Secret Protector, Band 3: Bedrohliches Vermächtnis - Andrew Lane - E-Book

Secret Protector, Band 3: Bedrohliches Vermächtnis E-Book

Andrew Lane

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Safari in der Savanne Afrikas. Verfolgungsjagd durch die Totenstadt. Angriff auf eine alte Burg. Thomas und Tina schweben in großer Gefahr. Der Grund: Die Geschwister sind der Schlüssel zu einer mächtigen Waffe – und werden deshalb von der finsteren Nemor Corporation gejagt. Als Lukas Crowe verhindert, dass Thomas und Tina vor seinen Augen entführt werden, ahnt er davon noch nichts. Doch schon bald wird ihm klar, dass er es mit einem gefährlichen Gegner zu tun hat – dem gefährlichsten, dem er je gegenüberstand … Ist dieser Einsatz eine Nummer zu groß für den Secret Protector? Er ist lässig. Er ist durchtrainiert. Er bleibt am liebsten unter dem Radar. Doch wenn es hart auf hart kommt, stellt sich Lukas Crowe den schlimmsten Gegnern. *** Die knallharte Action-Reihe von "Young Sherlock Holmes"-Autor Andrew Lane! *** "Secret Protector" im Überblick: Band 1: Tödliches Spiel Band 2: Mörderische Erpressung Band 3: Bedrohliches Vermächtnis

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 388

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Als Ravensburger E-Book erschienen 2021 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2021 Ravensburger Verlag Text: Andrew Lane Originaltitel: Secret Protector 3: War Games Covergestaltung: Frauke Schneider unter Verwendung eines Fotos von depositphotos/heckmannoleg Übersetzung: Christian Dreller Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg. ISBN 978-3-473-47198-0

www.ravensburger.de

Dieses Buch ist Isa Hitter und Gary Loveridge gewidmet, meinen langjährigen Freunden – auch wenn bei der tatsächlich miteinander verbrachten Zeit wohl weniger als ein Monat zusammenkäme, würde man sie addieren. Es waren Gary und Isa, die mir als Erstes von Dinner for Oneerzählten, das in Großbritannien, wo ich lebe, fast unbekannt ist. Also, Gary und Isa, dann»same procedure as last year« …?

Vorbemerkung des Autors

Jemandem, der sich in Kairo auskennt, mag auffallen, dass ich mir ein paar Freiheiten erlaubt habe, was die Anordnung der Stadt anbelangt. Dies gilt vor allem für die Lage der Stadtmauerreste sowie die genaue Verortung von Pyramiden und Totenstadt, durch die Lukas fährt und in der er einen Kampf zu bestehen hat.

Darüber hinaus habe ich mir erlaubt, die Fährfahrt von Kairo nach Zypern in der Schilderung viel schneller vonstattengehen zu lassen, als es in Wirklichkeit der Fall ist. Tatsächlich sind, während ich diese Worte schreibe, wegen der politischen Spannungen in der Region alle Fährverbindungen auf unbestimmte Zeit eingestellt.

Hierbei handelt es sich um das, was man im Allgemeinen auch schriftstellerische Freiheit nennt – ein ziemlich kostbares Gut, das regelmäßig genutzt werden sollte, um nicht an Wert zu verlieren.

Kapitel Eins

Der Unterschlupf war eine krude Konstruktion, errichtet aus ölbefleckten Planen und aufrecht gehalten von Ästen, die man in den weichen Boden gerammt hatte. Und Lukas Crowe war es gewesen, der diese Planen den ganzen Weg vom Land Rover zu dem Platz geschleppt hatte, den sich seine gegenwärtigen Bosse ausgesucht hatten. Es war Lukas’ Aufgabe, weil es Jonjos Aufgabe war. Jonjo war der Fährtenleser, den sie in der hiesigen Township angeheuert hatten, um Proviant und Ausrüstung zu transportieren, und Lukas ging ihm zur Hand. Die beiden Naturfotografen, Peter Mardley und Walter Thirsten, waren dagegen durchaus zufrieden damit, nur ihre kleinen Rucksäcke mit der Kameraausrüstung sowie ihre Trinkflaschen zu tragen. Es schien ihnen überhaupt nicht in den Sinn gekommen zu sein, dass sie beim Transport der sperrigeren und schwereren Sachen ja womöglich helfen könnten.

Nun, wenigstens zahlten sie, und zwar gut. Dafür konnte Lukas ihnen eine Menge nachsehen.

Er war nicht mehr in Afrika gewesen, seit er es vor ein paar Jahren verlassen hatte, und den Kongo kannte er noch gar nicht. Er hatte ganz vergessen, wie drückend und allumschlingend die Hitze und Schwüle auf diesem Kontinent werden konnten. War New Orleans schon übel gewesen und Costa Rica noch mal schlimmer, so war es hier fast unerträglich. Es war, als hätte man ihn fest in heiße Dampftücher gewickelt – Tücher, die aus einer Wanne kamen, deren Wasser fast zu heiß war, um darin zu sitzen –, nur um ihn damit dann auf einen Querfeldeinlauf zu schicken.

So waren sie zu viert gefühlt Meilen um Meilen durch tropischen Regenwald marschiert, in dem die Bäume so dicht standen, dass nicht der Hauch einer Brise es hindurchschaffte. Das einzige Licht spendeten die schräg einfallenden Sonnenstrahlen, die es irgendwie schafften, den Weg von den Baumkronen weit über ihnen bis nach unten zu finden. Der Boden unter ihren Füßen war weich und schwammig: ein Mix aus verrottetem Laub, Moos und schlammiger Erde. Die Füße permanent aus den Mulden zu ziehen, in die sie eingesunken waren, um sich dann weiterzuschleppen, war mit großer Anstrengung verbunden – so als würde man durch zähes Gelee waten.

Mardley und Thirsten allerdings schienen weder Hitze noch Schwüle allzu viel auszumachen. Vielleicht waren sie daran gewöhnt. Oder vielleicht, dachte Lukas bitter, waren ihre wunderbaren neuen Tropenanzüge auch mit irgendeiner Supertechnologie versehen, die sie kühl und trocken hielt. Was ihn nicht überraschen würde. Die Wissenschaft schien heutzutage mehr und mehr das Ziel zu verfolgen, nur den reichen Leuten das Leben leichter zu machen.

Was Jonjo anbelangte, so schien er sich um solche Dinge keinen Kopf zu machen. Er trug eine kurzärmlige Leinenjacke über der nackten Brust und eine zerschlissene Tarnhose, die er irgendwo im Fahrwasser eines lokalen Krieges ergattert hatte. Er trug ein ständiges Grinsen im Gesicht, als wäre jeder Tag besser als der vorherige. Als Lukas einen Blick zu ihm hinüberwarf, wandte Jonjo den Kopf und nickte ihm anerkennend zu. Und sein Grinsen wurde – wenn überhaupt möglich – für ein oder zwei Augenblicke sogar noch breiter.

Mit einem schrillen Sirrr näherte sich ein Moskito Lukas’ Ohr. Er spürte, wie sich seine Muskeln spannten, um den Quälgeist mit der flachen Hand zu erledigen. Aber dann scherte er sich nicht weiter darum. Auf jeden Moskito, den man hörte, kamen neunundneunzig, die man nicht hörte. Und außerdem war das, was er vor seiner Rückkehr nach Afrika besonders genau recherchiert hatte, unter anderem das Thema Insektenschutzmittel gewesen. Als er jünger gewesen war, hatten seine Eltern sich auf kompliziert klingende chemische Verbindungen als Schutz verlassen – zum Beispiel Ethyl-Butylacetylaminopropionat oder Diethyltoluamid. Aber Lukas empfand ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber Substanzen, deren Namen er nicht einmal aussprechen konnte. Wie er sich außerdem erinnerte, hatte Diethyltoluamid – besser bekannt unter dem Namen DEET – die beunruhigende Angewohnheit, Kunststoff, synthetische Textilien und lackierte Oberflächen wie etwa Nagellack zu zersetzen, einschließlich diverser Uhrengläser. Sogar die amerikanische Umweltschutzbehörde gebrauchte in Zusammenhang mit DEET Sätze wie: »Verwenden Sie nur so viel Mittel wie nötig, um ungeschützte Hautpartien und/oder Kleidung zu bedecken«, »Vermeiden Sie Überdosierungen des Produkts«, »Nicht unter der Kleidung nutzen«, »Waschen Sie behandelte Kleidung vor erneutem Tragen« und »Nach dem Aufenthalt im Freien behandelte Hautpartien mit Wasser und Seife waschen«. Nichts davon machte gerade Mut, das Zeug auch nur einmal zu benutzen – geschweige denn, die Haut regelmäßig damit einzudecken.

In Gesprächen mit Township-Einheimischen hatte Lukas erfahren, dass diese über eine ganze Reihe traditioneller und natürlicher Insektenschutzmittel verfügten. Am Ende hatte er sich für eine Mixtur aus zerstoßenen Zitroneneukalyptusblättern und Steppensalbei entschieden. Das strich er sich sowohl auf alle ungeschützten Hautstellen als auch unter den Kragen. Das Zeug stank buchstäblich zum Himmel – der Steppensalbei war nicht umsonst auch unter dem Namen »Stinkkraut« in der Gegend bekannt. Aber es funktionierte. Und es hielt die beiden Fotografen auf Armlängenabstand, was auch nicht übel war.

»He, Jonjo, wann kommen wir endlich an diesen verdammten Fluss?«, rief Peter Mardley. In seiner rauen Stimme schwang ein leichter amerikanischer Akzent mit. Irgendwo aus dem Norden, dachte Lukas. Wisconsin vielleicht, oder Michigan.

»Bald, mein Guter, bald«, rief Jonjo fröhlich zurück.

Mardley blickte mürrisch aus der Wäsche. Lukas hatte das Gefühl, er und Thirsten hätten es lieber, wenn Jonjo sie beide »Boss« nennen würde. Aber ihr Fährtenleser gehörte nicht zu der Art Mensch, der so etwas tun würde. Er mochte vielleicht für sie arbeiten, aber er würde nicht ihr unterwürfiger Diener sein. Sie brauchten ihn, das wusste er. Genauso wie sie wussten, dass er es wusste. Eine interessante Machtkonstellation, wie Lukas fand, aber trotzdem begnügte er sich mit der Zuschauerrolle. Sich einzumischen, brachte nichts. Er nannte Mardley »Mr Mardley« und Thirsten »Mr Thirsten«, und weiter würde er nicht gehen.

Jonjos echter Name lautete Esengo, was offenbar »Freude« bedeutete. Obwohl das eigentlich ziemlich passend war, nannte jedermann im Township ihn Jonjo und das schien er auch zu bevorzugen.

»Da vorn!«, riss Jonjos Stimme ihn plötzlich aus den Gedanken. »Bleibt hier!«

Durch das Regenwalddickicht konnte Lukas so gerade eben eine Linie vor sich ausmachen … dort, wo der Baumwuchs aufhörte. Er meinte, durch die Lücken Fetzen von blauem Himmel zu erkennen … ebenso eine braune Linie, die er nach kurzer Überlegung als Böschung identifizierte, die vermutlich zum gesuchten Fluss hinabführte … und den Bewohnern dieses Flusses.

Thirsten und Mardley setzten ihre Rucksäcke ab und hockten sich erleichtert auf die weiche Erde. Bevor Lukas das Gleiche tat, blickte er sich vorsichtig um. Sich unmittelbar neben eine Wanderameise zu knien oder zu kauern, war das Letzte, was er wollte. Wanderameisen neigten nicht nur zu leichter Reizbarkeit, sondern waren auch sehr gefährlich. Lukas wusste, dass sie keine Nester bauten, sondern ihre Zeit pausenlos damit verbrachten, nach Nahrung zu suchen. Ihre Straßen konnten über zwanzig Meter breit und über hundert Meter lang sein. Und taperte man unversehens auf eine davon, wären die Soldatenameisen binnen Sekunden in Stiefeln und Hose, um zu stechen und zu beißen. Jedwedes Insektenschutzmittel konnte man dann getrost vergessen.

Vor ihnen glitt Jonjo wie ein Schatten durch die Bäume. Augenblicke später kehrte er wieder zurück. »Wir sind da«, verkündete er.

»Lass uns mal sehen«, sagte Mardley.

Zusammen rückten die vier auf den Rand der Baumlinie zu. Als sie ins Freie traten, bedeutete Jonjo ihnen stehen zu bleiben und sich niederzukauern. Lukas tat, wie befohlen, nicht ohne dabei erneut nach Ameisen Ausschau zu halten.

Sie waren an der roten, erdigen Uferböschung eines breiten Flusses herausgekommen, der sich nach rechts und links erstreckte, so weit das Auge reichte. Die Ränder des Flusses schienen seicht zu sein. Seicht genug jedenfalls, dass dort Fischreiher und andere Stelzvögel auf ihren unglaublich langen Beinen stehen konnten. Geduldig starrten sie ins Wasser, auf der Suche nach kleinen Fischen, die sie mit ihren langen Schnäbeln aufspießen konnten. Umgestürzte Baumstämme lagen halb im Schlamm begraben herum. In der Flussmitte jedoch war es tiefer, und die Strömung floss schneller. Lukas sah Stöcke und andere Pflanzenreste vorbeitreiben.

Am gegenüberliegenden Ufer machte der Regenwald einer Savannenlandschaft Platz … mit niedrig wachsendem Buschwerk, das jedoch hoch genug war, um womöglich einem kauernden Löwen Deckung vor einer Antilope zu bieten. Eine leichte Brise wehte über den Fluss heran. Allerdings sorgte sie nicht für die geringste Kühlung, sondern brachte die zu heiße Luft lediglich ein bisschen in Bewegung.

Mardley und Thirsten ließen den Blick über den Fluss schweifen, auf der Suche nach ihren Fotomotiven. Jonjo allerdings schien sich mehr für die flachen Uferbereiche in der Nähe zu interessieren, wie Lukas wahrnahm.

»Wonach suchst du?«, zischte er.

»Krokodile«, erwiderte Jonjo knapp.

»Hältst du das für wahrscheinlich?«

Jonjo lächelte. »Sogar so gut wie sicher. Und sie sind schneller als ein Mensch. Es gibt nicht viel, was einem Krokodil auf gerader Strecke davonrennen könnte. Der Trick besteht darin, sich in plötzlichen Ausweichmanövern hin- und herzubewegen. Damit kommen sie nicht klar. Musst nur gucken, dass du nicht zurückspringst, wenn’s gerade hinter dir ist.«

»Da würd ich mir keine Sorgen machen«, lächelte Lukas zurück. Er wies mit einem Nicken auf Mardley und Thirsten, die erwartungsvoll auf den Fluss starrten. »Wir müssen gar nicht schneller als die Krokodile sein, sondern nur schneller als die da.«

Thirsten zeigte auf die Flussmitte. »Dort?«, fragte er.

Jonjo beschirmte die Augen vor der Sonne, um einen genaueren Blick auf die Stelle zu werfen. Lukas tat es ihm nach. Es war nicht mehr zu sehen als ein paar blätterartige Gebilde, die aus dem Wasser ragten. Lukas brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass sie an einer Stelle blieben, während andere Blätter und Gezweig vorbeitrieben.

»Ohren«, erklärte Jonjo, gerade als Lukas sah, wie sie zuckten. »Das ist ein Flusspferd.« Er zeigte weiter hinaus. »Dort ist noch eins. Und da auch. Ist ’ne ganze Herde: Männchen, Weibchen und Jungtiere.«

»Ich seh nichts«, nölte Mardley.

»Sehen Sie genauer hin«, drängte Jonjo. »Aber keinen Mucks und nicht näher rücken.«

Vielleicht eine Minute lang regte sich nichts – mit Ausnahme des dahinziehenden Flusses, einem hin und wieder zuckenden Ohr sowie den Stelzvögeln, die auf ihrer Jagd durch das Flachwasser staksten. Ab und an meinte Lukas, im Wasser etwas zucken oder eine Blase aufsteigen zu sehen. Wobei es sich, wie er wusste, wahrscheinlich um die Nüstern der Flusspferde handelte, die ein- und ausatmeten.

Unter wildem Geflatter seiner weißen Schwingen landete ein Vogel auf dem Wasser. Nein … auf der Kopfspitze eines der Flusspferde, wie Lukas im nächsten Moment erkannte. Und als hätte sie nur darauf gewartet, sperrte die riesige, plumpe Kreatur weit das Maul auf. Die Kiefer des Tiers schienen sich fast bis zur Unmöglichkeit weit zu öffnen und kamen Lukas wie der Scharnierdeckel einer bizarren Box vor.

Natürlich hatte er schon zuvor Flusspferde gesehen. Doch ihre majestätische Hässlichkeit versetzte ihn stets aufs Neue in Ehrfurcht und Erstaunen. Ihre schaufelförmigen Unterkiefer waren gigantisch. Sie waren mit riesigen, aufwärts gekrümmten Stoßzähnen bewehrt, ergänzt von kleineren, spitzen Hauern, die sich aus dem Oberkiefer herabsenkten. Die Haut der Tiere sah wie Gummi aus, war zugleich aber auch so schrumpelig, als trügen sie einen Taucheranzug, der eine Nummer zu groß für sie war. Sie hatten kleine Schweinsäuglein. Lukas wusste, dass ihr Sehvermögen ziemlich erbärmlich war und sie mehr auf den Geruch als andere Sinne bauten. Darüber hinaus stellten sie die gefährlichsten Tiere Afrikas dar. Flusspferde verursachten jedes Jahr mehr menschliche Todesfälle als Löwen und Krokodile zusammen. Allerdings handelte es sich bei ihnen nicht um »Menschenfresser«, sondern sie waren nur ausgesprochen territorial und extrem reizbar.

Der Vogel hopste gehorsam in das Maul des Flusspferds. Eifrig begann er, mit seinem dünnen Schnabel die Zahnzwischenräume von unverdauten Futterresten und Parasiten zu säubern, um sie sich selbst einzuverleiben.

Lukas spürte, wie eine Bewegung von den Fotografen ausging. Ein Blick zur Seite zeigte, dass die beiden langsam ihre Rucksäcke öffneten. Sie griffen hinein und zogen etwas heraus, das er einen Moment lang für zwei große Zoom-Objektive hielt. Doch wie er die Dinger so anstarrte, erkannte er rasch, dass ihr Durchmesser zu gering war, um auf eine Kamera zu passen. Fernrohre vielleicht, mit denen sie ihre Schnappschüsse ausrichten konnten? Er hatte nicht viel Ahnung von Fotografie. Gingen Profis auf diese Weise vor?

»Lass mir den ersten Schuss«, zischte Mardley. Lukas runzelte die Stirn. Wenn sie nur Fotos schießen wollten, konnten sie das dann nicht gleichzeitig tun?

Irgendwo in seinem Hinterkopf fing leise eine Alarmglocke an zu läuten.

Das Fernrohr auf den Knien balancierend, langte Mardley noch einmal in seinen Rucksack. Aber bei dem, was er hervorholte, handelte es sich nicht um das Gehäuse einer Spiegelreflexkamera, wie Lukas erwartet hätte.

Es war der zusammengeklappte Rahmen eines Gewehrs.

Er brauchte einen Moment, um es zu identifizieren. Es war eine ungewöhnliche Waffe; und erst als Mardley einen Riegel umlegte und sich anschickte, sie auseinanderzuklappen, wurde ihm klar, dass es sich um einen Kel Tec Sub 2000 Pistolenkarabiner handelte. Und zwar, wie er mit wachsendem Horror erkannte, in der 9-mm-Version mit einem Schacht für ein SIG-SAUER-P226-Magazin. Das Ding war auf der Oberseite sogar mit einer Picatinny-Schiene modifiziert worden, um dort ein Zielfernrohr aufzustecken. Was ihm augenblicklich eines klar machte: Das Teil, das er zuerst für ein Zoom-Objektiv gehalten hatte, war in Wirklichkeit dazu bestimmt, auf die Waffe montiert zu werden.

Plötzlich hatte Lukas das Gefühl, als läge ihm ein Stein in der Magengrube. Und trotz der Hitze brach ihm kalter Schweiß aus. Diese Männer waren keine Fotografen. Sondern Jäger. Großwildjäger.

Mit einer raschen, verstohlenen Handbewegung versuchte er, Jonjos Aufmerksamkeit zu wecken. Der Blick des Fährtenlesers huschte zu ihm hinüber, dann zur Waffe und schließlich wieder zu ihm zurück, wobei sein übliches Grinsen einem schockierten, stummen »O« gewichen war. Seine weit aufgerissenen Augen und der entsetzte Gesichtsausdruck verrieten Lukas, dass Jonjo genauso überrascht war wie er.

Während Lukas zusah, hatte Mardley seine Waffe fast ganz auseinandergeklappt. Mit einem Klick rastete der Rahmen ein. Selbst für einen Laien konnte es nun keinen Zweifel mehr geben, dass es sich um ein Gewehr mit hoher Feuerkraft handelte. Lässig steckte Mardley das Zielfernrohr auf.

»Leute«, sagte Lukas langsam, »für so was haben wir uns nicht anheuern lassen. Das ist nicht in Ordnung.«

»Nein, das ist genau das, wofür ihr angeheuert habt«, antwortete Thirsten, ohne ihnen überhaupt einen Blick zu schenken. Er zog den Reisverschluss seines eigenen Rucksacks auf und förderte eine identische Waffe samt Zielfernrohr zutage. »Wir wollen afrikanische Wildtiere schießen, so haben wir es gesagt.«

»Sie sagten, Sie wären Fotografen!«, protestierte Lukas. »Ich dachte, Sie meinten Fotos, als sie von ›schießen‹ sprachen.«

»Ich hab ’ne Kamera in meiner Tasche«, sagte Thirsten. »Du kannst ein paar Fotos von uns und den toten Flusspferden schießen. Ist das okay für dich?«

»Sie brauchen eine Jagderlaubnis«, schaltete sich Jonjo ein. Sein Gesicht war ernst. »Haben Sie eine Erlaubnis?«

Mardley zuckte die Achseln. »Wir besorgen uns eine, wenn wir wieder in der Stadt sind. Mit ein bisschen Geld kann man sich alles in diesem Land kaufen.« Er lächelte. »Wie mein Dad schon immer sagte: ›Es ist leichter, um Vergebung als um Erlaubnis zu bitten‹.« Er fischte ein geladenes Magazin aus seiner Tasche, schob es ins Gewehr und zog den Spannschieber, um eine Kugel in die Kammer zu befördern. Sekunden später vernahm Lukas ein Snick und ein Klick-klick, als Thirsten das Gleiche tat.

Damit waren beide nun schussbereit, und Lukas hatte keine Ahnung, was er deswegen tun sollte.

Thirsten hob die Waffe und drückte die Schulterstütze gegen die rechte Schulter. Er neigte den Kopf leicht zur Seite, sodass er durch das Zielfernrohr spähen konnte. Als Lukas’ Blick dem Lauf des Gewehrs folgte, erkannte er, dass das Gewehr direkt auf das rechte Knopfauge eines Flusspferds gerichtet war.

Thirstens Zeigefinger glitt in den Abzugsbügel. Lukas sah, wie sich der Finger um den Abzug krümmte und den Druckpunkt aufnahm.

Was sollte er tun? Was konnte er tun?

Sollte oder konnte, das spielte keine Rolle. Er musste etwas tun. Er konnte nicht zulassen, dass diese beiden Monster einfach ein Tier töteten. Selbst ein so riesiges und gefährliches wie ein Flusspferd. Es war ja nicht einmal so, dass es eine Bedrohung für sie darstellte, geschweige denn, dass sie es essen konnten.

Er machte sich bereit, sich von hinten auf Thirsten zu werfen, um dem Mann das Gewehr zu entwinden. Scheiß auf die Konsequenzen: Wenn er nichts unternahm, war er genauso übel wie sie. Fast jedenfalls.

Ein rascher Seitenblick verriet ihm, dass Jonjo bereit war, das Gleiche mit Mardley anzustellen. Grimmig nickte Jonjo ihm zu. Was auch immer als Nächstes passieren mochte, sie würden es gemeinsam durchziehen.

Abrupt senkte Thirsten seine Waffe und langte in seinen Rucksack, um eine Automatikpistole hervorzuholen. Eine Colt Commander, wie Lukas unbewusst registrierte. Eine gute Waffe. Gut und sehr verlässlich.

»Wie mir gerade in den Sinn kommt«, begann der Mann, »spielt ihr womöglich mit dem Gedanken, zwei Jäger bei ihrem Handwerk zu stören. In einem fehlgeleiteten Versuch, ein Tier zu retten, das euch fröhlich zu Tode trampeln würde, würdet ihr ihm zu nahe kommen. Also, nur um es mal klarzustellen: Macht ihr etwas anderes, als an Ort und Stelle zu bleiben und einem erfolgreichen Abschuss zu applaudieren, jag ich euch eine Kugel in die Kniescheibe. Wenn wir euch zur medizinischen Behandlung zurück in die Zivilisation gebracht haben – und glaubt mir, dabei werden wir uns nicht gerade vor Eile überschlagen –, habt ihr euch vermutlich schon eine Infektion eingefangen und ihr verliert womöglich das Bein. Also, seid keine Idioten und spielt hier nicht den Helden.«

Mardley hatte noch letzte Einstellungen an seinem Zielfernrohr vorgenommen. Doch jetzt wandte er den Kopf zu seinem Freund. »Von hier aus haben wir einen ziemlich flachen Schusswinkel, so über die seichte Zone und das Wasser. Wir kriegen ein besseres Schussfeld, wenn wir näher rangehen.«

»Diese Viecher sollen schnell sein«, warnte Thirsten.

Mardley schüttelte den Kopf. »Wir verfügen über zwei feuerstarke Gewehre, und die Biester müssen erst mal aus dem Wasser kommen, bevor sie sich auf uns stürzen. Uns bleibt Zeit genug, um uns in den Schutz der Bäume zurückzuziehen. Also, beim besten Willen: Ich denke nicht, dass diese hässlichen Viecher uns dorthin folgen werden.«

»Auch wieder wahr.«

Beide Männer erhoben sich vorsichtig auf die Beine. In halb geduckter Haltung rückten sie vor, bis sie die Hälfte der Distanz zwischen Waldrand und Ufer zurückgelegt hatten.

»Wir müssen sie aufhalten«, sagte Jonjo. Sein übliches Lächeln war noch nicht wieder auf sein Gesicht zurückgekehrt, und er wirkte älter als noch vor wenigen Minuten.

Lukas nickte. »Ja, aber ohne uns dabei eine Kugel einzufangen. Jede Idee wäre jetzt willkommen.«

Thirsten und Mardley ließen sich auf ein Knie nieder und hoben erneut die Waffen. Thirsten schien auf das Flusspferd zu zielen, dessen Maul immer noch offen stand und von dem Vogel gesäubert wurde. Mardley hingegen schien ein anderes Tier entdeckt zu haben, das fast völlig im Wasser untergetaucht war.

Jede Sekunde würden sie den Abzug drücken.

Verzweifelt blickte Lukas sich um. Vor seinen Füßen nahm er einen Stein wahr, der halb von der feuchten Erde und der Vegetation des Waldbodens begraben war. Er langte nach unten und zerrte daran. Einen Moment lang wollte der Stein sich nicht rühren, doch dann gab er mit schmatzendem Laut nach. Er war etwa so groß wie Lukas’ Faust.

Jonjo sah sich ebenfalls suchend um und entdeckte einen ähnlichen Stein. »Bin ’n guter Cricketspieler«, murmelte er. »Aber ich glaube nicht, dass ich das Hippo von hier aus treffe und so erschrecke, dass es auf den Flussgrund taucht.«

»Die Hippos sind auch nicht das Ziel«, erwiderte Lukas.

Thirsten und Mardley waren nur noch einen Wimpernschlag davon entfernt, das Feuer zu eröffnen. Er musste auf der Stelle handeln. Weit holte er mit dem Stein zum Wurf aus und zielte. Bevor einer der beiden Männer schießen konnte, warf Lukas, so fest er konnte …

… auf Thirstens Kopf.

Der Stein beschrieb einen perfekten Bogen, bevor er aus etwa drei Metern Höhe wieder in die Tiefe sauste, wo sein Sturzflug mit deutlich hörbarem Dompf jäh von Thirstens Hinterkopf gestoppt wurde. Er gab einen durchdringenden Schrei von sich und stürzte mit einem Ruck nach vorn, während sich sein Finger um den Abzug krallte. Der Knall des sich lösenden Schusses überdeckte das Geräusch von Jonjos Stein, als dieser Mardleys linke Schulter traf. Der Körper des Manns wurde von der Wucht des Aufpralls herumgerissen, doch irgendwie schaffte er es, nicht den Abzug zu drücken.

Der Klang von Thirstens Schuss hallte über den Fluss hinweg. Das Projektil flog weit über der Wasseroberfläche dahin, um dann auf Nimmerwiedersehen irgendwo in der Savanne zu verschwinden. Die Stelzvögel und der kleine weiße Vogel, der zwischen den Flusspferdzähnen nach essbaren Resten gesucht hatte, ergriffen die Flucht und flatterten vor möglichen Bedrohungen davon. Die Ohren des Flusspferds zuckten, und ohne nachzusehen, was den Lärm verursacht hatte, ging es urplötzlich auf Tauchstation. Überall entlang des kleinen Flussstreifens, den Lukas einsehen konnte, nahm er auf einmal Wasserwirbel wahr. Andere Flusspferde, die lediglich mit herauslugenden Nüstern unsichtbar knapp unter der Wasseroberfläche getrieben hatten, ließen sich nun ebenfalls auf den sicheren Flussgrund sinken.

Thirsten rappelte sich auf und hielt sich die Hand an den Hinterkopf. Als er sie wieder fortnahm, klebte Blut daran. Er starrte einen Moment darauf, bevor er sich mit mordgierigem Blick zu Lukas wandte. »Du kleiner …«, begann er und legte die Waffe auf ihn an …

 … als hinter ihm, im flachen Wasser, etwas mit einem jähem Satz zum Leben erwachte.

Lukas hatte das Ding für einen halb eingesunkenen Baumstamm gehalten. Nur dass Baumstämme nicht peitschenartig vorschnellten, angetrieben von einem riesigen, gepanzerten Schwanz. Baumstämme hatten außerdem keine Riesenmäuler, die den Kopf in zwei Hälften zu spalten schienen und von gekrümmten spitzen Zähnen gesäumt waren. Baumstämme besaßen keine raue, grünlich-graue Haut, über die sich grobe, höckerige Leisten zogen. Oder Beine, die fast horizontal aus dem Torso ragten.

»Ein Krokodil!«, schrie Jonjo. Er winkte den Männern wie von Sinnen zu und zeigte hinter sie.

Einzig und allein damit beschäftigt, das Gewehr auf Lukas zu richten, merkte Thirsten entweder nichts oder es kümmerte ihn nicht. Sein Begleiter jedoch wandte den Kopf, um nachzusehen. Was er sah, entsetzte ihn so sehr, dass er kreischend Thirstens Schulter packte.

»Ein Krokodil!«, echote er.

Jetzt drehte sich auch Thirsten um, widerwillig zuerst. Aber als er die Kreatur durch das Flachwasser auf sich zustürmen sah – mit wellenartigen, seltsam schlangenhaften Seitwärtsbewegungen von Kopf und Schwanz –, rannte er taumelnd los.

»Sie sollten zur Seite weglaufen«, hauchte Jonjo. »Ich hab’s doch gesagt. Krokodile können nicht so leicht die Richtung wechseln.« Er gab einen Fluch in einer afrikanischen Sprache von sich, die Lukas nicht verstand. »Zur Seite! Einer in die eine, einer in die andere Richtung. Macht es dem Ding doch nicht so leicht!«, schrie er.

Blitzschnell machte Lukas im Kopf Inventur, was sie zur Verfügung hatten. Nichts würde dieses Krokodil aufhalten. Nicht mal Steine.

»Warum schießen sie nicht drauf?«, fragte Jonjo.

Lukas juckte es, auf die Ironie der Situation einzugehen. Sie hatten die beiden davon abgehalten, auf die Flusspferde zu schießen, wollten jetzt jedoch, dass sie das Krokodil erschossen. Aber er beherrschte sich. »Weil sie Feiglinge sind«, sagte er. »Die knallen nur Dinge ab, die sie nicht anblicken und keine unmittelbare Bedrohung für sie darstellen.«

Sein Blick glitt über die beiden Rucksäcke … Rucksäcke! Thirsten und Mardley hatten sie bei ihnen zurückgelassen. Thirsten hatte eine automatische Pistole aus seiner geholt, ebenso wie sein Gewehr. Bedeutete das etwa …?

Als er aufblickte, sah er, dass das Krokodil die Männer halb eingeholt hatte. Die Wasserfontänen spritzten nur so in die Höhe, als es auf seinem Vormarsch die schuppigen, klauenbewehrten Beine in den Grund pflanzte. Es hatte die Flachwasserzone jetzt fast hinter sich gelassen. Hatte es erst einmal festen Untergrund erreicht, würde sich seine Geschwindigkeit noch erhöhen.

Lukas’ Hand tauchte in Mardleys Rucksack. Seine Finger schlossen sich um eine vertraute, klobige Kontur: den Griff einer Handfeuerwaffe. Er riss sie heraus, sorgfältig darauf bedacht, nicht mit dem Finger in den Abzugsbügel zu geraten.

Eine Beretta M 9. Als persönliche Waffe eine gute Wahl: Sie verfügte über ein zweireihiges Kastenmagazin mit fünfzehn Schuss sowie einen Single- als auch einen Doppelaction-Abzug. Eine seiner Lieblingswaffen.

Automatisch legte er mit dem Daumen die Flügelsicherung um, als er die Waffe in Anschlag brachte. Mit gespreizten Beinen, das linke nach vorne verlagert, ging Lukas in Schussposition. Auf diese Weise ließ sich der Rückstoß der Waffe abfedern, ohne beim Zielen zu beeinträchtigen. Seine Rechte umklammerte den Pistolengriff, während die Linke die Waffe unter dem Lauf abstützte. Alles mit gebeugten Ellenbogen, denn das Schießen mit gestreckten Armen zog häufig eine ausgerenkte Schulter nach sich – ganz gleich, was man in Action-Filmen auch zu sehen bekam.

Wild schwangen Körper und Schwanz des Krokodils bei seinem Sprint hin und her, während es einen Schweif spritzenden Wassers hinter sich herzog. Lukas wusste, dass es gleich den Kopf verdrehen würde, bis die Kiefer sich senkrecht zum Boden befanden. Auf diese Weise würde es sie um Thirstens Oberschenkel schließen können, um ihn dann zurück ins Wasser zu zerren.

Lukas drückte den Abzug. Nicht abrupt, sondern in einer sachten, fließenden Bewegung.

Die Waffe bellte und ruckte in seiner Hand nach oben. Fast augenblicklich sah Lukas, wie auf dem Nacken des Krokodils ein Streifen roten Fleischs aufriss – genau an der Stelle, auf die er gezielt hatte. Er wollte das Tier nicht töten, sondern ihm nur Angst einjagen.

Das Krokodil warf den Kopf zur Seite, rannte jedoch weiter. Seine Haut war zu dick und seine Schmerzrezeptoren zu dumpf. Oder es war einfach nur zu hungrig, um sich um eine Verletzung zu scheren. Lukas würde etwas Schwierigeres versuchen müssen, und zwar schnell.

Er änderte leicht den Zielpunkt und schoss erneut.

Das linke Vorderbein des Krokodils brach unter ihm weg, als das Projektil durch das Fleisch wie hoffentlich auch durch die Knochen fetzte. Sein Kopf pflügte sich in den schlammigen Untergrund, wobei der Unterkiefer sich direkt in den Matsch bohrte. Durch den Bewegungsschwung getrieben, schoss der Torso weiter. Mit dem im weichen Untergrund steckenden Unterkiefer jedoch vollführte das Tier so etwas wie einen Vorwärtssalto, wobei der Schwanz einen bogenförmigen Peitschenschlag über dem Kopf beschrieb. Im nächsten Moment klatschte es mit dem Rücken wieder auf, begleitet von einer gewaltigen Wasserfontäne.

Bei dem Geräusch warf Mardley einen Blick über die Schulter zurück. Prompt blieb er mit dem Fuß an einem Baumstamm hängen, der im Schlamm lag, und klatschte der Länge nach ins Wasser. Lukas schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass es sich diesmal nicht wieder um ein Krokodil, sondern um einen echten Baumstamm handelte. Okay, er hatte noch dreizehn Kugeln übrig, vorausgesetzt, dass das Magazin voll gewesen war. Aber er konnte seine Hand nicht dafür ins Feuer legen, dass ihm jedes Mal ein präziser Schuss gelingen würde. Und sollten mehr als zwei Krokos in der Nähe der Männer sein, wären die beiden sowieso binnen Sekunden Geschichte. Doch zum Glück verharrte der Baumstamm genau an Ort und Stelle.

Währenddessen rannte Mardleys vermeintlicher Freund Thirsten einfach immer weiter. Er blickte nicht einmal zurück, um nach seinem Freund zu sehen.

Lukas sah wieder zum Krokodil hinüber. Es hatte sich erfolgreich wieder auf den Bauch gedreht. Anhand der Mimik war es unmöglich zu sagen, in welcher Stimmung sich ein Krokodil befand – schließlich besaßen sie so etwas nicht. Aber Lukas hätte schwören können, dass es beschämt war … und wütend. Unverwandt starrte es Mardley an, während es sich nur wenige Meter entfernt wieder auf die Beine rappelte. Dann wandte es den Kopf und fixierte Lukas. Um das potenzielle Risiko gegen den Gewinn abzuwägen, wie er schätzte. Er hielt seine Waffe – beziehungsweise Mardleys Waffe – weiter direkt auf das Reptil gerichtet. Für Sekunden standen sie einfach da und beobachteten einander. Bis sich das Krokodil mit einem verächtlichen Schwanzschlenker herumwarf und sich in den Fluss hinausschob, wo es untertauchte und den Blicken entschwand.

Lukas spürte, wie sich seine Muskeln entspannten. Und erst, als er gleich darauf tief einatmete, merkte er, dass er die Luft angehalten hatte.

»Guter Schuss«, meinte Jonjo.

»Danke.«

Mardley war nun wieder auf den Beinen. Kurz starrte er Thirsten hinterher, bevor er sich umdrehte, um den Blick auf Lukas und Jonjo zu richten. Jetzt erst schien er zu realisieren, dass seine Waffe immer noch im Schlamm lag, wo er sie hatte fallen lassen. Er machte Anstalten, sie aufzuheben, doch Lukas schüttelte den Kopf.

»Lassen Sie’s«, rief er. »Herkommen, und zwar ganz vorsichtig.«

»A… aber«, stammelte der Mann. Unsicher kreiste sein Blick über die diversen Objekte in der Nähe, bei denen es sich entweder um umgestürzte Baumstämme oder um fleischfressende Reptilien handeln konnte.

»Ich gebe Deckung«, rief Lukas.

Er hoffte, Mardley erkannte die Zweideutigkeit in seinen Worten. Denn sein Schutzversprechen bezog sich auf Mardley genauso wie auf die Krokodile.

»Wie ist dein Plan?«, fragte Jonjo. »Ist ja nicht gerade so, dass wir sie einfach so weitermachen lassen können. Andererseits haben wir unseren Vertrag mit ihnen gebrochen.«

Lukas dachte einen Moment nach. »Hol das Gewehr. Wir bringen Mardley zum Land Rover zurück. Einer von uns bleibt bei ihm und sorgt dafür, dass er nicht abhaut. Der andere legt sich im Urwald auf die Lauer, bis Thirsten den Weg zurückfindet. Er wird erschöpft, überhitzt und angespannt sein, wodurch sein Denkvermögen beeinträchtigt sein wird. Dann nimmt einer von uns ihm Gewehr und Pistole ab und eskortiert ihn zurück zum Land Rover.« Er zuckte die Achseln. »Anschließend lassen wir uns von ihnen in die Stadt zurückfahren. Sie sitzen vorne und wir nehmen hinten mit all den Waffen Platz. So sind sie nicht mehr in der Lage, noch irgendetwas zu versuchen.«

Jonjo grinste. »Die werden ziemlich angepisst sein.«

»Ist mir so was von egal.«

»Wirst du sie bei den Behörden anzeigen, weil sie ohne Genehmigung auf die Jagd wollten?«

Lukas schüttelte den Kopf. »Stimm mich gerne um, wenn du willst, aber meiner Meinung nach würde das zu viel Ärger mit sich bringen und zu lange dauern. Wir sollten sie einfach wieder am Hotel absetzen und wegfahren.«

»Sie haben mehr Geld als wir«, hob Jonjo hervor. »Sie könnten Leute anheuern, damit sie uns bestrafen.«

»Da ist was dran.«

»Ob wir wohl noch bezahlt werden?«

Lukas lachte. »In Anbetracht der Ereignisse könnte es meinem Gefühl nach schwierig werden, denen das Geld noch aus der Tasche zu leiern. Wir sollten’s einfach dabei belassen.«

Jonjo trat einen Schritt auf Lukas zu und gab ihm einen Klapps auf die Schulter. »Aber, mein Lieber, dann bleiben uns immer noch ihre Gewehre und Pistolen. Wir können sie verkaufen und so immerhin ein wenig Geld machen.«

»Also das«, sagte Lukas anerkennend, »klingt doch mal nach einem guten Plan. Kennst du irgendwelche guten Restaurants in der Stadt? Ich glaube, nach all dem hier haben wir uns eine ordentliche Mahlzeit verdient.«

»Meiner Schwester gehört da so ein Laden. Ist die beste Stelle, die ich kenne, um was zu essen zu kriegen. Ihr Ziegenfleischeintopf ist legendär und ihr Moambe fast mythisch.«

»Moambe?«, fragte Lukas.

»Unser Nationalgericht: Hühnchen mit Maniokblättern, Pepperoni-Soße, Bananen, Reis, Erdnüssen, Fisch und Palmnüssen. Sehr gehaltvoll und sehr gesund.«

Lukas nickte. »Hört sich toll an. Lass uns hin.«

Mardley hatte sich unterdessen unter größter Vorsicht den Weg aus der flachen Uferzone gebahnt und näherte sich ihnen nun mit seitwärts ausgetreckten Händen. Er schien nicht wütend zu sein, sondern eher geknickt.

Jonjo ging an ihm vorbei, als er sich aufmachte, um das Gewehr einzusammeln. Auf der Suche nach Thirsten blickte er kurz das Flussufer entlang, ebenso wie Lukas. Aber der Amerikaner schien im Regenwald verschwunden zu sein.

»Es war nicht meine Idee«, jammerte Mardley. »Ich hab ihm gesagt, wir sollten uns Genehmigungen holen.« Er schniefte. »Ihr werdet uns doch nicht hier zurücklassen, oder?«

»Wir kehren zum Land Rover zurück, um auf Ihren Freund zu warten«, erwiderte Lukas bestimmt. »Und dann fahren wir in die Stadt zurück. Sie werden fahren.«

»Danke, Kumpel«, sagte Mardley.

Lukas musterte den Mann: Tropfnass stand er da, während die Hitze die Nässe bereits als Wasserdampf von seinem Körper aufstiegen ließ. Seine lichten Haare klebten am Kopf und im Gesicht. Er sah jetzt nicht mehr wie ein Jäger aus. Sondern nur wie ein mitleiderregender, verschreckter und beschämter Teenager.

Etwas Braunes und Feuchtes glänzte an seinem Arm, auf dem weichen Hautgewebe zwischen Handgelenk und Ellenbogen. Lukas starrte einige Augenblicke drauf, bevor er erkannte, um was es sich handelte.

»Dagegen sollten Sie vielleicht was tun«, sagte er und wies mit der Pistole drauf.

»Gegen was?«, fragte Mardley verwirrt.

»Na, gegen den Blutegel«, erwiderte Lukas gelassen.

Wild flatternd stoben die Vögel, die sich gerade erst wieder am Ufer niedergelassen hatten, in die Luft – aufgescheucht durch Mardleys von Panik und Ekel erfülltem Schrei.

Kapitel Zwei

In gut drei Metern Höhe, wo er sich in der Astgabel eines Baums niedergelassen hatte, wartete Lukas darauf, dass Thirsten zum Land Rover zurückkehrte. Der Schweiß durchtränkte seine Kleidung und rann ihm Gesicht und Rippen hinab. Aber er achtete nicht drauf. Da sich sowieso nichts gegen die tropischen Temperaturen unternehmen ließ, war es sinnlos, viel Aufheben von den damit verbundenen Unannehmlichkeiten zu machen.

Ein Teil von ihm sorgte sich, dass der Großwildjäger in seiner Panik womöglich einfach immer weiterrannte, um sich am Ende irgendwo am Fluss oder im Regenwald zu verlaufen. Ein anderer Teil fürchtete, der Mann könnte am Ufer über ein weiteres vor sich hindösendes Krokodil oder ein grasendes Flusspferd stolpern. Er konnte jedoch nichts dagegen tun. Es war außer seiner Kontrolle.

Lukas hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass sein Arm eben nicht beliebig weit reichte und es sinnlos war, sich über etwas den Kopf zu zerbrechen, das er nicht beeinflussen konnte. Die Menschen mussten für ihre Handlung selbst die Verantwortung übernehmen. Wenn Thirsten danach war, immer weiterzurennen, konnte Lukas ihn nicht aufhalten. Aber seine beste Chance auf Rückkehr in die Stadt bestand darin, wieder runterzukommen und dorthin zurückzukehren, wo Lukas und Jonjo auf ihn warteten.

Da Lukas keinerlei Schreie gehört hatte, war Thirsten vermutlich kein Missgeschick mit irgendwelchem Großwild zugestoßen. Er beschloss, eine weitere halbe Stunde zu warten und es dann gut sein zu lassen. Sollte Thirsten bis dahin nicht aufgetaucht sein, würden Jonjo und er ihn einfach als vermisst melden müssen, wenn sie Mardley in der Stadt ablieferten.

Thirsten hatte zwei Waffen, und zweifellos würde er die Situation unter seine Kontrolle bringen wollen, sollte er wieder auftauchen. Aber das war etwas, mit dem Lukas sich befassen würde, wenn es so weit war. Zunächst einmal musste der Mann lokalisiert werden.

Lukas konzentrierte sich bewusst auf die Umgebungsgeräusche, selbst während er die Gedanken schweifen ließ. Und vertrieb sich die Zeit, indem er versuchte, jeden einzelnen Laut herauszufiltern. Da war natürlich das stete Summen und tschirpende Geraspel der Insekten: unsichtbar zum großen Teil, doch allgegenwärtig. Es war wie das statische Rauschen eines Funkkanals: ein permanenter und gleichbleibender Hintergrund, vor dem die anderen Geräusche kamen und gingen. Und unter diesen waren die Schreie der Affen hoch oben in den Baumkronen vermutlich die nächstlautesten. Einige von ihnen klangen fast menschlich, während sie sich unter schrillem Kreischen gegenseitig Botschaften und Warnungen zuriefen. Als Nächstes kamen die Vögel. Sie krächzten und schrien in einer wetteifernden Kakofonie, die förmlich das akustische Äquivalent zum grellbunten Gefieder bot, das sie in einer sinnesüberwältigenden Show zur Schau stellten. Hin und wieder hallte das Gebrüll eines größeren Tiers durch den Regenwald: ein Raubtier, das anderen Raubtieren seine Anwesenheit anzeigte. Und so, wie die Insektenlaute alles untermalten, legte sich über die Geräuschkulisse noch das Rauschen des Winds, der die Baumkronen zauste, was sich merkwürdig nach Wellen an einem fernen Strand anhörte.

Vom Land Rover drangen keine Stimmen mehr bis zu ihm. Eine Weile hatte Mardley versucht, Jonjo in eine Unterhaltung zu verstricken. Jammernd hatte er sich darüber ausgelassen, wie sehr er doch Tiere liebte, und dass nicht er, sondern Thirsten ganz versessen darauf gewesen sei, ein Flusspferd zu töten – und danach eine Großkatze sowie eine Giraffe, um eine Art Set zu komplettieren. Aber da Jonjo ihn keiner Antwort gewürdigt hatte, hatte Mardley dann schnell die Klappe gehalten. Lukas stellte sich vor, wie er unglücklich und mürrisch auf dem Beifahrersitz des Land Rovers saß – schwitzend, im permanenten Versuch, vorbeisirrende Moskitos totzuschlagen –, während er sich fragte, was wohl geschehen würde, wenn sie alle wieder zurück in der Stadt wären.

Etwas regte sich ganz in der Nähe von Lukas’ Gesicht. Ohne den Kopf zu drehen, beäugte er es.

Ein Kopf war aus einem Laubbüschel aufgetaucht. Spitz, hellgrün und etwa halb so groß wie Lukas’ Daumen hing er dort ein paar Sekunden kopfüber, bevor sich die Kreatur weiter aus dem Laub schob. Es war eine Schlange. Senkrecht hing sie nach unten, während ihre Zunge vor- und zurückzüngelte. Doch offenbar erschien ihr Lukas als Beute zu groß, denn schon im nächsten Moment zog sich die Schlange abrupt in den Schutz der Vegetation zurück, um sich eine sicherere Beute zu suchen.

Ein Zweig knackte, irgendwo zu Lukas’ Linken. Wieder wandte er seine Aufmerksamkeit in die entsprechende Richtung, ohne den Kopf zu drehen.

Ein dunkles Objekt bewegte sich dort zwischen zwei Bäumen. Kurz war Lukas überzeugt, es würde sich um Thirsten handeln, und seine Finger krallten sich fester um den Griff der Waffe, die er aus Mardleys Tasche hatte. Doch einen Moment später erkannte er, dass die Gestalt zu geduckt wirkte, zu niedrig über dem Waldboden dahinschritt. Es war eine kleine Antilope, kaum größer als ein Hund. Auf fast unmöglich dünn wirkenden Beinen äste sie sich durch den Laubstreu voran. Während Lukas sie weiter beobachtete, knabberte sie probehalber an einem vorragenden Stück Baumrinde.

Plötzlich fuhr der Kopf des Tiers mit einem Ruck hoch. Seine Ohren zuckten, während es irgendeinen Laut zu lokalisieren versuchte, den es gehört hatte … um schon im nächsten Augenblick so schnell davonzuflitzen, dass Lukas nicht mehr als einen Schemen wahrnahm.

Er hielt den Atem an.

Nun kam Thirsten in Sicht, nach und nach und ganz allmählich. Er bewegte sich langsam und mit Bedacht durch die Bäume voran. Das durch das Blätterdach sickernde Sonnenlicht warf helle Tupfer auf ihn, was aussah, als trüge er Tarnkleidung. Die von Schweiß und Regenwaldfeuchtigkeit stammenden nassen Flecken auf Jacke und Hose hatten sich vereint, sodass kein Stück mehr trocken war. Oder vielleicht war er auch einfach nur, wie Lukas in den Sinn kam, in den Fluss gefallen. Sein Gesicht war rot und geschwollen. Vielleicht vor Ärger oder vielleicht auch, weil er von irgendeinem Insekt gestochen worden war. Das Gewehr trug er auf dem Rücken, während er seine Colt Commander schussbereit in der Hand hielt.

Thirsten blieb kurz stehen und hob die Linke, um auf seine Uhr zu blicken – weiterhin darauf bedacht, die Pistole feuerbereit zu halten. Für einen Moment fragte Lukas sich, warum Thirsten ausgerechnet jetzt nach der Zeit sehen musste? Hatte er ein Treffen mit jemandem vereinbart? Mit einem anderen Jäger oder einer Jägergruppe gar, die sich ihm und Mardley anschließen sollte? Ein paar Augenblicke des Nachdenkens legten eine wahrscheinlichere Antwort nahe: In das Ziffernblatt von Thirstens Uhr war ein Kompass integriert, und er wollte sich vergewissern, dass er immer noch in der richtigen Richtung zum Land Rover unterwegs war.

Lukas wartete, bis Thirsten den Arm wieder senkte und sich in Bewegung setzte. Dann hob er Mardleys Automatik und richtete sie auf den Großwildjäger.

»Was ich jetzt von Ihnen sehen möchte«, rief er, »ist, dass Sie beide Waffen auf den Boden legen.«

Bei Lukas’ Worten erstarrte Thirsten zur Salzsäule. Selbst auf vier oder fünf Meter Entfernung konnte Lukas sehen, wie Thirstens Fingerknöchel weiß wurden, als er seine Waffe sogar noch fester packte. Er spielte ernsthaft mit dem Gedanken, herumzuwirbeln und auf Lukas zu feuern. Das Einzige, was ihn davon abhielt, war der Umstand, dass er nicht wusste, wo Lukas sich befand.

»Und wenn nicht?«, knurrte der Mann. »Wenn ich einfach weitergeh … was dann?«

»Dann«, rief Lukas gelassen, »verpass ich Ihnen eine Kugel in die rechte Arschbacke. Keine lebensbedrohliche Verletzung – jedenfalls, wenn Sie irgendwo Behandlung finden sollten. Aber ziemlich peinlich. Zudem wird der Schuss Jonjo alarmieren. Somit wird er Sie schon erwarten, wenn Sie aus dem Dickicht auf den Pfad getaumelt kommen. Und stellen Sie sich doch einfach mal vor, wie qualvoll die Rückfahrt in die Stadt sein wird. Das sind verdammt harte Sitze, und die Aufhängung des Land Rovers ist nicht gerade umwerfend. Jede Bodenwelle, jede Baumwurzel und jede Furche wird so schmerzhaft sein, dass wir Ihre Schreie die ganze Fahrt über den Motorkrach hinweg werden hören können.«

Einen langen Augenblick passierte gar nichts. Dann ließ Thirsten das Gewehr vorsichtig von der Schulter gleiten. Er ging in die Hocke, um es zusammen mit der Pistole vor seinen Füßen auf den morastig-mulchigen Boden abzulegen.

»Du hältst dich wohl für sehr clever, was?«, fauchte er.

»Ist mir schnuppe, ob ich clever bin oder nicht«, erwiderte Lukas. »Mich interessiert nur, dass ich eine Waffe habe und Sie nicht.«

Die Waffen auf dem Boden zurücklassend, machte Thirsten Anstalten, sich zu erheben. Doch dabei nahm Lukas wahr, wie der Saum seines rechten Hosenbeins wieder über den Stiefel rutschte. Entweder hatte er sich nur gekratzt oder etwas genommen, das an seinem Knöchel fixiert gewesen war.

»Die Rechte seitlich vom Körper strecken«, rief Lukas. »Oder ich muss annehmen, dass Sie etwas vorhaben, und schieße.«

Thirsten stieß einen unterdrückten Fluch aus. Dann tat er, wie befohlen. Er hielt die Faust geballt. Aber Lukas sah, dass er irgendetwas dicht ans Handgelenk gepresst hielt.

»Hand auf und fallen lassen, was immer Sie da auch halten.«

Wütend und frustriert senkte Thirsten den Kopf, bevor er die Faust löste. Ein Messer fiel auf den Boden. Für Lukas sah es wie die verkleinerte Version eines Scagel-Jagdmessers aus. Und vermutlich hatte es in einer Messerscheide gesteckt, die um Thirstens Knöchel geschnallt war.

»Linkes Hosenbein hoch«, befahl Lukas.

»Da hab ich n…«

»Tun Sie’s einfach!«

Die Waffe unverwandt auf Thirsten gerichtet, ließ Lukas sich vom Baum fallen, während der Mann noch durch sein Gefluche und das erneute Bücken abgelenkt war. Thirsten zog sein Hosenbein hoch. Kein Messer, keine Scheide.

»Okay«, rief Lukas. »Dann mal Bewegung, die Richtung kennen Sie ja.«

Zum ersten Mal wandte Thirsten den Kopf und starrte Lukas an. Die Wut loderte wie eine Flamme in seinen Augen. »Ich lass das Messer nicht hier«, knurrte er. »Hast du ’ne Ahnung, wie teuer das war?«

»Nee, und ist mir auch egal. Setzen Sie sich einfach in Bewegung.«

Seine Lippen verzogen sich zu einem knurrenden Zähnefletschen. Thirsten glotzte auf das Messer hinab, bevor er wieder Lukas anstarrte. Dann blickte er sich um, als würde er verzweifelt versuchen, sich diesen namenlosen Teil des Regenwalds einzuprägen, um irgendwann später zurückzukommen und sein Messer wiederzuholen. Endlich setzte er sich in Bewegung.

»Ich bring dich um«, murmelte er.

»Vielleicht«, konterte Lukas. »Vielleicht aber auch nicht. Doch mit Sicherheit nicht jetzt und wohl auch nicht heute.«

Zehn Minuten später traten sie aus dem Baumdickicht auf die holprige Piste hinaus, die sich hier durch den Regenwald schnitt und zur nächsten Stadt führte. Jonjo saß auf dem Dach des Land Rovers, während Mardley sicher verwahrt auf dem Beifahrersitz wartete. Der Fährtenleser begrüßte Lukas mit breitem Grinsen. Mardley starrte Thirsten einfach nur mit einem Ausdruck an, in dem nicht mehr als erschöpfte Resignation lag.

»Rein da«, sagte Lukas und zeigte auf den Land Rover.

Thirsten machte Anstalten, sich auf den Rücksitz des Land Rovers zu begeben.

»Nein«, fuhr Lukas fort. »Nach vorn. Sie fahren.«

Als der Großwildjäger widerwillig den Platz neben seinem Gefährten eingenommen hatte, bedeutete Lukas Jonjo, sich zu ihm nach hinten zu gesellen.

Die Rückfahrt in die Stadt dauerte vier Stunden – eine Zeit, die sich für Lukas wie eine Ewigkeit zu ziehen schien. Während der Fahrt änderte sich nur wenig: Mardleys Klagen, die weinerlicher und weinerlicher wurden; der Zustand der Piste, die zunehmend breiter wurde und immer leichter zu befahren war, und schließlich der Schmerz in seinem Kreuz. Zunächst nur ein dumpfes, unangenehmes Ziehen, steigerte dieser sich nach und nach zu einem stechenden Schmerz, der es unmöglich machte, eine bequeme Sitzposition zu finden. Die Hölle, so kam Lukas nach einer Stunde Fahrt zum Schluss, war vermutlich nichts anderes als eine nie endende Fahrt auf einer unendlichen Schotterpiste ohne jegliche Rastmöglichkeit oder Toilettenpause.

Nach und nach jedoch ließen sie den Regenwald hinter sich und gelangten in stärker besiedelte Regionen des Kongo. Erste Farmen und andere Formen menschlicher Behausungen zogen an ihnen vorbei – nur eine Handvoll Unterstände und Hütten zunächst, die bald immer zahlreicher wurden. Aufgescheuchte Hühner stoben vor ihnen immer wieder aus dem Weg und dürre Kühe musterten sie mit schwermütigem Blick, als sie vorbeifuhren. Nach einer Weile machten die Wellblechbehausungen beständigeren Gebäuden aus Porenbeton oder rauen Ziegelsteinen Platz – nicht nur Wohnhäuser, sondern auch Cafés und Läden mit offenen Fronten. Leute riefen ihnen im Vorbeifahren etwas zu, damit sie anhielten und etwas zu essen oder trinken kauften. Einmal brachte es ein Huhn sogar irgendwie fertig, halb springend, halb ungeschickt flatternd auf Jonjos Schoß zu landen. Lässig schnappte er es sich und beförderte es wieder hinaus.

Zunehmend machte sich nun auch anderer Verkehr bemerkbar: ein paar wenige, staubverkrustete Land Rover und Jeeps, aber ebenso eine beträchtliche Anzahl Toyota Hilux mit flachen, offenen Ladeflächen, auf denen sich Kisten stapelten, Leute saßen oder wie in einem Fall sogar eine Kuh auf unsicher wackeligen Beinen stand, während das Fahrzeug am Land Rover vorbeizog.

Gerade als Lukas überzeugt war, dass dies tatsächlich wohl die Hölle sei und er wegen irgendwelcher Sünden ewig würde hier schmoren müssen, erkannte er, dass sie sich dem Hotel näherten: ihr ursprünglicher Treffpunkt, wo sie von den beiden Männern angeheuert worden waren, die nun mit grimmigen Mienen vorne im Land Rover saßen. Die Straße war von ihrer Beschaffenheit jetzt fast – fast –