Liebeskummer & Lametta - Gina Greifenstein - E-Book
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Liebeskummer & Lametta E-Book

Gina Greifenstein

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Beschreibung

Ein unerwarteter Neuanfang ausgerechnet im verschlafenen Ort ihrer Kindheit. Wohlfühlweihnachtsroman für alle Leser:innnen von Manuela Inusa und Dana Lukas »Sie schaltete das Radio ein und sang lautstark bei ›Driving home for Christmas‹ mit. Ja, sie fuhr nach Hause, genauso wie Chris Rea, zu den Menschen die sie liebte und die sie liebten.« Liebesaus statt romantischer Weihnachtstage in London! Zutiefst unglücklich flieht Sandra in die verschneite Kleinstadt ihrer Kindheit, denn wo kann man sich besser trösten lassen als bei Mama und Papa? Doch dort wartet der nächste Schock: Die Eltern sind weg - auf Kreuzfahrt in der Karibik! Für Sandra scheint das das einsamste Weihnachten ihres Lebens zu werden. Doch da gibt es die muntere Nachbarsenkelin Mai und Mais Vater, der gar nicht gut auf Sandra zu sprechen ist. Und den alten Bäcker, der ihre Hilfe braucht. Ganz zu schweigen von ihrem nervigen Chef. Und dann stehen auch noch ihre ungeliebte kleine Schwester und ihr Ex vor der Tür. Na dann: Fröhliche Weihnachten!

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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© Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Julia Feldbaum

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: © Alexa Kim »A&K Buchcover«

Covermotiv: Bilder unter Verwendung von [email protected]

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Weihnachtsrezepte aus Markingen

Nougattaler (etwa 50 Stück)

Cappuccino-Hörnchen (etwa 90 Stück)

Glühweinkuchen (etwa 16 Stücke)

Spekulatius-Tiramisu (für 4–5 Personen)

Nachwort

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Kapitel 1

Driving home for Christmas

Die grellen Bremslichter registrierte Sandra beinahe zu spät. Nur wenige Zentimeter hinter der Stoßstange des vor ihr fahrenden Autos kam sie zum Stehen. Der Schreck ließ ihr Herz schneller schlagen.

Vor lauter Tränen konnte sie fast nichts sehen. Wie Sturzbäche rannen sie aus ihren Augen und verschleierten ihren Blick. Liefen über ihre Wangen, blieben an Nase und Kinn kurz hängen und landeten dann auf ihren Oberschenkeln, sodass die Jeans schon ganz nass war.

Das, was sie da machte, war ein Blindflug und lebensgefährlich.

Nur weil sie schnell wegwollte. Weg von allem, weg von Paul, der sie so fies hintergangen hatte, weg von ihrem Zuhause, das seit nicht mal einer Stunde nicht mehr ihr Zuhause war. Einfach nur weg.

Andererseits wäre es gar nicht so schlimm, tot zu sein, überlegte Sandra und schnäuzte sich in das letzte Papiertaschentuch, das die Packung hergab. Jetzt einfach umfallen, dann hätte der Herzschmerz genauso ein Ende wie die blöde Heulerei.

Die Autos vor ihr fuhren wieder an. Sie atmete tief durch und gab einigermaßen gefasst ebenfalls Gas. Im Stop-and-Go-Modus lenkte sie ihren Wagen durch die morgendliche Rushhour aus München hinaus.

Endlich wurde der Verkehr flüssiger, dafür kamen erste Zweifel in ihr auf. Hätte sie vielleicht doch nicht einfach ihre Tasche packen und so überstürzt abhauen sollen? Hätte sie besser bleiben und mit Paul reden sollen?

Doch was willst du mit einem Menschen, dem du vertraut hast und der seit so vielen Jahren Teil deines Lebens war, noch reden, wenn er dir gerade mitgeteilt hat, dass er nicht mehr dich, sondern eine andere liebt? Dass er nicht mehr mit dir, sondern mit der anderen zusammen sein will?

Nein, es war gut, dass sie gegangen war. Ohne Betteln, ohne langwierige und vor allem erniedrigende Diskussionen. Ohne Heulen, ohne dramatische Szenen. Und vor allem hocherhobenen Hauptes. Die Tränen waren zum Glück erst geflossen, als sich die Aufzugtür geschlossen hatte und sie auf dem Weg in die Tiefgarage war.

Nein, sie musste weg. Sie hätte Pauls Nähe nicht mehr ertragen können. Er würde zwar erst einmal zu dieser anderen Frau ziehen, bis sie eine eigene Bleibe gefunden hatte, aber wie hätte das funktionieren sollen, sie wäre doch durch alles, was in der Wohnung herumstand, an ihn erinnert worden? Überall waren Denkmäler ihres gemeinsamen Lebens – angefangen mit dem großen Poster von ihrem Bali-Urlaub im letzten Jahr an der Wand über der Sitzlandschaft. Ein traumhaft schönes Foto, auf dem sie eng umschlungen vor einem Wasserfall standen und sich innig in die Augen sahen. Zu einer Zeit, als er sie noch geliebt hatte …

Erneut öffneten sich alle Schleusen. Sandra schaffte es gerade noch, in einen Parkplatz einzubiegen, wo sie das Auto stoppte und sich erst einmal ihrem Kummer hingab.

Paul hatte sie abgelegt wie ein abgetragenes Kleidungsstück. Vielleicht war ihre Beziehung nach beinahe acht Jahren ja irgendwie abgetragen? Obwohl sie das nie so empfunden hatte. Ganz im Gegenteil, sie hatte die daraus resultierende Vertrautheit sehr genossen. Natürlich war dieses erste Prickeln, die erste Verliebtheit, Routinen gewichen. Aber war das nicht ganz normal? Man konnte doch nicht immer himmelhoch jauchzend durchs Leben gehen – dann würde auch das Himmelhoch-Jauchzen irgendwann langweilig werden, oder?

Aber Paul wollte anscheinend weiter himmelhoch jauchzen. Nur nicht mit ihr.

Zu Tode betrübt ließ sie den Kopf an die Scheibe sinken und schloss die Augen. Das kühle Glas an ihrer linken Gesichtshälfte tat gut.

Wo sie denn hinwolle, hatte er ihr nachgerufen, nachdem sie ein paar Kleidungsstücke und den flüchtig gepackten Kulturbeutel in ihre Reisetasche geworfen hatte und in die Diele geeilt war.

Jetzt kam ihr diese Frage absurd vor: Hatte ihn das wirklich interessiert? Sie hatte ihm keine Antwort gegeben, nicht nur, weil sie in diesem Moment in einer Art Schockzustand gewesen war und kein Wort über die Lippen gebracht hätte, sondern auch, weil sie ihm darauf keine Antwort hatte geben können. Sie hatte einfach nur irgendwie reagiert, war in die Stiefel geschlüpft, hatte den Mantel vom Haken gerissen, ihren Schlüssel geschnappt und war filmreif aus der Wohnung geflohen.

Ab sofort ging es Paul nichts mehr an, wohin sie ging oder nicht ging. Sollte er sich doch Sorgen machen, er hatte es verdient.

Sie hatte selbst erst gewusst, wohin es sie zog, als sie in der Tiefgarage aus dem Lift gestiegen war. Es gab nur einen einzigen Ort, wo man sie mit offenen Armen aufnehmen und trösten würde: ihr Elternhaus. Der Schmerz würde zwar nicht verschwinden, aber das weihnachtlich geschmückte Zuhause, der Duft nach frisch gebackenen Plätzchen und die uneingeschränkte Liebe von Mama und Papa würden ihn ganz sicher lindern. Nirgendwo auf der Welt war es schließlich gemütlicher und vor allem sicherer als bei den eigenen Eltern zur Weihnachtszeit. Mama würde sie mit all ihrer Liebe auffangen und verwöhnen, so, wie sie es immer getan hatte, wenn Sandra in der Vergangenheit unglücklich gewesen war.

Unbändige Sehnsucht packte sie auf einmal, aber es lagen noch dreihundertfünfzig Kilometer zwischen ihr und Markingen. Die Tatsache, dass sie dieses Weihnachten eigentlich nicht hatte nach Hause fahren, sondern mit Paul nach London fliegen wollen, kam ihr auf einmal wie aus einem anderen Leben vor.

Ob er wohl mit der Neuen nach London flog? Gebucht hatte er ja bereits. Paul … Pah! Sollte er doch machen, was er wollte, sie würde auch ohne ihn zurechtkommen.

Entschlossen startete sie den Motor und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein. Sie schaltete das Radio an, und als wenig später Driving Home for Christmas gespielt wurde, drehte sie voll auf und grölte voller Inbrunst und nicht sonderlich schön mit. Ja, sie fuhr nach Hause, genauso wie Chris Rea, zu den Menschen, die sie liebte und die sie liebten, die sie zwar nicht erwarteten, sich aber freuen würden, dass sie dann doch Weihnachten mit ihnen feiern wollte. Und da war es sogar egal, dass Meike auch da war. Sie würde ihre doofe kleine Schwester ganz einfach hinnehmen und am besten ignorieren.

Kilometer um Kilometer brachte Sandra hinter sich. Und je weiter sie sich von München und Paul entfernte, desto größer wurde die Vorfreude auf daheim.

Irgendwann musste sie den Sender wechseln, weil Bayern 3 sich, je weiter sie sich von München entfernte, mit einem immer lauter werdenden Rauschen verabschiedete. Und kaum, dass sie auf RPR1. umgeschaltet hatte, fuhr auch dort Chris Rea nach Hause – ein Vorhaben, das sie erneut lautstark unterstützte.

Das würde ab sofort ihr Lieblingslied sein. Und immer, wenn sie es in Zukunft hören sollte, würde sie an diesen Tag, an diese Fahrt nach Hause denken … und wahrscheinlich auch an Paul, aber das verdrängte sie schnell. Nicht nur, weil sie sowieso nie wieder an diesen Kerl denken wollte, sondern auch, weil ihr sofort wieder die Tränen kamen.

Sie hatte die Nase voll vom Weinen. Denn wie, bitte schön, sollte man mit tränenverschwommenem Blick klar nach vorn schauen? Nicht nur beim Autofahren, sondern auch in die Zukunft? Und die sah im Moment nicht sonderlich rosig aus, eher grau. Grau wie der Himmel über ihr, aus dem jetzt tatsächlich ein paar mickrige Schneeflocken fielen, die aber auf der Windschutzscheibe sofort schmolzen. Sogar der Schnee war mickrig – genauso wie ihr Liebesleben.

Doch je näher sie der Pfalz und dem Pfälzer Wald kam, desto dicker wurden die Flocken. Ab Karlsruhe blieben sie dann tatsächlich liegen, und sie musste die Scheibenwischer einschalten, um die weiße Pracht, die sich auf der warmen Scheibe sofort in Matsch verwandelte, beiseitezuschieben.

Weiße Weihnachten! Wie sehr hatte sie sich das als Kind immer gewünscht, doch meist war sie enttäuscht worden. Umso mehr genoss sie den Anblick, fast fröhlich beobachtete sie, wie die winterlich tristen Randstreifen ein weißes Häubchen bekamen. Ein paar der Bergspitzen in der Ferne waren auch schon weiß überzuckert, woraus sie schloss, dass auch in Markingen Schnee liegen musste.

Umso heimeliger würde das Haus ihrer Eltern aussehen, wenn sie in nicht mal einer Stunde davor parkte. Mit Lichterketten, die das Dach einrahmten und sich um die Bäume und Büsche im Vorgarten wickelten, und beleuchteten Sternen in den Fenstern. Ihr Vater nahm es mit dem Außenschmuck stets sehr genau, eine Klassenkameradin hatte einmal staunend am Zaun gestanden und beeindruckt »Ein Weihnachtshaus!« gehaucht. Manche Nachbarn nannten es einfach nur übertrieben oder kitschig. Für Sandra war es zwar auch ein bisschen zu viel des Guten, aber es war von jeher auch der Inbegriff von Weihnachten. Und genau darauf freute sie sich jetzt mehr als auf alles andere.

Sie konnte den Moment, wenn sie in die Straße einbiegen und das Haus hinten rechts leuchten sehen würde, kaum erwarten. Im winterlichen Dämmerlicht würde es ganz besonders schön aussehen.

Sie sah es filmreif vor ihrem geistigen Auge ablaufen: Wie sie die Eingangsstufen hinaufeilte, klingelte und »Überraschung!« rief, wenn ihre Mutter öffnete – und wie sie sich dann in deren überglücklich ausgebreitete Arme warf. Dann würde sie in das weihnachtlich herausgeputzte und von ihrem Vater wie immer überheizte Innere des Hauses eintauchen. Das Gefühl, in Sicherheit zu sein, konnte sie beinahe spüren. Sicher und behütet vor der bösen Welt da draußen. Wieder Kind sein dürfen – jahrelang hatte sie sich dagegen gewehrt, weil sie doch schon lang erwachsen war, aber heute konnte sie sich nichts Schöneres vorstellen. Wie immer würde sie in ihrem ehemaligen Kinderzimmer schlafen, das zwar inzwischen ganz anders aussah, aber sich immer noch wie daheim anfühlte.

Ja, Meike würde über die Feiertage da sein und einen Teil, wahrscheinlich wie immer den größeren, der Liebe und Aufmerksamkeit ihrer Mutter einfordern, aber daran hatte sie sich in den siebenundzwanzig Jahren, die die lästige Schwester jetzt auf der Welt war, schon irgendwie gewöhnt.

Und dann passierte Sandra endlich das Ortsschild.

Kapitel 2

Überraschung!

Sandras Aufregung stieg. Langsam fuhr sie die Bahnhofstraße entlang, die sie so gut kannte und über der auch in diesem Jahr die gewohnte uralte Weihnachtsbeleuchtung im Zickzack von einer Seite zur anderen gespannt war. Sie drosselte das Tempo, nicht nur, weil sie alles genau betrachten und den Moment des Heimkommens so intensiv wie möglich erleben wollte, sondern weil auch die Schneedecke auf der Straße ein schnelleres Fahren nicht mehr zuließ. Links und rechts wurden schon die Gehsteige gekehrt oder mit dem Schneeschieber bearbeitet. Und die Flocken fielen weiter dick vom inzwischen spätnachmittagsdämmrigen Himmel herab. Wenn sie Glück hatte, dann würde sie morgen früh in einer weißen Wunderwelt erwachen. Wenn sie noch mehr Glück hatte, dann würde alles bis Heiligabend liegen bleiben.

Als sie etwa die Hälfte der Straße hinter sich gebracht hatte, flammten über ihr die Glühbirnen der verschnörkelten Sterne und stilisierten Schneeflocken auf. Zusammen mit den beleuchteten Schaufenstern und dem noch immer fallenden Schnee hatte der Moment beinahe etwas Märchenhaftes.

Und dann kam die Abzweigung in den Westring. Die Straße ihrer Kindheit, in der sie Rad- und Rollschuhfahren gelernt und Fangen mit den Nachbarskindern gespielt hatte, lag im Scheinwerferlicht wunderbar weiß vor ihr. Ihr Auto war das erste, das seine Reifen in die makellose Schneedecke drückte.

Die Tanne vor dem Haus der Hallers, wo sie ein Jahr lang Lateinnachhilfe vom besten Freund ihres Vaters bekommen hatte, erstrahlte im grellen LED-Licht einer bestimmt hundertbirnigen Lichterkette. Gegenüber bei den Müllers blinkte es bunt und unrhythmisch, etwas, das es die Jahre zuvor noch nicht gegeben hatte. Bei den Bollingers daneben leuchtete zwar nichts, dafür kletterte eine wohlbeleibte Weihnachtsmann-Figur mit prall gefülltem Geschenkesack über das Balkongeländer. Wobei man nicht genau erkennen konnte, ob er noch hochkletterte oder vielleicht doch eher türmen wollte. Die Friedmanns neben Hallers hatten Dachrinne und Giebel mit Lichterketten geschmückt, die wie Eiszapfen aussahen.

Im Vorbeirollen musste Sandra schmunzeln: Die Nachbarn hatten dieses Jahr also ordentlich aufgerüstet, um es mit ihrem Vater aufnehmen zu können. Aber so sehr sie sich auch angestrengt haben mochten: Gegen die Schmückfreude ihres Vaters waren sie allesamt echte Anfänger!

Gleich kam die leichte Biegung, nur noch drei Häuser standen auf der rechten Seite, die sie von ihrem Elternhaus trennten: das der Richters, das der Neumanns und das der Voglers. Und dann würde es leuchten und strahlen und alles in den Schatten stellen, was die Nachbarschaft hier veranstaltete.

Doch als Sandra bei den Voglers vorbeigefahren war und vor dem Haus der Eltern hielt, leuchtete und strahlte nichts, kein einziges Birnchen am Baum im Vorgarten, keine Leuchtsterne in den Fenstern, keine Lichterketten. Auch kein hell erleuchtetes Fenster, das zum Hineinschauen verlockte – im Gegenteil: Überall waren die Rollos heruntergelassen. Das Haus stand dunkel und verwaist da.

Regelrecht geschockt blieb Sandra bei laufendem Motor im Wagen sitzen und betrachtete das Gebäude. Sie fragte sich, was da los war. Waren die beiden noch mal zum Einkaufen gegangen? Oder bei den Nachbarn?

Und wenn, beantwortete sie sich diese Fragen selbst: Ihr Vater würde nie-, niemals vergessen, die Weihnachtsbeleuchtung einzuschalten!

Das Gefühl der Sorge umklammerte ihr Herz und drückte es zusammen. War den beiden etwas passiert, und man hatte sie nicht informiert?

Das Garagentor war geschlossen, die Schneefläche auf der Einfahrt davor jungfräulich – es sah nicht danach aus, als ob da in der letzten Zeit jemand rein- oder rausgefahren wäre.

Mit klopfendem Herzen schaltete sie den Motor aus und blieb noch einen Moment sitzen. Als es spürbar kühler im Wageninneren wurde, sprach sie sich Mut zu und stieg aus. Ohne das Haus aus den Augen zu lassen, holte sie ihren Mantel vom Rücksitz und schlüpfte hinein.

Im schwindenden Tageslicht erkannte sie, dass der Baum vor dem Haus ohne Lichterkette dastand. Genauso wie die kleine Korkenzieherweide neben der Einfahrt. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht!

Ging es dem Vater etwa so schlecht, dass er dieses Jahr nicht die Kraft gehabt hatte, seinen geliebten Weihnachtsschmuck anzubringen? Aber hätte ihre Mutter das nicht beim letzten Telefonat erzählt? Vor zwei Wochen war das gewesen, da hatten sie doch über Weihnachten gesprochen und darüber, dass sie und Paul dieses Jahr ausnahmsweise nicht kommen würden. Wegen London. Zu einem Zeitpunkt also, zu dem normalerweise schon alles hätte geschmückt sein müssen. Bestimmt hatte ihre Mutter nichts erwähnt, weil sie sie nicht beunruhigen wollte. Danach war Sandra wegen dieses blöden Keks-Werbeauftrags beruflich so eingespannt gewesen, dass sie sich nicht mehr gemeldet hatte. Das schlechte Gewissen schwappte über sie hinweg wie eine große Welle. Ihren Eltern oder einem von ihnen ging es nicht gut, und sie hatte keine Ahnung davon! Weil sie eine schlechte Tochter war, die sich viel zu selten meldete. Meike wusste bestimmt Bescheid, sie war ja die Mustertochter. Und wenn sie mit ihrer Schwester Kontakt hätte, wie es sich für Schwestern gehörte, dann hätte sie es zumindest von ihr erfahren. So stand sie jetzt vor einem dunklen Haus, mit Angst im Herzen und ohne einen blassen Schimmer, was sie erwartete.

Als sie sich mit steifen Beinen dem Gartentürchen näherte, blickte sie nach rechts und links die Straße hinunter, aber keiner der Nachbarn war zu sehen. Keiner schippte Schnee, niemand ging spazieren, also gab es auch keinen, den sie nach ihren Eltern fragen konnte. Sandra hoffte so sehr, dass sich all die ängstlichen Gedanken in Luft auflösten, weil sich gleich die Haustür öffnen würde und die Mutter mit ausgebreiteten Armen vor ihr stünde.

Die schmiedeeiserne Klinke des niedrigen Türchens im altmodischen Jägerzaun war zugeschneit und eiskalt, so kalt, dass ihre Handfläche schmerzte. Fröstelnd wickelte Sandra den Mantel enger um ihren Körper. Bei jedem Schritt, den sie über die makellose Schneeschicht auf dem Weg zum Haus ging, erklang dieses typische Knirschgeräusch, dass sie als Kind so geliebt hatte und sie jetzt in unerklärliche Furcht versetzte.

Dann stand sie vor der Haustür, die zum ersten Mal, seit sie denken konnte, kein Adventskranz zierte. Kahl und abweisend sah sie aus. Ein Griff in die Manteltasche bestätigte ihre Befürchtung: Der Schlüssel für ebendiese Tür hing im fernen München am Schlüsselbrett. Bei ihrer beinahe panischen Flucht aus der Wohnung hatte sie ihn einfach vergessen.

Nach einem tiefen Atemzug legte sie den Zeigefinger auf den ebenfalls eiskalten Knopf oberhalb des schlichten silbernen Namensschildes und klingelte. Erst einmal, dann nach kurzem Warten zweimal kurz hintereinander. Aber auch nach einem Dauerläuten blieb die Tür geschlossen. Ratlos drehte sie sich um und sah zur Straße.

Wo waren die beiden nur?

Mit klammen Fingern nestelte sie das Handy aus der Innentasche des Mantels.

Fünfzehn Sprachnachrichten waren während der Autofahrt eingegangen, dreizehn von Wolfgang, ihrem Chef, zwei von Paul.

Wollte Paul sich entschuldigen? Wollte er ihr sagen, dass das alles ein dummes Missverständnis war, dass sie zu ihm zurückkommen sollte? Ihr unglückliches Herz schlug ein paar Takte schneller.

Aber erst musste sie versuchen, ihre Eltern zu erreichen. Sie suchte die Handynummer ihrer Mutter heraus und rief sie an. Es klingelte ein paar Mal am anderen Ende der Leitung, aber es ging keiner ran. Immerhin hatte ihre Mutter ihr Handy nicht ausgeschaltet.

Ihr Finger schwebte über dem Pfeil der ersten Sprachnachricht von Paul. Sollte oder sollte sie lieber doch nicht? Das Engelchen auf der einen Schulter sagte unüberhörbar: Ja, gib ihm eine Chance. Das Teufelchen auf der anderen Schulter flüsterte: Der Arsch soll sich verpissen, er ist es gar nicht wert, ihm noch einmal zuzuhören.

»Hallo, Sandra«, kam Pauls vertraute Stimme aus dem kleinen Apparat, als sie dann doch die erste Nachricht abspielte. Schnell drückte sie auf Pause.

Sandra, nicht Sandy, wie er sie sonst immer genannt hatte. Und er klang ernst. Kurz überlegte sie, ob sie wirklich hören wollte, was da noch kommen würde. Aber die Neugier – und vor allem die Hoffnung – siegte.

»Ich hoffe, es geht dir gut …«

Erneut drückte sie auf Pause. Hatte er das wirklich gesagt? Nein, verdammt, ihr ging es nicht gut. Ihr ging es gelinde gesagt beschissen!

»Und vor allem hoffe ich, dass du keinen Quatsch machst …«

Quatsch? Sandra wollte ihren Ohren nicht trauen. Was meinte er mit »Quatsch«? Dass sie sich das Leben nahm? Wegen ihm? Was bildete sich der Kerl ein? Ja, sie konnte sich ein Leben ohne ihn im Moment zwar nicht vorstellen, aber deswegen sterben? Wie wichtig nahm der sich eigentlich?

»Lass uns noch mal in Ruhe darüber reden, wenn du dich beruhigt hast …«

»Und worüber willst du da noch reden?«, fauchte Sandra, die sich keinesfalls beruhigen wollte, das Handy an. »Du Arsch hast Schluss gemacht, und ob du es glaubst oder nicht: Ich hab zwar nicht Medizin studiert wie du, aber ich hab es trotzdem kapiert.« In einem Anflug von Stolz löschte sie beide Nachrichten, ohne sie fertig beziehungsweise überhaupt gehört zu haben. Gleich darauf war sie entsetzt über sich selbst, dass sie Pauls Stimme gelöscht hatte, die Stimme, die sie immer so geliebt und der sie so gern zugehört hatte. Tief atmete sie die kalte Schneeluft ein, um die aufkommenden Tränen zurückzudrängen.

Um sich abzulenken, sah sie unter jeden der drei großen Blumentöpfe, in denen als einzige Weihnachtsdeko ein paar schmucklose Tannenzweige steckten. Dort war früher immer ein Ersatzschlüssel für vergessliche halbwüchsige Töchter deponiert gewesen. Die Betonung lag auf früher, denn jetzt lag da kein Schlüssel mehr. Kein Wunder, sie selbst hatte bei ihrem letzten Besuch im Sommer auf ihre Mutter eingeredet, dass das gefährlich und quasi eine Einladung für Einbrecher wäre und im Falle eines Einbruchs keine Versicherung der Welt für Geklautes aufkommen würde. Ihr Argument, dass Meike und sie jetzt erwachsen wären, hatte dann wohl gefruchtet. Tja, das hatte sie jetzt davon: nämlich keinen Schlüssel, mit dem sie ins Haus kommen konnte!

In ihrer Manteltasche klingelte das Telefon. Vielleicht Paul, dachte sie spontan. Aber es war nicht Paul, es war ihre Mutter.

»Mama, endlich!«, meldete sie sich vorwurfsvoll.

»Sandra-Schatz, du hattest angerufen – was gibt’s?«

»Wo seid ihr?«

Auf diese Frage hin herrschte kurz Stille.

»Wieso?«, kam dann hörbar zögerlich die Antwort.

»Weil ich hier vor der Tür stehe und keiner da ist.«

»Vor welcher Tür denn, Kind?«

»Vor eurer Tür zu Hause, Mama. Also, wo seid ihr?«

»Ähm, noch beim Frühstück …«

Sandra überprüfte die Uhrzeit auf dem Display. Die erste Erleichterung, dass es den beiden anscheinend gut ging, wich der Sorge, dass dem wohl doch nicht so sein könnte: Es war kurz nach vier am Nachmittag, und ihre Mutter faselte etwas vom Frühstück!

»Mama, ist alles klar bei euch?«

»Aber ja, Kind, bestens, willst du deinen Vater sprechen?«

Da ihrer Mutter kein vernünftiges Wort zu entlocken war, bejahte sie das. In der Hoffnung, ihr Vater würde das Ganze hier schnell aufklären.

»Papa, wo seid ihr?«

»Wie deine Mutter schon sagte, noch beim Frühstück …«

»Sag mal, spinnt ihr zwei? Es ist fast Abend«, unterbrach Sandra genervt.

»Hier auf Barbados ist es aber noch Vormittag.«

Barbados? Hatte sie sich verhört? Sandra musterte das Telefon in ihrer Hand kritisch. Natürlich war ihr Altersdemenz ein Begriff, sie hatte aber noch nie von einem Fall gehört, wo beide Elternteile gleichzeitig und äußerst spontan erkrankt waren.

»Barbados?«, wiederholte sie vorsichtig.

»Ja, Barbados. Wir sind auf einer Karibik-Kreuzfahrt. Deine Mutter wünscht sich das doch schon so lang, und da ihr alle nicht über Weihnachten kommen wolltet …«

»Meike auch nicht?«

»Nein, sie hat über die Feiertage Dienst in der Klinik. Sie war zwar sehr traurig deswegen, aber sie meinte, das würde bei ihrem Professor gut ankommen und außerdem auch ein bisschen Geld einbringen. Und dann haben wir dieses ganz fantastische Angebot im Schaufenster vom Reisebüro gesehen und spontan gebucht. Hat deine Mutter dir das nicht gesagt?«

»Nein, das hat sie wohl vergessen«, antwortete Sandra missmutig.

Sie hörte Gewisper und raschelnde Geräusche, dann hatte sie ihre Mutter wieder am Ohr.

»Ach, Sandra-Schatz, das tut mir so leid! Ich wollte dich noch deswegen anrufen, aber es war alles so kurzfristig und die ganze Packerei. Aber dann dachte ich mir, dass es letztendlich doch nicht so wichtig war, weil du und Paul … weil ihr beide ja eh nicht kommen wolltet. Aber hab ich das gerade richtig verstanden? Du stehst bei uns daheim vor der Tür? Warum gehst du denn nicht rein?«

»Weil ich meinen Schlüssel in München vergessen habe … deshalb.« Müde lehnte Sandra sich an die unüberwindbare Tür und starrte ins Schneegestöber. Und jetzt?, fragte sie sich. Sollte sie in ein Hotel gehen?

»Aber wolltet ihr nicht nach London fliegen, um dort Weihnachten zu feiern?«

Sandra spürte, wie ihre Augen wieder tränenwässrig wurden. Seufzend wischte sie sich mit dem Handrücken über die Lider. »Ach, Mama, das ist eine lange Geschichte, die ich nicht am Telefon erzählen möchte. Hast du noch irgendwo einen Ersatzschlüssel versteckt?«

»Du hast mir doch lang und breit erklärt, dass man das nicht machen sollte, also nein.«

»Wann kommt ihr denn wieder?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Am 15. Januar, wieso?«

Verzweiflung ergriff Sandra. Verdammt, wem sollte sie jetzt ihre Sorgen und Nöte erzählen, wer würde sie trösten? Sie konnte sich unmöglich fast vier Wochen lang in einem Hotel verkriechen, um ihre Wunden zu lecken und auf ihre Eltern zu warten. So lang dürfte sie keinesfalls vom Büro wegbleiben. Nach nur einem unentschuldigten Fehltag hatte sie schon zwölf Nachrichten von ihrem Chef auf der Mailbox, wie wäre das wohl nach mehreren Wochen?

Ihre Mutter sprach unterdessen munter weiter, ohne dass Sandra wirklich zuhörte. Zu sehr jagten sich ihre Gedanken, und erst als das Wort Schlüssel fiel, reagierte sie. »Die Verbindung war gerade nicht so gut«, flunkerte sie. »Was hast du zuletzt gesagt?«

»Wegen des Hausschlüssels … Das ist aber komisch. Also unsere Verbindung ist ganz prächtig, ich höre dich glasklar, so, als stündest du genau vor mir. Hans, wie war die Verbindung bei dir? Sandra sagt, sie kann nicht alles verstehen.«

Mensch, Mama, mach hinne, ich stehe hier im Schnee und friere mir den Arsch ab!

»Sandra?« Ihr Vater war wieder dran. »Sandra, sag doch mal was.«

»Was? Was soll ich denn sagen?« Langsam riss ihr der Geduldsfaden.

»Ich will doch nur überprüfen, wie die Verbindung ist. Also ich merke nichts von einer Störung, ich höre dich ganz prächtig.«

Sie schloss die Augen und atmete tief durch. »Wunderbar, Papa, ich höre dich auch ganz prächtig. Mama hatte vor der Diskussion über die Qualität dieser Telefonverbindung was vom Hausschlüssel gesagt.«

»Aber du hast doch einen Schlüssel.«

»Ja, aber nicht dabei, den hab ich daheim vergessen …« Sie musste schlucken, da es dieses Daheim ja nicht mehr gab.

»Ach so. Aber was wollt ihr denn bei uns machen, wenn wir gar nicht da sind?«

»Keine Ahnung, Papa, das wird sich ergeben. Jetzt brauche ich einfach den Schlüssel, damit ich ins Haus komme und mich aufwärmen kann.« Unentwegt trat sie von einem Fuß auf den anderen, um sich in Bewegung und warm zu halten. Was aber letztendlich nichts brachte.

»Aufwärmen? Ja, ist es denn kalt in Markingen? Als wir letztes Wochenende losgefahren sind, hatten wir knappe dreizehn Grad.«

»Jetzt nicht mehr. Es ist kalt, und es schneit seit Stunden. Also, was ist mit dem Schlüssel?« Sie betrachtete die Fußabdrücke, die sie auf dem Weg zur Tür hinterlassen und der unentwegt fallende Schnee schon beinahe wieder unsichtbar gemacht hatte. Sie wechselte die Hand und das Ohr, weil ihre Finger vor Kälte schon ganz steif geworden waren.

»Es schneit?«, kam die überraschte Frage aus der fernen Karibik. »Das hat die Wetter-App aber nicht angezeigt. Ich glaub ja manchmal, die verarschen uns. Hast du gehört, Elli, daheim schneit’s. Ha, deine Mutter will das gar nicht glauben. Also wir haben hier wunderbaren Sonnenschein und karibische fünfunddreißig Grad.«

»Papa, der Schlüssel«, mahnte Sandra. Mit den Augen folgte sie den Atemwölkchen, die beim Sprechen ihre Lippen verlassen hatten und sich jetzt langsam in nichts auflösten.

»Ach ja, der Schlüssel! Der ist drüben bei Voglers. Die kümmern sich um die Post und die Zimmerpflanzen, solange wir weg sind. Schätzchen, du musst die Thermostate hochdrehen, damit du es warm kriegst. Ich hab sie auf ganz klein gestellt, damit nichts einfriert. Und jetzt müssen wir Schluss machen, wir haben eine Fahrt in den Regenwald gebucht. Wir melden uns, tschüss!«

Ratlos stand sie unter dem Vordach ihres Elternhauses und sah in die immer dunkler werdende Welt davor. Was sollte sie jetzt tun? Den weiten Weg zurück nach München fahren und sich dort in einem Hotel verkriechen? Bei dem Wetter könnte das ein paar Stunden länger dauern, als sie für die Herfahrt gebraucht hatte. Ganz abgesehen davon, dass das nicht ungefährlich wäre. Oder doch hierbleiben, in diesem gottverlassenen Provinzkaff am Arsch der Welt? Allein wäre sie da wie dort. Nur hier würde es nichts kosten. Und Geld würde sie demnächst jede Menge brauchen – Kaution, Miete, Umzug –, wahrscheinlich musste sie einen Kredit aufnehmen.

Das Handy klingelte erneut. Ihr Chef schon wieder. Und sie wusste genau, dass es kein angenehmes Gespräch war, das sie da erwartete. Immerhin war sie heute dem Büro ohne jegliche Nachricht oder Entschuldigung ferngeblieben. Und das mitten in dieser wichtigen Werbekampagne. Der Akku war fast leer, trotzdem ging sie ran.

»Wolfgang! Gut, dass du anrufst, ich wollte mich auch gerade bei dir melden«, flötete sie zuckersüß und hasste sich selbst für ihre Arschkriecherei. Aber was sie jetzt nicht brauchte, war Ärger mit ihrem Chef … und schon gar keinen Rauswurf aus der Firma.

»Wo, verdammt, bist du? Der Herz-Keks-Chef war höchstpersönlich bei dem Zwei-Uhr-Meeting, und er ist wutschnaubend abgedampft, weil wir ihm nichts – ich wiederhole –, NICHTS Prickelndes anbieten konnten. Es war deine Aufgabe, das neue Konzept auszuarbeiten, zumindest ein paar Ideen zu skizzieren. Du hast mich und das Team voll auflaufen lassen. Dir ist doch bewusst, dass wir es uns nicht leisten können, diesen Auftrag zu verlieren? Ich hoffe für dich, dass du eine sehr gute Erklärung für dein Nicht-Erscheinen hast, sonst …«

Sandra erfuhr nicht mehr, was sonst passieren würde, denn genau an dieser Stelle machte ihr Akku schlapp.

Das war nicht gut. Das war gar nicht gut! Wolfgang musste denken, dass sie einfach aufgelegt hatte, und das war etwas, was er partout nicht ausstehen konnte. Das Handy musste so schnell wie möglich an eine Steckdose, damit sie das aufklären konnte. Zum Glück hatte sie ihren Laptop mitgenommen, sie würde ihre Entwürfe sofort an Wolfgang schicken, sobald sie im Haus war, und dann wäre alles wieder gut.

Sie steckte das tote Handy ein und stapfte in Richtung Nachbarhaus, um den Schlüssel zu holen.

Kapitel 3

Pickelgesicht

Den Mann, der nach dem zweiten Klingeln die Tür öffnete, hatte Sandra noch nie zuvor gesehen. Und sie kannte Herrn und Frau Vogler seit ihrer Kindheit, seit ziemlich genau fünfunddreißig Jahren. Herr Vogler war im Alter ihres Vaters, also etwa Mitte sechzig. Das gar nicht so schlecht aussehende Exemplar, das hier vor ihr stand, war aber eher ihre Altersklasse.

Prüfend sah sie aufs Klingelschild. Nein, sie hatte sich nicht im Haus geirrt, hier wohnten noch immer die Voglers. Entweder hatten die Nachbarn einen Haushälter, denn die Schürze mit den großen bunten Blumen, die das schnuckelige Kerlchen sich umgebunden hatte, konnte einen zu dieser Annahme verleiten, oder sie hatte gerade einen Einbrecher bei der Arbeit gestört. Wobei die Schürze ein eher ungewöhnliches Accessoire gewesen wäre. Und ob er dann die Tür geöffnet hätte, bezweifelte sie irgendwie auch.

»Sandra Sommer!«

Der Typ kannte sie?

»Hi«, sagte sie so lässig wie möglich und versuchte sich an einem reizenden Lächeln. Wenn er sie kannte, dann musste sie ihn auch kennen – eigentlich –, aber sie hatte keinen blassen Schimmer.

Er war groß, einiges über eins achtzig. Und schlank. Rotblondes volles Haar, kurz geschnitten, rotblonder Vollbart. Wer, verdammt, bist du?

»Frank? Wer ist denn da?« Frau Vogler erschien neben dem Fremden.

Frank?!?, hätte Sandra am liebsten laut gerufen. Der Frank? Der pummelige, zu klein geratene und schrecklich unsportliche Frank Vogler? Der doofe Nachbarsjunge mit der Zahnspange und den Millionen Sommersprossen? Unmöglich! Aber Frau Vogler musste ihren Sohn ja kennen …

»Hallo, Frau Vogler, hallo, Frank.«

»Die Sandra! Dass man dich mal wieder zu sehen bekommt. Gut schaust du aus.« Frau Vogler schien sich über ihr Erscheinen zu freuen, Frank eher nicht. Er ließ sich zu keinem Lächeln herab.

»Herrje, was für ein Wetter, komm doch rein!«, lud Frau Vogler sie freundlich ein.

»Ich bringe Ihnen bloß Dreck rein«, wehrte Sandra ab. »Außerdem will ich gar nicht lang stören, ich möchte nur den Schlüssel holen, damit ich drüben reinkomme.« Verlegen sah sie Frank an, der sie mit kühlem Blick musterte.

»Aber deine Eltern sind doch auf einer Kreuzfahrt, was willst du denn so allein da drüben?«

Bitte, bitte, lad mich jetzt nicht zu euch ein, betete Sandra insgeheim. In ihrer Situation allein zu sein, war sicherlich nicht angenehm, aber allemal besser, als mit einem Menschen unter einem Dach sein zu müssen, der einen hasste. Und Frank musste sie hassen, es konnte gar nicht anders sein. Dafür hatte sie gesorgt, jahrelang. Kinder können grausam sein – und sie war eines von diesen grausamen Kindern gewesen. Mit Frank als Opfer.

»Ich hab jede Menge Arbeit dabei, mir wird ganz bestimmt nicht langweilig, Frau Vogler. Und wenn keiner da ist, kann mich auch keiner stören.«

»Du wirst doch aber nicht die Feiertage allein da drüben verbringen wollen? Also das lass ich auf gar keinen Fall zu. Nicht wahr, Frank, das lassen wir nicht zu! Zum Weihnachtsessen musst du auf jeden Fall rüberkommen.«

Frank äußerte sich nicht dazu. Er drehte sich einfach um und verschwand im Inneren des Hauses, aus dem jetzt ein wunderbarer Duft von Frischgebackenem wehte.

Sandra tippte auf Plätzchen. Und ihr Magen, der heute noch gar nichts bekommen hatte, begann sofort, sich mit einem Rumoren für diese Plätzchen zu interessieren.

»Entschuldige Franks Benehmen, aber er muss demnächst zum Dienst, und wir sind mit den Plätzchen noch nicht fertig. Warte kurz, ich hol den Schlüssel.«

Pickelgesicht bäckt Plätzchen mit seiner Mama, hätte die Sandra von früher hämisch gerufen. Oder Schwermetall-Franky, wegen der Zahnspange. Oder Nilpferd-Vogler, wegen seines Übergewichts. Oder Feuermelder, wegen seiner roten Haare. Die Sandra von heute fand es zwar auch ein bisschen seltsam, aber sie würde sich nicht mehr darüber lustig machen. Auf einmal schämte sie sich für ihr Benehmen von damals.

»So, da ist er.« Frau Vogler kam zurück an die Tür und drückte ihr den Schlüssel in die Hand. »Wissen denn deine Eltern, dass du da bist?«

»Ja, ja, natürlich, wir haben gerade telefoniert.«

»Ich dachte, die machen die Kreuzfahrt, weil du und Meike an Weihnachten nicht kommen wolltet?«

»Na ja, bei mir gab es ein paar Veränderungen, und wie gesagt: Ich will hier in Ruhe arbeiten. Danke für den Schlüssel, Frau Vogler, und einen schönen Abend noch! Um Post und Pflanzen kümmere ich mich natürlich! Danke!«

Sandra machte sich davon, bevor die Nachbarin noch irgendeine Einladung zum Abendessen aussprechen konnte. Und den Heiligabend würde sie ganz sicher nicht bei den Voglers verbringen. Lieber würde sie vor Einsamkeit sterben, als Frank noch einmal zu begegnen, geschweige denn einen Abend mit ihm verbringen zu müssen. Denn so, wie es aussah, wohnte er noch bei seinen Eltern. Ein Umstand, der irgendwie befremdlich war, aber hey, jeder sollte sein Leben leben, wie er es leben wollte. Vielleicht war er ja arbeitslos oder einfach ein komischer Kauz. Obwohl, Frau Vogler hatte davon gesprochen, dass er später zum Dienst musste. Arbeit hatte er also.

Sie holte ihr Gepäck aus dem Auto und schleppte es zum Haus. Inzwischen war sie völlig durchgefroren, sie konnte es kaum erwarten, endlich ins Warme zu kommen.

Doch was ihr entgegenschlug, als sie die Diele betrat, war alles andere als Wärme. Nicht einmal lauwarm war es, sondern mindestens genauso kalt wie draußen. Aber ihr Vater hatte ja gesagt, dass sie die Thermostate hochdrehen musste.

Fröstelnd zog sie die schneenassen Stiefel aus und schlüpfte in die viel zu großen braun karierten Filzpantoffeln ihres Vaters. Den Mantel, der von den vielen geschmolzenen Schneeflocken feucht geworden war, ließ sie vorsichtshalber noch an. Der Griff an den Heizkörper in der Diele war ernüchternd: Er war eiskalt. Genauso wie der im Wohnzimmer und der im Esszimmer. Und der im Gästeklo und der in der Küche. Von wegen überschlagen, damit die Rohre nicht einfroren.

Sandra stieg die Treppe in den Keller hinunter, wobei sie beinahe mit den zu großen Schlappen gestürzt wäre.

Im Heizungsraum war es genauso, wie sie es befürchtet hatte: still! Die Heizung war aus.

Mehrmals betätigte sie den Ein-Aus-Schalter, aber nichts tat sich. Die Heizung schwieg.

Sie hätte heulen können. Wie, um alles in der Welt, sollte sie hier die nächsten Tage verbringen? Der große Kamin würde die Temperaturen im Wohnzimmer einigermaßen erträglich machen, aber das würde nicht für das ganze Haus oder zumindest für das Bad und ihr Zimmer im Obergeschoss reichen. Sie müsste ihr Lager im Wohnzimmer aufschlagen, immer darauf bedacht, dass das Feuer nicht ausging. Warmes Wasser hätte sie auch nicht. Und das bei Außentemperaturen um die null Grad. Ganz und gar keine schönen Aussichten!

Missmutig stieg sie wieder nach oben. In der Hoffnung, dass Herr Vogler ihr mit der Heizung helfen konnte, tauschte sie die Pantoffeln wieder gegen die Stiefel. Frierend verließ sie das Haus und folgte den Spuren, die sie selbst in den immer höher werdenden Schnee getreten hatte, hinüber zum Nachbarhaus.

Sie hatte Glück, denn diesmal öffnete ihr Frau Vogler und nicht Frank.

»Entschuldigen Sie, dass ich schon wieder störe, aber die Heizung ist aus, und ich bekomme sie nicht zum Laufen. Vielleicht könnte Ihr Mann ja mal danach sehen?«

»Ach herrje, und das bei dem Wetter! Mein Mann ist allerdings noch in der Singstunde, der kommt erst gegen acht nach Hause.«

Doch bevor Sandra sich bedanken und den Rückweg einschlagen konnte, drehte die gute Frau sich um und rief ins Haus hinein: »Frank? Kommst du mal?«

»Nein, nein, lassen Sie nur. Ich werde schon irgendwie zurechtkommen«, versuchte Sandra abzuwehren, aber da erschien Frank schon in der Tür. Unverändert mit Schürze und unverändert mit einem eindeutig semibegeisterten Gesichtsausdruck.

»Die Heizung bei den Sommers ist ausgefallen. Geh doch bitte mal mit Sandra rüber und sieh nach, was da los ist.«

»Ich muss aber zum Dienst, Mama.«

»Ach, das dauert doch nur ein paar Minuten. Man nennt das Nachbarschaftshilfe. Und wenn du den Fehler nicht findest, rufen wir unseren Heizungsmann an, damit er so schnell wie möglich vorbeikommt.«

»Der wird so kurz vor den Feiertagen nur darauf warten, dass wir ihn anrufen.« Er zog die Schürze aus, drückte sie seiner Mutter in die Hand, tauschte Birkenstocksandalen gegen Boots und angelte sich eine dicke Jacke von der Garderobe.

»Zehn Minuten«, sagte er grantig, als er sich an Sandra vorbeidrückte. Im Gehen schlüpfte er in die Jacke, am Gartentürchen drehte er sich noch mal um. »Worauf wartest du?«

Sandra verabschiedete sich von Frau Vogler und eilte ihm nach. Ein wenig fürchtete sie sich vor dem Moment, wenn sie mit ihm allein im Heizungsraum war. Was sollte sie mit ihm reden? Am besten nichts? Denn so wirklich kommunikativ reagierte er ja nicht auf sie. Was sie ihm ja gar nicht übel nahm, ganz im Gegenteil: Wenn sie er wäre, dann würde sie auch nicht mit sich sprechen. Die Möglichkeit, dass sie sich hier und jetzt ganz normal begegnen konnten, hatte sie vor vielen Jahren mit jeder einzelnen Gemeinheit, die sie ihm angetan hatte, verwirkt.

Kurz vor der Eingangstreppe holte sie ihn ein. Mit dem Schlüssel in der Hand stieg sie neben ihm die Stufen hinauf, und da passierte es: Ihr rechter Fuß rutschte auf der schneebedeckten mittleren Stufe unter ihr weg, sodass sie gehörig ins Straucheln kam. Nur Franks fester Griff, der ihren linken Ellbogen umklammerte, bewahrte sie vor einem Sturz.

»Danke«, sagte sie peinlich berührt.

»Schnee schippen wäre wohl kein Fehler«, brummte er als Antwort.

Mit vor Nervosität, vielleicht auch ein wenig vor Kälte zitternden Fingern schloss sie auf. Sie knipste das Licht an und ging, ohne die Stiefel auszuziehen, ihm voran zur Kellertreppe.

»Hier unten«, sagte sie, weil sie einfach nicht wusste, was sie sagen sollte.

»Der Heizungskeller ist bei euch also unten, das überrascht mich ehrlich gesagt ein wenig.« Seine Stimme troff vor Sarkasmus.

»Bei euch nicht?«, antwortete sie todernst und war selbst überrascht von ihrer Schlagfertig.

Irrte sie sich, oder war da gerade ein kaum sichtbares Grinsen über sein Gesicht gehuscht? Aufgrund des Bartes war das aber nicht eindeutig zu erkennen. Wohl eher nicht, entschied sie, denn sein Blick war genauso kalt wie vorher.

Schnell ging sie die Treppe hinunter und öffnete die schwere Metalltür zum Heizungsraum. »Papa hat gesagt, er hätte die Thermostate auf kleinste Stufe eingestellt, damit nichts einfriert. Er hat also ganz bestimmt die Heizung nicht ausgeschaltet«, plapperte sie unsicher, während Frank alles inspizierte.

Auch auf sein mehrmaliges Betätigen des Ein- und Ausschalters tat sich nichts.

»Hab ich vorhin auch schon probiert«, kommentierte sie diese Aktion, was ihr einen bösen Blick einbrachte, und sie verstummen ließ.

»Hast du die Sicherungen überprüft?«

»Die Sicherungen? Nein.«

Er ging an ihr vorbei in den kleinen Vorraum und öffnete den dort hängenden Sicherungsschrank.

Sandra blieb, wo sie war, in seiner Nähe fühlte sie sich einfach unwohl. Sie konnte es kaum erwarten, bis er wieder draußen und sie allein war. Lieber würde sie frieren, als hier noch längere Zeit mit diesem Menschen zu verbringen, der sie so offensichtlich verachtete.

Es klackte mehrmals laut.

»Schalt die Heizung noch mal ein«, rief Frank.

Was sie sogleich tat, und – o Wunder! – die Heizung sprang tatsächlich an.

»Wie hast du das gemacht?«, fragte sie begeistert, doch der düstere Blick, mit dem er in den Heizungsraum zurückkam, dämpfte die Begeisterung gleich wieder.

»Zwei Sicherungen waren draußen, und jetzt muss ich los.«

Ohne weitere Worte stieg er nach oben und hinterließ dort, wo er gerade noch gestanden hatte, zwei nasse Stellen auf dem hellgrauen Fliesenboden.

»Danke!«, rief Sandra und lief ihm hinterher. Als sie oben ankam, hatte er schon die Haustür geöffnet.

Nach einem kaum verständlichen »Schon gut!« trat er nach draußen und ging davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Ungeachtet der kalten Luft, die durch die offene Haustür hereinwehte, sah Sandra ihm nach, bis sie ihn durch den dichten Vorhang aus herabfallenden Schneeflocken nicht mehr ausmachen konnte.

Nachbarsjunge Frank war kein Junge mehr – genauso wie sie kein Mädchen mehr war. Über fünfzehn Jahre, genauer gesagt seit der Abiturfeier, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Wie sie war er aus dem Elternhaus und der Enge der kleinen Stadt geflohen. Die Eltern hatten über die Jahre hinweg immer wieder von ihm und anderen Klassenkameraden erzählt, was die so machten. Wirklich zugehört hatte sie nie. Es hatte sie einfach nicht interessiert – sie war ja kein Teil dieser Gemeinschaft mehr. Jetzt erinnerte sie sich vage daran, dass ihr Vater irgendwann einmal schwer beeindruckt erzählt hatte, dass Frank Medizin studieren würde. Ein Medizinstudium hätte ihm für seine älteste Tochter auch gut gefallen. Besser als Grafikdesign, wofür sie sich entschieden hatte. Direkt ausgesprochen hatte er es nie, aber Sandra wusste das. Es sind ja nicht nur die Eltern, die ihre Kinder ausgesprochen gut kennen – auch Kinder kennen ihre Eltern nach so vielen Jahren ein bisschen.

Na, dachte sie, soweit hatte Frank es dann ja wohl doch nicht gebracht, wenn er wieder zurück im zutiefst provinziellen Markingen war und, wie es aussah, bei den Eltern wohnte und mit Mama Plätzchen backte.

Tja, und als dann Meike einen Studienplatz für Medizin bekommen hatte, war ihr Vater der glücklichste Mann der Welt gewesen.

Meike, warum musste sie jetzt ausgerechnet an ihre blöde kleine Schwester denken? Die kleine Schwester, die das Licht der Welt erblickte, als Sandra schon acht war. Das Nesthäkchen, das niemand mehr gebraucht hätte, sie selbst am allerwenigsten. Die ätzende kleine Schwester, auf die sie immer Rücksicht nehmen musste, die von Anfang an mehr durfte als sie selbst. Die immer alles besser machte als sie. Die immer ordentlicher war als sie. Die immer bessere Noten nach Hause gebracht hatte als sie. Die schneller rennen und länger tauchen konnte. Meike, die schon mit zehn Monaten gelaufen war, sie selbst erst nach ihrem ersten Geburtstag. Meike, die genau das studierte, was sich Sandras Vater für seine Älteste gewünscht hat. Meike, die immer alles richtig machte, die jetzt gerade zu einem Jahr Auslandsstudium in London war, in ihrem heiß geliebten London, und die demnächst fertige Ärztin sein würde. Die verfluchte kleine Schwester, die wahrscheinlich absichtlich alles anders und alles besser machte als sie selbst. Die verhasste kleine Schwester mit einer glänzenden Zukunft als Ärztin, die nicht wie sie vor den Trümmern ihres Lebens stand.

Mit Schwung stieß sie sich von der kalten Haustür ab, an der sie gelehnt hatte, und schloss sie. Sie zog den Mantel enger um sich, was aber nicht gegen das Frieren half. Schnell ging sie von Zimmer zu Zimmer und drehte die Thermostate bis zum Anschlag auf. Aber sie machte sich nichts vor: So schnell würde es im Haus nicht warm werden.

Kapitel 4

 

Ebbe im Kühlschrank

Ihr Hunger meldete sich wieder, also inspizierte sie den Kühlschrank. Die Inventur war ernüchternd: Bis auf ein angebrochenes Glas Essiggurken, ein Glas mit grünen und eines mit schwarzen Oliven und zwei verschiedene Sorten Senf herrschte gähnende Leere. Sie entschied sich für die grünen Oliven. Mit einer Gabel bewaffnet setzte sich damit an den Küchentisch und verleibte sich ein paar der eiskalten Dinger ein.

Als Erstes müsste sie wohl einkaufen gehen.

Nein! Als Erstes musste sie das Handy laden und ihren Chef anrufen!

Sie schraubte das Glas zu und suchte das Ladekabel in ihrer Reisetasche. Als sie es endlich gefunden hatte, steckte sie den Stecker in die Steckdose. Es dauerte einige Zeit, bis der Akku so weit geladen war, dass sie telefonieren konnte. Nachdem sie tief eingeatmet und sich Mut zugesprochen hatte, wählte sie Wolfgangs Nummer.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, als sie schon fast aufgeben wollte, meldete er sich mit einem gebellten »Sandra!«. Das klang alles andere als freundlich.

»Der Akku war leer«, sagte sie schnell, bevor er Anlauf nehmen und wieder losschimpfen konnte. Sie stellte auf Lautsprecher und lehnte das Handy ans Olivenglas. »Und ich bin erst jetzt wieder an eine Steckdose gekommen, sorry. Meine Entwürfe sind so weit fertig, ich kann sie dir noch heute Abend mailen.«

»Mailen? Bring sie einfach vorbei, vor neun komme ich heute nicht aus dem Büro. Dann können wir sie gleich durchsprechen und notfalls noch Änderungen vornehmen.«

»Geht nicht, ich bin nicht in München.«

»Nicht in München? Wo, verdammt, bist du dann?« Wolfgang wurde sofort wieder lauter.

»Bei meinen Eltern.«

»Bei deinen Eltern?« Seine Stimme überschlug sich jetzt beinahe. »Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Wir stecken mitten in einer überlebenswichtigen Kampagne, und du fährst zu deinen Eltern?«

»Ein Notfall …«, log sie ins Blaue hinein. »Meiner Mutter geht es nicht gut …«