie ich hörte, mögen Sie Musik

Und so schrieb ich nur für Sie dieses kleine Lied.

Ich weiß nicht, wie Sie ausseh’n,

doch wie Ihr Besen klingt,

und der groovt echt einmalig und klopft lässig und beschwingt.

Wir machten aber nicht nur Quatsch und Musik, sondern führten auch Gespräche über unsere Lebensplanungen – ein wiederkehrendes Thema im wenig konkreten Konjunktiv. Bis dann eines Tages Michael einen Entschluss getroffen hatte: »Ich werde Krankenschwester!«

Kurz darauf manifestierten sich in seinem kleinen Zimmer Anatomie-Poster und medizinische Fachbücher voller Kurzbeschreibungen von Krankheitsbildern und chirurgischen Behandlungsmethoden. Das fand ich mindestens so spannend wie die toten Vögel aus seligen Kindertagen, für die mein Interesse mittlerweile merklich abgeflaut war.

Michael erzählte mir von den Erlebnissen in seiner Ausbildung, zum Beispiel von einer folgenschweren Entscheidung der Krankenhaus-Verwaltung. Mit dem eisernen Vorsatz, dem Krankenhaus ein moderneres Flair zu geben und den Pflegekräften Arbeitserleichterung zu verschaffen, wurden neumodische, vollelektrische Patientenbetten gekauft, gleich fünfzehn Stück. Große Freude, als die prächtigen Betten angeliefert wurden. Böse Vorahnung, als sich rausstellte, dass sie zehn Zentimeter breiter waren als die alten, mechanischen Modelle. Niederschmetternde Ernüchterung, als die verflixten Dinger trotz wütendem Quetschen nicht in die Aufzüge passten. So wurde das Erdgeschoss zum Bettenlager und Michael räsonierte über einen großen Räumungsverkauf, der sein karges Gehalt aufbessern sollte.

Oder die Geschichte von der fünfundvierzigjährigen karnevalsbegeisterten Krebspatientin, die ihren letzten Rosenmontag auf Michaels Station verbrachte. Als der Chefarzt zur Visite kam, lag sie als Nonne verkleidet in ihrem Bett. Das verwirrte Ärzteteam blätterte in den Akten. Die Rheinländerin strahlte übers ganze Gesicht. Mit leuchtenden Augen segnete sie die Ärzte und wollte den Stationsarzt »bützen«, was im Rheinland »küssen« heißt und in der Karnevalszeit unter Brauchtumspflege fällt. Eine Woche später starb sie.

Es waren die abwechslungsreichen Geschichten – mal lustig, mal traurig, mal spannend, mal grotesk –, die mir ein Leben als Krankenschwester immer interessanter erscheinen ließen. Und ja, ich gebe zu, ich habe eine »soziale Ader« oder wie man diese für Krankenschwestern nicht untypische Mischung aus echter Empathie und Selbstablenkungsmanöver auch immer nennen mag. Wer Grabkränze für zermatschte Blaumeisen bindet, der hilft nachher auch ehrenamtlich bei der Hausaufgabenbetreuung, wird Klassensprecherin und sagt irgendwann nach drei Gläsern Rotwein ganz ernst zu seinem Mitbewohner: »Nee, ich habe keinerlei Berührungsängste, nur weil ein Mensch gehörlos, blind, spastisch gelähmt oder sonst irgendwie anders ist. Ich bin ja selbst anders. Alle sind ja irgendwie anders als alle anderen.«

Mein nächstes Praktikum machte ich also auf einer urologischen Station. So konnte ich direkt feststellen, ob ich mich in meinem zukünftigen Beruf nicht doch zu sehr schämen, ekeln oder überfordert fühlen würde. Als ich zum allerersten Mal die Station betrat, sah ich einen ungepflegt wirkenden, grauhaarigen Mann mit nikotingelbem Schnurrbart in grüner Kleidung und mit ebenso grünen Gummistiefeln aus einer Tür herauskommen und in den Flur staksen. Müde schlurfte er davon, ohne mich zu beachten. Gruselig – ein Verrückter! Vielleicht handelte es sich um einen Patienten, der nicht nur untenrum Probleme hatte; vielleicht auch um einen übergeschnappten Gärtner, der mit drei Ave Maria und irrem Gelächter die etwas schlapp wirkenden Grünpflanzen im Flur aufpäppeln wollte.

Ein paar Minuten später wurde ich der Erscheinung vorgestellt: Herr Doktor Prössel, der Oberarzt persönlich. Nun gut, dachte ich, manche Uni-Professoren hatten auch ausgesehen wie Wahnsinnige, doch warum trägt der Mann Gummistiefel? Waren die Dinger das kauzig-modische Accessoire eines ergrauten Hipsters oder … Meine Phantasie bescherte mir einige unschöne Bilder.

Heute weiß ich: Gummistiefel sind in einem urologischen OP eine durchaus pragmatische Wahl. Literweise blutig gefärbte Spüllösungen aus Urinkatheter-Beuteln ablassen. Kleine Kompressenschleifchen an eben einem solchen Katheter anbringen, der aus der Harnröhre eines Siebzigjährigen ragt, damit er sich nicht die Eichel wundscheuert. Einer Fünfundsechzigährigen von kompaktem Format bei der Körperpflege helfen, wobei die Dame aufgrund eines Antibiotikums einen raumgreifenden Genitalpilz und obendrein Durchfall hat – all das hätte eigentlich reichen müssen, um mich doch noch auf Bürokauffrau oder E-Plus-Beraterin umschwenken zu lassen.

Niemand, der noch alle Murmeln im Beutel hat, reißt sich darum, Scheiße von Hintern in den unterschiedlichsten Stadien des Verfalls zu wischen oder röchelnden Greisen Katheter in die Harnröhre zu schieben. Aber – und das kann vermutlich nur nachvollziehen, wer auf diese Weise gearbeitet hat – der Kontakt mit dem prallen Leben, gerade auch in seinen weniger glamourösen Formen, hat etwas Erfüllendes. Der Umgang mit Menschen, die wirklich Hilfe brauchen, schüttet bei mir erfrischende Endorphine aus. Soll ich hingegen »potentiellen Kunden« einen neuen Mobilfunkvertrag andrehen, fühle ich mich nach wenigen Stunden einfach nur ausgelaugt. Es ist ein großer Unterschied, ob man sich zum Feierabend erschöpft und zufrieden oder verbraucht und leer fühlt.

In den wenigen Wochen auf der Urologie sah ich die unterschiedlichsten Leute. Herr Kühn beschwerte sich wortreich über das Schnarchen seines Zimmernachbarn Herrn Totte und sägte dabei selbst noch viel derber.

Herr Totte wollte, dass ich ihm die weißen Fädchen von einer Mittags-Mandarine zupfte, angeblich, weil seine Hände zitterten. Beim hilfsbereiten Zupfen merkte ich, dass der alte Mann selig auf meinen Busen starrte.

Herr Grabow bedankte sich mit Tränen in den Augen, weil wir uns so »toll um ihn kümmern« würden; am liebsten würde er für immer bei uns bleiben. Als er seine Lobeshymne zum dritten Mal wiederholte, dachte ich, dass mich der alte Silberfuchs nach Strich und Faden verarschte. Erst später verstand ich, dass man ihm einen Nierenstein entfernt hatte und er zum ersten Mal seit Jahren einen Tag ohne Schmerzen erlebte.

Abgesehen von den unterschiedlichsten lebenden Exemplaren der menschlichen Spezies sah ich im Praktikum auch meinen ersten Toten. Ich hatte bei einer Dienstbesprechung nicht richtig zugehört und marschierte deshalb an einem sonnigen Montagmorgen gut gelaunt ins Zimmer 121. Ich wunderte mich etwas, weil nur noch ein Bett im Zimmer stand, rief ein aufmunterndes »Guten Morgen, Herr Pohl« und stellte das Frühstückstablett ab.

»Na«, sagte ich, etwas verblüfft darüber, dass sich der Greis nicht rührte, »dann lassen wir erst mal etwas Sonne rein!« Ich ging zum Fenster, zog den Vorhang zur Seite und hatte den Eindruck, dass dieses Aufziehen des Vorhangs sehr laut klang, weil es im Zimmer sehr, sehr leise war.

Es fällt einem nicht auf, wie viele Geräusche ein Mensch selbst dann macht, wenn er einfach nur ruhig in seinem Bett liegt. Aber man bemerkt sofort, wie still es ist, wenn diese Geräusche fehlen. Kein Atmen, kein Magengrummeln, kein Schlucken. Vielleicht auch das Fehlen der Geräusche, die eigentlich nicht zu hören sind: das Rauschen des Blutes, das Klopfen des Herzens. Ich hielt inne und lauschte und hörte überlaut nichts.

»Herr Pohl?«, fragte ich etwas zaghafter. Dann ging ich an sein Bett und besah mir den Patienten. Blass war er ja schon immer gewesen, aber jetzt spielte seine Hautfarbe in ein überirdisches Weiß. Auch hatten sich seine Gesichtszüge verändert: Ruhig, würdevoll, wie in Stein gemeißelt. Vor Schreck stellte ich eine saudumme Frage: »Herr Pohl, sind Sie tot?«

Hätte man mir ein Jahr vor dem Praktikum gesagt, dass ich, anstatt um 4.45Uhr ins Bett zu torkeln, mich bald um 4.45Uhr aus dem Bett wuchten würde, um dann ab 6.00Uhr auf das Wohl und Weh mir völlig fremder Menschen zu achten – ich hätte gelacht. Jetzt lachte ich stattdessen mit den Krankenschwestern der urologischen Abteilung.

Es handelte sich tatsächlich nur um Schwestern, Krankenbrüder gab es auf der urologischen Station nicht. Auch auf der gynäkologischen Station arbeiteten in der Pflege nur Frauen und es gab auch eine Begründung dafür: Manchen Patientinnen wären männliche Pfleger sicher unangenehm. Auf der urologischen Station lagen zu 85Prozent Männer, denen ein reines Frauenteam offensichtlich nicht unangenehm war. Vermutlich hätten viele es »schwul« gefunden, sich von einem Mann anfassen zu lassen, während aus der Gynäkologie nichts von etwaigen Lesbenängsten zu hören war. Um sich in dieser verwirrenden Logik zurechtzufinden, ist es hilfreich, einen klaren Standpunkt zu formulieren: Im Intimbereich rumfummeln ist seit der Steinzeit Frauensache. Das ist wie mit dem Putzen: Mit unseren zarten und kleinen Händen kommen wir einfach besser in die entlegenen Ecken. Und wer hat uns im Kleinkindalter Pillermann oder Mumu gewaschen? Eben – die Mutti!

Zumindest hatte ich meine Freude mit den Mädels. Sogar die grundmürrische Sabine zeigte die Vorstufe eines Lächelns, als ich ihr das Buch Warum Katzen malen in die Hand drückte. Bei den anderen stellte sich der Frohsinn in der Regel auch ohne solche Maßnahmen ein. Ernsthaft: Das Team dieser urologischen Station war mein Glück, denn es erleichterte mir meine Entscheidung. Ich stand kurz davor, mit ausgebreiteten Armen im Zimmer meines Mitbewohners im Kreis zu laufen und zu rufen: »Ich werde Krankenschwester!« Aber ich war ja keine fünf mehr, sondern vierundzwanzig. Also begnügte ich mich damit, es ihm mehrmals am Tag ins Ohr zu brüllen.

Kurz darauf bewarb ich mich um eine Ausbildungsstelle an einem Krankenhaus in meiner Stadt. Als ich zum Vorstellungsgespräch kam, hatte die Frau, die vor mir saß, die gleiche Weste an wie ich. Während ich noch überlegte, ob sich das nun gut oder schlecht auswirken würde, fragte ihre Kollegin munter drauflos: »Warum wollen Sie Krankenschwester werden? – Sie haben ja bisher nichts zu Ende gemacht, meinen Sie denn, diese Ausbildung halten Sie durch? – Sie sind ja deutlich älter als Ihre Mitbewerberinnen, warum finden sie erst jetzt zu uns?«

Ich antwortete ehrlich. Die zweite Hälfte des Bewerbungsgesprächs drehte sich dann erstaunlich ausführlich um meinen sechsmonatigen Australienaufenthalt, den ich nach dem Abitur gemacht hatte. Die Frau mit der Weste war auch einmal ein halbes Jahr in Australien gewesen. Keine zwei Wochen später bekam ich die Zusage.

1Panflöten und Monsterkinder — Die Ausbildung zur Krankenschwester

Ich liege in einem gut geheizten Raum auf einer brombeerfarbenen Isomatte und starre an eine schräge Nut- und Federwand. Das Haus, in dem sich dieser Raum befindet, heißt Sankt Florian und sieht auch so aus, als ob es einen Schutzheiligen gegen Feuer gebrauchen könnte: es besteht zu großen Teilen aus Holz. Um mich herum liegen noch zwanzig andere Personen. Sie wirken allesamt entspannter als ich. Selbst die drei nah beieinanderliegenden siebenzehnjährigen Mädchen haben aufgehört zu flüstern und zu kichern. Ich linse zu ihnen herüber: Glatte, süße Gesichter. Geschlossene Augen. Warum muss ich ausgerechnet jetzt an Sarah-Kay-Bildchen denken? Und was zur Hölle mache ich hier eigentlich? Ach ja, ich werde Krankenschwester und das hier ist das Ethikseminar, im Moment zum Thema Empathie.

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