Young Sherlock Holmes - Andrew Lane - E-Book

Young Sherlock Holmes E-Book

Andrew Lane

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Beschreibung

Sherlock Holmes, wie du ihn noch nie erlebt hast! Bei unbekannten Verwandten leben und auch noch Unterricht bei einem Privatlehrer bekommen – das werden die schlimmsten Ferien seines Lebens, denkt Sherlock. Doch dann kommt alles ganz anders und plötzlich ist er mittendrin in seinem ersten Fall. Mysteriöse Todesfälle, prügelnde Muskelprotze und ein böser Baron – das erste Abenteuer des jungen Meisterdetektivs beginnt.

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Andrew Lane

Young Sherlock Holmes 1: Death Cloud

Aus dem Englischen von Christian Dreller

Fischer e-books

Gewidmet den Jugendschriftstellern, deren Werke ich in meiner Jugend verschlungen habe: Capt. W. E. Johns, Hugh Walters, Andre Norton, Malcolm Saville, Alan E. Norse und John Christopher;

sowie meinen modernen Schriftstellerkollegen, die ich mich glücklich schätze, persönlich zu kennen, für ihre freundschaftliche Unterstützung: Ben Jeapes, Stephen Cole, Justin Richards, Gus Smith und dem unvergleichlichen Charlie Higson.

Prolog

Als Matthew Arnatt das erste Mal der Todeswolke begegnete, kam sie aus einem Fenster im ersten Stock geschwebt. Drohend und unheilvoll wie ein bösartiger Geist, den man aus seiner Flasche gelassen hatte.

Matthew lebte noch nicht lange in der Gegend. Er streunte gerade auf der Hauptstraße des Städtchens Farnham herum, um Ausschau nach Früchten oder Brotkrusten zu halten, die vielleicht ein gleichgültiger Passant hatte fallen lassen. Eigentlich hätte sein Blick auf den Boden gerichtet sein müssen. Doch stattdessen hatte er nur Augen für die Häuser, Läden und das Menschengewimmel um ihn herum. Er war erst vierzehn und, soweit er sich erinnern konnte, noch nie zuvor in einer so großen Stadt gewesen.

In diesem, dem wohlhabenderen Teil von Farnham, ragten die älteren Fachwerkhäuser so weit in die Straße hinein, dass sich die oberen Stockwerke wie drohende Steinwolken über den Passanten ballten.

Die Straße war zum Teil mit glatten, faustgroßen Steinen gepflastert. Doch ein Stück weiter wurden die Pflastersteine von gestampfter Erde abgelöst, auf der vorbeitrottende Pferde und ratternde Karren Wolken von Staub aufwirbelten. Alle paar Meter lagen Pferdeäpfelhaufen herum. Von Fliegen umschwirrt, dampften einige frisch vor sich hin, andere hingegen waren schon eingetrocknet und alt und sahen aus wie dreckverklumpte kleine Strohkugeln.

Der faulige Geruch des dampfenden Pferdedungs drang ihm in die Nase. Aber er konnte auch frisch gebackenes Brot riechen und etwas, bei dem es sich um ein Schwein handeln mochte, das gerade über offenem Feuer am Spieß gebraten worden war. In Gedanken konnte er förmlich das Fett vor sich sehen, wie es zischend in die Glut tropfte. Vor Hunger verkrampfte sich plötzlich Matthews Magen so heftig, dass er sich vor Schmerzen krümmte. Seit seiner letzten ordentlichen Mahlzeit waren schon ein paar Tage vergangen, und er war nicht sicher, wie lange er noch durchhalten würde.

Ein fetter Mann in einem dunklen abgetragenen Anzug und mit einer braunen Melone auf dem Kopf blieb stehen und streckte Matthew die Hand entgegen, als wollte er ihm helfen. Matthew wich zurück. Er wollte keine Mildtätigkeit. Mildtätigkeit brachte ein mittelloses Waisenkind wie ihn geradewegs ins Arbeitshaus oder in die Obhut der Kirche. Und er hatte nicht vor, den Pfad zu betreten, der ihn unweigerlich in eine dieser beiden Einrichtungen bringen würde. Es ging ihm ausgezeichnet alleine. Er musste nur etwas zu essen auftreiben. Sobald er etwas Ordentliches im Bauch hatte, würde es ihm wieder gut gehen.

Er schlüpfte in eine Gasse, bevor der Mann ihn an der Schulter packen konnte. Nachdem er dann noch einmal einen Haken geschlagen hatte und um eine weitere Ecke gebogen war, gelangte er in eine kleine Seitenstraße, die so schmal war, dass sich die oberen Stockwerke fast berührten. Man konnte glatt von einem Zimmer ins gegenüberliegende auf der anderen Straßenseite klettern, wenn man denn wollte.

Und dann sah er die Todeswolke. Nicht, dass er zu diesem Zeitpunkt wusste, mit was er es da zu tun hatte. Das sollte er erst später erfahren. Nein, alles, was er sah, war ein Fleck. Dunkel und irgendwie bedrohlich, ungefähr so groß wie ein Hund und ähnlich wie Rauch, der aus einem offenen Fenster weht. Rauch allerdings, der sich nach eigenem Willen bewegte und einen Moment lang innehielt, bevor er seitwärts zu einem Regenrohr schwebte, wo er dann seine Richtung änderte und nach oben zum Dach hinaufglitt.

Der Hunger war vergessen. Mit offenem Mund beobachtete Matthew, wie die Wolke über die scharfe Dachziegelkante waberte und dann verschwand. Plötzlich zerriss ein Schrei die Stille. Er war aus dem offenen Fenster gekommen. Matthew wirbelte herum und stürmte auf der Straße zurück, so schnell ihn seine unterernährten Beine trugen. So schrien Menschen nicht vor Überraschung. Nicht einmal aus Schock. Nein, so schrie nach Matthews Erfahrung nur ein Mensch, der dem Tod ins Gesicht blickte. Aber was immer auch den Schrei ausgelöst hatte, er verspürte nicht das geringste Verlangen, es mit eigenen Augen anzusehen.

1

»Du da! Herkommen!«

Sherlock Holmes drehte sich um, um zu sehen, wer gemeint war und wer gerufen hatte. An diesem Morgen standen Hunderte von Schülern im strahlenden Sonnenschein vor der Deepdene-Knabenschule herum. Alle in makelloser Schuluniform und mit einem ledergurtumspannten Holzkoffer oder einem Haufen vollgestopfter Gepäckstücke vor sich, die wie treue Hunde zu ihren Füßen lagen. Jeder von ihnen konnte gemeint sein. Die Lehrer in Deepdene hatten die Angewohnheit, die Schüler nie mit ihren Namen anzusprechen. Es hieß immer »Du!« oder »Junge!« oder »Kind!«. Das machte das Leben nicht gerade leicht und führte dazu, dass man ständig auf Zack sein musste. Was wohl auch der Grund dafür war, warum sie es taten. Entweder das oder die Lehrer hatten es schon vor langer Zeit aufgegeben, sich die Namen ihrer Schüler zu merken. Sherlock war sich nicht sicher, welche Erklärung am ehesten zutraf. Vielleicht beide.

Keiner von den anderen Schülern zeigte eine Reaktion. Entweder plauderten sie mit Familienmitgliedern, die gekommen waren, um sie abzuholen, oder sie beobachteten ungeduldig das Schultor, wo jeden Augenblick die Kutsche auftauchen musste, die sie nach Hause bringen würde. Widerwillig drehte Sherlock sich um, um nachzusehen, ob der unheilvolle Finger des Schicksals auf ihn wies.

Das tat er tatsächlich. Besagter Finger gehörte in diesem Fall MrTulley, dem Lateinlehrer. Er war gerade an der Stelle um die Ecke des Schulgebäudes gebogen, an der Sherlock abseits von den anderen Jungen herumstand. MrTulleys normalerweise von Kreidestaub bedeckter Anzug war extra für das Schuljahresende und die unvermeidlichen Begegnungen mit den Vätern gereinigt worden. Vätern, die für die Erziehung ihrer Jungen viel Geld bezahlten. Sein Doktorhut saß so gerade auf dem Kopf, als hätte der Direktor selbst ihn dort festgeklebt.

»Ich, Sir?«

»Ja Sir, du Sir«, blaffte MrTulley. »Sieh zu, dass du quam celerrime ins Direktorzimmer kommst. Reicht dein Latein noch, um zu wissen, was das heißt?«

»Das heißt ›sofort‹, Sir.«

»Dann beweg dich.«

Sherlock warf einen Blick auf das Schultor. »Aber Sir … Ich warte auf meinen Vater. Er holt mich gleich ab.«

»Ich bin sicher, dass er nicht ohne dich fährt, Junge.«

Sherlock unternahm noch einen letzten kühnen Versuch. »Aber mein Gepäck …«

MrTulley blickte abfällig auf Sherlocks arg ramponierten Holzkoffer hinab – ein ausrangiertes Utensil seines Vaters, das diesen einst auf seinen Militärreisen begleitet hatte und nach jahrelangem Gebrauch nun völlig abgewetzt und schmutzig war. »Ich kann mir nicht vorstellen, warum jemand so was stehlen sollte«, sagte er. »Außer vielleicht wegen seines historischen Wertes. Ich hole einen Vertrauensschüler, der für dich aufpasst. Jetzt lauf los.«

Widerwillig verließ Sherlock seine Habseligkeiten – ein paar spärliche Hemden und Unterwäsche, seine Gedichtbände und die Notizbücher, in denen er neben Ideen, Gedanken und Spekulationen hin und wieder auch Melodien notierte, die ihm in den Kopf kamen.

Er ging auf die Säulenreihe der Eingangshalle zu, die die Vorderseite des Schulgebäudes zierte. Während er sich dabei zwischen unzähligen Jungen, Eltern und kleineren Geschwistern hindurchschob, behielt er stets den Zufahrtsweg im Auge, wo gerade ein dichtes Gedränge aus Pferden und Kutschen herrschte, die alle gleichzeitig durch das schmale Tor herein oder heraus wollten.

Die Haupteingangshalle war mit Eichenholz getäfelt und ringsum von den Büsten ehemaliger Direktoren und Förderer gesäumt, die jeweils auf eigenen Sockeln thronten. Aufwirbelnder Kreidestaub ließ schräge Säulen von Sonnenlicht sichtbar werden, die von den hohen Fenstern aus auf den schwarz-weiß gefliesten Boden fielen. Es roch nach Karbol, mit dem die Dienstmädchen jeden Morgen die Fliesen putzten. Angesichts des dichten Gedränges in der Halle war es mehr als wahrscheinlich, dass in Kürze mindestens eine der Büsten umkippen und herunterfallen würde. Die großen Risse, die den echten Marmor einiger Büsten verunstalteten, ließen darauf schließen, dass kein Schuljahr verging, ohne dass nicht wenigstens eine von ihnen auf den Boden krachte und anschließend wieder repariert werden musste.

Von jedermann unbeachtet, schlängelte er sich zwischen den ganzen Leuten hindurch, bis er auf einmal das Gewühl hinter sich gelassen hatte und in den Korridor gelangte, der von der Eingangshalle ins Gebäude führte. Das Studierzimmer des Direktors lag ein paar Meter weiter den Gang entlang. Er blieb an der Türschwelle stehen, holte tief Luft und klopfte seine Ärmelaufschläge ab. Dann pochte er an die Tür.

»Herein!«, dröhnte eine theatralisch laute Stimme.

Sherlock drehte den Knauf und drückte die Tür auf. Mit aller Macht versuchte er, einen Anfall von Nervosität zu unterdrücken, der ihm plötzlich durch die Glieder fuhr.

Er war bisher nur zweimal im Studierzimmer des Direktors gewesen. Einmal zusammen mit seinem Vater, als er das erste Mal nach Deepdene gekommen war. Dann noch einmal ein Jahr später zusammen mit einer Gruppe von Schülern, die beschuldigt worden waren, während einer Prüfung geschummelt zu haben. Die drei Rädelsführer hatten eine Tracht Prügel bezogen und waren anschließend von der Schule geflogen. Die vier oder fünf Mitläufer waren bloß verdroschen worden, bis das Blut von den Pobacken spritzte, und konnten dann bleiben. Sherlock – dessen Essays die Gruppe abgeschrieben hatte – war um die Tracht Prügel herumgekommen, indem er behauptete, von alldem nichts gewusst zu haben. In Wirklichkeit hatte er natürlich voll und ganz Bescheid gewusst. Aber er war immer so etwas wie ein Außenseiter an dieser Schule gewesen, und wenn man ihn tolerierte oder sogar akzeptierte, falls er die anderen Schüler abschreiben ließ, würde er keinerlei ethische Einwände erheben. Andererseits würde er die Abschreiber selbstverständlich auch nicht verraten. Denn andernfalls hätte man ihn zusammengeschlagen. Und vielleicht vor eines der lodernden Kaminfeuer in den Schlafsälen gehalten, bis die Haut Blasen warf und die Kleidung zu qualmen anfing. So war das Leben in der Schule eben – ein pausenloser Balanceakt zwischen Lehrern und den anderen Schülern. Und er hasste es.

Das Studierzimmer des Direktors war genauso, wie er es in Erinnerung hatte: groß, schummrig und durchdrungen von einer Geruchskombination aus Leder und Pfeifentabak. MrTomlinson saß hinter einem Schreibtisch, der groß genug war, um darauf Bowling zu spielen. Er war korpulent und trug einen Anzug, der ein bisschen zu klein für ihn war. Wahrscheinlich, weil es ihm half, sich der Illusion hinzugeben, dass er bei Weitem nicht so füllig sei, wie es offensichtlich der Fall war.

»Ah, Holmes, nicht wahr? Komm rein, Junge. Rein mit dir. Und mach die Tür hinter dir zu.«

Sherlock tat, was ihm gesagt wurde. Aber als er die Tür schloss, nahm er eine weitere Gestalt im Raum wahr: einen Mann, der mit einem Glas Sherry vor dem Fenster stand. Das geschliffene Kristallglas des Trinkgefäßes brach das Sonnenlicht in alle Farben des Regenbogens.

»Mycroft?«, sagte Sherlock überrascht.

Sein älterer Bruder drehte sich, um ihn anzusehen. In seinem Gesicht leuchtete für einen winzigen Moment lang ein Lächeln auf, das Sherlock vielleicht entgangen wäre, hätte er im falschen Augenblick geblinzelt. »Sherlock. Du bist gewachsen.«

»Du auch«, antwortete Sherlock. In der Tat hatte sein Bruder beträchtlich an Gewicht zugelegt. Er war beinahe so dick wie der Direktor. Aber sein Anzug war so geschnitten, dass dies eher kaschiert als betont wurde. »Du bist mit Vaters Kutsche gekommen.«

Mycroft zog eine Augenbraue in die Höhe. »Woraus hast du das um Himmels willen geschlossen, junger Mann?«

Sherlock zuckte die Achseln. »Da auf deiner Hose sind parallele Falten, die vom Druck des Sitzpolsters stammen. Aber ich erinnere mich, dass Vaters Kutsche einen Riss im Polster hatte, der vor ein paar Jahren nur unzulänglich repariert wurde. Der Abdruck des reparierten Risses ist auf deiner Hose zu sehen, direkt neben den Falten.« Er hielt inne. »Wo ist Vater, Mycroft?«

Der Direktor räusperte sich, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. »Ihr Vater ist …«

»Vater wird nicht kommen«, unterbrach Mycroft ihn mit sanfter Stimme.

»Sein Regiment wurde zur Verstärkung unserer Truppen nach Indien verlegt. Es gab dort Unruhen in der Nordwestlichen Grenzprovinz. Du weißt, wo das ist?«

»Ja. Wir haben Indien in Geographie und Geschichte durchgenommen.«

»Guter Junge.«

»Mir war nicht klar, dass die Einheimischen dort erneut Probleme bereiten«, knurrte der Direktor. »Es stand zumindest nicht in der Times, soviel ist mal sicher.«

»Es sind nicht die Inder«, gestand Mycroft. »Als wir das Land wieder von der Ostindischen Kompanie übernommen haben, wurden ihre Soldaten wieder der Aufsicht der regulären Armee unterstellt. Sie fanden das neue Regime sehr viel … nun ja … strenger als das, was sie gewohnt waren. Es hat dort jede Menge schlechte Stimmung gegeben, und die Regierung hat beschlossen, die Armeestärke in Indien drastisch zu erhöhen, um ihnen eindrucksvoll vor Augen zu führen, wie wahre Soldaten wirklich sind. Es ist schlimm genug, wenn die Inder rebellieren. Aber eine Meuterei innerhalb der britischen Armee ist undenkbar.«

»Und wird es dort eine Meuterei geben?«, fragte Sherlock, dem plötzlich das Herz so schwer wurde, dass er meinte, einen Mühlstein in der Brust zu haben. »Kann Vater etwas passieren?«

Mycroft zuckte die mächtigen Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte er einfach. Das war eine der Eigenschaften, die Sherlock an seinem Bruder schätzte. Er gab immer direkte Antworten auf direkte Fragen, ohne bittere Pillen zu versüßen. »Leider weiß ich gar nichts. Jedenfalls noch nicht.«

»Aber du arbeitest doch für die Regierung«, ließ Sherlock nicht locker. »Du musst doch wenigstens eine Vorstellung haben, was passieren könnte. Kannst du nicht ein anderes Regiment schicken? Und Vater hier in England lassen?«

»Ich arbeite erst ein paar Monate im Außenministerium«, antwortete Mycroft. »Und obwohl es mir schmeichelt, dass du denkst, ich hätte die Macht, solch wichtige Dinge zu beeinflussen, fürchte ich, dass ich dazu nicht in der Lage bin. Ich bin ein Referent. Nur ein Angestellter, wirklich.«

»Wie lange wird Vater fort sein?«, fragte Sherlock und dachte an den großen Mann in der scharlachroten Uniformjacke mit den breiten weißen Lederriemen, die sich über der Brust kreuzten. Den Mann, der sein Vater war und so gern lachte und seine gute Laune nur selten verlor. Er fühlte, wie sich ihm die Brust zuschnürte. Aber er hielt seine Gefühle im Zaum. Wenn er eines während seiner Zeit auf der Deepdene-Schule gelernt hatte, dann war es, niemals Gefühle zu zeigen. Denn wenn man das tat, wurde es gegen einen verwendet.

»Das Schiff braucht sechs Wochen, um den Hafen in Indien zu erreichen. Dann sechs Monate im Land würde ich mal schätzen. Und dann noch einmal sechs Wochen für die Rückreise. Neun Monate insgesamt.«

»Fast ein Jahr.« Er ließ einen Moment lang den Kopf sinken, um sich zu sammeln. Dann nickte er. »Können wir jetzt nach Hause gehen?«

»Du gehst nicht nach Hause«, antwortete Mycroft.

Sherlock stand nur da und nahm die Worte in sich auf, sagte aber nichts.

»Er kann nicht hierbleiben«, brummte der Direktor. »Die Schule wird auf den Kopf gestellt und von oben bis unten gereinigt.«

Mycroft wandte seinen gelassenen Blick von Sherlock ab und sah den Direktor an.

»Unsere Mutter ist … unpässlich«, erklärte er. »Selbst an guten Tagen ist ihre Verfassung labil, und die Sache mit unserem Vater hat sie zutiefst bekümmert. Sie braucht Ruhe und Frieden, und Sherlock braucht jemand älteren, der sich um ihn kümmert.«

»Aber ich habe dich!«, protestierte Sherlock.

Mycroft schüttelte traurig seinen großen Kopf. »Ich lebe jetzt in London, und mein Job bringt täglich viele Stunden Arbeit mit sich. Ich fürchte, ich wäre kein geeigneter Aufpasser für einen Jungen. Vor allem nicht für so einen neugierigen wie dich.« Er wandte sich zum Direktor um, was fast so wirkte, als wäre es einfacher, ihm die nächste Information mitzuteilen als Sherlock.

»Obwohl unser Familiensitz in Horsham liegt, haben wir Verwandte in Farnham, nicht allzu weit von hier. Einen Onkel und eine Tante. Sherlock wird während der Schulferien bei ihnen wohnen.«

»Nein!«, explodierte Sherlock.

»Doch«, erwiderte Mycroft sanft. »Es ist so abgemacht. Onkel Sherrinford und Tante Anna haben zugestimmt, dich den Sommer über aufzunehmen.«

»Aber ich kenne sie noch nicht einmal!«

»Nichtsdestotrotz gehören sie zur Familie.«

Mycroft verabschiedete sich vom Direktor, während Sherlock mit ausdrucksloser Miene dastand und die Ungeheuerlichkeit dessen zu erfassen versuchte, was eben geschehen war. Er würde nicht nach Hause kommen. Weder seinen Vater noch seine Mutter sehen. Keine Erkundungstouren in den umliegenden Feldern und Wäldern des Herrensitzes unternehmen, der seit vierzehn Jahren sein Zuhause war. Er würde nicht in seinem alten Bett im Zimmer unter dem Dach schlafen, in dem er all seine Bücher aufbewahrte.

Nicht in die Küche schleichen, wo die Köchin ihm ein Stück Brot mit Marmelade geben würde, wenn er sie anlächelte. Stattdessen würde er Wochen mit Menschen verbringen, die er nicht kannte. Sich so ordentlich benehmen wie möglich. In einer Stadt, in einer Gegend, über die er nichts wusste. Allein. Die ganze Zeit, bis er wieder in die Schule ging.

Wie sollte er das nur aushalten?

Sherlock folgte Mycroft aus dem Studierzimmer des Direktors über den Korridor zur Eingangshalle. Eine geschlossene zweispännige Kutsche wartete vor der Tür. Von der Reise, die Mycroft zur Schule unternommen hatte, waren die Räder noch mit Schlamm überzogen und die Seiten der Kabine mit Staub bedeckt. Das Wappen der Holmes-Familie prangte auf der Tür. Sherlocks Koffer war schon auf der Rückseite verstaut. Vorn auf dem Kutschbock saß ein hagerer Mann, den Sherlock nicht kannte. Schlaff hielt er die Zügel in den Händen, während die beiden Pferde geduldig warteten.

»Woher wusste er, dass das mein Koffer ist?«

Mycroft machte eine Handbewegung, die besagen sollte, dass das keine große Sache war. »Ich habe den Koffer vorhin vom Fenster des Direktorenzimmers aus gesehen. Er war als einziger unbeaufsichtigt. Und außerdem ist es der, den Vater immer benutzt hat. Der Direktor war so freundlich, einen Jungen loszuschicken, der dem Kutscher auftrug, den Koffer aufzuladen.« Er öffnete die Tür der Kutsche und forderte Sherlock mit einer Geste auf einzusteigen. Doch stattdessen blickte sich Sherlock noch einmal zu seiner Schule und seinen Mitschülern um.

»Du siehst aus, als würdest du denken, dass du sie nie wiedersiehst«, sagte Mycroft.

»Das ist es nicht«, erwiderte Sherlock. »Es ist nur, ich dachte, ich würde wegen etwas Schönerem von hier fortgehen. Aber jetzt weiß ich, dass mir etwas Schlechteres bevorsteht. So schlimm es hier auch ist, etwas Besseres ist jetzt jedenfalls nicht mehr zu erwarten.«

»So schlimm wird es nicht sein. Onkel Sherrinford und Tante Anna sind gute Menschen. Sherrinford ist Vaters Bruder.«

»Wieso habe ich dann noch nie was von ihnen gehört?«, fragte Sherlock. »Warum hat Vater nie erwähnt, dass er einen Bruder hat?«

Mycroft zuckte fast unmerklich zusammen. »Ich fürchte, es gab ein Zerwürfnis in der Familie. Das Verhältnis war eine Weile ziemlich gespannt. Mutter hat vor ein paar Monaten wieder Kontakt aufgenommen. Ich bin nicht mal sicher, ob Vater das weiß.«

»Und da schickst du mich hin?«

Mycroft tätschelte Sherlocks Schulter. »Wenn es eine Alternative gäbe, würde ich mich dafür entscheiden, glaube mir. Nun denn, musst du dich von irgendwelchen Freunden verabschieden?«

Sherlock sah sich um und sein Blick fiel auf etliche Jungen, die er kannte. Aber war auch nur einer von ihnen ein wirklicher Freund?

»Nein«, sagte er. »Lass uns gehen.«

Die Reise nach Farnham dauerte mehrere Stunden. Nachdem sie durch das Städtchen Dorking gefahren waren, der Deepdene am nächsten gelegenen Ortschaft, rumpelte die Kutsche auf Feldwegen weiter. Unter ausladenden Baumkronen entlang und vorbei an einzeln stehenden strohgedeckten Cottages, größeren Häusern und Feldern voller reifer Gerste.

Die vom wolkenlosen Himmel brennende Sonne verwandelte die Kutsche trotz des Fahrtwindes schon bald in einen Backofen. Insekten schwirrten träge immer wieder gegen das Fenster, und Sherlock beobachtete eine Weile, wie die Welt an ihnen vorbeizog. Zum Mittagessen hielten sie an einem Gasthaus, in dem Mycroft etwas Schinken, Käse und einen halben Laib Brot kaufte. Irgendwann schlief Sherlock ein. Als er nach ein paar Minuten oder auch Stunden wieder aufwachte, fuhr die Kutsche immer noch durch die gleiche Landschaft. Eine Weile lang unterhielt er sich mit Mycroft darüber, wie es gerade bei ihnen zu Hause aussah. Sie sprachen über ihre Schwester und die schwache Gesundheit ihrer Mutter. Mycroft erkundigte sich nach Sherlocks Studien, und Sherlock erzählte ihm ein bisschen über die verschiedenen Lektionen, die er über sich hatte ergehen lassen müssen, um sich dann ein wenig ausführlicher über die unterrichtenden Lehrer auszulassen. Er imitierte ihre Stimmen und Schrullen so witzig und gehässig, dass Mycroft sich vor Lachen nicht mehr zu helfen wusste.

Nach einer Weile säumten immer mehr Häuser die Straße, und schon bald fuhren sie durch eine große Stadt. Die Pferdehufe klapperten auf den Pflastersteinen, und als Sherlock sich aus der Kutsche lehnte, fiel sein Blick auf ein Gebäude, das wie ein Rathaus aussah. Das Auffälligste an dem weiß verputzten und mit schwarzen Holzschnitzereien verzierten zweistöckigen Bau war eine riesige Uhr, die an einem horizontalen Träger befestigt war und weit auf die Hauptstraße hinausragte.

»Farnham?«, riet Sherlock.

»Guildford«, antwortete Mycroft. »Aber Farnham ist jetzt nicht mehr weit.«

Als sie Guildford hinter sich gelassen hatten, führte die Straße auf einer Anhöhe entlang, von der das Land zu beiden Seiten abfiel. Von hier oben sahen die Felder und Wälder wie eine Spielzeuglandschaft aus, auf der sich vereinzelte Tupfer gelber Phantasieblumen verteilten.

»Diese Anhöhe heißt Hog’s Back«, erklärte Mycroft. »Hier in der Nähe auf dem Pewley-Hügel gibt es eine Semaphor-Station. Sie ist Teil einer Signalkette, die sich den ganzen Weg von der Admiralität in London bis zum Hafen von Portsmouth erstreckt. Haben sie euch in der Schule etwas über Semaphor-Stationen beigebracht?«

Sherlock schüttelte den Kopf.

»Typisch«, murmelte Mycroft. »Den Jungens Latein eintrichtern, bis ihnen der Schädel platzt, aber keinen Sinn für praktische Dinge.«

Er seufzte tief. »Mit einem Semaphor können Nachrichten, für deren Übermittlung man mit Pferden Tage brauchen würde, rasch und über weite Entfernungen übermittelt werden. Semaphor-Stationen haben Signaltafeln oben auf dem Dach, die von Weitem sichtbar sind und sechs große Löcher aufweisen. Die Löcher können durch Verschlussklappen geöffnet oder geschlossen werden. Je nachdem, welches Loch geöffnet oder geschlossen ist, werden auf der Tafel verschiedene Buchstaben dargestellt. In jeder Semaphor-Stelle gibt es einen Mann, der die vorherige und die folgende Station der Kette mit einem Teleskop beobachtet. Wenn er eine Nachricht buchstabiert sieht, schreibt er sie auf und wiederholt sie dann auf seiner eigenen Semaphor-Tafel. Auf diese Weise wird die Nachricht weitergeleitet. Diese Semaphor-Kette beginnt beim Marineamt, verläuft über Chelsea und Kingston upon Thames bis hierher und setzt sich dann den ganzen Weg bis nach Portsmouth Dockyard fort. Eine andere Kette führt runter nach Chatham Dockyards und weitere nach Deal, Sheerness, Great Yarmouth und Plymouth. Sie wurden errichtet, damit die Admiralität im Falle einer französischen Invasion rasch Nachrichten zur Navy schicken konnte.

Aber nun sag doch mal … Wenn es dort sechs Löcher gibt und jedes davon entweder geöffnet oder geschlossen werden kann, wie viele verschiedene Kombinationen gibt es dann, um Buchstaben, Nummern oder Symbole darzustellen?«

Sherlock unterdrückte das spontane Verlangen, seinem Bruder zu sagen, dass die Schule vorbei sei, und schloss stattdessen die Augen, um einen Moment lang nachzurechnen. Ein Loch konnte zwei Zustände aufweisen: offen oder geschlossen. Zwei Löcher konnten vier Zustände haben: offen-offen, offen-geschlossen, geschlossen-offen, geschlossen-geschlossen. Drei Löcher hingegen … Er ging schnell die Kombinationen im Kopf durch, bis sich ein Muster abzuzeichnen begann. »Sechsundvierzig«, sagte er schließlich.

»Gut gemacht«, nickte Mycroft. »Ich bin froh, dass du zumindest in Mathematik auf Zack bist.« Er schaute nach rechts aus dem Fenster. »Ah, Aldershot. Interessanter Ort. Ist vor vierzehn Jahren von Königin Victoria zur Hauptausbildungsgarnison der britischen Armee ernannt worden. Davor war es eine kleine Ortschaft mit nicht mal tausend Einwohnern. Jetzt liegt die Bevölkerungszahl bei sechzehntausend und sie wächst weiter.«

Sherlock reckte den Hals, um über seinen Bruder hinweg durch das andere Fenster zu sehen. Aber von seinem Blickwinkel aus konnte er nur eine lockere Ansammlung von verstreuten Häusern erkennen und etwas, bei dem es sich um eine Bahnlinie handeln mochte, die parallel zur Straße unten am Fuß des Abhangs verlief. Er setzte sich wieder auf seinen Platz, schloss die Augen und versuchte, nicht daran zu denken, was ihn erwartete.

Nach einer Weile spürte er, wie die Kutsche bergab fuhr, und kurz darauf bogen sie diverse Male ab. Das klappernde Geräusch, das die Pferdehufe auf den Pflastersteinen machten, wich dumpfen Tritten, als sie plötzlich auf hartgestampfter Erde weiterfuhren.

Er kniff die Augen noch fester zu, in der irrationalen Hoffnung, so den Moment hinauszuzögern, an dem er akzeptieren musste, was passiert war.

Die Kutsche hielt auf Kiesgrund. Vogelgezwitscher und der Klang des Windes, der durch die Baumkronen wehte, erfüllten die Kutsche. Sherlock konnte Schritte hören, die sich knirschend näherten.

»Sherlock«, sagte Mycroft sanft. »Zeit, sich der Realität zu stellen.«

Er öffnete die Augen.

Die Kutsche hatte vor dem Eingang eines riesigen Hauses gehalten. Vor ihnen ragte ein zweistöckiges Gebäude aus rotem Backstein in die Höhe, und den schmalen Fenstern nach zu schließen, die die Fläche der grauen Dachziegel durchbrachen, musste es darüber hinaus auch im Dachgeschoss noch eine ganze Reihe von Räumen geben.

Ein Diener war im Begriff, Mycroft die Tür zu öffnen. Sherlock glitt hinüber und folgte seinem Bruder nach draußen.

Oben auf den drei breiten Steinstufen, die zum Säulenvorbau am Haupteingang hinaufführten, stand eine ganz in Schwarz gekleidete Frau im tiefen Schatten. Ihr hageres Gesicht wirkte verhärmt. Mit ihren gespitzten Lippen und den zusammengekniffenen Augen sah sie aus, als hätte jemand ihren Morgentee mit Essig vertauscht. »Willkommen auf Holmes Manor. Ich bin MrsEglantine«, sagte sie mit trocken-spröder Stimme. »Ich bin hier die Hauswirtschafterin.« Sie fixierte Mycroft. »MrHolmes erwartet Sie in der Bibliothek, wann immer Sie bereit sind.« Darauf glitt ihr Blick zu Sherlock. »Und der Diener wird Ihr … Gepäck … auf Ihr Zimmer bringen, Master Holmes. Der Nachmittagstee wird um drei Uhr serviert. Bitte seien Sie so gut und bleiben Sie bis dahin auf Ihrem Zimmer.«

»Ich werde nicht zum Tee bleiben«, erklärte Mycroft ruhig. »Ich muss leider nach London zurück.« Er wandte sich Sherlock zu, und in seinen Augen spiegelten sich teils Mitleid, teils brüderliche Liebe, doch war auch eine stumme Warnung in ihnen zu lesen. »Pass auf dich auf, Sherlock«, sagte er. »Ich komme natürlich am Ende der Ferien zurück, um dich wieder zur Schule zu bringen. Und wenn ich kann, besuche ich dich in der Zwischenzeit. Sei brav, und nutz die Gelegenheit, die Gegend hier kennenzulernen. Soweit ich gehört habe, besitzt Onkel Sherrinford eine außergewöhnliche Bibliothek. Frag ihn, ob du dir das geballte Wissen, das sie birgt, zu Nutze machen darfst. Ich werde meine Kontaktdaten bei MrsEglantine hinterlassen. Wenn du mich brauchst, schick mir ein Telegramm oder schreib mir einen Brief.« Er streckte seine Hand aus und legte sie tröstend auf Sherlocks Schulter.

»Das sind gute Menschen«, sagte er so leise, dass MrsEglantine es nicht hören konnte. »Aber wie alle in der Holmesfamilie haben sie ihre Macken. Sei dir im Klaren darüber und verärgere sie nicht. Schreib mir, wenn du Zeit hast. Und denk daran: Das ist nicht das Ende deines Lebens. Es ist nur für ein paar Monate. Sei tapfer.« Er drückte Sherlocks Schulter.

Sherlock fühlte einen dicken Kloß der Verärgerung und Frustration in seinem Hals aufsteigen und würgte ihn herunter. Er wollte nicht, dass Mycroft ihm etwas anmerkte, und er wollte nicht, dass seine Zeit auf Holmes Manor mit einem bösen Start begann. Wie auch immer er sich in den nächsten paar Minuten verhalten würde, es würde die Atmosphäre seines weiteren Aufenthaltes bestimmen.

Er streckte die Hand aus. Mycroft nahm die Hand von Sherlocks Schulter und ergriff sie mit einem freundlichen Lächeln.

»Auf Wiedersehen«, sagte Sherlock so beherrscht, wie er nur konnte. »Liebe Grüße an Mutter. Und an Charlotte. Und wenn du etwas von Vater hörst, lass es mich wissen.«

Mycroft drehte sich um und ging die Stufen zum Eingang empor. MrsEglantine bedachte Sherlock einen Augenblick lang mit ausdruckslosem Blick. Dann wandte sie sich ab und führte Mycroft ins Haus.

Sherlock blickte zurück und sah, wie der Diener sich abmühte, den Koffer auf die Schultern zu wuchten. Dann stolperte er an Sherlock vorbei die Stufen hoch, und Sherlock folgte ihm niedergeschlagen.

Der Boden der Eingangshalle war schwarz und weiß gefliest. Von den oberen Stockwerken schwang sich eine mit Verzierungen überladene Marmortreppe herab, die an einen gefrorenen Wasserfall erinnerte, und an den mit Mahagoni verkleideten Wänden hingen zahlreiche Bilder mit religiösen Szenen, Landschaften und Tieren. Mycroft ging gerade durch eine Tür links von der Treppe, und Sherlock konnte einen flüchtigen Blick in den Raum hineinwerfen. Reihen von in grünem Leder gebundenen Büchern säumten die Wände. Ein dünner, älterer Mann in einem altmodischen schwarzen Anzug erhob sich von einem Stuhl, dessen Polster im Farbton perfekt zur Farbe der Bücher passte. Sein bärtiges Gesicht war faltig und blass, die Kopfhaut mit Leberflecken gesprenkelt.

Die Tür schloss sich, als sie sich die Hände schüttelten. Den Koffer auf den Schultern balancierend, ging der Diener über den gefliesten Boden und steuerte auf die Treppe zu. Sherlock folgte ihm.

MrsEglantine stand auf der untersten Treppenstufe und blickte über Sherlocks Kopf hinweg auf die geschlossene Tür der Bibliothek.

»Sei dir darüber im Klaren, Kind, dass du hier nicht willkommen bist«, zischte sie, als er an ihr vorbeiging.

2

Sherlock hatte sich ein stilles Plätzchen im Wald außerhalb von Farnham gesucht. Von dort aus konnte er sehen, wie das Gelände vor ihm zu einem Pfad abfiel, der sich wie ein trockenes Flussbett durch das Unterholz schlängelte, bis er außer Sicht verschwand. Drüben auf der anderen Seite der Stadt lugte, an den Hang eines Hügels geschmiegt, eine kleine Burg zwischen den Bäumen hervor. Außer Sherlock war niemand da. Er hatte schon so lange einfach nur still dagesessen, dass sich sogar die Tiere an ihn gewöhnt hatten. Hin und wieder raschelte es im hohen Gras, wenn eine Maus vorbeihuschte, und über ihm am blauen Himmel zogen Habichte träge ihre Kreise. Geduldig warteten sie darauf, dass irgendein kleines Tier dumm genug war, sich auf freies Feld zu begeben.

Hinter ihm fuhr der Wind durch die Blätter der Bäume. Er ließ seine Gedanken schweifen und versuchte, weder an die Zukunft noch an die Vergangenheit zu denken. Er wollte einfach nur im Hier und Jetzt leben, solange es irgend ging. Die Vergangenheit schmerzte wie eine Wunde, und die unmittelbare Zukunft gehörte nicht zu den Dingen, die er sich rasch herbeiwünschte. Die einzige Möglichkeit, sich nicht unterkriegen zu lassen, bestand darin, nicht darüber nachzudenken. Sich einfach nur im Wind treiben zu lassen, während sich die Tiere um ihn herum tummelten.

Er lebte jetzt bereits drei Tage auf Holmes Manor, und die Dinge waren seit seinem ersten Erlebnis keinen Deut besser geworden. Das Schlimmste jedoch war MrsEglantine.

Als allgegenwärtiges Schreckgespenst lauerte die Hauswirtschafterin selbst in den abgelegensten Winkeln des Hauses. Wohin auch immer er sich wandte, stets schien sie schon in irgendwelchen dunklen Schatten auf ihn zu warten, um ihn mit ihren runzeligen Äuglein zu taxieren. Seit seiner Ankunft hatte sie kaum drei Sätze zu ihm gesprochen. Soweit er es beurteilen konnte, erwartete man von ihm nichts anderes, als pünktlich zum Frühstück, Mittagessen, Nachmittagstee und Abendessen zu erscheinen. Natürlich schweigend und ohne mehr zu essen als unbedingt nötig, um sich gleich danach wieder bis zur nächsten Mahlzeit in Luft aufzulösen. Nach diesem Schema würde sein Leben bis zum Ende der Ferien verlaufen. Bis Mycroft käme, um ihn aus seiner Haft zu erlösen.

Anna und Sherrinford Holmes – seine Tante und sein Onkel – waren normalerweise beim Frühstück und Abendessen anwesend. Sherrinford war ebenso groß wie sein Bruder und trotz seiner schlankeren Statur zweifellos eine dominante Erscheinung. Er hatte markante Wangenknochen und eine nach vorn gewölbte Stirn, die seitlich an den Schläfen einfiel. Im Gegensatz zu seinem buschigen weißen Bart, der bis auf die Brust herabfiel, war seine Kopfbehaarung so spärlich, dass es für Sherlock so aussah, als wäre jede einzelne Haarsträhne sorgfältig auf die Kopfhaut gemalt und dann mit einer Schicht Glanzlack überzogen worden. Zwischen den Mahlzeiten verschwand er entweder in sein Arbeitszimmer oder in die Bibliothek. Den spärlichen Konversationsfetzen nach zu schließen, die Sherlock aufgeschnappt hatte, verfasste er dort religiöse Broschüren und Predigten für Gemeindepfarrer aus dem ganzen Land. Der einzig nennenswerte Wortwechsel mit seinem Onkel während der letzten drei Tage hatte beim Mittagessen stattgefunden. Plötzlich hatte Sherrinford von seinem Teller aufgeschaut, Sherlock mit Unheil verkündendem Blick fixiert und dann gefragt: »Wie ist es um deine Seele bestellt, Junge?« Sherlock, mit erhobener voller Gabel vor dem Mund, hatte kurz geblinzelt und sich dann glücklicherweise an MrTulley, seinen Lateinlehrer in Deepdene, erinnert. »Extra ecclesiam nulla salus«, verkündete Sherlock, ziemlich sicher, dass das so viel bedeutete wie: »Außerhalb der Kirche ist keine Erlösung.«

Das schien zu funktionieren. Denn Sherrinford Holmes nickte und murmelte »Ah, der heilige Cyprian von Karthago, natürlich«, um sich dann wieder seinem Teller zuzuwenden.

MrsHolmes – beziehungsweise Tante Anna – hingegen war eine kleine, vogelähnliche Frau, die sich in einem Zustand permanenter Bewegung zu befinden schien. Selbst wenn sie saß, flatterten ihre Hände unermüdlich umher, ohne irgendwo länger als eine Sekunde zu verweilen. Dabei redete sie die ganze Zeit, ohne jedoch wirklich mit jemandem zu reden, so weit es Sherlock beurteilen konnte. Sie schien es einfach zu genießen, einen ewigen Monolog zu führen, und sie schien nicht zu erwarten, dass sich jemand daran beteiligte oder auf eine ihrer größtenteils rhetorischen Fragen antwortete.

Zumindest das Essen war passabel – jedenfalls besser als die Mahlzeiten in der Deepdene-Schule. Zum großen Teil bestand es aus Gemüse: Karotten, Kartoffeln oder Blumenkohl, die allesamt, wie er vermutete, auf dem Grund von Manor House angebaut wurden. Aber zu jeder Mahlzeit gab es in irgendeiner Form auch Fleisch, und im Gegensatz zu dem grauen und meist undefinierbaren Knorpelzeugs, das er von der Schule her kannte, war dieses gut gewürzt und lecker. So erfreute Sherlock sich zum Beispiel an Schinkenhaxen, Hähnchenschenkeln, Filets, die – wie man ihm erklärte – vom Lachs stammten, oder bei einer anderen Gelegenheit an großen Fleischstücken, die aus einer in der Tischmitte platzierten Lammschulter herausgetrennt wurden. Wenn er nicht aufpasste, nahm er noch so viel zu, dass er irgendwann wie Mycroft aussehen würde.

Sein Zimmer befand sich oben unter dem Dach. Zwar nicht direkt bei den Bedienstetenunterkünften, aber auch nicht unten bei der Familie.

Entsprechend der Dachneigung fiel die Zimmerdecke von der Tür zum Fenster hin steil ab, was zur Folge hatte, dass man sich nur bückend bewegen konnte. Der Boden bestand aus glatten Dielenbrettern, die mit einem Läufer von fragwürdigem Alter bedeckt waren. Das Bett war ihm insofern vertraut, als es genauso hart war wie das in seiner Schule. Dennoch lag er während der ersten zwei Nächte stundenlang wach. Grund dafür war die Stille. Er war so daran gewöhnt, dreißig andere Jungs schnarchen, im Schlaf reden oder leise vor sich hinschluchzen zu hören, dass er die plötzliche Stille nervenaufreibend fand. Aber als er dann schließlich das Fenster geöffnet hatte, um etwas frische Luft zu schnappen, hatte er festgestellt, dass die Nacht überhaupt nicht still, sondern von vielen feinen Geräuschen erfüllt war. Von da an wiegten ihn Eulengekreische, Fuchsgebell oder unvermittelt aufflatternde Hühner in den Schlaf, die in ihrem Stall hinter dem Haus von irgendetwas aufgeschreckt worden waren.

Der Vorschlag seines Bruders, die Bibliothek zu nutzen und sich dort die Zeit mit einem interessanten Buch zu vertreiben, ließ sich leider nicht in die Tat umsetzen. Denn Sherrinford Holmes verbrachte dort einen Großteil seiner Zeit mit Recherchen für seine religiösen Broschüren und Predigten, und Sherlock hatte Angst, ihn zu stören. Stattdessen unternahm er immer ausgedehntere Streifzüge um das Haus herum. Begonnen hatte er seine Erkundungen mit dem ans Haus grenzenden Grundstück, wozu unter anderem der umzäunte Garten, der Hühnerstall und das große Pflanzenbeet gehörten. Dann hatte er die Steinmauer erklommen, die das Anwesen umgab, war draußen weiter zur Straße vorgedrungen und hatte schließlich seine Wanderungen bis in die alten Wälder ausgedehnt, die hinten an das Grundstück von Holmes Manor grenzten. Früher einmal war er an weitere Märsche gewöhnt gewesen. Denn zu Hause hatte er – alleine oder zusammen mit seiner Schwester – ausgiebig die Wälder der Umgebung erkundet. Aber der Wald hier schien älter und geheimnisvoller zu sein als jene, die er kannte.

»Für so einen feinen Typen aus der Stadt kannst du ja ganz schön stillsitzen, was?«

»So wie du«, antwortete Sherlock, ohne mit der Wimper zu zucken, der Stimme hinter ihm. »Du beobachtest mich schon seit einer halben Stunde.«

»Woher weißt du das?« Sherlock hörte ein dumpfes Geräusch, als ob sich jemand gerade von einem der unteren Baumäste auf den mit Farn überwucherten Waldboden hatte fallen lassen.

»Überall auf den Bäumen um uns herum hocken Vögel. Mit Ausnahme von einem. Und zwar dem, auf dem du gesessen hast. Offensichtlich haben sie Angst vor dir.«

»Denen würde ich nichts tun. Ebenso wenig wie dir.«

Langsam wandte Sherlock sich um. Die Stimme gehörte einem Jungen, der ungefähr in seinem Alter sein mochte, wenn er auch kleiner und gedrungener war als der eher schlaksige Sherlock. Die verstaubte Kleidung des Jungen war an einigen Stellen ziemlich abgetragen und seine Fingernägel starrten vor Dreck. Seine Haare waren so lang, dass sie ihm bis zu den Schultern reichten.

»Ich bin mir nicht sicher, ob du das überhaupt könntest«, erwiderte Sherlock so gelassen, wie das unter den Umständen möglich war.

»Ich hab ’n paar echt miese Tricks drauf«, sagte der Junge. »Und ich hab ’n Messer.«

»Ja, aber ich habe die Boxwettkämpfe in der Schule genau studiert und verfüge über eine beachtliche Reichweite.« Sherlock beäugte den Jungen kritisch. Der raue Stoff seiner Kleidung war an manchen Stellen geflickt, und Gesicht und Hände hatten sicher schon länger keinen Kontakt mehr mit Wasser und Seife gehabt.

»Schule?«, fragte der Junge verwundert. »Die unterrichten Boxen an der Schule?«

»Auf meiner Schule machen sie’s jedenfalls. Sie sagen, das macht uns härter.«

Der Junge setzte sich neben Sherlock.

»Stimmt nicht. Das Leben macht dich härter«, murmelte er und fuhr dann fort: »Mein Name ist Matty. Matty Arnatt.«

»Matty, wie Matthew?«

»Vermutlich. Du lebst oben in dem großen Haus an der Straße, nicht?«

Sherlock nickte. »Ich bin für die Sommerferien hergekommen und zu Gast bei meiner Tante und meinem Onkel. Mein Name ist Sherlock, Sherlock Holmes.«

Matty blickte Sherlock skeptisch an. »Das ist aber kein richtiger Name.«

»Was? Sherlock?« Sherlock dachte einen Moment lang nach. »Was stimmt damit nicht?«

»Kennst du irgendeinen anderen Sherlock?«

Sherlock zuckte mit den Schultern. »Nein.«

»Wie heißt denn dein Vater?«

Sherlock runzelte die Stirn. »Siger.«

»Und dein Onkel? Der, bei dem du wohnst?«

»Sherrinford.«

»Hast du einen Bruder?«

»Ja, einen.«

»Wie ist sein Name?«

»Mycroft.«

Matty schüttelte irritiert den Kopf. »Sherlock, Siger, Sherrinford und Mycroft. Was sind das denn für Namen! Warum könnt ihr nichts Normales nehmen wie zum Beispiel Matthew, Luke oder John?«

»Das sind Vornamen«, erklärte Sherlock. »Und die gehören zur Familientradition. Jedes männliche Familienmitglied hat solch einen Namen.«

Er schwieg einen Moment. »Mein Vater hat mir einmal erzählt, dass ein Zweig unserer Familie ursprünglich aus Skandinavien stammt. Daher wohl die Namen. Oder so was in der Art. ›Siger‹ könnte skandinavisch sein, denke ich. Die anderen allerdings klingen für mich in der Tat eher nach altenglischen Ortsnamen. Obwohl mir völlig schleierhaft ist, woher dann ›Sherlock‹ kommt. Vielleicht gibt es ja dort auf irgendeinem Kanal eine Schleuse namens Sher Lock oder Sheer Lock.«

»Du weißt ’ne Menge Sachen«, sagte Matty. »Aber nicht viel über Kanäle. Durch eine Schleuse, die Sher Lock oder Sheer Lock heißt, bin ich noch nie gekommen. Aber sag mal, wie sieht’s denn mit Schwestern aus? Gibt’s da auch irgendwelche komischen Namen?«

Sherlock zuckte zusammen und blickte weg. »Lebst du hier in der Gegend?«

Matty blickte ihn einen Moment lang an. Dann schien er die Tatsache zu akzeptieren, dass Sherlock das Thema wechseln wollte. »Ja«, antwortete er. »Im Moment jedenfalls. Ich reise gewissermaßen so herum.«

Sherlocks Interesse war geweckt. »Reisen? Du meinst, du bist ein Zigeuner? Oder bei einem Zirkus?«

Matty schnaubte verächtlich. »Wenn mich jemand einen Zigeuner nennt, bekommt er von mir normalerweise eine verpasst. Und zu einem Zirkus gehör ich ehrlich gesagt auch nicht.«

Plötzlich stolperten Sherlocks Gedanken über etwas, das Matthew einen Augenblick zuvor gesagt hatte. »Du hast gemeint, dass du keine Schleuse namens Sher Lock oder Sheer Lock kennst. Lebst du etwa auf den Kanälen? Besitzt deine Familie einen Kahn?«

»Ich hab ein kleines Kanalboot. Aber keine Familie. Es gibt nur mich. Mich und Albert.«

»Dein Großvater?«, riet Sherlock.

»Mein Pferd«, korrigierte Matty ihn. »Albert zieht das Boot.«

Sherlock wartete einen Augenblick, um zu sehen, ob Matty fortfahren würde. Als er es nicht tat, fragte er: »Und was ist mit deiner Familie? Was ist mit ihr passiert?«

»Du stellst ganz schön viele Fragen, was?«

»Das ist eine Möglichkeit, um Dinge herauszubekommen.«

Matty zuckte die Achseln. »Mein Vater war bei der Navy. Ist mit einem Schiff weg und nie mehr wiedergekommen. Keine Ahnung, ob er ertrunken, irgendwo auf der Welt in einem Hafen hängengeblieben oder zurück nach England gekommen ist und dann einfach keine Lust mehr auf die letzten paar Meilen nach Hause hatte. Meine Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben. Tuberkulose.«

»Das tut mir leid.«

»Sie hätten mich nicht noch einmal zu ihr gelassen, nachdem sie schon tot war«, fuhr Matty fort, als ob er Sherlock nicht gehört hätte. Gedankenverloren starrte er in die Ferne. »Sie ist einfach so dahingeschwunden. Wurde immer dünner und blasser. Es war, als ob sie der Tod stückchenweise geholt hat. Spuckte jede Nacht Blut. Ich hab gewusst, dass sie kommen und mich in ein Armenhaus stecken würden, wenn sie starb. Also bin ich abgehauen. Keine zehn Pferde bringen mich in eine von diesen Knochenmühlen. Die meisten, denen das passiert ist, sind nie wieder rausgekommen. Und wenn, sind sie Krüppel oder nicht mehr richtig im Kopf. Das Leben auf den Kanälen hat mir besser gefallen als das Rumgerenne. Da kommt man in kürzerer Zeit viel weiter voran.«

»Woher hast du das Boot?«, fragte Sherlock. »Hat es mal deiner Familie gehört?«

»Wohl eher nicht«, schnaubte Matty. »Lass es mich mal so sagen: Ich hab’s gefunden. Lassen wir es dabei.«

»Und wie kommst du über die Runden? Wovon bezahlst du dein Essen?«

Matty zuckte die Achseln. »Im Sommer arbeite ich auf den Feldern. Ich pflücke Obst oder schneide Weizen. Alle wollen nur billige Arbeitskräfte und niemand macht sich was draus, Kinder anzustellen. Im Winter halte ich mich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser: ein bisschen Gartenarbeit hier, ein paar Bleiziegel auf dem Kirchendach auswechseln dort. Ich komm klar und mach alles. Abgesehen von Schornsteinfegen und unten in den Minen zu arbeiten. Denn das ist ein langsamer Tod.«

»Gutes Argument«, meinte Sherlock. »Wie lange bist du schon in Farnham?«

»Ein paar Wochen. Is ’n guter Platz«, sagte Matty. »Die Leute sind einigermaßen freundlich und lassen mich meistens in Ruhe. Is ’ne ganz ordentliche Stadt.« Er zögerte. »Außer …«

»Außer was?«

»Ach, nichts …« Er schüttelte den Kopf. Dann gab er sich einen Ruck. »Sieh mal, ich hab dich ’ne ganze Weile beobachtet. Du hast keine Freunde hier in der Gegend. Aber du bist nicht blöd und scheinst gut darin zu sein, Sachen rauszukriegen. Na ja, ich hab da etwas in der Stadt gesehen. Etwas, auf das ich mir einfach keinen Reim machen kann.« Er errötete leicht und schaute weg. »Ich hatte gehofft, dass du mir vielleicht helfen kannst.«

Sherlock war fasziniert, zuckte aber nur die Achseln. »Ich kann es versuchen. Was ist es?«

»Am besten ich zeig’s dir.« Matty klopfte sich die Hände an seiner Hose ab. »Möchtest du dich zuerst einmal in der Stadt umsehen? Ich kann dir zeigen, wo man am besten was zu essen und trinken kriegt oder einfach nur gut Leute beobachten kann. Und welche Straßen und Wege sich am besten zum Abhauen eignen und wo es gefährliche Sackgassen gibt, die du besser meiden solltest.«

»Zeigst du mir auch dein Boot?«

Matty schaute Sherlock an. »Vielleicht. Wenn ich sicher bin, dass ich dir trauen kann.«

Sie gingen zusammen den Hang zur Straße hinunter, die in die Stadt führte. Über ihnen spannte sich ein strahlend blauer Himmel. In der Luft lag der Geruch von Rauch, und Sherlock konnte hören, wie jemand in der Ferne mit der Regelmäßigkeit einer tickenden Uhr Holz hackte. Als sie gerade ein kleines Wäldchen durchquerten, zeigte Matty auf einen Vogel, der hoch über ihnen seine Kreise zog. »Ein Habicht«, erklärte er knapp. »Lauert auf Beute.«

Es waren einige Meilen bis in die Stadt, und sie brauchten fast eine Stunde für die Strecke. Sherlock spürte, wie seine Muskeln in den Beinen und im Kreuz immer steifer wurden. Morgen würde ihm jede Bewegung schwerfallen, und alles würde weh tun. Aber im Moment sorgte die Anstrengung dafür, dass sich die tiefe Depression, die ihn seit seiner Ankunft auf Holmes Manor im Griff gehabt hatte, langsam verflüchtigte.

Als sie sich der Stadt näherten und auf beiden Straßenseiten in immer regelmäßigeren Abständen Häuser auftauchten, nahm Sherlock einen muffigen, unangenehmen Geruch wahr, der von der Stadt heranzuwehen schien.

»Was ist das für ein Gestank?«, fragte er.

Matty schnüffelte. »Was für ein Gestank?«

»Dieser Gestank. Das musst du doch riechen! Es stinkt wie ein alter, nass gewordener Teppich, den man wieder im Haus ausgelegt hat, bevor er richtig trocken geworden ist.«

»Das wird von den Brauereien kommen. Es gibt ziemlich viele davon am Flussufer. Barratt’s Brauerei ist die größte. Barratt expandiert wegen der ganzen Truppen, die neuerdings in Aldershot stationiert sind. Das ist der Geruch von nasser Gerste. Es war das Bier, das meinen Vater so fertig gemacht hat. Er ist zur Navy gegangen, um von dem Zeug wegzukommen. Aber dort hat dann schon der Rum auf ihn gewartet.«

Sie hatten mittlerweile die Außenbezirke der Stadt erreicht, und zwischen den Häusern und Hütten waren nun immer weniger Lücken zu sehen. Ein Großteil der Häuser bestand aus roten Backsteinen, und die Dächer waren entweder mit dunkelroten Ziegeln oder mit Schilfrohrbündeln gedeckt, die sich wie dicke Brotlaibe vorwölbten. An dem Hang, der sich sanft hinter den Häusern erhob, thronte eine graue Steinburg über der Stadt. Hinter der Burg zog sich der Hang weiter bis zu einem fernen Höhenrücken empor. Sherlock fragte sich unwillkürlich, was für einen Sinn eine Burg an solch einer Stelle machte, konnte doch ein Angreifer von einer erhöhten Position aus nach Belieben Pfeile, Steine und Feuer auf sie herabregnen lassen.

»Hier findet jeden Tag ein Markt statt«, berichtete Matty. »Auf dem Marktplatz. Da werden Schafe, Kühe, Torten und alles Mögliche verkauft. Guter Platz, um was abzugreifen. Vor allem wenn die Händler abends zusammenpacken und aufräumen. Dann sind sie immer in Eile, um noch vor Sonnenuntergang rauszukommen. Dabei fallen alle möglichen Sachen von den Ständen oder sie werden weggeschmissen, weil sie ’n bisschen angegammelt oder wurmstichig sind. Allein von dem Zeugs, das sie dalassen, kannste sehr gut essen.«

»Entzückend«, erwiderte Sherlock trocken. Zumindest das Essen auf Holmes Manor war etwas, auf das man sich freuen konnte. Auch wenn dies keineswegs für die Atmosphäre während der Mahlzeiten galt.

Sie befanden sich nun in der eigentlichen Stadt, und auf der Straße drängten sich mittlerweile so viele Menschen, dass die beiden Jungen immer wieder vom Bürgersteig auf die zerfurchte Straße treten mussten, um nicht mit jemandem zusammenzustoßen. Sherlock verbrachte die meiste Zeit damit, auf Pferdeäpfelhaufen zu achten, und gab sein Bestes, um nicht in einen hineinzutreten. Der allgemeine Bekleidungsstandard hatte sich verbessert. Die respektablen Jacketts und Krawatten der Männer sowie die ansehnlichen Kleider der Damen waren nun häufiger im Straßenbild zu sehen als die einfachen Kniehosen, Jacken und Kittel der Landbevölkerung. Überall waren Hunde zu sehen: sowohl ordentlich an der Leine gehaltene als auch räudige und aggressive Streuner, die auf der Suche nach Futter waren. Die dünnen, unterernährten Katzen hingegen hockten verborgen im Schatten und taxierten mit großen Augen die Umgebung. Auf der Straße zogen in beiden Fahrtrichtungen Pferdekarren und Kutschen vorbei, die den Pferdedung immer tiefer in den zerfurchten Untergrund drückten.

Als sie eine schmale Gasse erreichten, die von der Hauptstraße abzweigte, blieb Matty stehen.

»Was ist los?«, fragte Sherlock.

Matty zögerte. »Das Ding, das ich gesehen hab …« Er zuckte die Achseln. »Das ist da weiter unten gewesen. Vor ein paar Tagen. Aber ich kapier’s einfach nicht.«

»Willst du es mir zeigen?«

Statt zu antworten rannte Matty die Gasse hinunter. Sherlock sprintete hinterher, um ihn einzuholen.

An einer Stelle bog die Gasse in einen kleinen Seitenweg ab, der so eng war, dass Sherlock die Gebäude auf beiden Seiten mit ausgestreckten Armen berühren konnte. Aus einigen der oberen Fenster lehnten sich die Bewohner heraus und unterhielten sich mit den Nachbarn von gegenüber, als würden sie bloß ein einfaches Pläuschchen über dem Gartenzaun halten.

Matty starrte zu einem ganz bestimmten, leeren Fenster hoch. Die Tür darunter war geschlossen und das Haus sah verlassen aus.

»Da oben war’s«, sagte er. »Ich hab Rauch gesehen. Aber der bewegte sich irgendwie. Er kam aus dem Fenster, kroch die Wand hoch und verschwand über das Dach.«

»So was macht Rauch nicht«, stellte Sherlock klar.

»Dieser Rauch schon«, widersprach Matty energisch.

»Vielleicht hat ihn der Wind fortgetrieben.«

»Vielleicht.« Matty schien nicht überzeugt zu sein. Er runzelte die Augenbrauen, während er sich an die Geschehnisse erinnerte. »Ich hab jemand schreien gehört. Drinnen. Dann bin ich weggerannt, weil ich Schiss hatte. Aber später bin ich wiedergekommen. Da stand ein Karren hier draußen, auf den sie eine Leiche geladen haben. Der Körper war mit einem Bettlaken bedeckt. Aber das hat sich in der Tür verfangen und wurde weggerissen.« Er drehte sich zu Sherlock um. Sein Gesicht hatte sich in eine Maske der Angst und Ungewissheit verwandelt. »Er war mit Beulen übersät. Großen roten Beulen. Überall auf dem Gesicht und seinem Hals und den Armen. Und sein Gesicht war total verzerrt. So als wäre er unter entsetzlichen Qualen gestorben. Glaubst du, das war die Pest? Ich hab davon gehört, wie sie früher hier im Land getobt hat. Glaubst du, sie ist zurückgekommen?«

Sherlock lief ein Schauder über den Rücken. »Vermutlich könnte das durchaus der Beginn einer neuen Seuche sein. Aber ein Tod allein macht noch keine Pest. Und es könnte sich ebenso gut auch um Scharlach handeln oder irgendetwas anderes.«

»Und dieser Schatten, den ich über das Dach habe schweben sehen? Was ist damit? Ob das wohl seine Seele war? Oder etwas anderes? Etwas, das gekommen ist, um sie zu holen?«

»Das«, sagte Sherlock entschieden, »war höchstwahrscheinlich nur eine Illusion. Hervorgerufen durch einen bestimmten Sonnenstand am Himmel und eine vorbeiziehende Wolke.« Er nahm Matty bei den Schultern und zog ihn fort. »Komm, lass uns gehen.«

Er führte Matty vom Haus fort und bugsierte ihn aus dem engen Weg heraus. Innerhalb kürzester Zeit waren sie wieder auf der Hauptstraße, die durch Farnham führte. Matty war blass und schwieg.

»Geht es dir gut?«, fragte Sherlock vorsichtig.

Matty nickte. »Tut mir leid«, sagte er beschämt. »Es ist nur … es macht mir Angst. Ich mag keine Krankheiten, seit …«

»Ich verstehe. Schau mal, ich weiß nicht, was du gesehen hast. Aber ich werde darüber nachdenken. Mein Onkel hat eine Bibliothek. Vielleicht lässt sich da eine Antwort finden. Dort oder in den lokalen Zeitungsarchiven.«

Sie gingen über eine schmale Brücke in die Stadt zurück. Die Straße führte an einem großen Holztor vorbei, das in eine Steinmauer eingelassen war. Davor sahen sie ein merkwürdiges Tier am Boden liegen. Es hatte die Beine steif zu allen Seiten ausgestreckt und bewegte sich nicht. Sein Fell war dreckig und glanzlos. Einen Moment lang dachte Sherlock, es wäre ein Hund. Aber als sie näher kamen, erkannte er, was da vor ihnen lag. Das Tier hatte eine spitze Schnauze und kurze Beine. Die abwechselnd hellen und dunkelgrauen Fellstreifen mussten zu Lebzeiten einmal weiß und schwarz gewesen sein. Kein Zweifel, es war ein Dachs. Sherlock sah, dass der Bauch des Tieres platt gepresst auf dem Boden lag. Es war überfahren worden. Wahrscheinlich von einem Kutschrad.

Matty verlangsamte seine Schritte, während er sich dem Tier näherte.