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Ich bin Krankenschwester. Laut Fernsehprogramm organisiere ich also das Privatleben meiner Patienten, indem ich in meiner Freizeit ihre Kinder vom Drogenmissbrauch abhalte oder ihre zerrüttete Ehe rette. Des Weiteren habe ich eine Affäre mit meinem gut aussehenden Oberarzt, der sich aus Liebe zu mir seit Neuestem die Augenbrauen zupft. Ich arbeite gleichzeitig im OP, auf Intensivstation und im Kreißsaal und die Mitarbeiter des Krankenhauses sind wie eine große, glückliche Familie. Mein Dasein ist erfüllt, ich bin immer gut gelaunt und ohne mich würde die ganze Klinik zusammenbrechen. Bis auf die Tatsache, dass der Einzelne (mich eingeschlossen) gerne denkt, dass ohne ihn alles im Chaos versinken würde, stimmt nichts davon. In Wahrheit sind Krankenschwestern gereizt oder genervt und sie interessieren sich mehr für das Paarungsverhalten von Bettpfannen, als für das Privatleben ihrer Patienten. Und als Krönung bin ich auch noch Single.
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Seitenzahl: 209
Veröffentlichungsjahr: 2018
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„Ich habe dich schon immer geliebt!“
Selig sinkt die blonde Schönheit in die starken Arme ihres attraktiven Gegenübers. Er drückt sie zärtlich an sich und küsst sanft ihre Schläfen, bevor die Zwei sich auf ein weißes Pferd schwingen und in den Sonnenuntergang reiten können, tue ich das einzig Richtige:
Ich schalte den Fernseher aus.
Wer schreibt solche Drehbücher? Und welcher Regisseur kommt auf die Idee, dass irgend jemand so etwas Unrealistisches sehen will? Zumindest meine Realität unterscheidet sich grundlegend von solchen Seifenopern, was unter anderem daran liegen könnte, dass ich zwar blond, aber keine Schönheit bin. Da wo ich lebe, sind Sonnenuntergänge in der Regel verregnet und Pferde wurden bereits vor Jahrzehnten von umweltfeindlichen und praktischen Fortbewegungsmitteln abgelöst.
Überhaupt wird es Sie wahrscheinlich nicht überraschen, wenn ich Ihnen mitteile, dass ich schon häufiger feststellen durfte, wie weit die Welt des Fernsehens und das wahre Leben auseinander liegen. Und glauben Sie mir, ich kann das wirklich beurteilen.
Ich bin nämlich Krankenschwester!
Laut Fernsehprogramm organisiere ich also das Privatleben meiner Patienten, indem ich in meiner Freizeit ihre Kinder vom Drogenmissbrauch abhalte oder ihre zerrüttete Ehe rette. Des Weiteren habe ich eine Affäre mit meinem gut aussehenden Oberarzt, der sich aus Liebe zu mir seit Neuestem die Augenbrauen zupft. Ich arbeite gleichzeitig im OP, auf Intensivstation und im Kreißsaal und die Mitarbeiter des Krankenhauses sind wie eine große, glückliche Familie.
Mein Dasein ist erfüllt, ich bin immer gut gelaunt und ohne mich würde die ganze Klinik zusammenbrechen.
Bis auf die Tatsache, dass der Einzelne (mich eingeschlossen) gerne denkt, dass ohne ihn alles im Chaos versinken würde, stimmt nichts davon. In Wahrheit sind Krankenschwestern gereizt oder genervt und sie interessieren sich mehr für das Paarungsverhalten von Bettpfannen, als für das Privatleben ihrer Patienten.
Natürlich ist mir klar, dass eine realistische Verfilmung des wirklichen Krankenhausalltags entweder eine traumatische oder einschläfernde Wirkung auf den Zuschauer hätte. Oder würden Sie einen zehnminütigen Werbeblock über sich ergehen lassen, um unter keinen Umständen zu verpassen, wie Doktor Müller eine Pulskontrolle durchführt, um herauszufinden, ob selbiger rhythmisch ist? Oder wollen Sie wirklich wissen, wie unvorteilhaft auch die schönste Frau auf dem OP-Tisch aussieht? Erschwerend hinzu kommt, dass der durchschnittliche Mediziner sterbenslangweilig ist und nicht mal weiß, dass man das Gestrüpp oberhalb der Augen mittels einer Pinzette zurechtstutzen kann.
Die Besetzung der Hauptcharaktere müsste man also grundsätzlich überdenken. Tatsächlich gibt es nämlich kein geltendes Gesetz, das besagt, dass ein Arzt einem gewissen äußeren Standard entsprechen muss. Diese Erkenntnis hat mich persönlich sehr überrascht und ich habe kurzfristig überlegt, diverse Fernsehsender zu verklagen. Leider bin ich nicht rechtschutzversichert. Ein Zustand, den ich unbedingt beheben muss, weil ich immer häufiger das intensive Verlangen verspüre, die halbe Welt auf die Anklagebank zu zitieren. Das fängt schon beim Postboten an, der mir zu viele Rechnungen und zu wenig private Briefe aushändigt.
Leider ahnte ich unmittelbar nach dem Abitur noch nichts von meinem Juristenherz, sonst hätte ich zweifelsohne eine andere berufliche Laufbahn eingeschlagen. Ich gebe zwar gerne zu, dass die Rechtswissenschaft ein eher trockenes Gebiet ist, aber das BGB auswendig zu lernen, ist bestimmt einfacher, als im Krankenhaus einen Mann zu finden. Außerdem, liebe Drehbuchautoren, wer sagt denn bitte, dass es das erklärte Lebensziel einer jeden Krankenschwester ist, Arztgattin zu werden? Wer will schon mit jemandem verheiratet sein, der von einem verlangen kann, dass man wildfremden Menschen Einläufe verabreicht? Beziehungen am Arbeitsplatz sind in jeder Branche höchst kompliziert und der einzige Vorteil ist, dass man mit Sicherheit weiß, dass der andere einen Job hat.
So verzweifelt, dass ich mich von einem Mediziner zum Traualtar schleppen lasse, bin ich also noch nicht, auch wenn es mir an potentiellen Ehemännern jeglicher Berufsgruppen mangelt. Genau genommen gibt es nicht mal das kleinste bisschen Mann in meinem Leben. Mit anderen Worten, ich bin Single. Ein durchaus glückliches Exemplar dieser Gattung.
Das habe ich mir zumindest in jahrelanger Kleinarbeit erfolgreich eingeredet und meistens glaube ich das auch. Ich gehöre zwar nicht zu den Superfrauen, die Zündkerzen wechseln oder Parkett verlegen können, aber mit einer 25 Watt-Glühbirne nehme ich es mit Bravour alleine auf!
Nachdem ich entdeckt habe, dass man mit Alleskleber wirklich ALLES kleben kann, ist mein Leben sehr viel leichter geworden.
Darüber hinaus bin ich stolzer Besitzer eines großen Freundeskreises und einer netten, vorzeigbaren Familie. Meine Kindheit kann man durchaus als unbeschwert bezeichnen. Ich wurde nie an einer Autobahnraststätte vergessen und musste auf keiner „stillen Treppe“ über mein Verhalten nachdenken. Meine kleine Schwester hat zwar einmal versucht, mich gegen ein Puppenhaus einzutauschen, aber da der Deal nicht zustande kam, kann man auch hier nicht von einem ernsthaften Kindheitstrauma sprechen.
Abgesehen davon, dass ich als Kind kein Pony haben durfte, werfe ich meinen Eltern eigentlich nur vor, dass sie mich zu spät, nämlich im letzten Jahrhundert, gezeugt haben. In meiner Phantasie hätte ich nämlich eine exzellente, feine Dame des Mittelalters abgegeben. Ich wäre stolze Mutter von fünf niedlichen Kindern und mein Mann, der edle Ritter Kunibert, würde für das Wohl von Frau, Nachwuchs und Königreich kämpfen. Ich bin fest davon überzeugt, dass es damals viel leichter war, den passenden Mann zu finden, was wohl daran liegt, dass man schon versprochen war, bevor man laufen konnte.
Das Ganze hat natürlich auch eine Kehrseite: Mit meinen 28 Jahren wäre ich im Mittelalter schon eine alte, zahnlose Frau und Kunibert würde sich mit der schönen Küchenmagd vergnügen. Abgesehen davon gab es damals weder Kaffee noch Einkaufsmeilen und das sind eindeutige Argumente für das 21. Jahrhundert!
Mein engerer Freundeskreis besteht aus vier Mädels, die alle in ausgefüllten Beziehungen leben. Vier Pärchen bedeuten acht eklig zufriedene, ausgeglichene Personen, die mir regelmäßig demonstrieren, wie schön das Leben zu zweit sein kann. Aber damit nicht genug: Meine Schwester ist gerade aus der elterlichen Wohnung aus- und bei ihrem Liebsten eingezogen. Meine Nachbarin lässt, den dünnen Wänden sei Dank, keine Zweifel an ihrem turbulenten Sexleben aufkommen und im Kollegenkreis sind alle glücklich liiert. Sogar unser Zivi, der weniger IQ, als ein verbranntes Toastbrot hat und mit seinen fettigen Haaren eher als schwer vermittelbar gilt, hat eine Freundin. Natürlich bin ich froh, dass ich meine Lieben gut aufgehoben weiß, aber spätestens bei meinem Ex-Freund hat die Großherzigkeit ein Ende! Daniel ist mit seiner jetzigen Schnecke länger zusammen, als von mir getrennt. Mit den Worten: „Baby, da müssen wir jetzt durch“, beendete er unsere zweijährige Beziehung. Während seine Klamotten dramatisch aus dem Fenster flogen, hörte ich endgültig auf, an Gerechtigkeit zu glauben.
In meinem gesamten Umfeld befinden sich also Menschen, die in harmonischen, erfüllten Partnerschaften leben und ich bin die Einzige, die aus der Reihe tanzt.
Das setzt mich echt unter Leistungsdruck und nicht selten muss ich mir die Frage gefallen lassen, ob ich nicht einfach zu wählerisch sei. Eigentlich eine Unverschämtheit, denn meiner Meinung nach ist meine Anspruchshaltung eher gering.
Oder ist es wirklich zu viel verlangt, dass ich von meinem Zukünftigen erwarte, dass er lesen kann und weiß, dass Europa kein Land, sondern ein Kontinent ist? Oder dass ihm bekannt ist, wie man Besteck benutzt und dass eine Frau niemals genug Handtaschen besitzt? Dass jemand mit Anfang 30 nicht mehr bei seiner Mutter wohnt und einer geregelten, legalen Arbeit nachgeht? Ich will ja nicht überheblich erscheinen, aber mit weniger kann ich mich beim besten Willen nicht zufriedengeben.
Kommen wir zu der oberflächlichen Beschreibung meiner Person.
Mein äußeres Erscheinungsbild ist zwar nicht außergewöhnlich, aber zumindest errege ich kein Mitleid. Soweit mir bekannt ist, sind meine Organe und Gliedmaßen vollständig und mein Geisteszustand reicht aus, um ohne gesetzlichen Betreuer leben zu dürfen.
Hätte ich bei meiner Entstehung ein Mitspracherecht gehabt, könnte ich mich Ihnen nun als dunkelhäutig, langbeinig und exotisch beschreiben. Aber so ist es ja immer, wenn man Locken hat, will man glatte Haare, kleine Menschen wären gerne groß und Modells würden gerne etwas hässlicher sein, damit man ihre inneren Werte mehr beachtet. Nee, is völlig klar!
Ich dagegen besitze so viele Problemzonen, dass meine Umwelt durchaus meinen Charakter wahrnimmt. Meine zu kurzen Beine täuschen nicht über mein zwanghaftes Verhalten hinweg und kein wallendes Haar lenkt von der mangelnden Allgemeinbildung in Puncto Politik ab. Erschwerend hinzu kommt, dass sich an meinen Hüften und Oberschenkeln glückliche Fettmoleküle eingenistet haben, die sich, auch durch intensive Gewaltandrohungen, nicht verscheuchen lassen. Ich bleibe meinen Mitmenschen also nicht als die große, kluge Frau mit Superfigur in Erinnerung, sondern eher als die kleine, blonde Krankenschwester, die lustigerweise genauso heißt wie die Fernsehfigur. Na ja, es hätte schlimmer kommen können! Immerhin bin ich nicht nach der Stadt benannt worden, in der ich gezeugt wurde oder nach einer kalorienarmen Obstsorte!
Das einzig Besondere an mir sind meine blauen Augen, auf die ich sehr stolz bin, obwohl ich sie natürlich nicht selbst kreiert habe. Man sagt ja, die Augen seien der Spiegel zur Seele und das ist der Grund, warum ich niemals die Netzhaut meiner Augen spenden würde. Ich fände es nicht schlimm, wenn jemand im Falle meines dramatischen Ablebens Verwendung für meine angegriffene Leber oder mein geschundenes Herz hätte, aber die Vorstellung, dass ein anderer Mensch mit meinen Augen flirtet (und das sicher erfolgreicher als ich es vermag), passt mir gar nicht! Glücklicherweise steht die Aufteilung meiner Eingeweide zurzeit nicht zur Debatte.
Laut der Kontaktanzeige, die ich vor einem halben Jahr auf intensives Drängen meiner Freunde geschaltet habe, bin ich witzig, warmherzig und hilfsbereit. Es gab zwar eine große Diskussion über die Frage, wie ehrlich so eine Anzeige sein sollte, aber ich konnte mich erfolgreich gegen die Mehrheit durchsetzen. Wer schreibt schon einer Person, die sich mit Eigenschaften wie zickig, kaufsüchtig und neurotisch brüstet? Außer einer Serie furchtbarer Dates und Hausverbot in meinem Lieblingseinrichtungsladen hat diese Aktion übrigens nichts gebracht, aber dazu später.
Auch wenn ich im Großen und Ganzen mit meinem Leben zufrieden bin, vermisse ich dennoch den verständnisvollen Partner an meiner Seite, der mich in den Arm nimmt, wenn wieder alle gemein zu mir sind oder meine Favoritin bei Popstars rausfliegt. Leider steht nirgendwo geschrieben, dass das Leben verpflichtet ist, fair zu sein und jedem Menschen das gleiche Maß an Beziehungsidylle zusteht. Wenn dem so wäre, würde ich als Erste bei der zuständigen Behörde aufkreuzen, um mir dort mein rechtmäßiges Liebesglück einzufordern. Die hilfsbereite Sachbearbeiterin würde sich dann überschwänglich für die fehlerhafte Bearbeitung entschuldigen, das Missverständnis beheben und ich würde großzügig davon absehen, sie zu verklagen.
Aber alles Jammern hilft nicht und kluge Menschen behaupten ja immer, man soll nicht krampfhaft nach der Liebe suchen und das große Glück würde sich schon von ganz alleine einstellen. Also habe ich aufgehört, jeden Mann, der mir begegnet, auf seine Beziehungstauglichkeit abzuchecken.
Zumindest versuche ich das.
Abgesehen davon, habe ich im Moment sowieso keine Zeit dafür. Ich stecke nämlich mitten in den Hochzeitsvorbereitungen! Naheliegenderweise heirate ich nicht selber, sondern meine beste Freundin Nina. Die, die noch vor vier Jahren steif und fest behauptet hat, dass sie niemals heiraten werde, weil die Herren der Schöpfung doch eh alle gleich, böse und gemein seien! Sie vertrat die Ansicht, dass nur gefesselte Männer vertrauenswürdig und dies auch die einzige artgerechte Haltung sei.
Wahrscheinlich ist sie entführt und einer Gehirnwäsche unterzogen worden, denn sie hat ihre Meinung grundlegend geändert. Nina ist das genaue Gegenteil von mir. Wenn man davon absieht, dass sie auch unglaublich liebenswert ist und nicht kochen kann, ohne dass alles anbrennt. Sie weiß genau, was sie will, ich hingegen nie, bin aber immer wild entschlossen, es zu bekommen. Nina hat einen grünen Daumen und noch Geld auf dem Konto, während ich schon den übernächsten Lohn ausgebe. Sie spricht ihre Muttersprache Italienisch fließend und gewinnt jede Partie Monopoly. Nina kennt alle europäischen Mitgliedsstaaten auswendig und nach vierzehn Kölsch kann sie noch Lambada tanzen, während ich in irgendeiner Ecke liege. Sie muss nicht jede neue Jeans beim Änderungsschneider kürzen lassen und auch ihr Zukünftiger passt wie angegossen.
Leider darf man auf die beste Freundin nicht neidisch sein, und wenn diese beschließt, den heiligen Bund der Ehe einzugehen, gilt es tatkräftig Unterstützung zu leisten, anstatt in Selbstmitleid zu versinken. Außerdem freue ich mich wirklich für meine Süße, die im Brautkleid übrigens so bezaubernd aussieht, dass ich bei ihrem Anblick kurzfristig überlegt habe, sie selbst zu heiraten.
So eine Hochzeit bedeutet jedenfalls verdammt viel Stress und als Trauzeugin hat man die besondere Ehre, einen Teil der anfallenden Arbeit erledigen zu dürfen. Aus diesem Grund ruft Nina mich in regelmäßigen Abständen zu Krisensitzungen, in denen Fragen wie „Sind rosa Blumen zu kitschig?“, oder „Wie soll ich das alles auf die Reihe kriegen?“, ausdiskutiert werden.
Voller Elan schwinge ich mich also vom Sofa, ziehe mir eine warme Jacke an und wage mich in das nasskalte Märzwetter. Bei der Witterung werden meine neuen Sommerkleidchen wohl noch eine Weile auf ihre glamouröse Einführung in die Gesellschaft warten müssen. Wo ist nur die globale Klimaerwärmung, von der immer alle sprechen, wenn man sie braucht? Auf halbem Wege zu meinem Auto werde ich, wie üblich, von Zwangsneurosen eingeholt: Sind die Fenster zu, die Haustür wirklich abgeschlossen und der Herd ausgestellt? Kurz überlege ich, den Rückzug anzutreten, um mich vom intakten Zustand meiner Wohnung zu überzeugen, entscheide mich aber dagegen. Wie immer bin ich spät dran und ich versuche stattdessen mit logischen, psychologischen Gedankengängen mein Unterbewusstsein auszutricksen: Warum sollte ich bei minus vier Grad die Fenster länger als 2,5 Sekunden öffnen? Gekocht habe ich schon mindestens eine Woche nicht mehr und die Haustür habe ich noch nie offen vorgefunden. Aber was ist mit der Heizung? Ich kann mich wirklich nicht entsinnen, sie abgestellt zu haben. Wenn die Fenster jetzt doch nicht zu sind? Was da alles passieren kann! Also, eigentlich fällt mir außer einer immensen Rechnung nichts ein. Aber ich halte dies für ein gutes Argument und eile zurück, nur um festzustellen, dass alles seine Richtigkeit hat. Memo an mich: Dringend etwas gegen dieses zwanghafte Verhalten unternehmen!
Mein kleiner Corsa (der auf den ungewöhnlichen Namen ÖMES hört) begrüßt mich mit einem Strafzettel, aber wenigstens ist er nicht abgeschleppt worden (Ich könnte meine neue Handtasche darauf verwetten, dass das Schild, welches heute für jedermann sichtbar auf das absolute Halteverbot hinweist, gestern noch nicht da stand). Ich schlängle mich durch den Bonner Berufsverkehr und wie üblich stockt dieser an der Museumsmeile. Was natürlich nur daran liegt, dass außer mir wieder keiner fahren kann. Ich verfluche die Straßenbahn und alle anderen Autofahrer. Kennen Sie jemanden, der ein Kraftfahrzeug führen kann, ohne dabei leidenschaftlich zu schimpfen? Ich kann es nicht, und wenn ich mich in der seltenen, glücklichen Lage befinde, eine freie Straße vor mir zu haben, bin ich völlig verwirrt und vergesse fast das Weiterfahren.
Rekordverdächtige 17,5 Minuten später stürme ich unser Stammcafé in der Innenstadt und begrüße die zukünftige Braut. Nina wirft einen vorwurfsvollen Blick auf ihre Uhr. Zum Glück habe ich eine kreative Ausrede parat, die meine Verspätung plausibel erklärt. Detailliert schildere ich meiner besten Freundin, wie ich mit der rechten Hand den Regional-Express vor der Entgleisung bewahre, während meine linke eine alte Dame sicher über die Straße geleitet. Nina schaut mich aus großen Augen an und fängt urplötzlich an zu weinen. Na, so schlecht war meine Geschichte auch wieder nicht! Doch mein angeborener Instinkt sagt mir, dass sie wohl nicht wegen meiner farbenfrohen Erzählungen so deprimiert ist. Nina ist nicht der Typ Frau, der schnell heult. Nachdem sie die Pubertät erfolgreich abgeschlossen hat, habe ich sie nur einmal weinen sehen und das war bei dieser rührenden Szene in „Tatsächlich Liebe“, wo der Typ mit den Schildern vor der Haustür seiner Angebeteten steht und ihr die wohl schönste Liebeserklärung aller Zeiten macht. Ich bin also verständlicherweise irritiert und nach intensivem Drängen, erzählt meine Süße zögernd und unter Schluchzen, was sie veranlasst, in der Öffentlichkeit einen filmreifen Heulanfall hinzulegen.
Anfangs verstehe ich nur einzelne Worte von dem leisen Redeschwall, der mir entgegenschlägt. Satzfetzen wie „zu jung“ und „endgültig“ dringen aus dem Geschniefe an mein Ohr und dann begreife auch ich die Hauptinformation. Eine Spur zu heftig frage ich: „Soll das heißen, dass du nicht weißt, ob du Paul heiraten sollst?!“ Nina nickt zerknirscht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ein Zustand der, wie Sie sich sicher schon gedacht haben, nicht alltäglich ist.
Paul ist das, was man gemeinhin als den „Top-Schuss“ bezeichnet. Nina und ich lernten ihn auf einer Zugfahrt von Hamburg nach Bonn kennen. Wir hatten den Jahreswechsel bei unserer gemeinsamen Freundin Biene verbracht, die damals in der Hansestadt Jura studierte. Die vier Tage Kurzurlaub waren viel zu schnell vorbei und noch bevor wir alle Hamburger Boutiquen plündern konnten, saßen wir auch schon im ICE Richtung Heimat. Zu meinem Leidwesen reisten wir im Nichtraucherabteil. (Ja, wo ist sie nur hin, die gute, alte Zeit, als die Bahn noch ein Herz für Raucher hatte?!)
Trotz Ninas Protest nahm ich in regelmäßigen Abständen den Weg von Wagenabteil B zu F auf mich, um dort genüsslich meine Sucht zu befriedigen. Schließlich handelt es sich nicht um eine Kurzstrecke, wo man sich mal eben zusammenreißen kann und ich persönlich stolpere ja gerne über Gepäckstücke, Mitreisende oder wilde Tiere.
Als ich von einer dieser Expeditionen zurückkam, unterhielt sich Nina angeregt mit dem jungen Mann, den sie heute als ihren Verlobten bezeichnet. Die Zwei beachteten mich gar nicht und da meine Person gerade nicht gefragt war, nutzte ich die Zeit sinnvoll und schlief ein. Hätte ich damals schon gewusst, dass ich Jahre später eine lustige Hochzeitsrede über diese Begegnung halten soll, hätte ich natürlich interessiert gelauscht und mir Notizen gemacht.
Paul stieg in Köln aus und Nina weckte mich unsanft. Die verbleibende Reisezeit verbrachten wir mit einem sehr sinnvollen Gespräch, welches sich ungefähr so anhörte:
„Hast du meinen Schlüssel gesehen, ich glaube, er liegt noch auf Bienes Schrank.“
„Er ist so niedlich. Diese Augen!“
„Mh ja, er hatte gleich zwei davon. Verrückte Sache! Weißt du, wo mein Haustürschlüssel ist?“
„Ja und ist dir dieses Grübchen aufgefallen? Dass so ein toller Mann noch frei rumläuft! Ob er sich wohl meldet?“
„Nina, schau mal, draußen tanzt ein kleiner, rosa Elefant Samba.“
„Ja schön. Glaubst du, er ruft an?“
„Mein Schlüssel?“
„Paul! Meinst du, er ruft an?“
Mein Schlüssel blieb auf ewig verschollen, sehr zur Freude des Schlüsseldienstes. Aber er rief an. Entgegen aller Regeln noch am gleichen Abend. Jeder, der ein bisschen Ahnung hat, weiß doch, dass man sich unter gar keinen Umständen so aufdringlich verhalten darf. Man muss die Spannung langsam aufbauen und den Anderen etwas zappeln lassen! Paul und Nina straften die ganzen Singleleitsätze, an die ich seit meinem 13. Lebensjahr fest glaube, Lügen. Die beiden sind auch trotz des verfrühten Anrufes das perfekte Paar.
Paul ist der Erste von Ninas Lovern, den ich sympathisch finde. Ich mochte ihre Typen nie, weil sie entweder arrogant oder selbstverliebt waren. Im Gegenzug bezeichnete Nina meine als oberflächlich und dumm. Paul ist anders. Er ist hilfsbereit, freundlich und das Beste an ihm ist, dass er Nina auf Händen trägt, egal wo sie hinwill. Wenn sie mal Unrecht hat, tut er so, als hätte er es nicht bemerkt und wenn sie das Essen anbrennen lässt, isst er es trotzdem und verzieht dabei keine Miene, weil er weiß, wie traurig sie sonst ist.
Als mir die Zwei von ihrer Verlobung erzählten und mich somit in ihre Hochzeitspläne einweihten, war ich so aufgeregt, als hätte dieser kitschige Heiratsantrag mir gegolten. Paul hatte Nina eine Reise nach Hamburg geschenkt und im Zug, wo ja alles begonnen hatte, um ihre Hand angehalten. Ich war zwar etwas beleidigt, dass ich zu diesem wichtigen Ereignis nicht eingeladen worden war, hatte dann aber doch Verständnis für die Zweisamkeit, die ein solcher Augenblick erfordert.
Inzwischen ist die Romantik in dem ganzen Vorbereitungsstress etwas untergegangen, aber es sind ja auch nur noch acht Wochen bis zum großen Tag. Das Hochzeitskleid ist gekauft und geändert, die Ringe graviert, die Gäste eingeladen, die Flitterwochen gebucht und der Junggesellenabschied vorbereitet. Nicht auszudenken, was es bedeuten würde, alles wieder abzusagen! Außerdem habe ich mich schon so auf das erlesene Buffet und den Schampus gefreut.
Ich beschließe, das Problem entgegen meiner Natur systematisch anzugehen und frage das schniefende Etwas, ob es einen konkreten Grund für seine Unsicherheit gibt. Traurig schüttelt sie den Kopf und ich stelle die entscheidende Frage: „Liebst du Paul noch?“ Daraufhin bricht Nina in einen erneuten Heulkrampf aus und hilflos rühre ich in meinem Latte macchiato. „Aber irgendetwas muss doch passiert sein?“ „Ich weiß es doch auch nicht“, krächzt Nina unter Tränen. Was soll ich denn jetzt tun? Ich bin mit der Situation völlig überfordert und resigniert murmel ich: „Dann blasen wir das Ganze eben ab!“ Nina hört schlagartig auf zu weinen und wütend keift sie in meine Richtung: „Du spinnst wohl!“ Langsam kommen mir ernsthafte Zweifel an Ninas Geisteszustand. Vielleicht hat sie einen Schlag auf den Kopf bekommen oder ihr Gehirn ist von einem gefährlichen Virus angegriffen worden. „Aber du hast doch gerade gesagt, dass du dir unsicher bist. Vielleicht solltest du mit Paul darüber sprechen und...“ Nina unterbricht mich mit den Worten: „Natürlich werde ich heiraten und wenn dir das nicht passt, musst du ja nicht kommen!“ Nun wird mir alles klar! Ein Alien hat Besitz vom Körper meiner Freundin ergriffen! Ich teile der außerirdischen Lebensform mit, dass ich sie durchschaut habe und dass ich, notfalls mit Gewalt, um Ninas Seele kämpfen werde. Diese findet das gar nicht witzig und bezeichnet mich als unsensibel und gemein. Das Alien und ich schauen uns böse an und dann müssen wir beide lachen. „Klassischer Fall von kalten Füßen“, weiß der grauhaarige Mann am Nachbartisch zu berichten, „völlig normal!“
„Ich glaube, hier kann ich mich nie wieder rein trauen“, flüstert Nina zerknirscht. Ich denke, dass sie Recht hat, schüttele aber entschieden den Kopf: „Mach dir keine Gedanken, Süße. Ich muss jetzt in die Klinik. Nachtdienst.“ Es gefällt mir gar nicht, Nina in der jetzigen Situation alleine zu lassen, aber schließlich kann ich nicht riskieren, meinen Job zu verlieren. Wie sollte ich sonst meine Miete und die unverschämt hohen Psychiaterhonorare bezahlen? Ich befinde mich zwar noch nicht in Behandlung, aber in einigen Jahren wird mir sicher ein Arzt meine gesamten Ersparnisse abknöpfen, um mir dann eine Therapieresistenz zu bescheinigen.
Bevor ich gehen darf, muss ich hoch und heilig versprechen, keiner Menschenseele von unserem Gespräch zu erzählen. Ich halte das zwar für unrealistisch, weil das ganze Café Ninas Anfall mitbekommen hat, gelobe aber trotzdem Stillschweigen.
Auf dem Weg zum Krankenhaus denke ich normalerweise angestrengt darüber nach, ob mir, quasi in letzter Minute, ein Grund einfällt, um nicht zum Dienst zu müssen. So was wie spontane Amnesie oder Tollwut. Heute jedoch drehen sich meine Gedanken um Paul und Nina. Was, wenn es keine „kalten Füße“, sondern „Siebenmeilenstiefel“ sind? Ich bin so vertieft in diese Problematik, dass ich vergesse, den Pförtner zu grüßen. Mist, das rächt sich bestimmt. In einem Krankenhaus ist es total wichtig, zu den richtigen Leuten freundlich zu sein, sonst fallen sie einem bei der nächsten Gelegenheit völlig unerwartet in den Rücken. Da wäre zum Beispiel das freundliche Küchenfachpersonal. Wenn man bei denen auf der Abschussliste steht, hat man wirklich nichts mehr zu lachen. Da bekommt man entweder nur für die Hälfte der Patienten Essen geliefert, oder die Mahlzeiten sind kalt. Im ersten Fall muss man um weiteres Essen betteln, im zweiten jedes Einzelne in die Mikrowelle schmeißen. Beides bringt natürlich den geregelten Ablauf durcheinander und kostet wertvolle Zeit.
Differenzen mit dem Pförtner können dazu führen, dass Privatgespräche nicht durchgestellt werden. Streit mit der Wäscherei bedeutet, dass man eine Woche in dem gleichen, blut- und kaffeeverschmierten Kittel arbeiten darf und was die Röntgenabteilung mit unliebsamen Kollegen macht, erzähle ich Ihnen am besten erst gar nicht. Nur so viel, ich finde den Gedanken mit Kettensägen zu jonglieren verlockender, als mich freiwillig mit einem Röntgenmitarbeiter anzulegen.
Ich arbeite auf einer Unfallchirugischen Allgemeinstation. Das ist insofern ganz angenehm, weil es relativ abwechslungsreich ist und die Patienten in der Regel nicht schlimm krank sind (auch wenn der Durchschnittspatient natürlich denkt, dass die Fraktur seines kleinen Fingers lebensbedrohlich sei). Mein „Patientengut“ erstreckt sich über Teenager, die sich beim Inlineskaten am Rheinufer den Fuß verdrehen bis hin zu Omis, die sich nachts um drei beim Streuen der Einfahrt die Hüfte brechen.
Ich trete also, wie immer hoch motiviert, meinen Nachtdienst an. Eigentlich mag ich Nachtschichten. Es hat schon etwas für sich, wenn man alleine arbeitet. Ein großer Vorteil ist, dass man sein eigener Chef ist und ich persönlich finde mich als Chef großartig! Ich schreie mich nicht an, bin verständnisvoll und die Kommunikation zwischen meinem Chef-Ich und dem Arbeiter-Ich klappt super. Das Ergebnis dieses positiven Klimas ist eine gut organisierte und ausgeglichene Steffi. Kommunikation und Organisation sind in einem Chaosbetrieb wie einem Krankenhaus alles! Ist schon blöd, wenn ein Patient versehentlich zweimal der Morgenhygiene unterzogen wird, während ein vermeintlich Gewaschener vergeblich wartet.
Toll finde ich auch, dass nachts keine Auszubildenden über Station huschen und Panik verbreiten. Unsere Schüler glänzen gerne mit taktvollen Fragen wie „Ist das normal, dass da so fiese, gelb-grüne Flüssigkeit aus der Wunde läuft?“ oder „Ist diese Patientin jetzt adipös?“ Beide Fragen führen in der Regel zu einer gelb-grünen Gesichtsfarbe des betreffenden Patienten und das ist mit absoluter Sicherheit nicht normal.