Trollschoppe - Gina Greifenstein - E-Book

Trollschoppe E-Book

Gina Greifenstein

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Beschreibung

Ein köstliches Krimivergnügen. In Essingen in der Südpfalz wird feuchtfröhlich Kerwe gefeiert. Doch während Paula Stern und Bernd Keeser von der Landauer Mordkommission den Abend genießen, wird im Schutz der Dunkelheit eine tote Frau in den Weinbergen abgelegt. Mit Kater und Kopfschmerztabletten nehmen die beiden die Ermittlungen auf. Ein Tatverdächtiger ist schnell gefunden – aber der ist leider selbst schon tot …

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Gina Greifenstein wuchs im unterfränkischen Würzburg auf, lebt und arbeitet aber seit über zwanzig Jahren als Autorin in der Südpfalz. Aus ihrer Feder stammen zahlreiche Bestsellerkochbücher, aber auch Romane. Insbesondere die Pfalz-Krimi-Reihe um die junge Ermittlerin Paula Stern wird regelmäßig fortgesetzt – vor der eigenen Haustür mordet es sich schließlich am besten.

www.gina-greifenstein.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang finden sich Rezepte und ein Glossar.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Helmut Meyer zur Capellen/imageBROKER

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-967-9

Pfalz Krimi

Originalausgabe

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Der Wein muss atmen,

immer hören wir, der Wein muss atmen.

Wir wollen ihn trinken,

nicht wiederbeleben!

Woipirinha – oder: Mindestens einer zu viel!

Freitag, 27.August

Zum dritten Mal fuhren Paula Stern und Matthias Weber jetzt mit ihrem Wagen durch Essingen. Wegen der Kerwe waren einige Straßen gesperrt, und jede noch so kleine Parklücke war besetzt. Viele Autos waren einfach abgestellt worden, wo sie nicht hätten stehen dürfen. Ein Streifenpolizist hätte seine wahre Freude daran gehabt.

Der Parkplatz, den Matthias letztendlich fand, war dann etwas außerhalb des Ortes, am Rande eines besseren Feldweges. Paula bezweifelte, dass sie den Wagen jemals wiederfinden würden.

Hand in Hand gingen sie etwa einen Kilometer zurück, bis sie endlich in der Gerämmestraße vor dem Weingut Benz standen, das Kollege Bernd Keeser als Treffpunkt angegeben hatte.

Eine halbe Stunde später als verabredet betraten sie den gepflasterten Innenhof. Sechsertische mit hübschen Gartenstühlen unter hellen Marktschirmen luden zum Verweilen ein. Weiter hinten standen Biertische und -bänke. Zusätzlich gab es Stehtische und große Weinfässer, um die sich gut gelaunte Gäste drängten. Überhaupt war der Hof voller Menschen. Auch auf den Bänken aus Holzpaletten in dem kleinen Gärtchen mit dem kleinen Wasserbecken gleich rechts neben der Einfahrt war kein Platz mehr frei. Von weiter hinten kam Livemusik, sehr gut gecoverte bekannte Pop-Rock-Songs. Der Duft von gebratenen Steaks und Bratwürsten lag in der Luft.

An einem der vorderen Tische entdeckte Paula ihren Kollegen. Abgesehen davon, dass er ihnen zuwinkte, wäre er mit seinen eins dreiundneunzig nicht zu übersehen gewesen.

Paula und Matthias schlängelten sich bis zu ihm und seiner höchstpersönlichen Staatsanwältin, wie er seine Lebensgefährtin Marianne Renner liebevoll nannte, durch.

Wie auch stets im Dienst trug Keeser ein kariertes Hemd, Marianne neben ihm hatte Jeans und eine kurzärmlige, ebenfalls karierte Bluse an. Soweit sich Paula erinnern konnte, war es das erste Mal, dass sie die Staatsanwältin derart leger gekleidet und nicht im eng sitzenden Kostüm sah. Einmal hatte sie sie nur mit Keesers Hemd am Leib angetroffen, aber das war nicht in der Öffentlichkeit gewesen und zählte somit nicht.

Nach kurzer Begrüßung nahmen Paula und Matthias ihnen gegenüber Platz.

Auf dem Tisch standen neben einem Windlicht schon ein transparenter Weinkühler mit einer Flasche Weißwein und vier Gläser, zwei davon waren gefüllt. Keeser wollte ihnen ebenfalls einschenken, aber die Flasche gab nur noch einen etwas größeren Schluck her.

»Ich besorg ’ne neue.« Und schon war er aufgestanden und mit dem Leergut in Richtung Ausschank verschwunden.

»Da habt ihr ja schon einen ordentlichen Vorsprung herausgearbeitet.« Paula nahm das Glas und stieß mit Marianne an. »Hm, der ist aber fein.« Sie reichte einen kläglichen Rest an Matthias weiter.

»Grauer Burgunder, Bernds neuer Favorit. Er hat letzte Woche fünf Kartons davon geholt.«

»Nur fünf?« Matthias stellte das leere Glas auf den Tisch.

»Grauburgunder nur fünf, dann noch zwei Chardonnay, zwei Blanc de Noir und zwei Saint Laurent.«

»Und drei Kartons Riesling für meine Schorle«, ergänzte Keeser, der sich mit einer neuen Flasche wieder zu ihnen setzte. Er füllte die Gläser und hob dann seines. »Ich finde es immer sehr beruhigend, wenn der Weinkeller voll ist.«

»Und was ist mit dem Kühlschrank?«, frotzelte Paula und stieß mit ihm an.

»Sehr gute Überleitung, liebste Kollegin.« Er streichelte seinen wohlgenährten Bauch. »Wir sollten uns demnächst um was zu essen kümmern, bevor ich vom Fleisch falle.«

Marianne warf ihm einen abschätzenden Blick zu. »So schnell wird das schon nicht passieren.«

Entrüstet sah Keeser sie an. »Ich habe immerhin sechshundert Gramm abgenommen!«

»Das klingt wirklich beängstigend, du armer abgemagerter Mann.« Lachend gab sie ihm einen Kuss auf die dreitagesbärtige Wange.

»Wo habt ihr denn geparkt?«, fragte Matthias.

»Gar nicht, wir sind mit dem Taxi da.« Marianne strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem locker im Nacken gebundenen Pferdeschwanz gelöst hatte. »Einer von uns beiden hätte ja sonst nichts trinken dürfen, und wie es die Vergangenheit gezeigt hat, wäre das sicherlich wieder ich gewesen.«

Energisch schüttelte Keeser den Kopf mit der dichten, schon recht angegrauten Haarmähne, die mal wieder einen Friseur nötig gehabt hätte. »Was redest du denn da, ich bin auch schon gefahren.«

»Ganze zwei Mal, soweit ich mich erinnern kann.«

»Na also.«

»Zwei Mal in – großzügig gerechnet – zwei Jahren?«, sagte Marianne spöttisch.

»So lange halte ich das schon mit dir aus? Respekt. Darauf sollten wir trinken.« Schmunzelnd stieß er sein Glas an ihres.

»Ich halte es mit dir aus, mein Lieber, so wird ein Schuh daraus. Und ich frage mich jeden Tag, wie ich das schaffe.«

»Geht mir genauso«, bemerkte Paula lachend.

»Ihr Unglücklichen, gründet doch eine Selbsthilfegruppe«, schlug Keeser vor.

»Gar keine so schlechte Idee – mit Geigerlein wären wir dann schon zu dritt.«

Keeser spielte empört. »Geigerlein liebt mich!«

»Besonders dann, wenn du freihast oder im Urlaub bist«, neckte Paula.

»Apropos frei – wie ist so ein Abend ohne Kind?«

»Ganz ehrlich, Marianne? Ich fühle mich wie eine Rabenmutter.«

Matthias verdrehte die Augen. »So ein Unsinn, unsere Süße ist bei Oma und Opa bestens aufgehoben.«

»Das weiß ich doch, trotzdem hab ich das Gefühl, dass sie dafür vielleicht noch zu klein ist. Wenn was passiert …«

Er legte ihr beruhigend die Hand auf den Oberschenkel. »Davon abgesehen, dass nichts passieren wird, haben wir beide unsere Handys dabei, und es sind gerade mal elf Kilometer von hier nach Herxheim. Wir wären also im Handumdrehen vor Ort.«

»Erst mal müssten wir kilometerweit zu unserem Auto laufen.«

»Falls du dich noch erinnern kannst, mein Schatz: Die Situation, in die du dich und Lotta ein paar Tage nach der Entbindung gebracht hattest, war um einiges gefährlicher als eine Nacht bei meinen Eltern.«

Er hatte recht, das war nicht nur gefährlich, sondern auch unverantwortlich gewesen, und sie wollte sich lieber nicht dazu äußern.

»Paula, es passiert schon nichts«, mischte Keeser sich ein.

Sie verzog das Gesicht. »Und du weißt das so genau, weil du selber schon so viele Kinder großgezogen hast?«

»Genieß einfach den Abend, mehr wollte ich damit nicht sagen.«

»Meinst du, wir werden ihr fehlen?«

»Fühlst du dich auch so, wenn du zur Arbeit gehst und mich mit Lotta alleine lässt?«

»Nein, Matts … na ja, manchmal schon ein bisschen. Aber dann bist du ja bei ihr.« Sie sah in seine wunderbar blauen Augen. »Aber jetzt lässt du sie auch noch allein.«

»Paula, sie ist nicht allein.«

»Ich weiß, aber für mich fühlt es sich irgendwie so an, als würden wir sie bei deinen Eltern abladen, um uns vergnügen zu können.«

»Und genau das werden wir tun: Wir werden uns an diesem ersten Abend ohne Kind nach einer gefühlten Ewigkeit nach Strich und Faden vergnügen.« Er zwinkerte ihr unternehmungslustig zu.

Im tiefsten Inneren wusste Paula, dass Matthias recht hatte. Ganz besonders er hatte diesen kinderlosen Abend verdient, weil er seit Lottas Geburt im April von früh bis spät Hausmann und Papa war, während sie wenigstens ein paar Stunden am Tag ein ganz normales Leben mit Arbeit und Kollegen führen durfte.

»Wir werden einen schönen Abend haben, eine Nacht, in der wir endlich mal durchschlafen können –«

»In der ihr aber auch einen neuen Bazillus machen könnt«, warf Keeser dazwischen.

Paula bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. Sie würde garantiert keinen neuen »Bazillus« machen. Bazillus hatten sie das kleine Wesen in ihrem Bauch anfangs immer genannt, weil sie die Übelkeit zu Beginn der Schwangerschaft irrtümlich einem Magen-Darm-Virus zugeordnet hatte. Lotta würde garantiert ihr einziges Kind bleiben, schon allein deswegen, weil sie ganz sicher nicht noch einmal eine schmerzhafte Entbindung durchmachen wollte. Zukünftig würde sie einer Darmgrippe definitiv den Vorzug geben.

Auch Matthias ging nicht darauf ein. »Morgen frühstücken wir in aller Ruhe, und dann holen wir die kleine Maus schon wieder ab. Das sind gerade mal …«, er sah auf seine Armbanduhr, »… vierzehn Stunden.«

Keeser schlug mit beiden Händen auf den Tisch. »Ich würde vorschlagen, wir holen uns erst mal was zum Essen – das stärkt die Nerven und liefert die nötige Grundierung. Was haltet ihr von Flammkuchen als Vorspeise?«

Damit rannte er bei Paula offene Türen ein.

»Also dann, Matthias, gehen wir mal für unsere Mädels Futter jagen.«

Die beiden standen auf und verschwanden zwischen den Leuten.

Marianne sah Paula an. »Das mit dem Sie-geht-arbeiten-und-er-ist-der-Hausmann scheint bei euch ja ganz gut zu klappen.«

»Matts hat sich jedenfalls noch nicht beschwert.«

»Ich glaube, ich würde es genauso machen, ich würde auch weiterarbeiten wollen.«

»Möchtest du denn ein Kind?«

»Als Spätgebärende wie einst Gianna Nannini? – Eher nicht.«

»So alt bist du doch gar nicht.«

»In Kürze fünfundvierzig. Bernd ist schon siebenundfünfzig. Meiner Meinung nach zu spät für Nachwuchs. Alle würden denken, wir sind die Großeltern, wenn wir den Knirps vom Kindergarten abholen.«

»Aber so ein kleiner süßer Keeser …« Paula zwinkerte ihr zu.

Abwehrend hob Marianne die Hände. »Um Himmels willen, einer von der Sorte genügt mir vollkommen.«

»Kein Mini-Fridolin? Schade.«

»Lass Bernd das bloß nicht hören.«

Paula lachte vergnügt. Sie wusste genau, wie peinlich Keeser sein zweiter Vorname war.

»Seid ihr wirklich schon zwei Jahre ein Paar?«, wechselte sie das Thema.

»Kaum vorstellbar, aber wahr.«

»Habt ihr euch schon mal Gedanken gemacht, zusammenzuziehen?«

»Klar, wir reden immer mal wieder darüber.«

»Und wo wollt ihr wohnen? In Keesers Häuschen oder in deiner Wohnung?«

»Wir sind uns noch nicht einig. Er hängt an seinem verwinkelten Fachwerkhäuschen auf dem Land, und ich liebe den Komfort meiner modernen Wohnung im Zentrum von Landau. Von mir aus können wir auch weiterhin getrennt wohnen, so behalten wir beide unsere Rückzugsorte. Und bei euch?«

»Eigentlich wohnt Matthias inzwischen bei mir, hat sich irgendwie so ergeben. Jetzt geht das noch, aber wenn Lotta größer ist, wird es zu eng.«

»Was ist mit seiner Wohnung?«

»Die ist auch nicht viel größer. Außerdem kann ich von meiner Wohnung aus zur Dienststelle laufen, von Nußdorf aus geht das schlecht, da müsste ich in Ermangelung eines Autos immer mit dem Motorrad fahren. Was im Winter nicht so prickelnd ist.«

»Noch hast du dein Büro vor der Nase. Die Bauarbeiten für das neue Dienstgebäude in der Paul-von-Denis-Straße sind aber in vollem Gange. Spätestens übernächstes Jahr zieht ihr dann mit eurer Mordkommission um.«

»Ich weiß, und ich finde das echt schade. Nicht nur wegen des kurzen Arbeitsweges, sondern weil wir aus diesem schönen alten Gebäude raus- und in einen riesigen Betonklotz reinmüssen.«

»Aber dann sind endlich alle Kommissariate unter einem Dach, das ist doch insgesamt viel praktischer.«

»Was ist viel praktischer?« Keeser stellte ein Holzbrett mit einem duftenden Flammkuchen auf den Tisch.

Von der anderen Seite kam Matthias mit einem weiteren Brett.

Marianne nahm sich gleich ein Eckstück von dem vorgeschnittenen Fladen, pustete kurz und biss dann hinein. »Dass alle Kommissariate in Zukunft in einem Gebäude zu finden sind«, wiederholte sie schwer verständlich.

»Praktisch ja, aber mir graust vor diesem unpersönlichen Kasten. Bestimmt verlauf ich mich in der ersten Zeit andauernd und komme deswegen zu spät zum Dienst. Vielleicht sollte ich einen Antrag stellen, dass ich weiterhin im Westring bleiben kann? Als zentrumsnahe Außenstelle.«

»Genau, wir zwei bleiben, und das Besprechungszimmer mit der tollen Stuckdecke wird dann unser Büro.« Paula griff ebenfalls zu und atmete genüsslich den herrlichen Duft von geröstetem Speck und Zwiebeln ein.

»Was macht eigentlich Kriminaloberrat Sonne nach dem Umzug?« Matthias klappte ein Teigquadrat zusammen und steckte es sich in den Mund.

»Der Chef? Wieso? Ein paar Jährchen wird er wohl noch durchhalten müssen, bis er in Pension gehen kann.«

»Das meine ich nicht, Bernd. Ich denke da an seine Zigarrenpafferei. Bei euch im alten Bau kann er das vielleicht trotz Rauchverbotes in öffentlichen Gebäuden noch machen, da ist er ja quasi der Alleinherrscher. Aber im neuen Haus bestimmt nicht, da hängen hundertprozentig überall sensible Feuermelder an den Decken.«

»Am Ende stellt er auch einen Antrag, dass er bleiben kann.«

»Dann, Keeser, ziehe ich doch lieber um.« Paula schnappte Matthias das letzte Stück Flammkuchen vor der Nase weg und biss davon ab. Den Rest überließ sie ihm dann aber doch großzügig.

»Ach, so verkehrt ist der alte Krauter gar nicht«, verteidigte Keeser seinen Chef.

»Sagt ein anderer alter Krauter.«

»Kollegin Stern«, sagte er mit drohend erhobenem Zeigefinger, »sei gefälligst nicht so frech. Ein bisschen Achtung vor reiferen Menschen könnte dir nicht schaden.«

»Helene?« Eine laute Männerstimme übertönte alles andere.

Paula drehte sich, genau wie die meisten anderen Gäste, zur Einfahrt um, wo ein großer, sehr schlanker Kerl mit einem Fahrrad stand. Sein mausbraunes Haar war dünn und stellenweise schon sehr schütter, sein Gesicht zierte ein struppiger Bart. Mit zusammengekniffenen Augen scannte er die Menschen im Hof.

Sie konnte sein Alter schwer schätzen.

»Helene!« Sein Ton war lauter und härter geworden. Mit noch immer suchendem Blick schob er das Rad auf die vorderen Tische zu.

Alle Gespräche erstarben, nur die Musik spielte noch.

»Dei Helene isch nit do, Peter«, rief ihm ein Mann vom Nebentisch zu.

»Halt du doch dei bleedi Gosch, Werner, dich hot känner g’froocht. Odder willscht e paar uffs Maul?«, blaffte der Mann namens Peter den anderen an.

Ein stämmiger Hüne bahnte sich energischen Schrittes seinen Weg von der Getränkeausgabe her auf ihn zu.

»Das ist der Herr des Hauses, Alexander Benz«, raunte Keeser.

»Optisch könnte er glatt dein Sohn sein«, frotzelte Paula und ließ das Geschehen nicht aus den Augen.

»Na, hör mal, da bin ich aber um einiges zierlicher!«

Liebevoll tätschelte Marianne seine stoppelige Wange. »Bist du dir da sicher?«

Alexander Benz war jetzt bei dem Störenfried angekommen.

»Peter, schrei do emol nit so rum. Glääb mer’s, die Helene wor heit noch nit do.« Mit sanfter Gewalt drängte er ihn in Richtung Straße.

»Bischd sischer, Alex?«

»Hajo. Un wann se schbeeder noch kummt, saachemer ihr, dass du se g’sucht hoscht, verschbroche.«

Paula verstand nicht alles, aber sie glaubte, ein Aufatmen zu hören, als der Kerl endlich auf sein Rad stieg und davonfuhr.

»Wer war das denn?«, fragte Keeser, als Alexander Benz an ihrem Tisch vorbeikam.

»Der Pfaffmann Peter, eichentlich e armi Seel, aber es isch nit immer gut Kersche esse mitem.«

»Arme Seele?«, hakte Paula nach.

»Seit iwwer acht Johr huggt er dehäm un find känni Ärwet. Zu viel Langewääl, zu viel Alkohol, Sie verschdeehn?«

»›Langewääl‹?« Paula sah Keeser hilfesuchend an.

»Langeweile.«

»Ah. Und wer ist Helene?«

»Sei Fraa.«

»Was ist denn mit ihr? Warum sucht er sie?«

»Eefersucht. De Peter isch krankhaft eefersischdisch.«

»Eifersüchtig«, übersetzte Keeser, bevor Paula fragen konnte. »Ansonsten alles verstanden, Frau Kollegin?«

Paula wiegte den Kopf. »Halbwegs.«

»Ein wirklich unangenehmer Zeitgenosse.« Marianne sah noch einmal zur Einfahrt, so als wollte sie sichergehen, dass Peter Pfaffmann nicht doch wieder zurückkam. »Solche Typen können einem die ganze Stimmung vermiesen.«

Keeser nahm ihre Hand und küsste sie. »Ach was, von so einem Wicht lassen wir uns doch nicht den Abend versauen. Falls dieses halbe Hähnchen noch mal auftauchen sollte, nehme ich es mir zur Brust. – Apropos halbes Hähnchen, wir sollten zum zweiten Gang übergehen. Möchten die Damen Steaks oder lieber Bratwürste?«

Erneut zogen er und Matthias los, um für Nachschub zu sorgen.

Mit den Augen folgte Paula den beiden. »Du hast den trägen Keeser echt gut im Griff.«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, wie er eifrig losrennt, damit du was zu essen bekommst.«

Marianne lachte amüsiert. »Dich kann er vielleicht täuschen, mich nicht. Erstens geht es ja auch um sein Essen, und zweitens: Die machen hier einen echt guten Mirabellenbrand.«

Paula sah sie verständnislos an.

»Bernd liebt Mirabellenbrand, und zufällig wird der dort drüben ausgeschenkt, gleich neben dem Essensstand. Er denkt, ich merke es nicht, aber dank seiner Größe kann ich ihn von hier aus bestens beobachten.« Sie drehte sich halb um und nickte. »Siehst du? Jetzt prosten sie sich gerade zu.«

Paula sah in die angegebene Richtung und entdeckte die beiden zwischen vielen anderen Leuten. »Solche Schlawiner.«

»Aber was die können, können wir auch: Wir tun später so, als ob wir zur Toilette gehen, stattdessen machen wir einen Ausflug in den Seccokeller, wo wir uns ein Gläschen Prosecco oder einen leckeren Weincocktail gönnen werden.«

Anerkennend nickte Paula ihr zu. »Ich würde sagen, in dir hat Keeser seine Meisterin gefunden.«

»Ja, das würde ich glatt unterschreiben. Aber weißt du, was das Beste dabei ist? – Er hat es noch gar nicht gemerkt.«

Die beiden stießen miteinander an.

»Ich denke, wir werden später auch ein Taxi brauchen«, sagte Paula vergnügt.

Mit jeweils zwei Brötchen mit Steaks in den Händen kamen die Männer zurück.

»Ihr Armen, ihr habt ja ganz schön lang anstehen müssen.« Paula sah Matthias gekonnt mitleidsvoll an.

»Ach was, für euch machen wir das doch gern«, antwortete er, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Das nächste Mal gehen wir Essen holen, stimmt’s, Marianne? Dann könnt ihr sitzen bleiben und euch von uns bedienen lassen.«

»Da hast du vollkommen recht, liebe Paula. Das ist ja wohl das mindeste, was wir für unsere geliebten Männer tun können.« Marianne lächelte scheinheilig.

Natürlich winkte Keeser ab. »Nicht nötig, ist doch selbstverständlich, dass wir unsere Frauen verwöhnen, nicht wahr, Matthias?«

Der hatte den Mund voll, nickte aber überschwänglich.

»Na dann.« Paula und Marianne sahen sich wissend an. »Ihr seid und bleibt unsere Helden.«

Geschickt wich Matthias Paulas bohrendem Blick aus. »Die Musik ist gar nicht schlecht.«

Besser als Schlager, das musste Paula zugeben, aber dennoch weit, sehr weit von ihrem Musikgeschmack entfernt.

Während die anderen noch aßen, war Keesers Steak bereits samt Brötchen in ihm verschwunden. Mit der Serviette wischte er sich das letzte Ketchup von den Fingern.

»Später werde ich mit meiner reizenden Kollegin eine flotte Sohle aufs Tanzparkett legen«, verkündete er.

»Wirst du nicht«, sagte Paula kühl.

»Doch, werde ich.«

»So viel Alkohol, den ich intus haben müsste, um mit dir zu tanzen, haben die gar nicht hier.«

»So ein flotter Foxtrott …« Er sah sie mit Dackelblick an.

»Nein, Keeser. Ich tanze grundsätzlich nicht.« Sie steckte den letzten Bissen in den Mund, kaute in aller Ruhe und schluckte. »Ich muss aufs Klo, wer von den Mädels geht mit?«

»So ein Zufall, ich muss auch.« Mit ihrer Handtasche unter dem Arm stand Marianne auf. »Bis gleich, Jungs, ich hoffe, ihr vermisst uns nicht allzu sehr.«

»Dass ihr Frauen immer zusammen zur Toilette gehen müsst!«, rief Keeser ihnen nach.

Zielstrebig quetschten sich Paula und Marianne durch die beiden parallel stehenden Menschenschlangen hindurch, die sich vor den Toiletten gebildet hatten, und ließen sie hinter sich. Sie passierten auch die kleine Bühne, auf der vier Musiker ihr Bestes gaben, und stiegen gleich danach vier Stufen in den Seccokeller mit wunderschönem Sandsteingewölbe hinunter.

Nur mit dem beherzten Einsatz ihrer Ellenbogen schafften sie es durch die sich drängelnden Barbesucher bis nach vorn an die Getränketheke.

»Hallo, Frau Benz«, begrüßte Marianne die dunkelhaarige junge Frau, die gerade Limetten schnitt. »Zwei leckere Woipirinhas bitte.«

»Ah, guten Oowend, Frau Renner. Den Herrn Keeser habb ich ach schun g’sehne. Wenn Sie beide hier bei uns sinn, hääßt des dann, dass des Verbreche grad schlooft?«

»Schön wär’s, ich fürchte aber, dass dem nicht so ist. Darf ich Ihnen Oberkommissarin Paula Stern vorstellen? Sie sorgt zusammen mit Herrn Keeser für Recht und Ordnung in der Südpfalz. – Paula, das ist Nicole Benz, die bessere Hälfte des jungen Mannes, der gerade den Typen mit dem Fahrrad hinauskomplimentiert hat.«

Nicole Benz wischte sich die Hände an einem Handtuch ab und reichte Paula die rechte über den Tresen hinweg.

»Gleich zwää Leit vun der Kripo – na, dann kann wennichschdens hier bei uns uffm Hof nix bassiere.«

»Wollen wir mal hoffen, dass auch außerhalb Ihres Hofes nichts passiert.«

Paula sah zu, wie Nicole Benz Limettenstücke und braunen Zucker in zwei Weingläser gab und wie bei einem Caipirinha mit einem Stößel zerdrückte. Dann gab sie zwei Minzblätter und ein paar Löffel gestoßenes Eis dazu, füllte mit Weißwein und einem Schuss Mineralwasser auf und rührte das Ganze kurz um. Mit einem Strohhalm und einer Scheibe Limette dekoriert stellte sie die Gläser vor Paula und Marianne auf den Tresen.

Marianne zahlte. »Die nächste Runde geht dann auf dich.«

Sie prosteten sich zu und tranken.

»Weinpirinha also – daran könnte ich mich gewöhnen«, sagte Paula und betrachtete wohlwollend den Cocktail in ihrer Hand.

Ermahnend hob Marianne den Zeigefinger. »Nix da, du musst das schon richtig sagen. Sprich mir nach: Woipirinha.«

»Woipirinha«, wiederholte Paula brav.

»Perfekt, meine Liebe. Wird schon noch werden mit deinem Pfälzisch.«

»Du sprichst doch aber auch Hochdeutsch.«

Vergnügt kichernd saugte Marianne an ihrem Strohhalm. »Ich stell mir gerade eine Gerichtsverhandlung vor, bei der die Staatsanwältin breites Pfälzisch spricht. Oder der Richter beziehungsweise die Richterin. Nein, das ginge gar nicht.« Sie zwinkerte Paula über den Glasrand hinweg zu. »Außerdem bin ich ja gar kein Pälzer Mädel.«

»Nicht? Aber mir Nachhilfe geben wollen!«

»Doch nur, weil du die elementaren Begriffe, was Essen und Trinken angeht, beherrschen solltest. Außerdem kann es nicht schaden, wenn du verstehen kannst, was das liebenswerte Pfälzer Völkchen so von sich gibt.«

»Hm, und ich dachte immer, du bist eine echte Landauerin. Wo kommst du denn ursprünglich her?«

»Saarbrücken, aber sag das nicht so laut«, zischte ihr Marianne nach einem übertrieben vorsichtigen Blick nach allen Seiten hinter vorgehaltener Hand zu.

»Wieso das denn?«

»Dadurch bin ich Saarländerin, und zwischen Pfälzern und Saarländern gibt es gewisse … wie soll ich sagen … Animositäten.«

»Aha?«

»Die gehen weit zurück, Erster und Zweiter Weltkrieg. Da wurde das Saarland als Grenzgebiet zwischen Frankreich und Deutschland immer hin- und hergeschachert. Letztendlich wollten die Franzosen die Saarländer nicht behalten, und die Pfälzer haben sie jetzt an der Backe – das ist jedenfalls die Pfälzer Sicht auf die Dinge.«

»Und wie siehst du es als Saarländerin?«

»Natürlich ganz anders: Es ist nämlich so, dass wir die doch recht einfältigen Pfälzer an der Backe haben.«

»Ich verstehe. Und wie kann Keeser als waschechter, durch und durch patriotischer Pfälzer eine Saarländerin an seiner Seite dulden und ertragen?«

»Liebe überwindet alles.«

»Und Sex sowieso.«

Marianne hob ihr Glas. »Darauf trinken wir.«

Paula nahm einen weiteren Schluck von dem erfrischenden Getränk.

»Es gibt übrigens unendlich viele Witze über diese etwas belastete Beziehung«, sagte Marianne. »Am besten sind natürlich die Pfalzwitze der Saarländer.«

»Natürlich. Erzähl mal einen.«

»Warum stürzt eine Wand ein, wenn sich ein Pfälzer dagegenlehnt?«

So intensiv Paula auch nachdachte, sie fand keine Antwort.

»Na, der Klügere gibt nach.«

Paula lächelte höflich.

»Okay, der war nicht so gut. Hier ein anderer: Ein Pfälzer sitzt im Behandlungszimmer eines Psychiaters im Saarland. Sagt der Pfälzer: ›Was sind denn die Aufnahmebedingungen in Ihrer Klinik?‹ Der Psychiater: ›Wir füllen eine Badewanne mit Wasser und stellen einen Eimer, eine Tasse und einen Löffel zur Verfügung. Dann fordern wir den Probanden auf, die Wanne zu leeren.‹ Der Pfälzer daraufhin: ›Ei jo, logisch, ein normaler Mensch würde den Eimer nehmen.‹ Woraufhin der Psychiater sagt: ›Nein, ein normaler Mensch würde einfach den Stöpsel ziehen. Wollen Sie Ihr Zimmer mit oder ohne Balkon?‹«

»Ach herrje!« Lachend winkte Paula ab. »Ich hätte ehrlich gesagt auch den Eimer genommen!«

»Willkommen in der Psychiatrie, meine Liebe. Denn der Polizeidienst ist etwas sehr Ähnliches.«

Sie stießen die Gläser aneinander und schlürften mittels ihrer Strohhalme geräuschvoll die letzte Flüssigkeit heraus.

»Bis später, Frau Benz«, sagte Marianne, als sie das Leergut auf den Tresen stellte.

Vergnügt und Arm in Arm machten sie sich auf den Rückweg. Die Sonne war dabei, hinter den Häusergiebeln zu verschwinden, und überall auf den Tischen brannten inzwischen die Kerzen in den Windlichtern.

»Wir wollten schon nachsehen gehen, ob ihr ins Klo gefallen seid«, nörgelte Keeser mit Ich-bin-ein-beleidigter-kleiner-Junge-Gesicht.

»Hast du schon mal die lange Schlange vor der Damentoilette gesehen? Ich hätte mir beinahe in die Hose gemacht.«

Paula war beeindruckt, wie überzeugend Marianne das rüberbrachte. Dazu verzog sie keine Miene. Dieses Pokerface hatte sie lange Jahre bei Gericht geübt. Keeser konnte einem leidtun, denn wenn es hart auf hart kommen sollte, hätte er gegen diese Frau keine Chance.

»Matthias und ich wollen nämlich die nächste Runde Essen holen, die Brootwerschd.« Er stand schon auf.

Paula hob abwehrend die Hände. »Ich passe.«

»Ich auch«, schloss sich Marianne an.

Keeser betrachtete sie kopfschüttelnd. »Ihr passt? Kein Wunder, dass aus euch dünnen Dingern nichts wird. Komm, Matthias.«

»Wie viele Schnäpse verträgt Keeser denn?«

»Einige, meine Liebe, einige. Und Bratwürste auch. Er könnte noch ein paarmal unterwegs sein. Aber Laufen ist ja bekanntlich gut für die Figur. Wie sieht es bei Matthias aus?«

»Keine Ahnung. Diesbezüglich liegen da ehrlich gesagt noch keine Erfahrungswerte vor, so wirklich getrunken haben wir noch nicht zusammen. Und ich bin sowieso seit der Schwangerschaft aus der Übung, den Wein und den Cocktail merke ich schon.«

»Na dann, auf einen gepflegten Schwips!« Marianne wollte ihre Weingläser nachfüllen, aber die Flasche war schon wieder leer.

Eine Tatsache, die Paula erschreckte. »Wir haben schon zwei Flaschen getrunken?«

»So viel ist das gar nicht. Zwei Dreiviertelliterflaschen sind nach Adam Riese eineinhalb Liter Wein. Die durch vier geteilt macht exakt dreihundertfünfundsiebzig Milliliter für jeden, also geringfügig mehr als ein normales Viertel Wein. Für einen Pfälzer ist das mehr als lächerlich.«

»Diese Rechnung könnte auch von Keeser sein.«

»Welche Rechnung könnte von mir sein?« Keeser tauchte wie aus dem Nichts auf. In der einen Hand hielt er eine Bratwurst im Brötchen, in der anderen eine neue Flasche Wein.

»Kann man hier nicht mal etwas Vertrauliches besprechen? Immer platzt du zwischenrein.«

Keeser grinste seine höchstpersönliche Staatsanwältin breit an. »Ich bin erfolgreicher Ermittler, ich bekomme quasi alles mit. Also, welche Rechnung könnte von mir sein?«

»Da du glorreicher Ermittler mich das nun schon zum zweiten Mal fragst, ist das ja wohl der eindeutige Beweis dafür, dass du doch nicht alles mitbekommst. Ich habe Paula vorgerechnet, dass für den Einzelnen so gut wie nichts übrig bleibt, wenn man zwei Flaschen Wein zu viert trinkt.«

»Korrekt. Deshalb haben wir ja noch ein Fläschchen mitgebracht.« Nacheinander füllte Keeser die Gläser.

Matthias setzte sich neben Paula und ließ sie von seinem Brötchen abbeißen.

»Ein echter Pälzer schafft so ein Fläschchen nämlich ganz leicht allein. Mindestens«, ergänzte er.

»Frau Stern, meine Lieblingskommissarin. Hab ich in der Cocktailbar doch richtig gesehen!« Bettina Mertens, Journalistin bei der »Rheinpfalz«, zog einen freien Stuhl vom Nachbartisch heran und setzte sich zu ihnen.

»In der Cocktailbar?« Die buschigen Augenbrauen fragend gen Haaransatz hochgezogen, sah Keeser erst Paula, dann seine Marianne an. »Ich dachte, ihr wart auf der Toilette?«

»Danke, Frau Mertens.« Mariannes Stimme troff vor Sarkasmus.

»Ihr beiden trinkt also hinter unserem Rücken?«, sagte Keeser vorwurfsvoll.

»Du und Matts wart ja auch nicht nur Essen holen. Wie viele Schnäpse habt ihr euch denn schon hinter unserem Rücken genehmigt?«

Weder Keeser noch Matthias antwortete.

Ein süffisantes Lächeln huschte über die Pausbäckchen der Pressefrau. »Jetzt wissen Sie, warum ich im Bereich Enthüllungsjournalismus so gut bin. – Apropos Journalismus: Im Moment ist es kriminalistisch gesehen ja recht ruhig bei uns in der Südpfalz. Oder arbeiten Sie doch an etwas Spannendem, über das ich berichten könnte?«

»Nein.«

Paula hatte beinahe Mitleid mit Bettina Mertens. Derart schroff und schlecht gelaunt reagierte Keeser immer auf sie, es war jedes Mal wie eine heftige allergische Reaktion.

Doch die Pressefrau lächelte milde. »Schade. Dann könnte ich aber doch einen Artikel über Sie schreiben, was Kriminalbeamte bei der Mordkommission so tun, wenn es keine Ermittlungsarbeit für sie gibt. Was halten Sie von der Idee, lieber Herr Keeser?«

»Gar nichts halte ich davon«, blaffte er. »Füllen Sie Ihr Sommerloch gefälligst mit anderen Leuten und lassen Sie uns in Ruhe.«

»Ich glaube, der Herr Hauptkommissar mag mich«, sagte Bettina Mertens uneingeschüchtert. Für ihre Pummeligkeit stand sie überraschend flink auf. »Einen schönen Abend Ihnen allen. Man sieht sich, Herr Keeser.« Mit den Fingerknöcheln klopfte sie auf den Tisch und verschwand in der Menge.

»Ich würde ihr am liebsten den Hals umdrehen, dieser … dieser schrecklichen Person, dieser Tatsachenverdreherin«, echauffierte sich Keeser.

»Reg dich doch nicht so auf, so schlimm ist sie doch gar nicht.« Paula hatte seine Aversion gegen Bettina Mertens noch nie verstanden. Sie selbst konnte nichts Schlechtes über sie sagen, im Gegenteil, sie hatte ihr sogar schon gelegentlich bei Recherchen geholfen.

Ruckartig schob Keeser seinen Stuhl zurück und stemmte sich aus dem Sitz. »Darauf brauch ich einen Schnaps. Matthias, was ist mit dir?«

Der stand ebenfalls auf. »Ich komme besser mit, ich kann ihn doch in diesem Zustand auf gar keinen Fall allein lassen«, sagte er entschuldigend zu den Frauen.

»Und ich gehe auf die Toilette.«

Ganz nach Keeser-Manier hob Marianne eine Augenbraue.

Paula lachte. »Diesmal gehe ich wirklich auf die Toilette.«

Den nächsten, den übernächsten und den überübernächsten Weinpirinha holten sich Paula und Marianne nach der Enthüllung ihres geheimen Ausfluges durch Bettina Mertens dann ganz offiziell und genossen die Cocktails an ihrem Tisch.

Keeser und Matthias kümmerten sich um die nächste und übernächste Weinflasche. Zwei oder drei oder auch mehr »Käseschoppe« fanden den Weg zu ihrem Tisch, kleine Dubbegläser, gefüllt mit Käsewürfeln und Weintrauben zum Knabbern.

Vehement und erfolgreich widerstand Paula Keesers Aufforderungen zum Tanzen, sodass er mehrmals mit Marianne das Tanzbein schwang. Eine Tatsache, die sie dem großen, nicht eben leichten Mann gar nicht zugetraut hätte. Auch wenn sie mit Tanzen nicht viel am Hut hatte, sah das, was er auf der Tanzfläche anstellte, gar nicht mal so schlecht aus.

Es war ein warmer Augustabend wie aus dem Bilderbuch, je später es wurde, desto mehr Sterne wurden über ihnen sichtbar. Der Hof leerte sich zusehends, und kurz nach Mitternacht, als keine Musik mehr spielte und nur noch an ein paar Tischen Leute saßen, setzte sich Alexander Benz mit einer Flasche Mirabellenbrand und ein paar Schnapsgläsern zu ihnen.

Paula nippte einmal an Matthias’ Glas, entschied dann aber für sich, dass scharfe Spirituosen nicht nach ihrem Geschmack waren.

Da war ihr der Weinpirinha, einer der letzten, der im Seccokeller ausgeschenkt worden war und den Marianne noch einmal spendiert hatte, viel lieber.

Entspannt und nicht mehr ganz nüchtern saß sie in ihrem Stuhl. Zurückgelehnt, den Kopf weit im Nacken und den Blick den Sternen zugewandt, lauschte sie dem Gespräch an ihrem Tisch. Sie fühlte sich herrlich entspannt und rundum glücklich. Ab und an trank sie von ihrem Cocktail, in dem das Eis leise vor sich hin schmolz. Als das Glas leer war, stellte sie es mit dem guten Vorsatz, dass das für sie der letzte Alkohol des Abends gewesen war, auf dem Tisch ab.

Den Mann, der ein Fahrrad in den Hof schob, bemerkte sie erst, als er ganz in ihrer Nähe laut nach seiner Helene rief.

»Nicht schon wieder«, murmelte sie und setzte sich aufrecht hin. Der Hof drehte sich unangenehm um sie, was sich zum Glück aber gleich wieder legte.

Alexander Benz stand auf und ging zu ihm. »Mach nit so e Gedöns. Die Helene isch nit do und war nit do.«

»Gebt’s noch ebbes zum Dringe?«

»Nää, Peter, mir hänn Feieroowend, morsche widder. Geh hääm, wahrscheinlisch waad die Helene dort schun uff disch.«

»Ään klääne Schorle, geh zu …«

»Nix do, ich glääb, du hoscht fer heid genuch gedrunge.«

»He, Paffmann, hoscht schun uff der Liewesinsel noch deinrer Helene geguckt?«, krakeelte einer ganz in der Nähe, was heiteres Gelächter an diesem Tisch auslöste.

»Dir bolier ich glei dei dreggische Gosch.« Pfaffmann ließ sein Fahrrad fallen und wollte sich auf den Krakeeler stürzen.

Doch Alexander Benz hielt ihn am Arm fest. »Peter, mach kään Ärcher, mir hänn die Bolizei do.«

Mit einer heftigen Bewegung schüttelte Peter Pfaffmann ihn ab, es sah aus, als würde ihn das gar nicht interessieren. Nach einem prüfenden Blick über die Tische besann er sich wohl eines Besseren, denn er hob sein Rad auf und räumte Unverständliches vor sich hin brabbelnd das Feld.

Alexander Benz sah ihm nach, dann drehte er sich zu seinen Gästen um. »Mann, Werner, hot des sei misse? Der Peter wor doch eh schunn auf hunnertachtzich, musst du do aach noch Eel ins Feier gieße?«

»Sorry, Alex, awwer der reecht sich immer so schää uff.« Gelächter am Tisch. »Der un sei frommi Helene – is doch kää Wunner, dass die newwenaus geht bei dem Versaacher.«

»Ach, un ausg’rechnet du wääscht, dass die Helene newwenaus geht?«

Es war plötzlich recht still im Hof.

»Na ja …« Mehr hatte dieser Werner nicht dazu zu sagen.

»Also halt dei Labb un mach nit alles schlimmer, als es eh schunn is.« Alexander Benz setzte sich wieder an den Tisch und leerte sein Schnapsglas.

Keeser wollte Marianne Wein nachgießen, aber die Flasche gab nur noch ein paar Tropfen her.

»Gebbt’s echt nix me zum Dringe, Herr Benz?«

Das war einer der seltenen Fälle, in denen Paula ihn breitestes Pfälzisch sprechen hörte.

»Bernd, ich denke, wir haben genug gehabt«, mahnte Marianne.

Paula gab ihr insgeheim recht, sie hatte ihr Limit definitiv erreicht.

»Ach, komm, es ist gerade so schön. So jung kommen wir schließlich nie wieder zusammen.« Er sah Marianne mit gekonntem Dackelblick an.

»Morgen wirst du das ganz anders sehen, dann nämlich, wenn dein Schädel brummt.«

»Marianne, ich bitte dich, wir haben morgen alle frei, da können wir ausschlafen und uns erholen.«

»Wir nicht«, bemerkte Paula und gähnte hinter vorgehaltener Hand. »Wir haben ein Kleinkind, das keine Rücksicht auf die Folgen dieses Abends nehmen wird.«

»Bitte, bitte, ää Fläschl noch«, bettelte Keeser.

Nicole Benz gesellte sich zu ihnen, stellte sich hinter ihren Mann und legte ihm die Hände auf die Schultern.

»Hägschdens ään Trollschoppe noch, dann is Schluss«, sagte sie streng.

»›Trollschoppe‹?«, hakte Paula nach. »Das hört sich aber niedlich an. Was ist das denn?«

»Der historische Ursprung ist höchst interessant«, legte Keeser sofort los.

»Oje, jetzt kommt Keesers Geschichtsstunde.« Lachend rollte Paula die Augen.

»Der Trollschoppe ist ein Relikt aus früheren Zeiten, als man noch Angst haben musste, dass man von seinem Gegenüber vergiftet wird. Sellemols – also damals, für unsere nicht pfälzischen Mitmenschen am Tisch – war es der Wirt oder Hausherr, der den ersten Schoppen bezahlt hat. Um zu beweisen, dass das Getränk in Ordnung war, nahm er den ersten Schluck und reichte das Glas oder den Becher dann an die Gäste weiter, und jeder aus der Runde hat dann davon getrunken.«

»Es gebt awwer aach noch annere Erklärunge. Ääne isch, dass der Wert am End vom Oowend die Reste aus alle aagebrochene Flasche zsammeg’schitt hot und donn des Glas reihum gange isch.«

Paula sah Alexander Benz ungläubig an. »Aber schmeckt das nicht eklig?«

Er zuckte nur mit den breiten Schultern.

»Der orichinal Pälzer Trollschoppe beschdeht aus äm Dreivertelliter Riesling un äm Vertel Sekt«, ergänzte Nicole Benz.

Paula fand diese Mischung nicht viel besser. »Sekt und Wein? Puh, das ist aber eine heftige Mischung. Und das sollen wir jetzt trinken?«

»Nein, Paula. Heutzutage ist der Trollschoppe eher eine große Rieslingschorle, die kurz vor dem Nachhausegehen schnell noch gemeinsam getrunken wird. Sprich: kurz bevor man sich nach Hause trollt. Aber grundsätzlich ist es wie ein Ritterschlag, wenn ein fremder Gast am Tisch ein Schoppeglas gereicht bekommt, denn das bedeutet, dass er in die Runde aufgenommen wurde.«

»Alla hopp, ich mach euch änner.« Nicole Benz klopfte ihrem Mann auf den Rücken und ging zur jetzt verwaisten Getränkeausgabe.

Mit einem randvollen Dubbeglas kam sie zurück und stellte es auf den Tisch. »Zum Wohl.«

Keeser griff danach, nahm einen großen Schluck und reichte es an Marianne weiter. Auch sie trank und schob es dann Paula zu.

Sie zögerte. Eigentlich wollte sie nichts mehr trinken …

»Mach, Paula, sonst verdunstet das gute Zeug«, feuerte Keeser sie an.

Also griff sie zu, nippte aber nur daran und gab es an Matthias weiter.

»Was hat es denn mit der Liebesinsel auf sich? Hört sich spannend an.«

»Kann kaum ein Wort Pälzisch, aber das mit der Liebesinsel, das hat sie verstanden«, frotzelte Keeser.

»Die Liewesinsel isch mitte in unsre Wingert. E Plätzl, wu sich heimlische Liewespaare heimlisch treffe«, erklärte Nicole Benz.

»Heimliche Liebespaare?«

»Päärsche, die nit ubeding z’sammeg’heere.«

»Pärchen, die nicht zusammengehören«, übersetzte Matthias.

»Heit Oowend wor dort owwe beschdimmt die Hölle los.«

Paula sah Alexander Benz voller Zweifel an. »Aber wenn doch alle diese Liebesinsel kennen, dann ist es doch kein geheimer Treffpunkt mehr.«

Er hob die Hände. »Ich verzähl nur, wie’s verzählt werd. Sellwer wor ich noch nit dort owwe, zumindescht nit zum Knutsche.«

Seine Frau zog ihn am Ohr. »Des mecht ich dir aach g’rate hawwe.«

Marianne streckte sich und zog dann ihr Handy aus der Handtasche.

»Und wir fahren jetzt heim, Herr Keeser. Ich ruf uns ein Taxi. Was ist mit euch? Selber fahren ist ja wohl nicht mehr?«

Zustimmend hob Matthias den rechten Daumen. »Sind dabei. Das Auto holen wir dann morgen im Lauf des Tages.«

Paula, um die sich der Hof gerade ein wenig drehte, war heilfroh, nicht mehr die weite Strecke zum Wagen laufen zu müssen.

Als das Taxi eine knappe halbe Stunde und einen weiteren Trollschoppen später vor der Einfahrt hielt, waren sie die letzten Gäste im Hof.

Vorsorglich bei Matthias untergehakt, hatte Paula trotzdem leichte Probleme damit, ihre Füße ordentlich zu koordinieren. Sie wurde mehr gezogen, als dass sie selbstständig gelaufen wäre.

Marianne schien es nicht besser zu gehen, denn sie hing kichernd an Keesers Arm. Ob die beiden tatsächlich so unsicher vor ihnen über den Hof schwankten oder ob das eventuell an Paulas durch viel zu viel Alkohol gestörte Wahrnehmungsfähigkeit lag, wagte sie nicht zu beurteilen.

Als sie endlich zwischen Marianne und Matthias eingeklemmt auf der Rückbank des Taxis saß, ging es ihr nicht gut. Ihr Magen rebellierte. Das Hin- und Herschaukeln des Wagens, wenn er für ihren Geschmack viel zu zackig um Ecken und durch Kurven fuhr, verschärfte die Situation. Paula versuchte, sich zu konzentrieren, aber alles, was sie fertigbrachte, war ein Mantra, das sie sich im Stillen vorbetete: Bloß nicht übergeben, bloß nicht übergeben …

Bis sie vor ihrem Haus anhielten, ausstiegen und sich flüchtig von Marianne und Keeser verabschiedeten, hielt sie durch. Auch den Weg bis zur Haustür und die Treppe hinauf schaffte sie. Doch sobald Matthias nach schier endloser Suche nach dem Schlüsselloch endlich die Tür öffnete, stürzte sie an ihm vorbei ins Bad und übergab sich in die Toilette.

Nachdem sie gespült hatte, setzte sie sich erschöpft auf den Boden und lehnte sich an die kühle geflieste Wand neben der Schüssel. Noch immer drehte sich alles.

»So schlimm?«

Sie sah zu Matthias hoch, der über ihr stand und besorgt auf sie herabsah.

»Schlimmer«, jammerte sie.

»Das kommt von der fatalen Mischung Alkohol und zu viel Zucker in euren Woipirinhas.«

Sie stöhnte auf. Schon der Gedanke an dieses Getränk schüttelte sie. »Bitte erwähne dieses Wort nie wieder.«

»Komm, ich bring dich ins Bett.« Er griff nach ihrer Hand.

Paula wollte aber lieber sitzen bleiben. »Lass mich einfach hier sterben.«

»Glaub mir, Süße, im Bett bist du besser aufgehoben als auf dem harten Fliesenboden.«

In ihrem weichen, gemütlichen Bett zu liegen und die Bettdecke über ihren Kopf zu ziehen, stellte Paula sich himmlisch vor.

»Erst Zähne putzen«, entschied sie.

»Stehst du dazu auf?«

»Nein.«

Matthias drückte Zahnpasta auf ihre Zahnbürste, hielt sie kurz unters Wasser und reichte sie ihr nach unten.

Mit fahrigen Bewegungen schrubbte Paula über ihre Zähne. Jeder Zahnarzt hätte sich darüber wahrscheinlich die Haare gerauft, aber der Geschmack nach frischer Minze in ihrem Mund tat gut.

Sie spuckte den Schaum in die Toilette und ließ sich von Matthias aufhelfen. Augenblicklich setzten rasende Kopfschmerzen ein.

»Nie wieder Alkohol«, schwor sie.

»Alles klar, ich werde dich zu gegebener Zeit daran erinnern.«

Er führte sie hinüber ins Schlafzimmer, wo sie auf ihre Seite des Bettes sank. Sie bekam noch mit, wie er ihr die Boots von den Füßen zog, dann sank sie in tiefes, gnädiges Dunkel.

Ein Kater mit Kopfschmerzen

Samstag, 28.August

»Paula?«

Sie hörte ihren Namen. Die Stimme schien von weit weg zu kommen, sehr weit weg. Aber sie wollte gar nichts hören. Sie wollte in diesem angenehm gefühllosen Dunkel bleiben.

Jemand rüttelte an ihr. »Paula, wach auf!«

Und da war sie wieder, diese fiese Übelkeit, der sie kurze Zeit entronnen war. Rasender Kopfschmerz hatte sich gleich noch dazugesellt.

»Hau ab«, maulte sie und schlug um sich. Die rasche Bewegung tat ihrem Kopf nicht gut.

»Paula, dein Chef ist am Telefon.«

Vorsichtig öffnete sie ein Auge. Helles Licht bohrte sich durch ihre Iris direkt ins Hirn. Stöhnend senkte sie das Lid wieder.

»Sonne kann mich mal. Und dich bringe ich um, wenn du mich nicht in Ruhe lässt.«

»Es ist dringend.«

»Es ist Sonntag, ich habe frei, und mein Schädel platzt gleich. Sag ihm das.«

»Hab ich ihm schon gesagt, aber er will trotzdem mit dir sprechen.«

»Soll er doch Keeser anrufen, wenn es so dringend ist.«

»Hat er schon, und jetzt bist du an der Reihe. Also mach, er wartet.«

Widerstrebend öffnete Paula nun beide Augen. Die Vorhänge waren zurückgezogen, die Sonne schien aufreizend hell durch das weit geöffnete Fenster herein.

»Wie spät ist es?«, fragte sie mit belegter Stimme.

»Gleich Mittag.« Mit einer Hand hielt er ihr das Handy entgegen, mit der anderen ein Glas mit Wasser. »Hier, ich hab dir zwei Kopfschmerztabletten aufgelöst.«

Paula nahm ihm das Telefon ab.

»Ja«, meldete sie sich unfreundlich und strich sich dabei ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht.

»Ich hoffe doch sehr, dass Sie mich nicht auch umbringen, weil ich Sie an Ihrem freien Tag nicht in Ruhe lasse.« Kriminaloberrat Heribert Sonne am anderen Ende beendete den Satz mit einem nervösen Kichern.

Ihr Chef hatte also alles mitgehört, Paula bedachte Matthias mit einem bösen Blick.

Er stellte das Glas mit einem schiefen Grinsen auf ihr Nachtkästchen und ging hinaus.

»Ähm, sorry, Chef.« Paula setzte sich mühsam auf.

Was zum Henker …?, dachte sie, als sie bemerkte, dass sie Jeans und Bluse anhatte und nicht ihren Schlafanzug. Da waren einige bruchstückhafte Erinnerungen an den letzten Abend; wie sie in ihr Bett gekommen war, war aber nicht dabei. Das letzte Mal, dass sie einen derartigen Filmriss gehabt hatte, lag Ewigkeiten zurück. An ihren ersten promillegeschuldeten Absturz konnte sie sich allerdings noch gut erinnern, Apfelkorn hatte damals der Übeltäter geheißen. Ähnlich süß war das Zeugs vom gestrigen Abend auch gewesen, und die Wirkung war mindestens genauso heftig. Ihr Kopf konnte ein Lied davon singen.

Paula griff nach dem Glas neben ihrem Bett wie nach einem Strohhalm, in der Hoffnung, sein Inhalt würde sie aus ihrem postalkoholischen Jammertal retten. Der Schluck, den sie nahm, schmeckte eklig bitter. Angewidert verzog sie das Gesicht.

»Frau Stern?«

»Ja, Chef, ich höre.«

»Es ist Ihr freier Tag, ich weiß. Es tut mir auch wirklich leid, dass ich Sie belästigen muss, aber es geht nicht anders. Wir haben eine Leiche.«

Sie trank das Glas leer und wischte sich mit der Hand über den Mund. »Was ist mit Keeser?«

»Ist verständigt und schon auf dem Weg.«

In diesem Moment hasste Paula ihren Kollegen. Und Matthias hasste sie auch. Die beiden hatten genauso gesoffen wie sie und waren trotzdem unerträglich fit.

»Wohin muss ich?« Vorsichtig schob sie ein Bein nach dem anderen über die Bettkante.

Sitzen ging.

»Essingen.«

Paula hielt inne. Hatte Keeser etwa geplaudert, dass sie gestern in Essingen einen über den Durst getrunken hatte, und Sonne wollte sie jetzt damit auf den Arm nehmen? Auch wenn sie es nicht sonderlich witzig fand, hätte sie dem knochentrockenen Mann gar nicht so viel Humor zugetraut.

»Essingen«, sagte sie mehr als Feststellung denn als Frage.

»Ja, Essingen. Spaziergänger haben etwas außerhalb des Dorfes eine Frauenleiche gefunden. Auf der Liebesinsel.«

»Auf der Liebesinsel?«, fragte sie ungläubig. Wenn sie sich recht erinnerte, war letzten Abend irgendwann mal davon die Rede gewesen. Das war ganz sicher ein Scherz, bestimmt steckte Keeser dahinter. Aber so leicht würde sie sich nicht aufs Glatteis führen lassen.

»Ähm, ja, so wird der Ort von den Einheimischen genannt. Ist Ihnen diese Liebesinsel ein Begriff?«

Irgendwie klang das Wort »Einheimische« aus Sonnes Mund so, als würde er Eingeborene eines exotischen Landes meinen, fand Paula. Aber vielleicht kamen ihm, als gebürtigem, reinstes Hochdeutsch sprechendem Hannoveraner, die Urpfälzer ja auch so vor. Für den, der den deftigen Dialekt zum ersten Mal hörte, war dieser Gedanke wahrscheinlich gar nicht mal so abwegig.

»Vage.« Sie setzte die Füße auf den Boden und versuchte, sich hochzudrücken. Augenblicklich spielte ihr Kreislauf verrückt, also setzte sie sich wieder.

Stehen ging nicht.

»Polizeiobermeister Becker lässt Ihnen ausrichten, dass das zwar mitten in den Weinbergen ist, Sie es aber ganz leicht finden können. Wie er mir sagte, geht es, wenn Sie von Essingen aus nach Großfischlingen fahren, irgendwann rechts ab.«

Davon abgesehen, dass Paula die Beschreibung »irgendwann rechts ab« für recht ungenau hielt, konnte das alles doch nur ein Scherz sein. Sie wollte einfach nicht glauben, dass, ein paar Stunden nachdem sie von dieser ominösen Liebesinsel gesprochen hatten, ausgerechnet dort eine Leiche gefunden worden sein sollte. Hatte Keeser sich das ausgedacht? Seltsam, dass Sonne sich dafür hergab. Falls es aber kein Scherz sein sollte, hätte sie definitiv ein Problem: Wie sollte sie in diesem Zustand überhaupt bis an ihr Motorrad kommen, geschweige denn damit fahren?

»Frau Stern, sind Sie noch da?«

Paula räusperte sich. »Liebesinsel – und das ist kein Scherz?«

»Wie meinen Sie das? Ich denke nicht, dass POM Becker mich aus lauter Jux und Dollerei an einem Sonntag gestört hat. Gegen siebzehn Uhr werde ich in meinem Büro sein und erwarte dann einen ersten Bericht von Ihnen. Schönen Tag noch.«

Damit war das Gespräch auch schon beendet. Unglücklich sah Paula ihr Handy an. Schönen Tag noch – wollte der sie verarschen?

Matthias erschien in der Tür und lehnte sich mit verschränkten Armen an den Rahmen. »Und, was wollte er?«

»Angeblich ein Leichenfund.«

»Angeblich?«

»In Essingen auf der Liebesinsel – das hört sich doch nach einem von Keesers schlechten Scherzen an, oder?«

»Es war aber Sonne, der angerufen hat, nicht Keeser.«

»Genau das irritiert mich.«

»Dann solltest du das dringend überprüfen, meine Süße. Und jetzt komm in die Küche, der Kaffee ist gleich fertig.« Er ging wieder hinaus und ließ sie allein.

»Das könnte dauern«, murmelte sie ihm schlecht gelaunt hinterher. Die Tabletten stießen ihr bitter auf. Überhaupt hatte sie einen ganz üblen Geschmack im Mund. Aber die Aussicht auf eine Tasse Kaffee war verlockend.

Erneut stemmte sie sich vom Bett hoch, und siehe da – Stehen ging.

Aus dem Schrank holte sie sich Unterwäsche und ein T-Shirt. Neben dem leeren Kinderbettchen blieb sie kurz stehen. So ein Aufwachen ohne ihre süße Lotta fühlte sich komisch an. Dann huschte sie an der Küche vorbei, in der Matthias fleißig herumwerkelte und mit Geschirr klapperte, ins Bad.

Nach einer heißen Dusche und gründlichem Zähneputzen fühlte sie sich besser, aber nicht wirklich gut. Die Kopfschmerzen waren nicht weg, aber immerhin auszuhalten.

»Willst du so zum Tatort fahren?«, erkundigte sich Matthias mit anzüglichem Grinsen, als sie sich nur mit Slip und T-Shirt bekleidet, aber mit frisch geflochtenem Zopf an den kleinen Küchentisch setzte. »Keeser und die Kollegen würden sich sicherlich freuen.«

»Ich wollte nur noch nicht die Motorradhose anziehen.«

»Du willst doch nicht etwa mit dem Motorrad nach Essingen fahren?«

»Doch, will ich«, sagte Paula trotzig. »Was soll die komische Frage?«

»Davon rate ich dringend ab, denn du hast garantiert noch jede Menge Restalkohol im Blut. Und das käme bei einer Kontrolle nicht so gut.«

»Mich kontrolliert schon keiner.«

»Du wirst mit deinem Brummschädel gar nicht in den Helm passen.«

»Haha!« Paula schnaubte verächtlich. Insgeheim hatte sie sich darüber aber auch schon Gedanken gemacht. Und auch wenn sie es niemals zugegeben hätte, war Motorradfahren im Moment mit das Letzte, was sie tun wollte. Aber es half nichts, sie musste ja irgendwie an diesen blöden Tatort kommen.

»Was ist jetzt mit dem versprochenen Kaffee? Ich muss los.«