Sechs Fremde und ein Dackel - Gina Greifenstein - E-Book

Sechs Fremde und ein Dackel E-Book

Gina Greifenstein

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Beschreibung

Rasanter Zug-Trip voller schicksalhafter Begegnungen und skurrilen Momenten – ein heiterer Krimi für LeserInnen von Tatjana Kruse, Jörg Maurer und David Safir »›Könnten Sie sich bitte etwas zusammenreißen? Schließlich sitzen wir alle im selben Boot‹, sagte der Typ mit dem Bürstenhaarschnitt. ›Das ist kein Boot, sondern ein Zug, falls du es noch nicht gemerkt hast. Ein verdammt glühend heißer Scheißzug.‹« Was haben eine Nonne, ein Auftragskiller, eine brave Hausfrau, ein Polizist, ein Rocker und eine junge Tierwohl-Aktivistin gemeinsam? Auf den ersten Blick nichts. Gut, mal abgesehen von der Tatsache, dass sie zufällig im selben, völlig überhitzten Zugabteil des Zuges sitzen, der mitten im Nirgendwo wegen einer freilaufenden Schweineherde anhalten musste. Auf den zweiten Blick zeigt sich dann jedoch schnell: Die sechs Fremden haben nicht nur dasselbe Ziel. Sie haben auch alle einen triftigen und mörderischen Grund, dieses Ziel rechtzeitig zu erreichen! Aber wem gehört eigentlich dieser verflixte Dackel, der immer nur an das Eine denkt? »Dieses Buch ist kurzweilig ,humorvoll, unterhaltsam und teilweise chaotisch.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Skurril und völlig abgedreht ist fast schon untertrieben, aber auf jeden Fall macht dieses Buch großen Spaß beim Lesen.« ((Leserstimme auf Netgalley))

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Redaktion: Ulla Mothes

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Im Zug

Anneliese Musebrinck, Nur-Hausfrau

Drei Monate vor der Zugfahrt

Acht Wochen später

Einen Tag später

Die nächsten Tage

Einen Tag später

Einen Tag später

Einen weiteren Tag später

Im Zug

Anneliese Musebrinck, Nur-Hausfrau

Zwei Tage vor der Zugfahrt

Nächster Tag und somit der Tag vor der Zugfahrt

Der Morgen danach und somit Tag X

Im Zug

Schwester Erentrudis

Drei Monate vor der Zugfahrt

Kurze Zeit später

Am nächsten Tag

Zwei Tage später

Eine Woche später

Zwei Stunden später

Einige Tage später

Drei Tage später

Wenige Stunden später

Einige Wochen später

Am nächsten Morgen

Tag X

Im Zug

Doro Belatti, 19, Aktivistin

Tag X, im ICE

Zehn Tage vor der Zugfahrt

Vier Tage vor der Zugfahrt

Zwei Tage vor der Zugfahrt

Im Zug

Dirk Lämmle, Musiker und Motorradfreak

Das Wochenende vor der Zugfahrt

Der Montag vor der Zugfahrt

Dienstag vor der Zugfahrt

Zwei Stunden später

Mittwoch vor der Zugfahrt

Donnerstag vor der Zugfahrt

Im Zug

Schmitt, einfach nur Schmitt (mit Doppel-t), Alter nichtrelevant, Erlediger

Drei Wochen zuvor

Vierzehn Tage später

Ein Tag vor der Zugfahrt

Tag X

Im Zug

Stephan Wimmer, 38, HELD(in seinen Träumen)

Im Zug

Zwei Wochen vor der Zugfahrt

Am Tag darauf

Zwei Tage später

Am Abend, eigentlich schon nachts

Tag X

Im Zug

Doch dann …

Das furiose Finale

Was aus allen Beteiligten wurde

Bonusmaterial

Annelieses Schoko-Orangen-Kekse mit Buttercreme

Wildschwein-Sauerbraten

Doros rein vegane Quinoa-Bällchen

Stephans Pizza »Bodyguard«

Schinkis Bierbowle mit Himbeeren

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Im Zug

Schweine, überall Schweine!

Der Mann im Führerstand traute seinen Augen nicht. Er kannte die Risiken seines Berufs: Selbstmörder, die sich vor den ICE warfen. Kinder, die auf Gleisen spielten. Technische Defekte an veralteten und schlecht gewarteten Lokomotiven. Idioten, die Steine von Brücken warfen oder Hindernisse auf Schienenstränge legten. LKWs mit übermüdeten Fahrern am Steuer, die durch geschlossene Schranken krachten. Alles schon passiert. Aber Schweine? Hausschweine?

Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals von Borstenvieh auf der Strecke gehört zu haben, zumindest nicht in dieser Anzahl. Es mussten mindestens fünfzig Tiere sein.

Der Zugführer, ein übergewichtiger Mann mit feuerrotem Haar und einem sanften Gemüt, betätigte mit aller Kraft die Bremse.

In den Waggons brach Panik aus. Die freundlichen Mitarbeiter des Bordbistros verteilten kostenlos Kaffee – heiß und zielgenau auf Hosenbeine und Miniröcke. Kinder schrien, Gepäckstücke regneten aus den Ablagen. Auf der Toilette brach sich ein Mann den Unterkiefer, als er durch die Vollbremsung gegen das Waschbecken geschleudert wurde. Eine Schaffnerin stieß mit einem Mann zusammen, der gerade aus dem Speisewagen zurückkehrte. Zwischen den beiden entwickelte sich in dieser Ausnahmesituation in Sekundenschnelle eine so unwiderstehliche Anziehungskraft, dass er sie an sich riss und seine Lippen auf die ihren presste. Sie erwiderte den Kuss mit einer nie gekannten Leidenschaft. Erst als der Zug schon eine Weile stand, ließen sie voneinander ab. Die beiden sollten sich nach jener schicksalhaften Vollbremsung nie wiedersehen, dieses Ereignis aber bis an ihr Lebensende nicht vergessen und jedes Mal wehmütig aufseufzen, sobald sie einen Zug bestiegen.

Auf einem der Fensterplätze in einem Sechserabteil murmelte eine Nonne erschrocken »Heiliger Strohsack« und presste augenblicklich die Hand auf den Mund.

Der biederen älteren Frau ihr gegenüber entfuhr ein spitzer Schrei. Die bunte Keksdose auf ihrem Schoß vollführte einen Satz wie ein Ochsenfrosch in Paarungsbereitschaft. Mit einer Geschicklichkeit, die sie selbst überraschte, bewahrte sie die Dose vor dem sicheren Sturz. Ihre Pausbäckchen wechselten von gesundem Rosa zu Totenbleich.

Mit lautem Getöse kullerten drei leere Bierdosen über den Boden. Ihr Besitzer, ein dunkel gekleideter Rocker mit drei funkelnden Perlen im Kinnbart, der gleich neben der Abteiltür saß, rülpste laut. Die zierliche junge Frau mit schwarzgefärbten Haaren ihm gegenüber wurde beinahe aus ihrem Sitz katapultiert. Der Rocker breitete erwartungsvoll die Arme aus, lächelte und entblößte dabei einen abgebrochenen Schneidezahn. Die junge Frau fing sich jedoch im letzten Moment und fiel zurück in ihren Sitz.

Der ICE brauchte endlos, bis er zum Stehen kam. Eine fette Muttersau verharrte wie ein Felsbrocken auf den Gleisen und starrte dem heranrasenden Ungetüm stoisch entgegen. Als der Zug nur wenige Meter vor ihr anhielt, grunzte sie zufrieden. Dem Lokführer kam es vor, als ob sie lächle. Später würde er seiner Frau gegenüber behaupten, das Tier habe genau gewusst, wie lang der Bremsweg des Zuges sei. Sagte man Schweinen nicht im Allgemeinen und Hausschweinen im Besonderen nach, sie wären fast so klug wie Menschen?

»Hoppla«, sagte der Mann mit Bürstenhaarschnitt zwischen der Biederen und der Schwarzhaarigen. »Ist jemand verletzt?«

Niemand antwortete.

»Scheiß Bahn«, sagte die Schwarzhaarige.

Die Nonne kramte nach ihrem Rosenkranz und ließ ihn geschmeidig durch die Finger gleiten. Ihre Bewegungen ließen auf jahrelange Übung schließen.

Der unscheinbare Mann in grauem Anzug zu ihrer Linken nickte nur, nachdem er seinen schwarzen Aktenkoffer, der bei dem Bremsmanöver aus dem Gepäcknetz gepurzelt war, mit schnellem Griff aufgehoben hatte. Der Mann mit dem Bürstenhaarschnitt stand auf und öffnete die Schiebetür. Nach einem prüfenden Blick in den menschenleeren Gang setzte er sich wieder.

»Ich lass die Tür mal einen Spaltbreit auf, in Ordnung?« Fragend sah er in die Runde. »Dann hören wir vielleicht, was los ist.«

Die übrigen Insassen würdigten ihn keines Blickes, nur der unscheinbare Mann nickte abermals. Die Stille, die daraufhin einkehrte, war beinahe greifbar. Eine fette Fliege stieß bei ihrem verzweifelten Versuch, sich einen Weg in die Freiheit zu bahnen, unablässig gegen die Fensterscheibe. Aus einer abgeschabten Reisetasche in der Gepäckablage drang ein aufdringliches Ticken. Alle Blicke wanderten nach oben.

Die gerade noch leichenblasse ältere Frau bekam schlagartig wieder Farbe. »Mein Reisewecker«, stammelte sie verschämt.

Ein leises Klickern näherte sich vom Gang her. Das Geräusch brach ab, bevor es die Glastür erreichte. Alle hielten den Atem an, selbst die Fliege gab ihren Ausbruchsversuch auf und fand auf der Halbglatze des Unscheinbaren eine Zuflucht. Dieser verzog keine Miene.

Die Stille nahm etwas Bedrohliches an. Der Mann mit Bürstenhaarschnitt schluckte hart. Die Hände der älteren Dame verkrampften sich ängstlich um die Keksdose. Alle Blicke wanderten zur Tür. Das Klickern verstummte. Eine feuchte Schnauze schob sich ins Blickfeld.

Beherzt schob die junge Frau die Glastür ein Stück weiter auf. »Oh, bist du süß!«, sagte sie zu einem Rauhaardackel, der schwanzwedelnd ins Abteil tänzelte und der Reihe nach alle Beine beschnüffelte.

»Dackel?!«, fragte der Rocker irritiert. Die Augen der Nonne weiteten sich voller Entsetzen. »Vade retro, Satanas!«, zischte sie und zog die Beine an.

Der Anblick des Hundes zauberte ein Lächeln auf das Gesicht der Biederen am Fenster.

Im Lautsprecher knackte es.

»Sehr geehrte Fahrgäste. Unser Zug hält außerplanmäßig aufgrund von Hindernissen im Gleisbereich. Bitte bleiben Sie auf Ihren Plätzen und steigen Sie nicht aus.«

»Fuck you, Bahn!« Die junge Frau stöhnte auf.

Die ältere Dame umklammerte ihre Keksdose noch eine Spur fester. »Oh je, hoffentlich kein Selbstmörder!«

»Wenn’s einer ist, dann kann das dauern«, bemerkte der Mann mit dem Bürstenhaarschnitt.

Wieder eine Durchsage: »Wenn sich ein Landwirt im Zug befindet, soll er sich bitte beim Zugpersonal melden.«

»Hä?«, sagte der Rocker.

»Bauer«, knurrte der Unscheinbare.

Derweil rückte der Dackel von der Nonne ab. Die Stiefel des Rockers erregten jetzt seine Aufmerksamkeit. Ihnen entstieg ein Duft, der auf den Vierbeiner eine magische Anziehungskraft ausübte.

»He, Kumpel«, sagte der Rocker. »Aber nicht dranpinkeln, okay?«

Der Dackel legte sich hechelnd vor seinen Füßen nieder. Die Fliege nahm ihre Ausbruchsversuche wieder auf. Minuten verrannen, die Luft wurde zunehmend stickiger. Der Unscheinbare holte umständlich ein blütenweißes Stofftaschentuch aus der Innentasche seines Jacketts und wischte sich in Zeitlupe den Schweiß von der Halbglatze. Dem verstaubten Habit der Nonne entströmte ein säuerlicher Geruch. Schließlich meldete sich der Rocker träge zu Wort: »Ich muss pissen.«

»Tun Sie sich keinen Zwang an«, kommentierte der Bürstenhaarschnitt.

Der Lautsprecher erwachte zu neuem Leben: »Sehr geehrte Fahrgäste, leider ist in einem unserer Wagen die Klimaanlage ausgefallen. Bitte bleiben Sie trotzdem auf Ihren Plätzen, da der Zug komplett ausgelastet ist. Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass auch die Toiletten außer Betrieb sind. Wir hoffen, dass wir die Fahrt bald fortsetzen können. Wir bitten dies zu entschuldigen.

Ladies and Gentlemen, one waggon is too hot. You also can not use the toilette. Thank you for your understanding!«

Der Rocker sank resigniert in seinen Sitz zurück und riss sich die nächste Bierdose auf.

Eine Zugbegleiterin mit wippendem blonden Pferdeschwanz eilte vorbei.

»Hallo, Fräulein«, rief die Biedere ihr aufgeregt nach.

Die Schaffnerin hielt inne und streckte den Kopf ins Abteil. Unwillkürlich zuckte sie vor der schneidend dicken Luft zurück. »Ja bitte?«, fragte sie mit angehaltenem Atem.

»Was ist denn passiert? Ein Selbstmörder?«

Die Zugbegleiterin schenkte der Biederen ein mattes Lächeln. »Nein, keine Sorge, wir denken, dass die Fahrt bald weitergeht.«

»Na, hoffentlich! Ich habe nämlich noch eine wichtige Verabredung in Berlin. Ich muss …«

Die Bahnangestellte hörte nichts mehr, sie hatte bereits die Flucht vor den Ausdünstungen der hier versammelten Personen ergriffen.

Die Biedere verstummte und ließ in Gedanken Revue passieren, wie es dazu gekommen war, dass sie nun in diesem engen, schrecklich überhitzten Zugabteil saß …

Anneliese Musebrinck, Nur-Hausfrau

Drei Monate vor der Zugfahrt

»Ach, Rex«, seufzte Anneliese liebestrunken und sah ihm tief in die grünbraunen Augen mit den goldenen Sprenkeln.

Wie sie diese Augen liebte! Diese Augen mit den süßen Lachfältchen drumherum. Sie trat noch näher an ihn heran, sie wollte jedes noch so kleine Fältchen, jeden einzelnen der goldenen Sprenkel genau sehen.

Sie liebte auch seinen Mund, den meist ein kleines spöttisches Lächeln umspielte. Es war ein bisschen frech, aber auch ungemein verlockend. Küss mich doch, sagte dieses Lächeln.

Und dann sein Grübchen! Links, ein kleines Stückchen über dem Mundwinkel. Lausbubenhaft, unwiderstehlich.

Am liebsten wäre sie ihm mit beiden Händen durch das dichte, perfekt liegende Haar gefahren. Vokuhila hieß der Schnitt in den Achtzigern, vorne kurz, hinten lang, aber auch heute noch, mehr als dreißig Jahre später, stand Rex diese Frisur ganz wunderbar.

Überhaupt war sich Anneliese sicher, dass er der schönste Mann auf Gottes Erdboden war. Und er liebte sie! Ausgerechnet sie, die einfache Hausfrau aus der Provinz. Sie hatte es schwarz auf weiß, ach was, rot auf weiß! Mit roter Tinte hatte er ihr die wunderschönsten, romantischsten, liebevollsten Briefe geschrieben, die eine Frau jemals bekommen hatte. Manche Stellen darin hatten ihr schamhafte Röte ins Gesicht gemalt, aber sie hatten sie auch erregt und glücklich gemacht: Rex liebte sie nicht nur, er begehrte sie! Mit jeder Faser, mit jeder Zelle seines Körpers. Das hatte er nicht nur einmal geschrieben.

In den letzten Jahren hatte sich ein hübscher Stapel dieser wundervollen Briefe angesammelt, ganz zerfleddert und abgegriffen waren sie schon vom vielen Lesen.

Jedes Wort, jeder Satz traf mitten in ihr vor Liebe loderndes Herz. Was kein Wunder war, denn wer solche bezaubernden Liedtexte schreiben konnte, Liedtexte, die Millionen Fans erreichten und tief berührten, der konnte natürlich auch herzerwärmende Briefe schreiben. Anneliese kannte sie alle auswendig, Wort für Wort. Jeden einzelnen hatte sie aufgehoben und bestimmt schon hundertmal gelesen. Allesamt ruhten sie sicher verwahrt in einer flachen Schachtel mit Klappdeckel. Aus den Blumenkatalogen, die jedes Frühjahr per Post ins Haus geflattert kamen, hatte sie die schönsten Rosenbilder ausgeschnitten und den Karton damit beklebt. Rosen in tiefem Rot und sattem Rosa – herrlich romantisch sah das aus. Im untersten Regalfach stand diese Schachtel, durch eine zusammengelegte Moltondecke vor neugierigen Blicken geschützt.

Ja, Rex liebte sie wirklich. Sie konnte ihr unglaubliches Glück kaum fassen. Zärtlich strich sie ihm über die Wange und näherte ihre Lippen den seinen …

»Anneliese, ich bin wieder da!«

Erschrocken zuckte sie zurück.

Das war Heiner.

Mit hektischen Bewegungen nahm sie ihre Brille aus der Tasche der Kittelschürze und setzte sie sich auf die Nase. Ohne Brille war sie eigentlich blind wie ein Maulwurf, aber vor Rex zeigte sie sich trotzdem lieber ohne. Schnell zerrte sie einen noch nicht gebügelten Kopfkissenbezug aus dem Wäscheberg im Korb und warf ihn auf das aufgeklappte Bügelbrett. Als die Tür aufflog und ihr Ehemann in seinem obligatorischen mittelgrauen Anzug eintrat, den er fünf Tage in der Woche in seinem Büro im Finanzamt trug, hielt sie das Bügeleisen einsatzbereit in der Hand und schob es mit übertriebener Inbrunst über den zerknitterten Stoff.

Bitte, lieber Gott, schickte sie ein Stoßgebet gen Himmel, lass Heiner nicht merken, dass der Stecker nicht in der Steckdose steckt!

Anneliese war zwar nicht besonders gläubig, jedenfalls nicht mehr, seit sie als Dreizehnjährige während einer Jugendfreizeit dieses unschöne Erlebnis mit einem alten, nach kaltem Zigarrenrauch stinkenden Pfarrer gehabt hatte. Aber trotz dieser traumatischen Erfahrung war sie der festen Überzeugung, dass eine gute Beziehung zum Chef dieses ekligen Pfarrers nicht schaden konnte. Gott gab ihr zwar wie üblich keine Antwort, aber Heiner merkte tatsächlich nichts.

»Hier bist du. Hätte ich mir ja denken können.« Missbilligend glitt sein Blick über die Poster, Bilder und Zeitungsausschnitte, die jeden freien Zentimeter der Wände im Hauswirtschaftsraum bedeckten. Er stellte sich direkt vor das Poster, vor dem Anneliese kurz zuvor noch gestanden hatte, und musterte mit spöttisch nach unten gezogenen Mundwinkeln Rex Armandos Konterfei. »Was du nur an diesem blöden Lackaffen findest!«

Anneliese umklammerte das Bügeleisen. Wenn Heiner jetzt auf Rex spuckte, wie es einen Augenblick lang den Anschein hatte, dann würde sie es ihm über den Schädel ziehen, ohne lange zu fackeln! Dieser Gedanke erschreckte sie im ersten Moment, aber als sie ihn noch einmal ganz langsam durch ihre Gehirnwindungen wandern ließ, war er gar nicht mehr so sehr abwegig. Wenn sie nämlich Heiner los wäre, dann wäre der Weg endlich frei für sie und Rex.

»Dieser idiotische Schlagerheini bürstet sich krampfhaft auf jugendlich-frisch, und beschränkte Weiber wie du kaufen ihm das auch tatsächlich ab. Aber mir kann er nichts vormachen. So lange wie der die Welt schon mit seinen unerträglichen Schmalzliedern verschmutzt, ist er mindestens so alt wie ich. Ich wette, die aufgeplusterte Haarpracht auf seinem Kopf ist eine Perücke!«, höhnte Heiner.

Anneliese betrachtete die blanke Halbglatze ihres Gatten, auf der sich das Licht der Deckenlampe spiegelte. Ihr war klar, dass er nur neidisch auf Rex’ Aussehen sein konnte. Heiner war eher der Heinz-Ehrhardt-Typ. Aber leider nur optisch – humormäßig hatte er keinerlei Ähnlichkeit mit dem knuffigen Komiker. In Pferderassen ausgedrückt, war Rex definitiv ein feingliedriger Vollblüter und Heiner ein stämmiger Ackergaul.

Anneliese war es gewohnt, dass sich Heiner über Rex und ihre Schwärmerei für ihn lustig machte. Aber heute war er besonders boshaft. Das Bügeleisen wog schwer in ihrer Hand. Noch ein Wort …

»Was gibt’s eigentlich zum Abendessen?« Heiner drehte sich zu ihr um.

Das Brett vibrierte, als sie das Bügeleisen eine Spur zu heftig darauf abstellte. Das schlechte Gewissen schnürte ihr den Hals zu, immerhin hatte sie gerade in Betracht gezogen, ihren Ehemann umzubringen.

»Kartoffelsalat«, brachte sie krächzend hervor. »Kartoffelsalat und heiße Würstchen.«

»Na, hoffentlich nach dem Rezept meiner Mutter«, sagte Heiner und sah sie durch die dicken Gläser seiner Nickelbrille mit genau dem gleichen missbilligenden Blick an, mit dem er gerade noch Rex Armando bedacht hatte.

Anneliese hob das Bügeleisen erneut hoch. Hatte sie tatsächlich gerade ein schlechtes Gewissen gehabt? Seit knapp dreißig Jahren war sie jetzt mit Heiner verheiratet, und seit genau dieser Zeit meckerte er an ihrem Essen herum. Sie konnte kochen, ziemlich gut sogar, schließlich hatte sie es auf der Hauswirtschaftsschule gelernt. Seine Unzufriedenheit lag also nicht an ihr und ihrer Kochkunst, sondern einzig und allein an Heiner selbst. Wie gern würde sie neue Rezepte ausprobieren, doch Heiner war diesbezüglich viel zu simpel gestrickt. Ihm genügten Bratwürstchen mit Kraut, Kartoffelsuppe (auch nach dem Rezept seiner Mutter) mit Wiener Würstchen (keine Bockwürstchen, nur Wiener!), paniertes Schnitzel (in diesem Fall kein Wiener vom Kalb, das war zu teuer) oder Wiener Würstchen mit Kartoffelsalat (nach dem Rezept seiner Mutter), Nudeln mit Haschee (wie es seine Mutter immer gekocht hatte: die gänzlich unitalienische Form der Hackfleischsoße), Fischstäbchen mit Kartoffelsalat (richtig, nach Mutters Rezept), Pfannkuchen mit Marmelade, Gulasch mit Salzkartoffeln oder auch mal einen Schweinebraten mit Klößen. Am besten genau in dieser Reihenfolge (dann trafen nämlich die Fischstäbchen auf den Freitag) und jede Woche aufs Neue. Der Speiseplan war genauso sterbenslangweilig wie Heiner selbst. Manchmal wagte Anneliese einen Ausbruch aus der kulinarischen Routine, was aber nie auf Begeisterung von Heiners Seite stieß.

Das Bügeleisen fühlte sich gut in Annelieses Hand an. Warum hatte sie ihm eigentlich nicht schon vor Jahren damit den Schädel zertrümmert? Sie seufzte. Ganz einfach: Weil ein Mord nicht wirklich befreite. Die Frage musste also ganz anders lauten: Warum hatte sie Heiner überhaupt geheiratet?

Ihr Gatte verließ mit ein paar Schritten den Raum und damit auch den Wirkungskreis des Bügeleisens. Anneliese stellte es beinahe zärtlich ab.

»Ich hab mal ein ganz neues Rezept ausprobiert«, rief sie zaghaft hinter ihm her. Mit roter Paprika und Käsemayonnaise, fügte sie im Geiste hinzu. Sie war sich absolut sicher, dass ihm diese neue Komposition nicht schmecken würde.

Sie warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf ihr Lieblingsposter, bevor sie das Licht ausmachte und die Tür zum Bügelzimmer, zu ihrem Heiligtum, ihrem Rex-Armando-Tempel, schloss. Rex war ein Mann von Welt, er verkehrte in den nobelsten Hotels und Restaurants, er würde ihre Experimentierfreude sicherlich zu schätzen wissen. Anneliese nahm sich fest vor, ihn im nächsten Brief nach seinen Lieblingsspeisen zu fragen.

In der Küche angekommen, stellte sie Wasser für die Wiener Würstchen auf.

Ich habe Heiner geheiratet, weil kein anderer mich haben wollte, beantwortete sie sich selbst ihre Frage, während sie den Tisch deckte. Sie war immerhin schon achtundzwanzig gewesen, als er ihr den Antrag machte, ein spätes Mädchen, wie man es früher nannte. Anneliese Müller, mit achtundzwanzig noch Jungfrau, schon zu Schulzeiten von ihren Klassenkameraden boshaft Lieschen Müller genannt. Lieschen Müller, das Synonym für langweilige, farblose, uninteressante Trutschel. Anneliese Müller, ein blasses Mauerblümchen, das noch bei den Eltern wohnte und erst kurz vor Torschluss doch noch einen Mann abkriegte. Heiner war nicht gerade Annelieses große Liebe gewesen, nicht mal ihre kleine – aber er wollte sie heiraten, eine Familie mit ihr gründen, und da sagte sie eben ohne groß zu überlegen Ja. Außerdem war sie dadurch das Nullachtfünfzehn-Müller losgeworden – Lieschen Müller war Geschichte. Nachträglich betrachtet klang Anneliese Musebrinck allerdings auch nicht wirklich aufregend.

Sie betrachtete die Würstchen, die im heißen Wasser herumtrieben. Ja, sie war ein spätes Mädchen gewesen. Aber jetzt, da sie darüber nachdachte, war ja auch Heiner spät dran gewesen. Er war immerhin selbst schon zweiunddreißig, als er um ihre Hand angehalten hatte. Genau wie sie war er ein trauriger Restposten gewesen!

Mit der Familie war es dann leider doch nichts geworden. Anneliese wusste von ihrem Frauenarzt, dass es nicht an ihr lag, aber Heiner hatte sich diesbezüglich nie untersuchen lassen. Er gab von jeher ihr die Schuld an der Kinderlosigkeit. Sie seufzte erneut. Vielleicht hätten Kinder ja etwas an ihrer Beziehung geändert?

Mist, Anneliese hatte vor lauter Nachdenken nicht aufgepasst. Eines der Wienerchen war aufgeplatzt! Schnell nahm sie den Topf vom Herd und stellte ihn auf den Untersetzer auf dem Tisch.

»Essen ist fertig«, rief sie und holte Senf und eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Das Bier würden sie sich wie immer teilen. Anneliese ließ den Bügelverschluss aufploppen und füllte die bereitstehenden Gläser. Wenn sie es recht bedachte, dann hatte sie in den vierunddreißig Jahren ihrer Ehe noch nie ein Bier ganz allein getrunken. Heiner schon, der gönnte sich nach dem Essen vor dem Fernseher immer noch ein weiteres, manchmal auch zwei.

Ganz gegen ihre Gewohnheit stellte Anneliese eine zweite eisgekühlte Bierflasche auf den Tisch. Sie fühlte sich wie eine Revoluzzerin. Und das fühlte sich gut an!

Heiner hatte inzwischen Anzug und Hemd gegen dunkelblaues T-Shirt und dunkelblaue Jogginghose getauscht und setzte sich auf seinen angestammten Platz, an die Kopfseite der Eckbank. Kritisch musterte er den Kartoffelsalat in der Schüssel. Mit einem der beiden Salatlöffel stocherte er darin herum, schaufelte dann eine große Portion hoch, nur um sie wieder vom Löffel in die Schüssel platschen zu lassen.

»Was soll denn das?« Seine Stimme klang vorwurfsvoll, der Blick aus seinen hellgrauen, perfekt zum Büroanzug passenden Augen, ließ Anneliese frösteln. Auch wenn es jetzt zu spät war, fragte sie sich, warum sie nicht einfach zum tausendsten Mal in ihrer Ehe den Kartoffelsalat ihrer Schwiegermutter gemacht hatte. Das mit dem neuen Rezept war dann wohl doch eine Spur zu viel Revolution.

»Ich wollte einfach mal etwas anderes ausprobieren«, sagte sie kleinlaut. »Versuch ihn doch erst, er schmeckt sehr gut. Ich hab ihn in einer Zeitschrift gefunden, und er sah so lecker aus …«

»In einem deiner Schundblättchen, die auf der einen Seite fragwürdige Rezepte abdrucken und auf der nächsten Seite über das wilde Sex- und Drogenleben von deinem idiotischen Rex schreiben? Genauso sieht dieser Salat aus, Anneliese.« Er untersuchte mit seiner Gabel eine Zutat genauer. »Ist das etwa Schimmel?«, fragte er angeekelt.

»Kein Schimmel, Heiner. Gorgonzola.«

»Also doch Schimmel! Willst du mich vergiften?«

Gar keine so schlechte Idee, dachte Anneliese. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag hätte sie Heiner lieber tot als lebendig gesehen. Erschrocken über sich selbst verbot sie sich jeglichen weiteren Gedanken in diese Richtung. Schließlich war sie eine der pazifistischsten Personen auf Gottes Erdboden, sie rettete sogar Regenwürmer von der Straße. Also lieber an etwas Schönes denken, an Rex zum Beispiel.

Heiner schien ihre Gedanken lesen zu können: »Glaubst du etwa, dein geliebter Rex würde diesen schimmeligen Kram essen?«

Anneliese wollte es nicht sagen, aber es kam ihr einfach so über die Lippen: »Natürlich würde er das! Er ist nämlich nicht so ein Bauer, der nichts isst, was er nicht kennt. Rex ist durch und durch Gourmet, er speist schließlich in den tollsten Restaurants, er liebt Kaviar und Austern …«

»Ach ja?«, unterbrach Heiner sie mit vor Spott triefender Stimme. »Hat er dir das etwa bei eurem letzten Treffen im Adlon erzählt? Oder auf seiner Yacht, als du ihn dort zusammen mit Sophia Loren besucht hast?«

Nein, das hat er mir geschrieben, dachte sie trotzig. Auch dass er mit mir in die schicksten Restaurants gehen, Champagner am einsamen Privatstrand hinter seiner Villa in St. Tropez mit mir trinken würde, wenn ich denn endlich frei für ihn wäre.

Aber sie schwieg mit verkniffenen Lippen, denn sie vermied es tunlichst, ihrem Mann von Rex’ Briefen zu erzählen.

Mitleidig sah Heiner sie an. »Mensch, Anneliese, schau dich doch mal an! Dein toller Rex würde dich nicht mal eines einzigen Blickes würdigen, darauf kannst du einen lassen. Du solltest dir Hilfe suchen, beim Psychiater, Psychoanalytiker oder wie die heißen. Das ist ja nicht mehr auszuhalten!« Er angelte sich mit den Fingern ein Wienerchen aus dem inzwischen lauwarmen Wasser und biss hinein. Mit der anderen Hand nahm er die noch volle Bierflasche, prostete ihr zu und stand auf. »Du findest mich im Wohnzimmer, falls du heute noch von deiner Yacht zurückkommen solltest.«

Anneliese schaute sich an, aber erst als Heiner schon im Bett und sie noch im Badezimmer war. Nackt stellte sie sich vor den Spiegel und betrachtete sich von allen Seiten, soweit es der Spiegel über dem Waschbecken zuließ. Natürlich sah sie nicht aus wie diese jungen Models mit den verboten langen Beinen, die sich immer und überall darum rissen, mit Rex zusammen fotografiert zu werden. Für die inzwischen siebenundfünfzig gelebten Lebensjahre auf ihrem Buckel hatte sie sich aber doch einigermaßen gut gehalten.

Sie drehte sich noch einmal nach links und musterte ihre Silhouette. Okay, der Busen war nicht mehr der festeste, ein bisschen hing er schon tiefer. Ein bisschen viel, wenn sie ehrlich zu sich selbst war. Der Bauch ließ sich auch nicht mehr so einfach einziehen – eine disziplinierte Diät würde da aber sicherlich schnell Abhilfe schaffen. Das wäre gar kein Problem, wenn sie nicht mehr für Heiner kochen müsste.

Anneliese wechselte wieder zur Frontalansicht. Kritisch betrachtete sie ihre Taille – tja, ihre Taille war noch nie besonders schmal gewesen. Daran hatte sie sich aber längst gewöhnt. Und ihre Haut – na ja, die war grundsätzlich etwas faltiger als noch vor ein paar Jahren. Sehr hell war diese Haut, vor allem am Körper, dort hatte die letzten dreißig Jahre ja auch keine Sonne mehr hingeschienen. Heiner war nun mal kein Freund von Freibädern und Strandurlaub. Aber nach ein paar Tagen an diesem einsamen Strand hinter Rex’ Villa in St. Tropez würde sie schon wieder Bräune bekommen, so wie als Kind oder junges Mädchen, und dann würde die Haut gleich wieder frischer aussehen. Oder sollte sie heimlich in ein Sonnenstudio gehen? Heiner würde das eh nicht merken, es war Monate her, dass er sie zuletzt nackt gesehen hatte.

Aber ihr Haar war noch voll. Ziemlich grau zwar inzwischen – oder eher eine Mischung zwischen mausbraun und grau, aber noch immer dick und voll. Und lang: Der geflochtene Zopf, den sie tagsüber meist zu einem praktischen Dutt aufgesteckt trug, baumelte jetzt beinahe bis zu ihrem Po. Den Po konnte sie allerdings nicht sehen, genauso wenig die Hüften – das Spiegelbild endete knapp unter ihrem Nabel. Aber sie wusste auch so, was da unten kam: ein Becken, das etwas zu breit geraten war. Gebärfreudig hatte ihre Mutter es immer genannt, in dieser Hinsicht war es aber ungenutzt geblieben. Brauereigaularsch hatte Heiner hin und wieder nicht sonderlich liebevoll gesagt. Ungemein weiblich hatte Rex zu dem Foto geschrieben, das sie ihm vor zwei Jahren spontan und überaus mutig mit ihrem allerersten Liebesbrief zugeschickt hatte. Da hatte sie das hübsche Sommerkleid mit den süßen Vergissmeinnicht und dem Plisseerock getragen. Ein etwas älteres Bild zwar, aber es war eines der wenigen, auf dem sie sich einigermaßen gefiel. Gerade mal siebenundvierzig war sie auf diesem Foto gewesen. Ihr Haar war auf dieser Aufnahme noch dunkelbraun, und ihre Beine steckten noch nicht in den fiesen dicken Stützstrümpfen, die ihr der Hausarzt vor einem Jahr wegen ihrer blöden Venenschwäche verordnet hatte. Eine Venenschwäche, die sie von ihrer Mutter und die von ihrer Mutter vererbt bekommen hatte. Ein Familienerbe, auf das Anneliese nur zu gern verzichtet hätte. Ein Familienerbe in Stützstrumpfform, von dem Rex derzeit noch nichts wusste – aber hatte er nicht immer wieder geschrieben, er würde sie so lieben, wie sie war?

Am liebsten hätte Anneliese auf der Stelle alle seine Briefe, die sie eigentlich schon auswendig kannte, noch einmal gelesen. Aber das musste bis zum nächsten Morgen warten, denn sie erlaubte sich diese Lektüre immer nur dann, wenn Heiner nicht im Haus war. Sie hatte viel zu viel Angst davor, dass er sie mit den Briefen erwischte. Nicht auszudenken, was er täte, wenn er hinter die heimliche, wenn auch im Moment nur schriftliche Liebesbeziehung von ihr und Rex käme! Noch konnte sie jeden Tag in die Briefe eintauchen, wenn Heiner im Dienst war, doch was würde sie machen, wenn er wie geplant in Frührente ging und dann den ganzen Tag zu Hause hockte?

Anneliese lächelte sich im Spiegel aufmunternd zu. Nur Mut, sagte dieser Blick, vielleicht lebst du dann schon längst mit Rex zusammen. Sollte Heiner sich nur lustig über sie machen, er hatte ja keine Ahnung, dass Rex sie, seine Ehefrau, begehrte und liebte. In jedem seiner Briefe schwor Rex ihr seine Liebe, bat sie aber auch immer wieder um Geduld. Geduld, weil er ihre Liebe erst der Öffentlichkeit preisgeben wollte, wenn er sich demnächst aus dem Showgeschäft zurückzog, wenn die Paparazzi ihn nicht mehr interessant finden würden und er und sie in Ruhe leben konnten.

Anneliese würde warten. Natürlich würde sie warten. Sie würde Heiner noch so lange ertragen.

Aber eines nahm sie sich fest vor: Ab sofort wollte sie Diät machen. Kilo für Kilo würde sie abnehmen, um attraktiver für Rex zu werden. Heiner würde das gar nicht merken, denn er sah sie schon lange nicht mehr richtig an. Und dann, wenn es endlich so weit wäre, würde sie ihre langweiligen Hausfrauenklamotten abstreifen wie ein Schmetterling seinen Kokon. Erschlankt und selbstbewusst würde sie sich neu einkleiden und strahlend und kaum wiederzuerkennen neben Rex treten …

Sie zog das Nachthemd über die nicht mehr ganz so straffen Brüste, lächelte sich aufmunternd zu und schaltete das Licht über dem Spiegel aus.

Acht Wochen später

»Geben Sie’s ruhig zu, Frau Musebrinck, Sie haben einen heimlichen Verehrer!« Mit fröhlichem Zwinkern überreichte der Postbote Anneliese einen Stapel Briefe.

Heiße Röte stieg ihr ins Gesicht, als sie die männlich-schwungvolle Handschrift auf dem zuoberst liegenden, hellblauen Briefumschlag erkannte. Das war ein Brief von Rex!

Annelieses Hände begannen zu zittern.

»Ein heimlicher Verehrer? Ich bitte Sie, Herr Hinz, wie kommen Sie denn darauf?« Nervös strich sie sich die Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich beim Bodenwischen aus dem Dutt gelöst hatte. Sie wagte es nicht, den Briefträger anzusehen, stattdessen steckte sie den hellblauen Brief nach ganz unten.

»Na, das ist doch nicht der erste Brief mit diesem teuren Papier und der tollen Schrift … und wie der wieder riecht! Nach einem sicherlich nicht billigen Rasierwasser, möchte ich meinen. Mir können Sie doch nichts vormachen, Frau Musebrinck, mit Briefen im Allgemeinen und mit Liebesbriefen im Besonderen kenne ich mich schließlich aus.«

Annelieses zermarterte ihr schockstarres Gehirn nach einer Ausrede. Nicht auszudenken, wenn dieser neugierige Postmensch eines Tages auf Heiner treffen und ihm von seinem Verdacht erzählen würde! Kurz überlegte sie tatsächlich, ob sie ihn unter einem Vorwand vor der Tür warten lassen, schnell in die Küche gehen und ein Messer holen und damit den gefährlichen Mitwisser niederstechen sollte.

»Der ist von meinem Bruder«, presste sie aber stattdessen hervor. »Er liebt schönes Briefpapier.«

»Ach, nur der Bruder?« Jakob Hinz klang enttäuscht.

Anneliese erkannte an seinem zutiefst skeptischen Gesichtsausdruck, dass er ihr nicht glaubte.

»Schade, normalerweise liege ich immer richtig mit meinen Diagnosen. Aber was soll’s, einen schönen Tag noch, Frau Musebrinck. Gut sehen Sie übrigens aus – haben Sie etwa abgenommen? Liebe Grüße an Ihren Gatten.« Mit diesen Worten wandte er sich von ihr ab und stieg winkend die Treppe ins nächste Stockwerk hinunter.

Anneliese schloss erleichtert die Tür und lehnte sich dagegen. Sie führte Rex’ Brief an ihre Nase und atmete seinen Duft ein.

Dann stutzte sie. Warum hatte der Briefträger eigentlich ihre Post in den zweiten Stock hochgebracht und nicht in den Briefkasten geworfen wie sonst? An die Tür kam er normalerweise nur, wenn er ein Päckchen für sie hatte – was sowieso recht selten vorkam – und in der Adventszeit, um sich seine Tüte selbstgebackene Kekse abzuholen, die sie ihm jedes Jahr als kleines Dankeschön für seine treuen Dienste übers Jahr zu Weihnachten schenkte.

Dass er heute die Post persönlich überreicht hatte, war also eindeutig verdächtig. Anneliese wurde schlagartig heiß in ihrer Kittelschürze: Jakob Hinz ahnte nicht nur was – er wusste garantiert längst Bescheid! Wollte der Kerl, der mit seinen dreiundvierzig Jahren noch ledig war und deshalb noch bei seiner beinahe achtzigjährigen Mutter lebte, sie am Ende mit seinem Wissen erpressen?

Annelieses Herz schlug vor Aufregung hart gegen ihre Rippen. Doch was könnte dieses Muttersöhnchen schon von ihr fordern, fragte sie sich. Geld? – Nein, dieser Hinz kannte sie und ihren Mann schon so lange, er wusste, dass bei ihnen nur Heiner arbeitete. Und er wusste doch sicherlich auch, dass Heiner als kleiner Angestellter beim Finanzamt nicht sonderlich viel verdiente – würden sie sonst noch in einer nicht gerade großen Dreizimmerwohnung in einem eher traurig wirkenden Wohnblock wohnen?

Nein, Geld konnte es nicht sein, entschied Anneliese. Kuchen und Kekse vielleicht? Sie wusste genau, dass Jakob Hinz ihr Selbstgebackenes liebte. Aber würde er sie dafür erpressen? Jeden Tag Kuchen oder Kleingebäck bis ans Ende seines Lebens?

Anneliese tat das als Quatsch ab. Ja, ihre Kuchen und Torten waren wirklich gut – aber dafür würde doch niemand straffällig werden, oder?

Dann blieb also nur eins übrig: SEX!

Diese Erkenntnis fuhr Anneliese derart in die Knie, dass sie sich auf das Telefonbänkchen setzen musste.

Natürlich! Jakob Hinz war ein ewiger Junggeselle, irgendwohin musste er doch mit seinen … ähm sexuellen Bedürfnissen! Aber dass er ausgerechnet sie dafür ausgesucht hatte? Eine verheiratete Frau, die zudem noch einige Jahre älter war als er?

Andererseits war das vielleicht gar nicht so abwegig, überlegte Anneliese, deren Herzschlag sich einfach nicht beruhigen konnte. Immerhin kannte Jakob Hinz sie seit so vielen Jahren. Sie war immer freundlich zu ihm gewesen, hatte ihn gelegentlich mit ihren köstlichen Backwaren verwöhnt … war sie am Ende zu nett zu ihm gewesen? Hatte sie ihm, natürlich ohne es zu wissen, damit Hoffnungen gemacht?

Anneliese stand auf und betrachtete sich prüfend im Dielenspiegel. Konnte sich dieser stets höfliche und eher langweilig wirkende Mann tatsächlich in sie verliebt haben? Wäre ihm denn sonst aufgefallen, dass sie abgenommen hatte? Ihr unaufmerksamer Heiner hatte jedenfalls nichts von den fehlenden vier Kilos bemerkt.

Anneliese spielte mit der Haarsträhne, die sich schon wieder aus dem Dutt gelöst hatte.

Nun, eine Schönheit war sie nie gewesen, nicht mal als junge Frau. Das hatte sie immer gewusst und auch nie vergessen, weil Heiner es ihr immer und immer wieder gesagt hatte. Aber hässlich war sie auch nicht, eher unscheinbar. Ein liebender Mann würde sicherlich ihre schöne Seele erkennen – so wie Rex. Sie schnupperte erneut an seinem Brief. Er liebte sie so, wie sie war. Warum also sollte sich nicht ein jüngerer Mann wie Jakob Hinz in sie verliebt haben?

Oder … Mit schreckensweiten Augen starrte ihr Spiegelbild sie an.

Oder war Hinz am Ende ein Triebtäter, ein Serienvergewaltiger, der sich regelmäßig an ältere Frauen heranmachte, weil er keine junge mehr abbekam?

Anneliese musste sich wieder setzen. Wurden diese Sexualtäter nicht immer als unauffällige, nach außen hin überaus nette, charmante Personen beschrieben? Schüchterne, nichtssagende, langweilige Eigenbrötler?

Sie musste unkontrolliert kichern. Dann könnte ihr Heiner auch so ein hinterhältiger Triebtäter sein – obwohl, wirklich nett war er nicht, und charmant schon mal gar nicht.

Auf jeden Fall würde sie Jakob Hinz ab sofort genau beobachten, wenn er in ihre Nähe kommen sollte. Und eins nahm sie sich fest vor: Erstens würde sie nicht mehr nett zu ihm sein, und zweitens würde er ganz sicher keine Leckereien mehr von ihr bekommen!

Schwerfällig stand sie auf. Sie legte die Post in die Schale auf dem Schuhschrank, nur den blauen Brief von Rex drückte sie fest an ihr liebendes Herz und schloss sich damit in ihrem Hauswirtschaftsraum ein. Heiner war zwar nicht da, er würde erst in etwa drei Stunden vom Dienst kommen, aber indem sie den Schlüssel im Schloss drehte, bekam sie das Gefühl, allein mit Rex zu sein. Hastig zog sie die Kittelschürze aus und hängte sie an die Türklinke, denn vor ihrem Rex wollte sie auf gar keinen Fall wie eine Putzfrau aussehen.

Nachdem sie den Korb mit der ungebügelten Wäsche auf den Boden gestellt hatte, setzte sie sich auf den alten Hocker, auf dem schon ihre Mutter die Bügelwäsche abgestellt hatte. Bevor sie den Brief vorsichtig öffnete, sah sie zu Rex hinüber, der sie wie immer von seinem lebensgroßen Poster herab strahlend anlächelte. Seine Zähne blitzen dabei weiß und ebenmäßig zwischen den leicht und verheißungsvoll geöffneten Lippen hervor. »Jacketkronen« hatte Heiner vor Kurzem herablassend gesagt. – Na und, dachte Anneliese trotzig. Was war denn dagegen einzuwenden, wenn ein Mann sich pflegte und auf sein Äußeres achtete? Sie liebte gepflegte Männer – ein Attribut, das man Heiner nun wirklich nicht nachsagen konnte! Natürlich musste er nicht wie Rex immerzu Interviews geben, an Talkshows teilnehmen und stets für die immer und überall lauernden Paparazzi perfekt aussehen. Heiner konnte im Feinrippunterhemd und Jogginghose den Müll zur Mülltonne bringen – er hatte schließlich kein Publikum, keine Fans, denen er gefallen musste. Und ihr wollte Heiner anscheinend schon lange nicht mehr gefallen. Andererseits war es ihr inzwischen egal, wie Heiner daheim herumlief.

Sie betrachtete Rex liebevoll. An ihm konnte sie sich gar nicht sattsehen.

In Zeitlupentempo zog sie den zusammengefalteten Brief – ebenfalls hellblaues Papier – aus dem Umschlag. Sie wollte diesen Moment auskosten, wollte ihn so lange wie möglich hinauszögern. Noch einmal sog sie den Duft ein, dann klappte sie ihn auseinander.

 

Meine liebste Rose!

 

Anneliese presste den Brief spontan an ihren Busen. Rose! Rex hatte ihr schon in seinem ersten Brief diesen Namen gegeben, und sie hatte ihn nie gefragt, wie er darauf gekommen war. Ihr gefiel dieser Name, immer wenn sie ihn las, fühlte sie sich genauso: schön und besonders wie eine Rose. Nicht mehr wie Lieschen Müller, das Mauerblümchen von damals. Automatisch setzte sich aufrechter hin und strich erneut die widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr.

Meine liebste Rose!

Wie ich mich nach dir sehne! Dein letzter Brief war so wunderschön, so voller Liebe – jeden Tag lese ich ihn, morgens, mittags, abends, um darin einzutauchen und meinem harten, kräftezehrenden Alltag, der unerbittlichen Arbeit im Tonstudio und der Einsamkeit auf Tour für kurze Zeit entfliehen zu können. Er liegt sicher unter meinem Kopfkissen, ich schlafe also jede Nacht mit deinen liebevollen Worten ein. So bist du mir nah, auch wenn uns so vieles trennt. Doch bald, bald mein Liebstes, meine Rose, mein Augenstern, werden wir für immer zusammen sein, dann kann uns nichts mehr trennen. Allein dieser Gedanke lässt mich Tag für Tag, Woche für Woche durchhalten.

In den letzten Stunden war die Sehnsucht nach dir so stark, dass ich aus dieser Sehnsucht heraus ein neues Lied geschrieben habe – nur für dich!

 

»Und trennen uns auch Welten,

mein Herz schlägt nur für dich!

Und trennen uns auch Welten,

du, Rose, tröstest mich!

 

Und trennen uns auch Meere,

mein Herz schlägt nur für dich!

Und trennen uns auch Meere,

du, Rose, tröstest mich!

 

Und trennen uns auch Grenzen,

mein Herz schlägt nur für dich!

Und trennen uns auch Grenzen,

du, Rose, tröstest mich!«

 

Gerade bin ich noch dabei, die Musik dazu zu komponieren. Es soll die erste Single-Auskopplung von meiner nächsten Platte werden, das habe ich schon mit meinem Produzenten abgeklärt. Dieses Lied wird unsere Verbindung sein, unser geheimer Code. Immer, wenn du es im Radio hörst, wirst du spüren, wie sehr ich dich vermisse, wie sehr ich dich – nur dich! – liebe!

Liebste Rose, ich zähle die Tage bis zu deinem nächsten Brief, lass mich nicht zu lange darauf warten!

In tiefer, unerschütterlicher Liebe für immer

dein Rex

 

Anneliese las den Brief noch einmal und noch einmal und noch einmal. Die schönen Worte machten sie regelrecht betrunken. Sie konnte kaum glauben, dass ein einzelner Mensch – noch dazu ein Mann – solch wunderbare Zeilen verfassen konnte. Nicht umsonst war Rex Armando ein solch erfolgreicher Schlagerstar!

Das Klappen der Wohnungstür riss sie aus ihren Träumen.

»Anneliese, ich bin wieder da!«

Heiner?! Jetzt schon, wunderte sie sich. Der Blick auf die Uhr im Regal ließ sie zusammenzucken: Volle drei Stunden saß sie nun schon hier, sie hatte völlig die Zeit vergessen!

Wie von der Tarantel gestochen sprang sie auf. Mit fahrigen Bewegungen faltete sie den Brief zusammen und stopfte ihn zurück ins Kuvert. Das Eselsohr, das sie dabei in das zartblaue Papier knickte, tat ihr in der Seele weh, aber sie hatte keine Zeit mehr, um das zu korrigieren. Sie konnte ihn nicht einmal mehr in der Rosenbox verstecken, denn Heiners Schritte näherten sich der Tür zum Hauswirtschaftsraum, hielten einmal kurz inne, weil Heiner wie jeden Abend seinen schrecklich altmodischen und bei der vorherrschenden sommerlichen Wetterlage völlig überflüssigen Trenchcoat an der Garderobe aufhängte. Anneliese sah vor ihrem inneren Auge, wie er seinen Aktenkoffer auf der Telefonbank abstellte, seine Halbschuhe von den Füßen streifte und in seine uralten Lederpantoffeln schlüpfte. Ein Meter trennte ihn noch von der Tür, hinter der sie wie zur Salzsäule erstarrt mit dem verräterischen Brief in der Hand stand. Wenn er merkte, dass sie abgeschlossen hatte, würde es Ärger geben!

»Anneliese?«

Anneliese erwachte endlich aus ihrer Schockstarre. Schnell schob sie den Brief in eine ihrer Schürzentaschen und steckte geistesgegenwärtig den Stecker des Staubsaugers in die Steckdose. Das sofortige laute Aufheulen des Elektrogerätes nutzte sie, um ungehört den Schlüssel im Schloss zu drehen. Keine Zehntelsekunde zu früh, denn da senkte sich schon die Klinke, die Tür öffnete sich und Heiner streckte seinen Kopf ins Zimmer.

»Was treibst du denn da?«, rief er über das Getöse hinweg.

»Saugen«, rief Anneliese zurück.

»Das sehe ich, aber wieso jetzt?«

»Was sagst du?« Anneliese tat geschäftig und schob unberirrt die Staubsaugerdüse über den blitzblanken Boden.

Heiner zog den Stecker.

»Wieso du das jetzt machen musst«, wiederholte er seine Frage. »Du hast doch den ganzen Tag Zeit für so was. Ich habe Hunger!«

»Mir ist vorhin die Waschmittelschachtel umgefallen, ich wollte nur schnell die Reste wegsaugen«, log sie geradezu genial. »Ist es denn schon so spät?«

»Wenn ich da bin, ist es wohl schon so spät«, sagte er übellaunig.

»Ach herrje, ich hab gar nicht auf die Uhr gesehen! Aber dieses Waschmittelpulver war bis in die kleinste Ritze verteilt …«

»Ja, ja, so genau will ich es gar nicht wissen. Was gibt’s zu essen?«

Wenn sie schon mit Rex zusammenleben würde, dann müsste sie sich jetzt keine Gedanken machen, dann hätte nämlich das Personal bereits die nötigen Vorbereitungen getroffen. Oder Rex würde einfach sagen: »Kein Problem, meine Rose, zieh dir was Hübsches an, wir gehen was Schnuckeliges im Restaurant essen.«

Doch im Hier und Jetzt musste sie sich selbst um etwas Essbares für Heiner und sich kümmern. Im Geiste ging sie den Inhalt des Kühlschranks durch. Das geschnetzelte Schweinefleisch, das es eigentlich heute hätte geben sollen, lag dort. Allerdings noch roh. Das würde es also morgen geben.

»Es gibt Vesper, das geht schnell«, sagte sie, während sie per Knopfdruck das lange Kabel im Bauch des Staubsaugers verschwinden ließ. »Ich hab schönes frisches Brot gekauft, und ich dachte, wir machen uns ein feines Rührei und ein paar Radieschen mit Kräutersalz dazu. Rührei isst du doch so gern.«

Heiner nickte beiläufig und schlurfte dann davon.

Als sich Anneliese sicher sein konnte, dass er im Bad war, um die Bürokleidung gegen seinen heißgeliebten blauen Jogginganzug einzutauschen, ließ sie Rex’ Brief in ihrem Versteck verschwinden.

Summend ging sie in die Küche und bereitete in Rekordzeit das Abendessen zu.

Einen Tag später

»Ich hab einen neuen Brief bekommen«, flüsterte Anneliese in den Telefonhörer, obwohl es vierzehn Uhr am Nachmittag und Heiner in seinem Amt war. »Kommst du rüber?«

»Ich fliege!«, flötete ihr Elfriede Krause, ihre beste Freundin und Vertraute seit Schultagen, ins Ohr. Dann war das Gespräch schon beendet, mehr Worte bedurfte es nicht.

Anneliese legte den Hörer auf und ging in die Küche. Sie goss ein letztes Mal heißes Wasser in den Filter, und kaum, dass sie den frisch gebackenen Johannisbeerstreuselkuchen angeschnitten hatte, klingelte es schon an der Tür. Elfriede musste tatsächlich geflogen sein, auch wenn der Weg von ihrer Wohnung im dritten Stock im Nachbarhaus, das kleine Stück über den Hof und die Treppe zu Anneliese in die zweite Etage wirklich keine Entfernung war. Aber Elfriede war nun mal nicht die Fitteste.

Dementsprechend keuchend stand sie auch vor Annelieses Wohnungstür, ihr üppiger Busen, nein, ihr gesamter üppiger Körper wogte bedenklich auf und ab, während ihre arme Lunge verzweifelt nach Luft rang. Elfriede wog mit ihrer etwas zu kurz geratenen Körperlänge locker hundert Kilo – wenn nicht gar mehr. Anneliese musste das jedoch schätzen, genaue Zahlen verriet sie nicht einmal ihrer besten Freundin.

Fette Kuh nannte Heiner ihre beste Freundin, die beste Freundin wiederum nannte ihren Mann einen sterbenslangweiligen Sesselpupser. Die beiden mochten sich nicht sonderlich, um nicht zu sagen gar nicht.

Elfriede folgte Anneliese in die Küche, wo sie sich ächzend auf Heiners Platz auf der Eckbank niederließ. Ihr Gesicht mit den von der Anstrengung rotglühenden Apfelbäckchen war schweißnass. Mit einer ihrer pummeligen Hände wischte sie sich eine abtrünnige Locke aus dem Gesicht. Erst gestern war Elfriede beim Friseur gewesen, der graue Haaransatz war verschwunden und ihre Dauerwelle war aufgefrischt. Durch den Schweiß hatten sich die liebevoll gewickelten großen Locken in einen fröhlich gekräuselten Wischmopp verwandelt. Bis auf den frisch gefärbten Haaransatz hätte sie sich diesen bestimmt sündhaft teuren Friseurbesuch sparen können. Das fand zumindest Anneliese. Da war sie doch mit ihrer pflegeleichten Hochsteckfrisur bestens bedient: Annelieses glattes Haar – Schnittlauchlocken hatte ihre Mutter früher immer dazu gesagt – benötigte auf diese Weise keine Lockenwickler, keine Haarfärbemittel, keine regelmäßigen und vor allem zeitaufwendigen Besuche im Friseursalon. Und Geld sparte sie dadurch auch jede Menge, ihre Spitzen schnitt sie sich nämlich schon seit Jahren selbst. Natürlich würde sich das alles ändern, wenn sie erst bei Rex wäre. Anneliese wusste auch schon genau, welche Frisur sie wollte: Zopf ade, eine freche Kurzhaarfrisur sollte es sein, und das Mausgrau würde ebenfalls verschwinden, sie träumte von einem kräftigen Mahagoniton, eventuell auch ein sattes Tizianrot.

»Diese Treppen bringen mich noch um! Und dann diese Hitze!« Elfriede tupfte sich mit der roten Papierserviette, die Anneliese neben ihren Teller gelegt hatte, den Schweiß vom Gesicht.

Das Problem mit dem Treppensteigen würde sie mit einer konsequenten Diät in den Griff bekommen, dachte sich Anneliese, sagte es aber nicht. Warum sollte sie die beste Freundin mit einem Thema belästigen, welches diese schon längst abgehakt hatte? Als Tochter des Dorfbäckers war Elfriede schon als Kind zu dick gewesen, und Abmagerungskuren mit Sahne- und Cremetorten waren nun mal nicht sehr wirkungsvoll. Doch Elfriede liebte sich so, wie sie war, und die Männer anscheinend ebenfalls, denn sie hatte letztes Jahr ihren dritten Ehemann zu Grabe getragen. – Also nur den dritten, von den anderen beiden hatte sie sich scheiden lassen.

Die Hitze war allerdings wirklich beinahe unerträglich. Schon seit ein paar Tagen ging das so, und der Sommer hatte gerade erst begonnen. Nicht mal in der Nacht kühlte es mehr auf einigermaßen angenehme Temperaturen ab. Laut Meteorologen würde dieser Sommer der heißeste werden, seit es Wetteraufzeichnungen gab – noch schlimmer als die beiden vergangenen. Doch auch wenn Anneliese mit derartigen Temperaturen weit besser zurechtkam als Elfriede – in den engen Stützstrümpfen war es trotzdem unangenehm. Aber das würde sie vor der Freundin niemals laut sagen.

»Wollen wir erst einmal etwas Kaltes trinken?« Anneliese hatte am Morgen beim Einkaufen heimlich eine Flasche Prosecco gekauft, die jetzt im Gemüsefach unter dem eingewickelten Kopfsalat und den Zucchini vor sich hin kühlte. Heimlich deswegen, weil Heiner solches Schicki-Micki-Blubberwasser, wie er es immer abfällig nannte, nicht mochte und daher auch nicht bezahlen wollte. Was man jedoch nicht weiß, macht einen nicht heiß – frei nach dieser Devise genehmigte sich Anneliese immer mal wieder ein Fläschchen Sekt oder ein Piccolöchen. Das war zwar noch weit entfernt von dem noblen Champagner, den Rex tagtäglich trank, aber zum Üben reichte es. Sie musste die leeren Flaschen nur zum Altglas in den Keller bringen, bevor Heiner nach Hause kam.

Elfriede sagte wie immer nicht Nein: »Der wird meinen Kreislauf sicherlich wieder auf Trab bringen.«

Nach zwei Gläsern Kreislaufmittel und einer Tasse Kaffee hatte sie sich dann so weit erholt, dass sie wieder normal atmen konnte.

»Isst du denn nichts?«, fragte sie zwischen zwei großzügig geschnittenen Stücken Kuchen.

»Ach, ich hab heut irgendwie keinen Appetit, muss an der Hitze liegen.« Anneliese würde einen Teufel tun und sich von diesem Dickmacher von ihrem Weg zu einem attraktiveren Selbst abbringen lassen!

Elfriede musterte sie kritisch. »Du siehst schlecht aus, richtig dünn. Hast du abgenommen? Vielleicht solltest du mal zum Arzt gehen.«

Anneliese strich den Rock glatt, der so angenehm locker auf ihren Hüften saß. »Nein, nein, mir geht es gut.«

»Wenn du meinst. Und jetzt zeig mir endlich den Brief!«

Anneliese räumte den Tisch bis auf die Sektgläser ab und wischte mit einem feuchten Lappen alle Krümel von der Wachstuchdecke. Nachdem sie den Lappen ausgespült und ausgewrungen hatte, reichte sie ihn zusammen mit einem Handtuch Elfriede hinüber, damit sie sich die Finger damit abwischen und gleich abtrocknen konnte. Schlimm genug, dass der letzte Brief von Rex ein Eselsohr abbekommen hatte – Fettflecke durften auf gar keinen Fall draufkommen.

Dann holte sie die Rosenbox aus dem Bügelzimmer, stellte sie auf den Tisch und setzte sich auf den Stuhl neben die Freundin.

Ehrfurchtsvoll betrachteten beide die Schachtel, als wäre sie der heilige Gral. Schließlich klappte Anneliese den Deckel auf und entnahm den letzten Brief.

»Er hat ein Lied für mich geschrieben«, hauchte sie. Sie war noch immer von dieser Geste gerührt.

»Hat er das gesagt?«

»Er hat mir den Liedtext aufgeschrieben. Er ist« – Anneliese schluckte schwer und zutiefst ergriffen – »wunderschön und unglaublich romantisch!« Sie zog den Brief so vorsichtig aus dem Kuvert, als wäre er etwas sehr Kostbares. Was er ja für sie persönlich auch war. Kurz drückte sie ihn an ihren Busen, dann übergab sie ihn feierlich Elfriede.