Kerscheplotzer - Gina Greifenstein - E-Book

Kerscheplotzer E-Book

Gina Greifenstein

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Beschreibung

Spannend, kulinarisch und schreiend komisch. Während Kriminalkommissarin Paula Stern in einem Landauer Krankenhaus ihrer kleinen Tochter das Leben schenkt, haucht ein Stockwerk höher jemand sein Leben aus: Ein junger Mann wacht nach einem Routineeingriff nicht mehr aus der Narkose auf. Da Paula die Einzige ist, die nicht an einen natürlichen Tod glaubt, ermittelt sie mit Baby Lotta im Gepäck auf eigene Faust. Und das gestaltet sich bei Weitem gefährlicher als gedacht …

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Gina Greifenstein wuchs im unterfränkischen Würzburg auf, lebt und arbeitet aber seit über zwanzig Jahren als Autorin in der Südpfalz. Aus ihrer Feder stammen zahlreiche Bestsellerkochbücher, aber auch Romane. Insbesondere die Pfalz-Krimi-Reihe um die junge Ermittlerin Paula Stern wird regelmäßig fortgesetzt – vor der eigenen Haustür mordet es sich schließlich am besten.

www.gina-greifenstein.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang finden sich Rezepte und ein Glossar.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Dirk Renckhoff/Alamy

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-714-9

Pfalz Krimi

Originalausgabe

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Sterben ist gar keine schlimme Sache –

wenn es andere erwischt.

Gina Greifenstein,

April, April!

Sonntag, 1. April

Paula Stern kapitulierte. Ächzend wie eine alte Frau richtete sie sich auf, und dann sagte sie die Worte, von denen sie geglaubt hatte, dass sie sie erst im Alter von achtzig oder fünfundachtzig Jahren sagen müsste: »Matts, könntest du mir bitte die Schuhe zubinden?«

Matthias Weber streckte den Kopf aus der Küche und grinste sie frech an. »Kommt mein kleines Dickerchen nicht mehr an die Schuhbändel ran?«

Paula legte eine Hand auf ihren prallen Babybauch. »Ich glaube, er ist über Nacht noch ein Stück gewachsen. Ehrlich gesagt hab ich die Nase voll. Tagsüber weiß ich nicht mehr, wie ich sitzen soll, nachts weiß ich nicht mehr, wie ich liegen soll, und das Treppensteigen bringt mich jedes Mal schier um. Von den Rückenschmerzen ganz zu schweigen. Ich komme mir vor wie ein gestrandeter Wal.«

Mit missmutigem Gesicht sah sie ihm zu, wie er vor ihr in die Hocke ging und ihr die Schnürsenkel band.

»Du genießt es doch, wenn ich vor dir knie, oder?« Matthias richtete sich auf und reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen.

Nun musste sie doch lächeln. »Klar, das hat was. Aber ich möchte einfach endlich wieder so sein wie früher.«

Matthias küsste sie liebevoll auf die Nasenspitze. »Nur noch ein paar Tage, meine Süße, dann hast du es überstanden. Wir sollten uns beeilen, wir kommen sonst zu spät zum Essen.«

Paula betrachtete sich ein letztes Mal im Dielenspiegel. Sie konnte partout nicht verstehen, dass Matthias die extrem bauchlastige Frau in der XXL-Schwangerschaftslatzhose noch nicht verlassen hatte.

Als sie nach ihrer Jacke griff, schlug die Türglocke an.

»Wer könnte das sein?«, sagte sie überrascht.

Er drückte den Knopf der Gegensprechanlage, beugte sich zum Lautsprecher hinunter, der wohl eher für klein gewachsene Menschen installiert worden war, aber nicht für einen einen Meter sechsundachtzig großen Mann. »Wer ist da?«

»Überraschung!«, kam es krächzend aus dem Lautsprecher.

»Meine Eltern? Sag, dass das ein Aprilscherz ist.«

Doch Matthias sagte gar nichts. Er betätigte einfach nur den Türöffner und trat ins Treppenhaus.

Von unten näherten sich Schritte und Stimmen – und dann standen tatsächlich Paulas vor Freude strahlende Eltern vor ihnen.

»Mutsch? Paps? Was macht ihr denn hier?« Paula klang alles andere als begeistert.

Juliane Stern nahm ihre verdatterte Tochter zwischen Tür und Angel in die Arme. »Wir dachten, wir könnten dich in den letzten Tagen vor der Entbindung ein bisschen unterstützen. Da ist ja so viel zu erledigen und vorzubereiten. Und wenn du mit der Kleinen aus der Klinik kommst, brauchst du sicherlich auch jede Menge helfende Hände. Ach, Paulalein, wir machen es uns so richtig schön.«

»Außerdem kann deine Mutter es gar nicht erwarten, ihre neue Enkelin zu sehen«, ergänzte Paulas Vater, als er mit der Begrüßung an der Reihe war.

Paula war überrumpelt und sprachlos. Und entsetzt. »Hier könnt ihr aber nicht schlafen.«

Ihre Mutter tätschelte ihr beruhigend den Arm, dann drückte sie Matthias zur Begrüßung an sich. »Keine Sorge, mein Schatz, so arg rücken wir euch nicht auf die Pelle. Matthias hat was Hübsches für uns organisiert, nicht wahr, Matthias?«

»Ach, hat er das?«, sagte Paula spitz.

Matthias ging nicht darauf ein. »Wir sollten gehen, sonst bekommen wir Ärger mit meiner Mutter, weil der Kerscheplotzer verbrutzelt. Wir können uns ja dort weiterunterhalten.«

Daraus schloss Paula, dass auch seine Eltern eingeweiht waren. Nur sie nicht. Eine Tatsache, die ihr so gar nicht gefiel.

Matthias mied jeglichen Augenkontakt mit ihr, sodass sie ihm ihren Unmut über seinen hinterhältigen Plan nicht einmal durch Blicke mitteilen konnte. Er wollte Ärger mit seiner Mutter vermeiden, aber mit ihr würde er Ärger bekommen, und zwar so was von, das schwor sie sich.

Sie spürte einen unangenehm ziehenden Schmerz unterhalb ihrer Babykugel und hielt die Luft an. Das Ziehen verschwand wieder.

Matthias schob sie alle ins Treppenhaus und schloss ab.

»Wie geht es dir denn, mein Mädchen?«, fragte ihre Mutter auf dem Weg nach unten, während Paula wie ein dicker Pinguin unbeholfen neben ihr von Stufe zu Stufe watschelte.

»Mein Rücken schmerzt, ich schlafe schlecht, ich kann mich nicht mehr bücken, geschweige denn meine Fußnägel schneiden, ich bewege mich zierlich wie ein Elefant, wenn ich zu viel esse, bekomme ich Sodbrennen, und manchmal habe ich ein fieses Ziehen im Unterleib – aber sonst geht es mir prächtig.«

Juliane lachte vergnügt. »Also alles ganz normal. So geht es jeder Schwangeren auf der Zielgeraden, mir sogar viermal. Ich glaube, das muss so sein, damit man die Angst vor der Entbindung verliert.«

Dem konnte Paula ausnahmsweise nicht widersprechen. »Stimmt, Angst habe ich tatsächlich keine, ich will einfach nur diesen riesigen Bauch weghaben.«

»Willst du deine Krankenhaustasche nicht mitnehmen?«

Paula fühlte sich ertappt. »Nein, die ist noch nicht fertig gepackt.«

»Aber du hast nur noch ein paar Tage bis zum Termin, du musst doch vorbereitet sein.«

Paula kannte diesen vorwurfsvollen Ton nur zu gut. Er hatte sie schon immer genervt. Sie fragte sich, ob wohl alle Mütter so waren. Und wenn nicht, warum musste ihre so sein?

In ihrem Bauch zog es erneut – die Anwesenheit ihrer Mutter tat ihr offensichtlich nicht gut.

»Erstens machen wir keine Weltreise, wir fahren nur ein paar Kilometer, und zweitens habe ich noch fast zwei Wochen, bis es so weit ist.«

»Gleich morgen werden wir uns um deine Tasche kümmern – man muss schließlich vorbereitet sein, wenn es losgeht. Meine Tasche stand bei jeder von euch vieren wochenlang vorher fix und fertig in der Diele, stimmt’s, Werner?«

»Stimmt«, sagte Paulas Vater, der ihnen ein paar Stufen voraus war.

»Wenn nämlich die Wehen einsetzen, muss es meistens schnell gehen, da hat man dann keinen Kopf mehr dafür, alles Nötige einzupacken.«

Das könnte dann ja notfalls Matthias machen und mir nachträglich in die Klinik bringen, dachte Paula, während ihre Mutter weitererzählte.

»Bei dir zum Beispiel waren es von der ersten Wehe bis zur Entbindung keine vier Stunden.«

»Ja, ich packe die Tasche noch heute Abend«, versprach sie leicht gereizt.

»Hast du schon alle Babysachen? Wenn nicht, gehen wir so bald wie möglich welche kaufen. Oh, ich liebe diese winzig kleinen Hemdchen und Strampler.«

»Ich habe Babysachen«, sagte Paula knapp.

Endlich waren sie unten angekommen und traten in den kühlen, regnerischen Tag hinaus.

»Hast du sie schon gewaschen? Die zarte Haut eines Babys darf nämlich nicht mit Farbfixierungs- oder Stärkemitteln in Berührung kommen, das könnte Allergien auslösen.«

Die belehrende Art ihrer Mutter löste bei Paula auch etwas aus, nämlich ein heftiges Ziehen in Rücken und Bauch. Abrupt blieb sie auf dem Weg zur Straße stehen.

»Mutsch«, sagte sie nachdrücklich, aber so sanft wie möglich, während sie mit kreisenden Bewegungen ihren Bauch massierte. »Ich hatte monatelang Zeit, mich durch Schwangerschaftsbücher und Elternratgeber zu lesen, und genauso viel Zeit hatte ich, die Babyausstattung zu besorgen. Das Bettchen ist aufgebaut, mein Büro ist in ein Kinderzimmer umfunktioniert worden – und ja, die Kinderklamotten sind gewaschen.«

»Sei doch nicht so aggressiv, ich meine es nur gut«, antwortete Juliane beleidigt. »Wenn wir wieder abreisen sollen, dann musst du es nur sagen.«

Bevor Paula genau das sagen konnte, nahm ihr Vater ihre Mutter am Arm und zog sie Richtung Auto.

»Wir fahren einfach hinter euch her!«, rief er über die Schulter zurück.

Matthias stand bedröppelt da. »Paula, was sollte das? Ich dachte, du freust dich, wenn deine Eltern kommen.«

Paula war zum Heulen zumute. Das Letzte, was sie hatte tun wollen, war, ihre Mutter zu kränken. Sie beobachtete, wie ihr Vater ihr ins Auto half und dann selbst einstieg.

»Ach, irgendwie freue ich mich ja, aber irgendwie auch nicht. Ich wollte die Tage bis zur Entbindung in aller Ruhe genießen. Es werden nämlich für eine sehr lange Zeit die letzten sein, die ich ganz allein, ohne Mama zu sein, verbringen werde. Und jetzt … ach, ich weiß auch nicht – mir geht’s heute einfach nicht so gut.«

Matthias öffnete die Beifahrertür seines BMW. »Möchtest du lieber hierbleiben und dich hinlegen? Du könntest dich ausruhen, und ich fahre mit den beiden zu meinen Eltern zum Essen rüber – meine Mutter würde es mir nie verzeihen, wenn ich ganz absage. Bestimmt packt sie dir was vom Kerscheplotzer ein.«

Paula überlegte kurz, schüttelte dann aber den Kopf und stieg schwerfällig ein. »Nein, ich komme mit. Soviel ich weiß, hat sie extra für mich diesen ›Kerscheplotzer‹ – was immer das auch sein mag – gemacht. Außerdem habe ich Hunger.«

Matthias schlug die Tür zu, ging vor der Motorhaube ums Auto herum und setzte sich hinter das Lenkrad. Er startete den Motor, scherte aus und überholte langsam den Wagen von Paulas Eltern. Im Seitenspiegel konnte Paula sehen, dass sie ihnen folgten.

Matthias fuhr erst den Westring, dann den Marienring entlang.

Paula rutschte unentwegt auf ihrem Sitz hin und her, weil sie keine angenehme Sitzposition fand.

»War das deine Idee oder die meiner Mutter?«, fragte sie, als sie vor der Queichheimer Brücke wegen einer roten Ampel anhalten mussten.

»Die deiner Mutter, und ich fand sie ehrlich gesagt sehr gut. Es ist immerhin dein erstes Kind, und ich dachte, du könntest die Hilfe einer erfahrenen Mutter gut gebrauchen.«

»Aber meine Mutter … nervt, meistens jedenfalls.«

»Alle Mütter nerven«, sagte Matthias, als er in die Autobahnauffahrt Richtung Karlsruhe einbog. »Das ist nun mal deren Job.«

»Was für ein Scheißjob. Ich werde Lotta nie nerven, das gelobe ich hiermit feierlich.«

»Ich werde dich bei Gelegenheit daran erinnern.«

Paula versuchte, sich aufrecht hinzusetzen, und stöhnte leise auf.

Matthias nahm ihre linke Hand. »Was ist? Tritt Klein Lotta mal wieder nach ihrer Mutter?«

»Keine Ahnung, mir ist schon den ganzen Morgen so komisch.« Sie sog plötzlich laut die Luft ein und presste ihre freie Hand auf den Bauch.

Matthias musterte sie prüfend. »Hast du Wehen? Soll ich in die Klinik fahren?«

»Nein, das sind keine Wehen – glaube ich zumindest. Ich hatte ja noch nie welche, woher soll ich das also wissen? Außerdem sind es noch zehn Tage bis zum Termin.«

»Wenn Lotta auch nur ein bisschen nach ihrer Mama kommt, hält sie sich ganz sicher nicht an vorgegebene Termine.« Er nahm seine Hand weg, weil er schalten musste, und fuhr dann bei Rohrbach ab.

Paula verlagerte ihr Gewicht auf die rechte Pobacke. »Willst du mir damit durch die Blume sagen, dass ich unzuverlässig bin?«

Matthias lachte. »Nein, eher wild und unberechenbar.«

Sie erreichten Herxheim, und kurz darauf hielt er vor dem Haus seiner Eltern im Nordring.

»Wild und unberechenbar? Im Ernst?«

»Ja …«

»Wild und unberechenbar – das gefällt mir.« Sie löste den Sicherheitsgurt, der sie die gesamte Fahrt über unangenehm eingeengt hatte.

»Und unheimlich süß«, ergänzte Matthias. Ausgesprochen behände stieg er aus und öffnete galant Paulas Tür.

Erheblich weniger behände stemmte sich Paula aus ihrem Sitz. »Süß? Dass du dich da mal nicht täuschst, Herr Weber.«

Er zog sie an der Hand hoch und nahm sie in den Arm. »Sehr süß sogar.« Nach einem zärtlichen Kuss gab er sie frei.

Paula sah ihm tief in die meerblauen Augen. »Ich hab keine Ahnung, was du an mir findest.«

Ihre Eltern waren ebenfalls ausgestiegen und kamen zu ihnen. Paula legte den Arm um ihre Mutter. »Tut mir leid, Mutsch, dass ich vorhin so garstig zu dir war, wird nicht wieder vorkommen.«

Juliane drückte sie an sich. »Ist schon gut, das sind im Moment nur die durcheinandergewirbelten Hormone.«

Natürlich wusste Paula, dass sie damit ihre Schwangerschaft meinte, andererseits hatte ihre Mutter es aber, seit sie denken konnte, geschafft, ihre Hormone – insbesondere ihre Stresshormone – in Wallung zu bringen. Ihre Mutsch war einfach anstrengend. Sie fragte sich, ob sie sie jemals als erwachsene, selbstständige Frau anerkennen würde.

Die Haustür wurde aufgerissen, und Hanna und Siegfried Weber erschienen im Vorgarten.

Paula schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass das erste Zusammentreffen ihrer beider Eltern gut verlaufen würde.

Optisch konnten die Mütter unterschiedlicher nicht sein: Juliane Stern war relativ klein und zierlich, mit kurzen blonden Haaren, Hanna Weber war um einiges größer, sie trug ihr Haar, das einst schwarz gewesen, seit einigen Jahren aber von feinen silbernen Strähnen durchzogen war, schulterlang. Vom Alter her waren sie annähernd gleich.

Die Väter sahen sich seltsamerweise ein wenig ähnlich, sie hätten Brüder sein können. Beide waren groß und schlank, hatten schmale Gesichter mit einer prägnanten Nase, trugen Brillen mit Goldrand, hatten graue Haare, wobei die von Paulas Vater im Vergleich zu jenen von Siegfried Weber nur noch ein kläglicher Kranz waren. Und beide waren Lehrer – der eine, Werner Stern, war allerdings schon seit Längerem im Ruhestand, der andere hatte noch ein paar Jährchen vor sich.

»Herzlich willkommen, liebe Juliane, lieber Werner! Wie schön, dass wir uns endlich kennenlernen.« Sie schüttelten den Gästen die Hand und wandten sich Paula zu.

»Lass dich anschauen. Sag, ist dein Bauch seit letzter Woche noch ein Stück gewachsen?« Hanna beäugte sie prüfend. »Du bist ein bisschen blass um die Nase, du solltest mehr an die frische Luft gehen.«

Wie um das Gesagte zu unterstreichen, wehte ein kühles Lüftchen, das Paula frösteln ließ. Sie atmete tief durch, um ruhig zu bleiben. Nicht zum ersten Mal in ihrem Leben fragte sie sich, warum sich alle Menschen bemüßigt sahen, ihr sagen zu müssen, was sie tun oder lassen sollte. Insgeheim bereute sie, dass sie nicht zu Hause geblieben war.

Matthias erkannte die Lage. Er nahm Paulas Hand und zog sie an den anderen vorbei ins Haus. »Sie muss nur was essen, dann wird sie verträglicher.«

Als Paula den Duft, der der Küche entströmte, in die Nase bekam, war sie heilfroh, nicht daheim geblieben zu sein.

Hanna hatte im Esszimmer gedeckt, sie hatte sogar das gute Geschirr und das Tafelsilber aus dem Schrank geholt. Mit der weißen Damasttischdecke und den schweren Kristallgläsern war es sehr festlich.

Paula schwante Böses. Das Ziehen in ihrem Bauch wurde schlagartig stärker. »Matthias, das wird aber nicht schon wieder ein Heiratsantrag? Noch mehr Überraschungen kann ich heute nämlich nicht verkraften.«

»Kein Heiratsantrag, keine Sorge. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass ich dir überhaupt noch mal einen machen werde – ich bin schließlich nicht scharf auf einen weiteren Korb. Wenn, dann musst du schon mich fragen.«

Paula entspannte sich ein wenig, das Ziehen im Unterleib blieb aber.

Der Rest der Familie kam nun auch ins Esszimmer, allen voran Hanna.

»Ihr Lieben, dann setzt euch mal, wir können sofort anfangen. Matthias, hilfst du mir bitte?«

Er ging mit ihr in die Küche, Siegfried verteilte in der Zwischenzeit die Getränke. Paulas Vater eilte noch einmal nach draußen und kam mit einem Karton mit drei Bocksbeuteln zurück.

»Silvaner trocken, sehr schön! Würzburger Stein? Davon hab ich schon mal gehört«, sagte Siegfried sichtlich angetan von dem Geschenk.

»Das ist eine der besten Weinlagen Würzburgs, sie gehört zur Kellerei des Bürgerspitals Würzburg und wird regelmäßig mit Preisen ausgezeichnet«, erklärte Werner nicht ohne einen gewissen Stolz.

Siegfried legte die Flasche wieder in den Karton. »Den werden wir genießen und bei jedem Schluck an euch denken.«

Matthias kam mit einer antiken Suppenterrine bewaffnet ins Esszimmer und stellte sie mitten auf den Tisch.

»Kürbissuppe«, verkündete Hanna, die mit dem Suppenschöpfer hinterherkam.

Da sie sich setzte und nicht noch einmal hinausging, um den Kerscheplotzer zu holen, vermutete Paula, dass anders als bei »Grumbeersupp un Quetschekuche« diesmal nicht Suppe und Süßspeise zusammen gegessen wurden.

Tatsächlich schöpfte Hanna nacheinander herrlich orangefarbene Suppe in die großen Suppenteller. »Lasst es euch schmecken.«

Alle griffen zu ihren Löffeln und begannen schweigend zu essen.

»Sehr fein.« Juliane nickte anerkennend. »Ist da Kreuzkümmel drin?«

Hanna bejahte.

»Ich hab sie bisher mit Ingwer gemacht, aber Kreuzkümmel passt auch hervorragend dazu. Das werde ich daheim auch mal machen.« Juliane löffelte genüsslich ihren Teller leer. »Dieser Kerscheplotzer – woraus besteht der denn?«, fragte sie, nachdem sie sich den Mund mit ihrer Serviette abgewischt hatte.

»Aus Milch, Eiern und altbackenen Brötchen«, zählte Hanna auf. »Und Kirschen natürlich. Wir essen das sehr gern, und ich bekomme so wenigstens mein altes Brot weg.«

»Das ist ja wie unser fränkischer ›Kirschmichel‹ – den hab ich schon ewig nicht mehr gemacht. Kannst du dich überhaupt noch daran erinnern?« Sie wandte sich Paula zu, die am anderen Ende des Tisches saß. »Paulalein, schmeckt es dir nicht?«

Paula hatte im Gegensatz zu den anderen nur ein paar Löffel Suppe gegessen. Ihr war gar nicht gut. Ihr Bauch tat weh, im Lendenbereich zog es schmerzhaft, und sie fror. Aber sie wollte den anderen nicht die Stimmung verderben. »Die Suppe ist klasse, ich will mir nur Platz für den Kerscheplotzer lassen«, sagte sie mit verkrampftem Lächeln.

Matthias half seiner Mutter, die Suppenteller zusammenzustellen und in die Küche zu bringen. Mit einer großen Bratreine kam er zurück und stellte sie auf einem Topfuntersetzer ab.

Hanna kam mit zwei Saucieren hinterher. Eine davon stellte sie zu Paulas Eltern. »Hier hab ich Weinschaumsoße für die Großen«, mit einem Zwinkern stellte sie die andere vor Paula ab, »und Vanillesoße für die kleine Paula, damit unser Baby nicht betrunken wird.« Dann machte sie sich daran, den Kerscheplotzer auf die Teller der Gäste zu verteilen.

Auch vor Paula landete ein dampfendes Stück von dem süßen Auflauf. Er duftete teuflisch gut, aber sie hatte überhaupt keinen Appetit mehr, ganz im Gegenteil. Irgendetwas stimmte nicht.

Alle begannen mit dem Essen, nur Paula nicht.

Ein gewaltiger Schmerz durchzuckte ihren Unterleib, raubte ihr fast den Atem, verflüchtigte sich aber schnell wieder.

»Merkt man es, wenn die Wehen einsetzen?«, fragte sie in die Runde.

Ihre Mutter lachte vergnügt, während sie sich reichlich von der Weinschaumsoße über den Kerscheplotzer goss. »Und ob, Paulalein, darauf kannst du Gift nehmen. Dieser Schmerz ist so anders als alle anderen Schmerzen. Hat man euch das nicht in der Geburtsvorbereitung gesagt?«

Natürlich hatte man ihr das gesagt, aber erlebt hatte sie es noch nicht.

»Tja, dann hatte ich wohl soeben eine Wehe«, sagte Paula ruhig.

Alle hielten abrupt inne.

Hanna sprach als Erste. »Ich dachte, du hast noch ein paar Tage bis zur Entbindung?«

Paula stemmte sich unelegant vom Stuhl hoch. »Das dachte ich auch, aber Lotta hat da anscheinend andere Pläne. Matts, kommst du?«

Matthias stand so schnell auf, dass der Stuhl umkippte und polternd aufs Parkett fiel.

»Hab ich vorhin nicht gesagt, du solltest deine Tasche mitnehmen? Da hast du den Salat«, sagte Juliane Stern mit dem für sie typischen Ich-hab’s-doch-gewusst-Blick.

Paula hasste es, wenn andere Menschen recht behielten, noch mehr, wenn ihre Mutter recht behielt. »Ich brauche keine Tasche, sondern einen, der mich ins Krankenhaus fährt«, sagte sie eine Spur zu scharf.

»Paula konnte noch nie einen Fehler zugeben«, sagte Juliane entschuldigend zu den Webers. Dann tippte sie ihrem Mann auf den Arm und erhob sich. »Komm, Werner.«

Na toll, dachte Paula verzweifelt. Nicht nur dass die Wehen eingesetzt hatten, gleichzeitig hatte sie es noch geschafft, ihre Mutter zu verärgern. Natürlich war es doof von ihren Eltern gewesen, einfach so hier aufzutauchen, aber dass sie schnurstracks wieder nach Hause fuhren, nur weil sie so ein Ekelpaket war, das wollte sie natürlich auch nicht.

»Wo wollt ihr denn hin?«

»Na, wir kommen mit ins Krankenhaus«, sagte Juliane allen Ernstes.

»Vergiss es! Ihr bleibt schön hier und esst euren Kerscheplotzer.«

»Aber Paulalein …«

»Nix ›Paulalein‹, das Letzte, was ich gebrauchen kann, sind meine Eltern im Kreißsaal.« Ein heftiger krampfartiger Schmerz ließ Paula zusammenzucken.

»Wie viel Zeit war das zwischen den Wehen? Habt ihr auf die Uhr gesehen?«, fragte Hanna.

Matthias tippte auf seine Armbanduhr. »Ich hab nicht exakt gestoppt, aber um die vier Minuten. Ich will ja nicht drängeln, aber ich denke, wir sollten dann mal.«

Er hakte Paula unter und führte sie aus dem Raum. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Bauch viel tiefer hing als zuvor, das Gehen fiel ihr schwer, und sie befürchtete, es nicht bis zum Auto zu schaffen.

Sie blieb stehen und drehte sich noch einmal halb um. Ihre Eltern und die Webers waren ihnen zur Haustür gefolgt. »Matthias ruft euch an, wenn es vorbei ist. – Oh Mist, es fühlt sich so an, als ob das Baby jeden Moment rausrutscht!«

»Ach was, so schnell geht das doch nicht. Erst wenn die Fruchtblase platzt, wird es wirklich ernst«, sagte Juliane fachmännisch.

Kaum waren die Worte ausgesprochen, spürte Paula, wie die Latzhose im Schritt unangenehm feucht wurde. »Eben passiert.« Eine neuerliche Wehe zwang sie beinahe in die Knie.

Matthias wirkte hilflos. »Vorn oder hinten?«

»Hinten«, presste Paula hervor.

Die ganze Schwangerschaft hindurch hatte sie keiner darauf vorbereitet, dass das so verdammt wehtun würde. Dabei hatte sie selbst schon einmal eine Entbindung hautnah erlebt, nämlich während ihres zweiten Falls in der Pfalz. Sie hatte keine Ahnung, wie sie hatte vergessen können, wie sehr sich die arme Frau Jansen – an ihren Namen konnte sie sich komischerweise noch erinnern – damals gequält und ihr vor Schmerzen beinahe die Finger zerquetscht hatte.

Dann ging alles sehr schnell. Matthias betätigte die Fernbedienung, sein Vater riss eine der hinteren Türen auf, mit vereinten Kräften schoben, drückten und zogen sie Paula ins Wageninnere.

»Geht’s so?«, fragte Matthias besorgt.

Paula saß halb und lag halb auf der Rückbank und nickte stumm. Als die nächste Wehe kam, zog sie die Beine an, was aber keinerlei Linderung der Schmerzen brachte. Schweiß brach ihr trotz des kühlen Tages aus allen Poren. Ihr Unterleib fühlte sich an, als würde etwas in ihm zerreißen. Als die Schmerzwelle endlich wieder abebbte, schwor sie sich, dass sie nie, niemals ein zweites Kind bekommen würde, falls sie das hier überleben sollte.

Matthias rannte um das Auto herum und warf sich hinter das Lenkrad. Mit aufheulendem Motor fuhr er an. »Alles gut dahinten?«

Paulas Blick traf sich mit dem besorgten von Matthias im Rückspiegel. »Im Moment ja.«

»Baby noch drin?«, versuchte er zu scherzen.

»Darüber würde ich an deiner Stelle lieber keine Witze ma…aachen …« Eine weitere Wehe ließ sie verstummen.

Sie hatten die beiden Kreisel am Ortsausgang bereits durchfahren, danach gab Matthias wieder Gas. Fünfhundert Meter vor der Autobahnauffahrt wurde er von zwei extrem langsam fahrenden Autos ausgebremst.

»Ihr bleede Tourischde, müsst ihr ausg’rechnet heit durch die Palz zuckle!«, rief er auf Pfälzisch. Paula hörte das nur selten bei ihm.

»Oh Gott, Matthias, beeil dich!«, flehte sie ihn an.

Kurz entschlossen öffnete er sein Seitenfenster und setzte das Blaulicht aufs Autodach, das er als Hauptkommissar des K2, der sogenannten Sitte, auch im Privatwagen mit sich führte. Die gleichzeitig einsetzende Sirene wirkte sofort, die beiden Wagen zogen ganz nach rechts und hielten dort an. Endlich konnte Matthias an ihnen vorbeiziehen und auf die Autobahn auffahren.

Bis zur Abfahrt Landau-Süd ließ er Blaulicht und Sirene laufen, ebenso das Stück von der Abfahrt bis zum Vinzentius-Krankenhaus in der Cornichonstraße. Erst als er vor der Tür der Notaufnahme hielt, stellte er beides ab.

Vom Lärm angelockt, kam eine Schwester herausgerannt, um den vermeintlichen Notfall in Empfang zu nehmen.

»Schussverletzung?«, rief sie dem ausgestiegenen Matthias zu. Offenbar hatte sie bereits öfter mit zivilen Einsatzfahrzeugen der Polizei zu tun gehabt.

»Entbindung«, antwortete Matthias.

So schnell, wie sie erschienen war, war die Schwester wieder nach drinnen verschwunden, um Zehntelsekunden später erneut aufzutauchen und mit einem Rollstuhl auf den Wagen zuzueilen.

Matthias öffnete die rechte hintere Tür und streichelte Paula liebevoll über die verschwitzten Haare. »Wir haben’s geschafft, Süße. Klein Lotta kann kommen.«

Als die letzte Wehe nachließ, verfrachtete er mit Hilfe der Schwester die stöhnende Paula von der Rückbank in den Rollstuhl. Die Krankenschwester schob sie schnellen Schrittes zum Eingang. Matthias hatte zu tun, ihr zu folgen.

Im Gehen klärte die Schwester alles Wichtige ab. »Ich hab auf der Wöchnerinnenstation Bescheid gegeben, die warten auf Sie. In welchen Abständen kommen die Wehen?«

Bevor Matthias antworten konnte, krümmte sich Paula erneut vor Schmerzen.

»Okay, ich seh schon, kein gemütliches Einchecken bei den Wöchnerinnen – wir fahren direkt in den Kreißsaal.«

Auf der Entbindungsstation angekommen, übergab sie Paula einer anderen Schwester, die mit ihr hinter einer Schwingtür verschwand. Erst als sie in einem der Kreißsäle ankamen, die sie vor ein paar Wochen gemeinsam mit Matthias besichtigt hatte, merkte Paula, dass er nicht mehr da war. Ihr erster Gedanke war, dass er nun doch kniff, obwohl er ihr versprochen hatte, auf jeden Fall bei der Entbindung dabei zu sein.

Dann werde ich mein Kind eben allein auf die Welt bringen, dachte sie trotzig, dafür braucht man schließlich keinen Mann. Vielleicht musste er aber auch nur das Auto wegfahren, das er recht ungünstig vor der Notaufnahme abgestellt hatte.

Eine neue Wehe wischte jeglichen Gedanken über Matthias’ Verbleib weg.

Martina, die Hebamme, die sie damals bei der Besichtigung durch die Räume geführt hatte, begrüßte sie mit einem Lächeln. »Ich erinnere mich an Sie, Frau …?«

»Stern. Paula.«

»Wehen in sehr kurzen Abständen, hat man mir gesagt – ich denke, es dauert nicht mehr lange, bis Sie Ihr Baby im Arm halten können.« Sie half Paula aus dem Rollstuhl und aus der Kleidung und in eines der typischen hinten offenen Klinikhemden hinein.

Kaum war das geschafft, überrollte Paula eine weitere Wehe, die länger anhielt als ihre Vorgängerinnen und noch mehr wehtat. Als sie endlich abgeklungen war, half Martina ihr auf den Entbindungsstuhl.

Mit geübten Handgriffen setzte sie die Elektroden des CTGs auf Paulas Bauch und schaltete das Gerät ein. »Damit wir hören können, wie es dem Baby bei der ganzen Plackerei geht. So eine Entbindung ist nämlich auch für die kleinen Würstchen Schwerstarbeit.«

Ein gleichmäßiges Pochen, das sich für Paula mehr nach galoppierenden Pferden als nach Klein Lottas Herzschlag anhörte, drang aus dem Lautsprecher.

»Dem Baby geht es prächtig«, stellte Martina zufrieden fest.

Wenigstens einem von uns, dachte Paula bitter. Sie hatte sich noch nie so mies gefühlt.

Da kündigte sich die nächste Wehe an. Paula bäumte sich auf und hielt nichts mehr von ihrem Vorsatz, bei der Entbindung nicht zu schreien.

Auch diese Wehe verging. Als Martina freudig verkündete, dass der Muttermund schon acht Zentimeter geöffnet sei, öffnete sich auch die Tür. Ein Arzt und eine Krankenschwester kamen herein, gefolgt von Matthias.

»Ah, da ist ja der werdende Vater. Schlüpfen Sie in einen Kittel und helfen Sie Ihrer Frau«, sagte Martina.

Matthias tat wie geheißen und stellte sich neben Paula ans Kopfende des Stuhles.

»Wo warst du denn die ganze Zeit?« Sie hätte heulen können vor Erleichterung, dass er da war.

Er nahm ihre Hand und küsste sie auf die schweißnasse Stirn. »Du wirst es nicht glauben, die Schwester aus der Notaufnahme hat mich gefragt …« Weiter kam er nicht, da Paula mit der nächsten Wehe zu kämpfen hatte.

»Was hat sie dich gefragt?«, sagte sie leise, als sie vorbei war. Er hätte ihr auch einen blöden Witz erzählen können – sie wollte einfach nur abgelenkt werden.

»Sie wollte wissen, ob ich bei der Kripo bin, weil wir mit Blaulicht und Sirene vorgefahren sind. Und ob du eine Verdächtige oder eine gefährliche Verbrecherin bist.«

»Und, was hast du gesagt?«

»Dass du meine Frau bist …«

»Du lügst arme unschuldige Krankenschwestern an?«, sagte Paula erschöpft.

»Das liegt ja nur an dir, das weißt du ganz genau.«

»Fängst du schon wieder damit an …«

»Dann sag doch endlich Ja.«

»Mensch, Matthias, ich hab ganz andere Sorgen!«

»Zehn Zentimeter«, verkündete der Arzt zwischen ihren gespreizten Beinen und nickte Paula aufmunternd zu. »Gleich haben wir’s – noch zwei, drei Wehen …«

Eine davon kam mit voller Wucht. Paula klammerte sich an Matthias’ Hand wie ein Ertrinkender an den oft zitierten Strohhalm. Matthias drückte dagegen, mehr konnte er nicht für sie tun.

»Noch nicht pressen, noch nicht pressen«, sagte der Arzt.

»Atmen, atmen …«, befahl Hebamme Martina. »Atmen nicht vergessen …«

Tränen des Schmerzes und der Anstrengung liefen über Paulas Wangen.

»Das machen Sie toll. Das Köpfchen ist schon zu sehen.« Lobend tätschelte Martina Paulas Bauch.

Matthias nutzte die kurze Wehenpause. »Ich frage dich hiermit ein letztes Mal. Willst du mich heiraten?«

Paula hatte keine Chance, darauf zu antworten. Die nächste Wehe ließ sie beinahe ohnmächtig werden.

»Jetzt pressen, pressen!«

Und dann war der irrsinnige Schmerz vorbei. Paula schloss die Augen, sie fühlte sich so entsetzlich müde. Sie bekam gar nicht mehr mit, was um sie herum passierte, auch nicht, dass Matthias ihre Hand losgelassen hatte.

»Unsere kleine Lotta ist da. Und wie hübsch sie ist …«, hörte sie ihn wie aus weiter Ferne sagen.

Das Quäken eines Babys – ihres Babys – holte sie in die Realität des Kreißsaals zurück. Ein schmieriges kleines Wesen wurde ihr auf den Bauch gelegt.

Paula betrachtete das krebsrote zerknautschte Gesichtchen ihrer Tochter. »Hübsch«, hatte Matthias gesagt – hübsch war in ihren Augen entschieden anders. Sie vermutete, dass der Ärmste durch die Entbindung einen Schock erlitten hatte.

Die Kleine runzelte kritisch die Augenpartie, die Mundwinkel zogen sich bebend nach unten. Ihr schienen die neuen Gegebenheiten nicht zu gefallen.

Zart strich Paula über eines der geballten Fäustchen. »Hallo, kleine Lotta«, flüsterte sie.

Die Krankenschwester nahm ihr sanft das Baby ab. »So, meine Kleine, wir lassen Mami mal ein wenig verschnaufen. Wir machen uns in der Zwischenzeit sauber und lassen uns vom Onkel Doktor untersuchen.«

Paula sah den beiden nach, als sie in den Nebenraum gingen.

Matthias saß auf einem Hocker neben ihr und hielt wieder ihre Hand, während sie ärztlich versorgt wurde. Dass er bei ihr war, fühlte sich sehr gut an.

»Findest du sie wirklich hübsch?«

Matthias strich ihr zärtlich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht und küsste sie. »Natürlich finde ich sie hübsch, sie ist das hübscheste Mädchen der Welt. Wenn sie groß ist, wird sie genauso schön wie ihre Mutter sein.«

Der Arzt war fertig mit seiner Arbeit und verabschiedete sich. Auch die Hebamme ließ sie allein. Aus dem Nebenraum hörten sie die beruhigenden Stimmen des Kinderarztes und der Krankenschwester und zwischendurch Lottas energisches Stimmchen. Der Kleinen schien nicht zu gefallen, was man mit ihr machte.

Ich habe ein Kind, dachte Paula. Sie konnte es noch gar nicht glauben. Und sie hatte keine Ahnung, ob sie das mit diesem kleinen Menschlein hinbekommen würde.

»Wir wurden vorhin gestört«, unterbrach Matthias ihre trüben Gedanken. »Du bist mir noch eine Antwort schuldig.«

»Und was war die Frage?«

»Die Frage; und ich werde sie nicht noch einmal wiederholen.«

Paula betrachtete ihn ernst. Ja, sie liebte diesen Mann – sein Gesicht, sein Lächeln, die unglaublich blauen Augen. Seinen knackigen Körper natürlich auch. Sie passten wirklich gut zusammen, hatten den gleichen Humor und die gleichen Vorstellungen vom Leben – nur dass das unbedingt verheiratet sein sollte, da stimmten sie nicht überein. Sie mochten die gleichen Dinge, Motorrad fahren, reisen, Kino, lesen, gut essen … Sex. Und der war nicht übel. Sogar den gleichen Musikgeschmack hatten sie. Matthias und sie hatten auch noch den gleichen Job, was für eine eventuelle Ehe eine ausgesprochen günstige Ausgangsposition wäre.

Sie strich mit der freien Hand über sein stoppeliges Kinn. Er wollte sie tatsächlich heiraten, obwohl sie sich seit Wochen fett und unansehnlich fühlte. Er wollte sie heiraten, obwohl sie ein hässliches rotes zerknautschtes Kind auf die Welt gebracht hatte, das nicht einmal von ihm war. Die Frage, ob sie sich ein Leben ohne diesen Mann vorstellen konnte, musste sie mit einem klaren Nein beantworten. Ein warmes Gefühl durchflutete sie.

Während Paula im Geiste das Für und das Wider gegeneinander abwog, wechselte Matthias’ Gesichtsausdruck von gespannt zu enttäuscht. »Wenn du so lang überlegen musst, kann nichts Gutes dabei rauskommen.« Enttäuscht kniff er die Lippen zusammen, die Paula so gern küsste. »Vergiss es einfach, Paula, ich werde dich auch nie wieder fragen, versprochen.«

»Schade, ich wollte eben Ja sagen.«

Er kräuselte die Augenbrauen, als er ihre frech funkelnden Augen sah. »April, April, oder was?«

»Nein. Einfach nur ja – ja, ich will deine Frau werden.«

Matthias saß auf seinem Hocker und brachte kein Wort heraus.

»Aber nur eine ganz kleine Feier, ohne Pomp und ohne Kirche. Nur unsere Familien und nur die allerengsten Freunde.«

Er grinste süffisant. »Dafür, dass du bis eben auf gar keinen Fall heiraten wolltest, scheinst du dir schon jede Menge Gedanken gemacht zu haben.«

»Klar, ich musste doch Gründe finden, warum ich nicht heiraten will.«

Mitten in ihrem Kuss schwang die Tür auf, und Hebamme Martina kam mit einem Krankenhausbett hereingefahren. »So, Familie Stern, dann topfen wir mal die frischgebackene Mutti in ein bequemes Bett um, und wenn die kleine Maus fertig ist, geht es hoch auf Station.«

Als sie aufstand, fühlten sich Paulas Knie wie Pudding an, und auch der Kreislauf spielte verrückt. Sie war heilfroh, als sie mit Martinas Hilfe endlich im weichen Bett lag.

Kaum war das geschafft, kam die Kinderkrankenschwester mit einem Stoffbündel zu ihr ans Bett. »Da sind wir wieder, frisch gebadet, gepampert und im schicken Strampelanzug.« Sie legte Paula das Bündel in den Arm.

Paula war überrascht. Lottas Gesicht war zwar noch rot, aber nicht mehr ganz so krebsrot wie vorhin. Und auch die Runzeln schienen weniger geworden zu sein. Ihr Haar war dunkel und ziemlich lang und stand keck in die Höhe. Die winzigen Hände waren zu Fäusten geballt, eine streckte sie hoch über ihren Kopf.

Matthias griff danach und hielt sie in seiner großen Hand. »Schau dir nur diese Siegerpose an«, sagte er gerührt. »Ja, meine Süße, zeig’s der Welt da draußen.«

Schön fand Paula ihre Tochter immer noch nicht, eher erbarmungswürdig und dadurch dennoch irgendwie süß.

Eine Schwester, die sich als Mareike vorstellte, brachte Paula und Lotta hinauf auf die Wöchnerinnenstation. Matthias wich nicht von der Seite seiner Mädels.

Paula war enttäuscht, allein im Zimmer zu sein. Sie hatte gehofft, sich mit einer »Leidensgenossin« oder besser noch mit einer erfahrenen Mutter austauschen und das eine oder andere lernen zu können. Während sie mit Schwester Mareike die Anmeldeformalitäten erledigte, trug Matthias Lotta durchs Zimmer und erzählte ihr, was er alles mit ihr anstellen würde, sobald sie zu Hause waren. Lotta schlief derweil und machte keinen Mucks.

Bei der Frage, wer der Vater sei, sahen sich Paula und Matthias an, dann nannte er seinen Namen. Paula glaubte, Stolz heraushören zu können.

Als Lotta quengelig wurde und gleich darauf kraftvoll zu schreien begann, übergab Matthias sie schnell an Schwester Mareike.

»Die kleine Maus hat wohl Hunger.« Sie kam an Paulas Bett. »Dann wollen wir es mal mit dem Stillen versuchen …«

»Ich will nicht stillen«, sagte Paula energisch.

Schwester Mareike hielt überrascht inne. »Warum nicht?«

Paula hatte es bei ihren Schwestern und einigen Freundinnen erlebt, wie sie monatelang, ein paar von ihnen sogar jahrelang, rund um die Uhr hatten einsatzbereit sein müssen. Das wollte sie auf gar keinen Fall.

»Es geht einfach nicht, ich will so schnell wie möglich wieder arbeiten.« Das war ein weiterer, für Paula sehr triftiger Punkt gegen das Stillen.

»Vielleicht können Sie ja Ihre Kleine mit ins Büro nehmen?«

Lottas Geschrei wurde fordernder.

»Ich bin Beamtin bei der Mordkommission, da kommt Stillen an einem Tatort nicht so gut.«

»Aber Ihnen steht doch Elternzeit zu.«

»Die teile ich mir mit meinem Mann.«

An dieser Stelle schmunzelte Matthias zufrieden.

»Sie wissen aber schon, dass Stillen in den ersten Wochen immens wichtig ist? Nicht nur für die Widerstandskraft des Kindes, es ist auch gut für die Mutter-Kind-Beziehung. Wenigstens ein paar Wochen sollten Sie …«

Paula unterbrach sie erneut. »Ich will nicht stillen.«

Schwester Mareike merkte wohl, dass Paula diesbezüglich nicht zu überreden war. Schulterzuckend übergab sie ihr das schreiende Kind. »Dann werde ich mal schnell ein Fläschchen organisieren.«

»Sie hält mich für eine Rabenmutter«, sagte Paula über Lottas Radau hinweg zu Matthias.

»Und wenn schon, es ist deine Entscheidung.«

Sie wiegte ihre Tochter, deren Schreien eine Nuance verzweifelter wurde. Paula konnte in ihrem weit aufgerissenen Mündchen das Gaumensegel vibrieren sehen. Mit geballten Fäustchen fuchtelte Lotta in der Gegend herum, der kleine Körper bebte.

Paula war mindestens genauso verzweifelt wie die Kleine, denn das würde sie in den nächsten Wochen und Monaten regelmäßig erleben. Liebevoll küsste sie die gekräuselte Stirn. »Mein armer hungriger Schatz, gleich bekommst du deine Milch.«

Matthias setzte sich zu ihnen aufs Bett und nahm eines der strampelnden Füßchen. »Ganz die Mutter. Voller Energie, und wenn was nicht sofort klappt, wird sich aufgeregt wie Bolle.«

Paula überhörte das geflissentlich. Um Lotta zu besänftigen, streichelte sie ihr die zornesroten Wangen und sprach leise auf sie ein. Aber das schien die Kleine noch mehr aufzuregen.

Endlich kam Schwester Mareike mit einem Milchfläschchen, und kaum dass der Sauger Lottas Lippen berührte, umschlossen diese ihn und saugten daran. Die Stille im Raum war wunderbar.

»Ganz der Papa«, sagte Paula schmunzelnd. »Gib ihm was zu essen, und schon gibt er Ruhe.«

»Aha, dann ist Kollege Keeser der Vater?«, konterte er.

»Gott bewahre!«

Paula beobachtete Lotta, die mit geschlossenen Augen zufrieden nuckelte und mit ihrer Zwergenhand ihren kleinen Finger umklammerte. Es war alles so winzig an ihr – die Fingerchen, die Öhrchen, das Näschen. So entspannt, wie die Kleine in ihrem Arm lag, musste sie Matthias recht geben, sie war doch hübsch.

Als Lotta fertig getrunken hatte, machte sie an Paulas Schulter ein Bäuerchen wie aus dem Lehrbuch. Mit dem Bäuerchen kam auch ein Schwung Milch, aber das schien die Kleine nicht zu stören. Gleichzeitig knatterte es in der Windel.

»Kaum auf der Welt und schon die Hosen voll«, kommentierte Matthias.

»Eine gute Gelegenheit, um zu testen, ob der Papa auch schon Windeln wechseln kann«, sagte Schwester Mareike und lachte ihn strahlend an.

Paula war dieser Blick nicht entgangen, Matthias hingegen bekam ihn gar nicht mit, da er nur Augen für das kleine Wesen auf ihrem Arm hatte. Sie wusste um seine Wirkung auf Frauen, deren er sich gar nicht bewusst war.

Sie selbst fand Mareike ausgesprochen gut aussehend – und vor allem so unverschämt schlank. Neben ihr fühlte sich Paula dick und plump. Während der Schwangerschaft hatte sie so einige Fressattacken-Kilos auf die Rippen bekommen. Sie nahm sich fest vor, dass sich das ganz schnell wieder ändern musste, damit sich Matthias nicht doch eines Tages nach einer anderen, einer Schlankeren, umsah.

Schwester Mareike nahm ihr Lotta ab und reichte sie wie einen Pokal an Matthias weiter. Dann half sie Paula aus dem Bett. »Stehen Sie auf, so oft es geht, und laufen Sie herum. Das ist gut für den Kreislauf.«

Paula, die lieber liegen geblieben wäre, ging mit zum Wickeltisch. Mit einer Hand versuchte sie, den rückwärtigen Schlitz ihres Hemdes zusammenzuhalten. Sie würde heilfroh sein, wenn Matthias ihr später ihre eigenen Klamotten von zu Hause mitbrachte.

Da sie schon genügend Windeln bei Nichten und Neffen gewechselt hatte, ließ sie Matthias den Vortritt. Der stellte sich recht geschickt an, nicht einmal die Riesenladung kohlrabenschwarzer Stuhl, das sogenannte Kindspech, schreckte ihn ab. Und Lotta war währenddessen tatsächlich eingeschlafen.

Kurz darauf lag Paula mit Lotta auf ihrem Bauch wieder in ihrem Bett. Sie fühlte sich unendlich müde. Matthias saß neben ihr, streichelte ihre Hand und sah Lotta gebannt beim Schlafen zu.

»Du solltest zu deinen Eltern fahren und Bescheid sagen, dass sie Großeltern geworden sind«, sagte Paula.

»Ich kann sie auch anrufen.«

»Nein, fahr hin. Und dann sag ihnen bitte auch, dass sie erst gegen Abend kommen sollen. Im Moment wäre mir ihr Besuch ehrlich gesagt zu viel. Ich will ein bisschen schlafen.«

»Okay. Aber ich darf danach wiederkommen?«

»Wenn du vorher daheim vorbeifährst und mir ein paar Sachen einpackst. Kultursachen, Handtuch et cetera. Ach, und das Ladekabel für mein Handy. Aber vor allem meine Hausschuhe, meinen dunkelroten Jogginganzug, ein paar T-Shirts und Unterwäsche, damit ich wieder was Anständiges anziehen kann.«

»Ich finde dieses Hemdchen ehrlich gesagt recht sexy, da sieht man deinen süßen Knackarsch so schön.«

»Den sehen dann aber auch alle anderen, wenn ich mal aus dem Zimmer gehe.«

»Überredet.« Matthias riss sich von Lottas Anblick los und raffte sich von der Bettkante hoch. »Ich könnte mich aber auch einfach zu dir legen, und wir schlafen eine Runde. Unsere Eltern denken dann, du bist noch im Kreißsaal …«

»Heimfahren, Bescheid sagen, Klamotten einpacken, wiederkommen«, sagte Paula gespielt streng.

»Okay, Chefin.« Er beugte sich zu ihr hinunter und lächelte sie an. »Wir sind ab sofort Mama und Papa, ist das nicht irre?«

»Du bist irre. Hau endlich ab.« Im Gegensatz zum Gesagten schlang sie beide Arme um seinen Hals und küsste ihn ausgiebig. »Ich liebe dich«, sagte sie zum ersten Mal, seit sie sich kannten.

Er gab ihr einen letzten Kuss auf die Stirn, strich Lotta übers Haar und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um.

»Ich liebe dich noch viel mehr.«

Nur wenige Minuten später war Paula tief und fest eingeschlafen.

***

Eine leise Stimme holte sie aus ihren Träumen zurück. Matthias’ Stimme. Sie mochte sein tiefes Timbre und lauschte mit geschlossenen Augen.

»Und das, Lotta-Mäuschen, ist Landau, hier wohnen wir.«

Er sprach mit dem Baby. Paula musste schmunzeln. Da sie Lotta nicht mehr auf sich spürte, hatte er sie wohl unbemerkt hochgenommen. Seinen Worten zufolge stand er jetzt mit ihr am Fenster.

»Landau ist gar nicht so übel, ein bisschen provinziell und verschlafen vielleicht, aber für ein kleines Kind ideal. Gleich um die Ecke ist die Tanzschule Wienholt, da wirst du mal tanzen lernen. Aber eins sag ich dir, ich werde mir die Jungs, die mit dir tanzen oder ausgehen wollen, ganz genau ansehen. Und ein Stückchen weiter ist das Otto-Hahn-Gymnasium. Da bin ich zur Schule gegangen, ich kann es nur empfehlen. Und wenn du dann das Abitur hast …«

Paula öffnete die Augen und sah zu den beiden hinüber. Behutsam setzte sie sich auf, doch wider Erwarten hatte sie keine Schmerzen.

»Sollte sie vorher nicht erst mal in den Kindergarten und in die Grundschule gehen?«, fragte sie amüsiert.

Matthias drehte sich vom Fenster weg und kam zu ihrem Bett. »Schau mal, deine schlafmützige Mami ist endlich wach. Gut geschlafen?« Er legte ihr Lotta in den Arm.

Paula strich ihrer Tochter mit dem Zeigefinger über die zarten Wangen, die Stupsnase und das runde Kinn. Ihre Winzigkeit rührte sie. »Sie sieht wirklich richtig süß aus.«

Matthias setzte sich zu ihnen aufs Bett und betrachtete die beiden zärtlich.

»Wie lang hab ich geschlafen?«

Er schob den Ärmel ein Stück über die Armbanduhr zurück. »Fast drei Stunden.«

»Lotta auch?«

»Nein, die ist seit ungefähr einer halben Stunde wach, aber wir haben dich schlafen lassen. Wir haben ein richtig gutes Vater-Tochter-Gespräch geführt, nicht wahr, Lotta-Mäuschen?«

»Weiß sie schon, was sie studieren will?«

»Da wurden wir leider von dir unterbrochen, wir werden das ein andermal klären müssen. Wie fühlst du dich?«

»Überraschend gut. Ich würde mich gern umziehen, hast du alles mitgebracht?«

»Alles schon im Schrank und im Bad eingeräumt.«

»Du bist ein Schatz. Und Hunger hab ich. Ein Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee wären nicht schlecht.«

Lotta wurde unruhiger auf ihrem Arm. Ihr Gesicht nahm wieder den unzufrieden-kritischen Ausdruck an, und mit den Lippen schien sie nach Futter zu suchen. Ihren Unmut darüber, dass sie nichts fand, quittierte sie mit Schreien.

Paula fühlte sich erneut hilflos. »Sie hat anscheinend auch Hunger.«

Matthias sprang auf. »Ich besorge ein Fläschchen.«

»Ich glaub, er mag dich wirklich. Wenn ich nämlich was will, springt er nicht so«, flüsterte Paula ihrer Tochter ins Ohr, sobald er aus dem Zimmer war.

Lotta gab einen Moment Ruhe, dann plärrte sie weiter. Zu Paulas Erleichterung kam Matthias wenige Minuten später mit einsatzbereitem Milchfläschchen, aber auch mit einem kleinen durchsichtigen Plastikbecher mit einer Tablette darin zurück.

»Die Flasche ist für Lotta, die Pille für dich.«

Paula betrachtete die ovale Tablette mit der Kerbe kritisch. »Wofür ist die?«

»Eher ›wogegen‹. Soweit ich verstanden habe, soll sie den Milchfluss blockieren.«

»Übernimm du die Fütterung des Raubtieres.« Paula übergab Matthias das schreiende Kind. Mit einem Schluck kaltem Tee spülte sie die Tablette hinunter und stand auf. »Ich geh mich umziehen.«

Lottas Geschrei brach ab, sobald der Sauger ihre Lippen berührte.

Paula holte sich T-Shirt und Jogginganzug aus dem Schrank, küsste im Vorbeigehen erst Matthias, dann Lotta auf die Stirn und verschwand dann im Bad. Als sie gewaschen, umgezogen und mit frisch geflochtenem Zopf wiederkam, war das Fläschchen leer und Lotta über Matthias’ Schulter eingeschlafen.

»An ihrem Benehmen müssen wir dringend feilen«, sagte er, während er den Rücken der Kleinen klopfte. »Sie rülpst wie ein Bauarbeiter.«

Gemeinsam legten sie Lotta ins bereitstehende Kinderbettchen, das wie ein Glaskasten auf einem Teewagen aussah, und betrachteten sie eine Weile schweigend.

»Und jetzt bin ich dran«, sagte Paula. »Hast du Geld einstecken? Ich würde gern in die Cafeteria gehen.«

»Und Lotta? Können wir die einfach so allein lassen?«

Die Lösung für das Problem trat in Form von Schwester Mareike ins Zimmer, die nachsehen wollte, ob alles geklappt hatte. Sie nahm Lotta samt Bettchen mit ins Säuglingszimmer.

***

Noch nie war Paula so glücklich über ein trockenes Stück Streuselkuchen gewesen, denn mehr gab die Kuchenauswahl des Cafés an einem späten Sonntagnachmittag nicht mehr her. So glücklich, dass sie sich sogar ein zweites Stück genehmigte. Und der Cappuccino war richtig gut.

Sie saßen an einem der Tische direkt am Fenster, mit Aussicht auf den Park. Viel zu sehen gab es draußen allerdings Anfang April nicht, nur den Regen, der kräftig aus einem durchgängig grauen Himmel fiel und gelegentlich an die Scheibe klopfte.

Davon abgesehen, dass das Sitzen auf dem harten Stuhl für sie unangenehm war, fühlte sie sich ausgesprochen gut.

»Was haben die Omas und Opas gesagt?«

»Sie haben sich gefreut und lassen dich herzlich grüßen. Gegen achtzehn Uhr werden sie zur Besichtigung kommen.«

»Sind meine Eltern noch bei deinen?«

»Nein, ich hab sie zu ihrer Unterkunft gebracht. Sie kommen dann von dort hierher.«

»Wo sind sie untergekommen?« Paula nippte an ihrem dritten Cappuccino – ein weiterer Grund für sie gegen das Stillen, denn dann hätte sie sich erst einmal Koffein verkneifen müssen.

»Ein Stück außerhalb von Maikammer, im ›Wolsel‹.«

»›Wolsel‹? Nie gehört.«

»›Wirtshaus im Wolsel‹, so heißt der Laden. Ein wirklich außergewöhnliches Lokal mitten im Wald mit ein paar Gästezimmern.«

»Mitten im Wald? Meine Mutter?«

»Ich habe ihr verschiedene Vorschläge gemacht, und das hat ihr wohl am besten gefallen.«

»Und warum waren wir dort noch nicht, wenn es so schön ist?«

»Gute Frage – nächste Frage.«

»Matze? Matze Weber?«

Vor ihrem Tisch stand ein junger Mann mit Reisetasche in der einen und Kaffeetasse in der anderen Hand. Bekleidet war er mit schwarzen Jeans, schwarzem T-Shirt, schwarz-gelber Baseballjacke und gelben Sneakers. Er hatte was von einem jugendlichen Footballstar eines Colleges aus einem amerikanischen Spielfilm.

Matthias sprang auf. »Flo? Mensch, das gibt’s ja gar nicht!«

Der Mann namens Flo ließ die Tasche auf den Boden fallen und stellte seine Tasse auf den Tisch. Dann lagen sich die beiden rückenklopfend in den Armen.

»Mann, Alter, lass dich ansehen.« Matthias schob den anderen ein Stück von sich weg und betrachtete ihn von oben bis unten, bevor er ihn noch einmal an sich zog. »Gut siehst du aus.«

»Du kannst dich aber auch noch sehen lassen. Machst wohl unverändert viel Sport.«

»Ehrlich gesagt nur das, was der Job verlangt. Ich bin diesbezüglich ziemlich faul geworden.«

»Immer noch Bulle?«

»Immer noch Bulle. Kripo Landau, bei der Sitte, wie man so schön sagt. Komm, setz dich zu uns.« Matthias holte einen dritten Stuhl vom Nebentisch. »Darf ich vorstellen, Flo, das ist Paula, meine große Liebe und zukünftige Frau. Paula, das ist Florian Görtz, mein bester Freund aus Kinder- und Jugendtagen.«

Paula reichte Flo die Hand, die er mit kräftigem Griff schüttelte.

»Für dich natürlich Flo.« Er setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. »Bei Gelegenheit musst du mir verraten, wie du es fertiggebracht hast, den alten freiheitsliebenden Haudegen Matze zum Heiraten zu überreden«, sagte er mit einem verschwörerischen Augenzwinkern.

»Das war in diesem Fall eher umgekehrt.« Paula zwinkerte zurück. »Und du musst mir bei Gelegenheit verraten, was der alte freiheitsliebende Haudegen und du in eurer Jugend so getrieben habt.«

»Dann musst du aber mit mir ausgehen, und Matze bleibt daheim.«

Matthias lachte höhnisch auf. »Vergiss es, ich lass dich mit Paula nicht allein.«

Flo beugte sich über den Tisch. »Und weißt du auch, warum? Weil ich ihm früher regelmäßig alle Freundinnen ausgespannt habe.«

Matthias schnaubte verächtlich. »Was heißt da ›ausgespannt‹? In dem Alter war es doch nie was Ernstes.«

Flo lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte mit triumphierendem Gesichtsausdruck die Arme vor der Brust. »Nichts Ernstes? Ich sag nur Biggi …«

Paula hätte gern mehr darüber erfahren, sie liebte alte Liebesgeschichten, aber Matthias schwieg dazu. Die Erinnerung an diese Biggi schien ihn auch heute noch zu schmerzen.

Sie betrachtete die beiden Männer. Grundsätzlich sahen sie beide gut aus, auch wenn sie optisch unterschiedlicher nicht sein konnten. Matthias war ein kleines Stück größer, er war auch nicht ganz so muskulös. Ein Punkt für ihn, denn Paula mochte Muskelprotze und Bodybuilder nicht. Ein weiterer Punkt ging an Matthias für seine Frisur. Sein schwarzes welliges Haar war gut fünf Zentimeter lang, während Flo hellblond war und eine Art Bundeswehrschnitt trug – die Seiten waren bis über die Ohren hoch rasiert, und das obere Deckhaar war streichholzkurz. Beide hatten männlich markante Gesichtszüge und blaue Augen, die von Matthias waren ein paar Nuancen dunkler. Flos Augen waren wie ein ausgewaschenes Jeansblau, sehr hell. Sie hatten nicht die Wärme, die in Matthias’ Blick lag. Auch sein Mund war schmaler und wirkte dadurch härter. Alles in allem gefiel ihr Matthias um Welten besser. Zärtlich legte sie eine Hand auf seine.

»Ich dachte, du lebst in Amerika.«

Paula fragte sich, warum Matthias auf einmal deutlich distanzierter wirkte.

»Deine Mutter hat mir vor zwei, drei Jahren mal erzählt, dass du Fitnesstrainer für ein paar berühmte Promis bist.«

»Stimmt, aber seit einem Jahr bin ich wieder da. Ich hab ein Fitnessstudio in Neustadt, und im Herbst werde ich eines in Landau eröffnen – back to the roots quasi. Ich hatte einfach Sehnsucht nach meiner schönen Pfalz und nach normalen Menschen. Was macht ihr hier im Krankenhaus?«

»Wir sind seit ziemlich genau vier Stunden Eltern einer Tochter.«

Flo nahm einen Schluck von seinem Kaffee und musterte Paula. »Ich dachte, du hast ihn nicht zum Heiraten überredet?«, sagte er mit abfällig nach unten gezogenen Mundwinkeln, anstatt zu dem freudigen Ereignis zu gratulieren.

Paula, der das Sitzen auf dem harten Stuhl mehr und mehr zu schaffen machte, verspürte keinerlei Lust, ihr hinter ihr liegendes Liebesleben vor einem fremden Menschen auszubreiten.

Matthias offenbar auch nicht. »Sie hat sich mit Händen und Füßen gegen das Heiraten gewehrt, ich musste sie quasi mit vorgehaltener Waffe dazu zwingen. Und was treibt dich hierher? Ein Krankenbesuch?«