Seefahrtsnation Schweiz - Mark Pieth - E-Book

Seefahrtsnation Schweiz E-Book

Mark Pieth

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Beschreibung

Die Globalisierung im heutigen Umfang wäre ohne die Seefahrt nicht möglich, doch der Preis ist hoch: Die Seefahrt ist auf Kollisionskurs mit der Umwelt, sie ist nach wie vor gefährlich, die Besatzungen in See- und Binnenschifffahrt arbeiten oft unter prekären Bedingungen. Doch die Schweiz als viertgrösster Reedereistandort Europas will von den beachtlichen Herausforderungen der Schifffahrt kaum etwas wissen. Die Schweiz als wichtige Seefahrtsnation – verstärkt durch die Schiffe unter Kontrolle der hiesigen Rohstoffhändler und auch als Flaggenstaat in der Flusskreuzfahrt – ist in alle Problemfelder der Schifffahrt verwickelt, bis hin zum Abwracken der Seeschiffe auf Gezeitenstränden, das grauenhafte Folgen für Mensch und Umwelt hat. Deshalb ist es dringend, dass die Schweiz sich der Thematik annimmt und in internationalen Gremien ihre Stimme erhebt, um – im Verein mit den grossen Schifffahrtsnationen – die Probleme der Seefahrt anzugehen, statt die Augen zu verschliessen und Problemfirmen ihr Territorium zur Verfügung zu stellen. Kathrin Betz und Mark Pieth rollen in ihrem umfassenden Standardwerk die Geschichte der Schweiz als Seefahrtsnation auf: Sie widmen sich dem Grund für die Attraktivität als Reedereistandort, der Finanzierung und dem Bau von Schiffen, der Arbeit auf See, dem Konflikt mit der Umwelt, der Abwrackung sowie der Rolle der offiziellen Schweiz.

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MARK PIETH & KATHRIN BETZ

SEEFAHRTSNATIONSCHWEIZ

VOM FLAGGENZWERG ZUM REEDEREIRIESEN

INHALT

Vorwort

Dank

01EINFÜHRUNG

Schweizer Riesenschiff verliert vor Friesland Hunderte von Containern

Die Schweizer Hochseeflagge – ein Trauerspiel

Die Anfänge

Transithandel

Versorgungsengpässe

Krisenvorsorge

Ein Hauch von Großmachtpolitik

Der Absturz

Strafverfahren

Waffentransporte in Kriegsgebiete?

Unterwegs auf die schwarze Liste

Braucht es noch eine Schweizer Hochseeflagge?

Die Schweiz als Reedereistandort

Reederei

Der Flaggenzwerg ist ein Reedereiriese

Das Beispiel Mediterranean Shipping Company (MSC)

Weshalb ist die Schweiz so attraktiv als Reedereistandort?

Geschichte

Clustertheorie

Rohstofffinanzierung

Logistikbranche

Versicherungen

Der Rohstoffhub

Die Beziehung zwischen Rohstoffhandelsplatz und Reedereistandort

02DIE ÖKONOMIE DER SCHIFFFAHRT

Schifffahrt und Weltwirtschaft

Die moderne Schifffahrtsindustrie

Frachtpreise und Kartelle

Charterverträge

Voyage Charter

Time Charter

Bare Boat Charter

Die Containerschifffahrt als Treiber der ökonomischen Globalisierung

Abhängigkeiten in der Lieferkette

03SCHIFFBAU, FINANZIERUNG, BETRIEB UND EIGENTÜMERSCHAFT

Schiffbau: Vom Handwerk zur Schwerindustrie

Handwerklicher Schiffbau

Industrieller Bau

Schiffsfinanzierung

Methoden zur Schiffsfinanzierung

Exportkreditagenturen

Leasing

Wer finanziert Neubauten?

Die Seefahrt, die diskreteste Branche der Welt

Wer betreibt und besitzt die Schiffe?

Global, aber geheim

Das Beispiel MV Rhosus

Wie verstecken sich die wahren Eigentümer von Schiffen?

Offshorism

Schweizer Berater

Offene Schiffsregister

Traditionelle Register

Wieso suchen Schiffseigner Diskretion bis hin zur Anonymität?

Was können die Seefahrtsnationen gegen übertriebene Diskretion unternehmen?

04ARBEIT AUF SEE

Von Hoffnung und Abhängigkeit

Der internationale Rechtsrahmen

Das Seearbeitsübereinkommen

Ausbildung und Fähigkeitsausweise für Seeleute

Spezialfall Meeresfischerei

Menschenrechte von Seefahrern

Wer ist der Arbeitgeber?

Aktuelle Probleme

Die Covid-19-Pandemie

Aufgabe der Besatzung

Gewalt, Schuldknechtschaft und Versklavung in der Meeresfischerei

05ARBEIT IN DER FLUSSKREUZFAHRT

Wem gehören Flusskreuzfahrtschiffe unter Schweizer Flagge?

Wer führt Flusskreuzfahrten durch?

Vorwürfe ausbeuterischer Arbeitsbedingungen

Mehr Schiffe – mehr Havarien?

Rechtlicher Rahmen für die Durchsetzung arbeitsrechtlicher Ansprüche

Kontrollen?

Fazit

06DIE SCHIFFFAHRT UND DIE UMWELT AUF KOLLISIONSKURS

Die MV Wakashio fährt auf das Korallenriff von Mauritius auf

Das Schiff

Der Unfall

Langsame Reaktion

Die Lehren des Wakashio-Unfalls

Umweltschädigung durch den alltäglichen Betrieb von kommerziellen Schiffen

Dumping

Antifouling-Systeme

Ballastwasser-Management

Lärmverschmutzung

Schutz besonders sensibler Meeresgebiete

Schädliche Emissionen

Schwefeloxide

Internationales Gerede über Reduktion von Treibhausgasen

Alternative Antriebssysteme

Unambitiöse Alternativen

LNG

Experimentelle Technologien

Zurück zum Wind?

Elektrizität

»Grüner« Wasserstoff

Ammoniak

Schlussfolgerungen

07VIRTUELLER BESUCH BEI WÄRTSILÄ

Wer ist Wärtsilä?

Die Umrüstung bestehender Schiffe

Experimentelle Antriebe

Gesamteindruck

08DIE SEEFAHRT IST NOCH IMMER GEFÄHRLICH

Die Risiken des Meeres

Allgemeine Unfallursachen

Wetter

Konstruktionsmängel

Menschliches Versagen

Politische Risiken, Piraterie, Seenotrettung

Die Risiken der Containerschifffahrt

Verlust von Containern

Feuer

Transport illegaler Güter

Ölunfälle

09FÜR EINE SICHERE UND UMWELTSCHONENDE SEEFAHRT

Von Unfällen lernen

Internationale Regulierungen

Die Internationale Seeschifffahrts-Organisation (IMO)

UNCLOS

SOLAS

MARPOL

Loadlines, Tonnage

STCW

Der International Safety Management Code (ISM)

Die Rolle der Staaten

Die Verantwortung des Flaggenstaates

Offene Register und Billigflaggen

Klassifikationsgesellschaften

Hafenstaatkontrolle

Die Rechte des Küstenstaates

Die Verantwortung der Schifffahrtsindustrie

Anforderungen des ISM-Codes

Versicherungen

Beschränkte Haftung von Reedereien und Versicherungen

Bergungsunternehmen

10DAS LEBENSENDE

Abwracken

Beaching

Umweltprobleme

Menschliche Kosten

Die ökonomische Logik des Abwrackens

Wie verstecken sich die Reeder?

Beaching und das internationale Recht

Das Basler Übereinkommen

Die Hongkong-Konvention

Die EU-Schiffsrecycling-Verordnung

Staatliche Reaktionen auf illegales Abwracken

In direkt betroffenen Ländern

Die Niederlande

Norwegen

Belgien

Frankreich

Deutschland

Island

Großbritannien

Schweiz

Öffentliches Recht: Umweltrecht

Menschenrechte

Zivilrecht

Strafrecht

»Bessere Strände« oder etwas Besseres als Strände?

11WIESO GEHT DAS DIE SCHWEIZ ETWAS AN?

Für ein Alpenland ist die Schifffahrt kein Thema

Selektive Steuergeschenke an die Branche?

Wann machen Subventionen Sinn?

THE BIGGER PICTURE

ANHANG

Endnoten

Literatur

Materialien

Bilder

Abkürzungen

Die Autoren

VORWORT

Dass dieses Buch in ähnlicher Aufmachung und beim gleichen Verlag erscheint wie das Buch »Rohstoff« der Erklärung von Bern (Public Eye) und das Buch über »Goldwäsche« ist kein Zufall. Es geht bei allen drei Themen immer wieder um eine analoge Situation: Die Schweiz ist – mehr oder weniger offen – ein Weltzentrum des Rohstoffhandels, der Goldraffinerie oder auch der Reederei. Alle diese Wirtschaftszweige sind hoch riskant. Dabei ist es für die offizielle Schweiz typisch, dass sie die damit zusammenhängenden Probleme und Risiken nicht zur Kenntnis nehmen mag: Die Seefahrt ist mit der Umwelt auf Kollisionskurs, nach wie vor sehr gefährlich, und die Arbeitsbedingungen auf Schiffen sind vielfach menschenverachtend. Wenn es darum geht, sich mit Problemen auseinanderzusetzen, die von in der Schweiz niedergelassenen Reedereien mitverursacht werden, verstecken sich die Schweizer Behörden gerne hinter dem heimeligen Bild der Alpenrepublik fernab von den Weltmeeren. Allenfalls beteiligt man sich von der Schweiz aus am Verbergen des wahren Eigentümers von Schiffen hinter Briefkastenfirmen. Unsere Auffassung ist dezidiert, dass die Probleme, die wir in diesem Buch beschreiben, die Schweiz etwas angehen.

Mark Pieth Kathrin Betz

14. Februar 2022

DANK

Vorab möchten wir Rebekka Gigon ganz herzlich für ihre intensive Mitarbeit an der Vorbereitung des Manuskripts danken. Unser Dank geht auch an André Gstettenhofer, Patrick Schär, Philipp Stolz und das Team vom Elster & Salis Verlag für ihr großes Engagement.

Weiter möchten wir den Gesprächspartnern danken, mit denen wir im Lauf der Ausarbeitung des Buches Kontakt hatten. Namentlich in Basel: Nick Bramley und Holger Schatz (Seefahrergewerkschaft Nautilus), Daniel Buchmüller (IG RiverCruise), Thomas Christ (vormals Goth, Panalpina, Danzas und DHL), Juhani Grossmann und Manuel Medina (Basel Institute on Governance), Daniel Haller (Journalist), Kapitän Joseph Müller, Alexandra Mungenast und Simon Oberbeck (Schweizerische Rheinhäfen), Ivana Pavlovic und Sandra Rigassi (Amt für Wirtschaft und Arbeit), Anna Petrig (Völkerrechtsprofessorin, Richterin am ISGH), Bianca Ravy (Grundbuch- und Vermessungsamt), Harald von Seydlitz (Reck & Co.) und Kapitän Roger Witschi (Leiter Schweizerisches Seeschifffahrtsamt); in Bern: der ehemaligen Nationalrätin Margret Kiener Nellen und der aktuellen Ständerätin Lisa Mazzone; in den Niederlanden: Roel van Eijk, Rob Gutteling, Susanne Nieuwdorp und Rob Slegtenhorst (Hafen von Rotterdam), Ewout van Galen (Stichting de Noordzee), Ineke van Gent (Burgermester von Schiermonnikoog), Staatsanwältin von Amsterdam Sylvia Kubicz, Ellen Kuipers (Waddenvereniging), Marco de Lange (Fernsehproduzent Zembla), Robin Meijerink und Rex Toornvliet (Ministerium »Rijkswaterstaat«), Major Sebastiaan Postema (niederländische Luftwaffe), Manfred Santen (Greenpeace) und Jan Willem Zwart (Natuurmonumenten); in Kapstadt: Coen Birkenstock (Transnet National Ports Authority), Pieter-Chris Blom (South African Maritime Safety Authority) und Lovell Fernandez (Professor an der University of the Western Cape); in Mauritius: Joanna Frivet (Juristin), den Barristers Anne-Sophie Jullienne und Sanjeev Teeluckdaree, Arne Fayd’herbe (Bridge Maritime), Brummell Laurent (Case Nautique), Alain Malherbes (Island Maritime Services), Sébastien Sauvage (Eco-Sud), David Sauvage und Stephan Gua (Rezistans ek Alternativ), Goro Yamashita und Damien Deruisseau (MOL). Unser Dank geht weiter an Stam Achillas, Andreas Carelli, Simone Greene, Johnny Kackur, Sari Luhanka, Sangram Kishore Nanda, Atte Palomäki und Mikael Wideskog (Wärtsilä), an Maria Bache Dahl (Økokrim), an Martyn Day (Leigh Day), an Kapitän John Guy, an Pastor Matthias Ristau (Seemannsmission Hamburg), an Antonios Trakakis (RINA) und an Ian Urbina (Investigativjournalist, The Outlaw Ocean Project).

EINFÜHRUNG

01

SCHWEIZER RIESENSCHIFF VERLIERT VOR FRIESLAND HUNDERTE VON CONTAINERN

Container von der MSC Zoe

Am Morgen des 2. Januar 2019 traut die Bürgermeisterin der niederländischen Westfriesischen Insel Schiermonnikoog ihren Augen nicht1. Der Strand des Naturschutzreservates, das zum UNESCO-Welterbe zählt, ist mit Tonnen von Schwemmgut aller Art übersät2: von Möbeln über Autoteile und Kinderspielzeug bis hin zu giftigen Chemikalien3 und Mikroplastik4. Eines der größten Containerschiffe, die von einer Schweizer Reederei betriebene MSC Zoe, hatte über Nacht im Sturm Alfrida 342 Container verloren5.

Weitere 1000 Container sollen an Bord aufgebrochen sein. Das Schiff, mit einer Kapazität von über 19 000 Containern6, mit einer Tragfähigkeit von gegen 200 000 Tonnen, weist eine Länge von 400 Metern und eine Breite von gegen 60 Metern auf. Trotz der beeindruckenden Größe gelang es den über fünf Meter hohen Wellen, das Schiff wie ein Ruderboot ins Schwanken zu bringen7. In Fachkreisen wird der Aufschaukelungsprozess, der auch größte Schiffe in Seenot bringen kann, als »parametrisches Rollen«8 bezeichnet. Zum Unglück beigetragen hat nach Ansicht des Unfalluntersuchungsberichts9 auch der beachtliche Tiefgang des Megaschiffs und die geringe Wassertiefe auf der Südroute im Wattenmeer, nahe bei den Inseln10. Entweder hatte das Schiff Bodenberührung, oder das Wasser unter dem Schiff konnte im Sturm nicht verdrängt werden.

Die Bürgermeisterin der autofreien Westfriesischen Insel Schiermonnikoog, Ineke van Gent, fand sich in erheblicher Not, auch wenn sofort Hunderte von freiwilligen Helfern zum Aufräumen eintrafen. Die ehemalige Grünen-Abgeordnete im niederländischen Parlament unternahm einen für sie ungewöhnlichen Schritt: Sie rief das Militär zu Hilfe. Mit Major Sebastiaan Postema bekam sie einen idealen Partner. Der Logistikoffizier der Luftwaffe erschien mit einer Hundertschaft Soldaten und schwerem Gerät, um den Dreck einzusammeln11.

Ellen Kuipers von der NRO Waddenvereniging und Ewout van Galen von der Stichting De Noordzee12 halten das angeschwemmte Mikroplastik für die riskanteste Unfallfolge. Tiere verwechseln die Millimeter kleinen Plastikpartikel mit Nahrung. So gerät das Mikroplastik in die Nahrungskette13.

Eine Vielzahl von Containern konnte trotz intensiver Bemühungen nicht geborgen werden. Einzelne treiben in der Nordsee, andere sanken auf den Meeresgrund und gefährden die Fischerei, da sich die Netze in ihnen verfangen und schlimmstenfalls das Schiff zum Kentern bringen können. Trotzdem wurden die Bergungsarbeiten etwa ein halbes Jahr nach dem Unfall eingestellt14. Die niederländischen Behörden15 mussten zwei Jahre mit der Reederei, der Mediterranean Shipping Company (MSC), und ihren Versicherungen verhandeln, um auch nur eine Minimalabfindung für die Aufräumarbeiten zu erhalten (3,4 Millionen Euro)16. Die Unfallverursacher weigerten sich etwa, die Beseitigung der Plastikpartikel zu bezahlen, die größtenteils noch immer im Strandgestrüpp feststecken17. Sie stellten infrage, dass sie von der MSC Zoe stammten. Die niederländische Post-Lotterie ist inzwischen in die Bresche gesprungen und hat der Waddenvereniging 1,9 Millionen Euro zur Beseitigung des Mikroplastiks zukommen lassen18.

Militär beim Aufräumen

Mikroplastik

… und die Folgen

Eine Lehre aus dem Unfall ist, dass übergroße Schiffe, selbst in Stürmen, wie sie häufig vorkommen, in akute Seenot geraten können. Zu Recht warnen Umweltorganisationen und Versicherer davor, dass größere Schiffe bisher nie gekannte Risiken mit sich bringen können19.

Ist es ein Zufall, dass der Unfall das Schiff einer Schweizer Reederei betraf? Natürlich gehen alle Reedereien Risiken ein. Was die Allgemeinheit aber nicht weiß, ist, dass MSC, ein in Genf ansässiges diskretes Familienunternehmen20, das größte Containerschifffahrtsunternehmen und das drittgrößte Kreuzfahrtunternehmen der Welt ist21. Und hier sind wir bei unserem Thema: Die kleine Alpenrepublik, fernab von allen Weltmeeren, ist – als Reedereistandort – inzwischen zur viertgrößten Seefahrtsnation Europas und zum neuntgrößten Schifffahrtsland der Welt avanciert22. Wir werden allerdings sehen, dass Reeder nicht dasselbe sind wie Eigentümer. Typischerweise sind die Schiffe gechartert. Eigentümer ist regelmäßig eine Ein-Schiff-Gesellschaft (»One-Ship Company«), häufig eine Sitzgesellschaft an einem Offshore-Ort (im Falle der MSC Zoe die Xiangxing International Ship Lease Company in Hongkong23). Registriert sind die wenigsten Schiffe, die von der Schweiz aus betrieben werden, in der Schweiz. Zu 90 Prozent sind sie in ein Billigflaggenland ausgeflaggt. Die MSC Zoe ist in Panama registriert. Weder das Schiffs- noch das Handelsregister in Panama lässt aber erahnen, wer der eigentliche wirtschaftlich Berechtigte des Schiffes ist. Intransparenz ist ein weiteres Wesensmerkmal der Schifffahrt24.

Doch wie wurde der Flaggenzwerg Schweiz zum Reedereiriesen?

DIE SCHWEIZER HOCHSEEFLAGGE – EIN TRAUERSPIEL

DIE ANFÄNGE

Transithandel

Bereits im 18. und 19. Jahrhundert spielten Schweizer Kaufleute und Handelshäuser weltweit eine erhebliche Rolle25. Auf dem Atlantik beteiligten sie sich im 18. Jahrhundert am sogenannten Dreieckshandel, dem Export von Endfabrikaten (verarbeitete Textilien, Porzellan, Waffen usw.) nach Westafrika im Austausch gegen Sklaven, die nach Brasilien, in die Karibik oder nach Nordamerika verschifft wurden. Von dort wurden Kolonialwaren nach Europa gebracht26. Auch nach der Abschaffung der Sklaverei waren Schweizer Kaufleute besonders aktiv am Indienhandel (mit Baumwolle) beteiligt27. Handelshäuser wie Volkart oder die Basler Missionshandelsgesellschaft unterhielten eigene Segelschiffe, die sie allerdings im Ausland registrieren ließen28. Allmählich gingen sie dazu über, Schiffe oder auch Frachtraum auf Schiffen zu chartern. Mit der Eröffnung des Suezkanals wurde der Einsatz von Dampfschiffen rentabel, obwohl diese damals noch erheblichen Frachtraum für Kohle beanspruchten. Sie waren vor allem im Indienverkehr nützlich, weil sie die typische Flaute im roten Meer überbrücken konnten29. Mit der Einrichtung von regelmäßigen Frachtlinien wurde die Miete von Frachtraum sinnvoll30. Die international tätigen Handelshäuser verfügten über lokale Niederlassungen weltweit, die auch für die Reeder als Agenten interessant waren. So ergab sich eine Kooperation zwischen Schweizer Transithändlern und Reedereien der europäischen Seefahrtsnationen31. Eine Schweizer Seeflagge brauchten diese Handelshäuser aber nicht wirklich.

Versorgungsengpässe

Bereits im Deutsch-Französischen Krieg von 1870 musste die Schweiz erleben, wie leicht ihre Versorgung (hier über den Rhein) unterbrochen werden konnte32. Im Ersten Weltkrieg wurde die Lage noch viel akuter33. Die Zentralstelle für auswärtige Transporte mietete Frachtraum auf neutralen Schiffen (bis zum Kriegseintritt der USA vor allem auf amerikanischen Schiffen). Ein Chartervertrag über 28 belgische Schiffe wurde gegen Kriegsende abgeschlossen, aber nicht mehr umgesetzt34.

Obwohl die Barcelona-Konferenz von 1921 neutralen Staaten (auch solchen, die nicht über eine Marine zur Verteidigung ihrer eigenen Schiffe verfügten) gestattete, eine eigene Seeflagge zu führen35, und obwohl die Bundesverfassung ab 1919 der Schweiz erlaubte, ihre eigene Flagge einzurichten36, unternahm sie, im Vertrauen auf einen beständigen Frieden, vorerst nichts37. Erst mitten im Zweiten Weltkrieg erkannte die Schweiz, dass sie handeln musste. Im April 1941 rief der Bundesrat mit Notrecht eine Schweizer Hochseeflagge ins Leben. Das Kriegstransportamt erwarb (zu kriegsbedingt hohen Preisen) vier Schiffe38.

Schweizer Schiff Calanda 1941 in Lissabon

Weitere unter Schweizer Flagge fahrende Schiffe wurden von privaten Unternehmen betrieben (insgesamt 14)39. Trotz deutlicher Markierung wurden einige der Schiffe von deutschen und von englischen Truppen versenkt40. Immerhin gelang es dem Kapitän der St. Cergue (Fritz Gerber), über 300 Überlebende von torpedierten Schiffen zu retten und einen brennenden portugiesischen Dampfer in den nächsten Hafen (Pernambuco) zu schleppen41.

Krisenvorsorge

Nach dem Zweiten Weltkrieg verkaufte die Eidgenossenschaft zwar ihre Schiffe an Private, allerdings gewährte sie Schweizer Reedern vorerst (von 1948 bis 1953) zinsgünstige Darlehen zum Erwerb von Schiffen mit der Auflage, sie in Krisenzeiten zwangschartern zu können42. Ab 1953 wurde ein ähnliches Ziel durch die Gewährung von (zunächst subsidiären43) Bürgschaften erreicht. Das Seeschifffahrtsgesetz von 195344 war ganz auf die Krisenvorsorge ausgerichtet.

EIN HAUCH VON GROSSMACHTPOLITIK

Ab den 1980er-Jahren erlebte die Hochseeschifffahrt (mit kleineren Schwankungen) insgesamt eine Hochkonjunktur. Sie steigerte sich in den 1990er- und 2000er-Jahren zu einer regelrechten Blase45. Getragen von diesem Hochgefühl wechselte die offizielle Schweiz ihr Paradigma. Die Hochseeflotte sollte nun nicht bloß der Krisenvorsorge, sondern der günstigen Versorgung ihrer Industrie überhaupt dienen. Die Bürgschaften verfolgten nunmehr ein wettbewerbspolitisches Ziel46. Entsprechend wurden sie aufgestockt. 1992 wurden aus den Ausfallbürgschaften zur Steigerung der Attraktivität der Investition Solidarbürgschaften47. Zugleich wurde der Finanzrahmen für Schiffsbürgschaften vom Parlament 1992 auf 500 Millionen Franken und 2008 nochmals auf insgesamt 1,1 Milliarden Franken angehoben48. Typisch für diese Phase war das Votum von Bundesrätin Doris Leuthard im Nationalrat, wo sie erklärte, das Risiko sei minimal49, seit 1948 sei der Bund noch nie zu Schaden gekommen50.

Wie wenig das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) und das damalige Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement (EVD) von Seeschifffahrt verstanden, sollte sich aber auch darin zeigen, wie bedenkenlos und ohne ernsthafte Finanzprüfungen Bürgschaften vergeben wurden51.

DER ABSTURZ

Mit der Finanzkrise von 2008 platzte auch die Finanzblase in der Schifffahrt. Mit einer Verzögerung von zwei Jahren brachen die Frachtpreise dramatisch ein52, der Wert der Frachtschiffe auf dem Secondhand-Markt (»Sale & Purchase Market«) halbierte sich in kürzester Zeit53. Die Branche erholte sich nur sehr langsam. Die Schweizer Reeder, die praktisch ohne Eigenkapital, gestützt auf Bundessubventionen, unterwegs waren, gerieten schon bald in arge Liquiditätsengpässe. Als Erste erwischte es die Reedereien Swiss Cargo Line (SCL) und Swiss Chemical Tankers (SCT). Beide bestanden trotz einer Vielzahl von Ein-Schiff-Gesellschaften und weiteren Beteiligungen aus je einer Holdinggesellschaft, die beide von derselben Person, Hansjörg Grunder, kontrolliert wurden54. Nicht abbrechende Liquiditätskrisen ab 2015 führten zum Notverkauf von 12 seiner Schiffe bis 201755. Das Debakel führte zur Ziehung von Solidarbürgschaften in der Höhe von 215 Millionen Franken und zur Liquidation der betreffenden Gesellschaften56.

Wenig später geriet eine weitere Schweizer Reederei in Schieflage. 8 Schiffe der Massoel Shipping mussten notfallmäßig verkauft werden. Erneut wurden Bürgschaften in der Höhe von 129 Millionen Franken fällig57.

Nach Medienberichten ist die Schweizer Flagge von stolzen 50 Schiffen in den 1980er-Jahren auf ganze 17 zusammengeschmolzen. Dabei sind für 16 Schiffe Bundes-Solidarbürgschaften noch ausstehend. Bei einem Totalverlust könnte das die Steuerzahler weitere 314 Millionen Franken kosten58. Es ist zu hoffen, dass die gegenwärtige Corona-Hausse die Demontage verlangsamt. Der Rahmenkredit wurde nicht mehr erneuert, da eine eigene Flotte nach aktueller Ansicht des Bundesrats »kaum einen entscheidenden Mehrwert zur Versorgung der Schweiz« leiste59.

STRAFVERFAHREN

Bekanntlich ist unternehmerische Inkompetenz nicht strafbar60. Man ist versucht beizufügen, dass auch für inkompetente Politiker oder Beamte andere Sanktionen als das Strafrecht bereitstehen. Für die fehlenden Kenntnisse von der Volatilität der Märkte im Seehandel – ein Risiko, das im Binnenland Schweiz naheliegt – werden nun allerdings die Steuerzahler zur Kasse gebeten. Das Know-how der alten Handelshäuser ist längst verloren gegangen. An die Stelle von professionellen Reedern, die unter Schweizer Flagge operieren, sind – infolge verfehlter Anreize61 – vielfach Abenteurer getreten, die weder über Wissen noch Kapital verfügen.

Allerdings hat sich im SCL/SCT-Debakel ein zusätzliches Problem gezeigt: Gemäß der Anklageschrift62, die vom Berner Wirtschaftsstrafgericht zum Urteil erhoben wurde63, soll Herr Grunder beim Kauf von vier Mehrzweckfrachtern die japanische Kyokuyo-Werft darum gebeten haben, den Kaufpreis künstlich um 20 Prozent anzuheben. 20 Prozent, die dem Bund in Rechnung gestellt worden sind und die über eine Grunder-Gesellschaft in Hongkong abgeführt worden seien. Was Beobachter »kreative Beschaffung von Eigenkapital«64 oder »Beluga-Methode«65 nennen, haben Staatsanwaltschaft und Gericht als Betrug, ungetreue Geschäftsbesorgung und Urkundenfälschung eingestuft. Herr Grunder ist erstinstanzlich vom Wirtschaftsstrafgericht zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden.

Herr Grunders Gegenüber im BWL wurde von der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) 2016 bei der Bundesanwaltschaft angezeigt66. In einem schwer verständlichen Hin und Her wurde das Verfahren von der Bundesanwaltschaft zunächst (mit Verfügung vom 28.10.2016) mangels Tatbestands gar nicht erst an die Hand genommen67, dann am 21.11.2017 wieder aufgenommen, um es im Juni 2020 ganz einzustellen. Trotz Indizien68 für Geschenkeannahme (von Grunder bezahlte Reisen nach China) und Beschäftigung des ehemaligen Stabschefs des BWL in der Reederei Grunders nach seiner Pensionierung (obwohl der Beamte damals noch im Auftragsverhältnis für das BWL weiter tätig gewesen sei) wurden keine Beweise für Bestechungsdelikte gefunden69.

WAFFENTRANSPORTE IN KRIEGSGEBIETE?

Die Thorco Basilisk gehörte 2019 zu den von Massoel bereederten Schiffen70. Der Schiffsbeobachter Yoruk Isik und die NRO Arms Watch werteten die Protokolle aus, die bei der Durchfahrt durch den Bosporus in Istanbul abgegeben werden müssen. Die vom bulgarischen Schwarzmeerhafen Burgas kommende Thorco Basilisk gab an, »Patronen für Waffen und Sprengvorrichtungen« zu transportieren. Sie setzte ihre Fahrt nach Dschidda, Saudi-Arabien, fort, wo eine Ladung von Tausenden Mörsergranaten einer serbischen Waffenfabrik erwartet wurde71. Schweizer Medien sehen überdies eine Verbindung zur CIA (über den US-Waffenhändler Helmut Mertins72). Dass das Schiff Waffen transportierte, die für den Krieg in Jemen bestimmt waren73, wurde nicht in Abrede gestellt. Auf eine Frage von Nationalrätin Mattea Meyer74 antwortete der Bundesrat aber schriftlich, die Sache gehe die Schweiz (als Flaggenstaat!) nichts an. Die Lieferung sei Gegenstand eines privatrechtlichen Vertrags. Auf Anfrage der Medien75 erklärte das Schweizerische Seeschifffahrtsamt (SSA), sein Mandat erschöpfe sich in der Durchsetzung von Sicherheits- und Umweltbestimmungen.

Dass Waffenlieferungen in Kriegsgebiete von Schweizer Territorium aus (Flaggenprinzip)76 tatsächlich die Schweiz nichts angingen, war eine kühne Behauptung des Bundesrats – zumal zu einem Zeitpunkt, zu dem sowieso niemand mehr an die Fähigkeit der Schweiz zur Kontrolle ihrer Schiffe glaubte. Zu einem Zeitpunkt auch, zu dem die Steuerzahler für die Bürgschaft der Thorco Basilisk geradestehen mussten.

Thorco Basilisk

UNTERWEGS AUF DIE SCHWARZE LISTE

Das Kapitel Massoel sollte aber noch um eine Dimension reicher werden: Seit den 1920er-Jahren weichen Reeder, die die strikte Kontrolle ihres Heimatlandes fürchten, auf Billigflaggen (»Flags of Convenience«) aus. Dies erlaubt es ihnen, nicht nur das Arbeitsrecht ihres Standortlandes, sondern auch nationale und internationale Umweltbestimmungen zu umgehen. Schließlich ist das Ausflaggen an eine Billigflagge ein Königsweg, um die eigentliche Kontrolle über ein Schiff mithilfe von Sitzgesellschaften (Briefkastenfirmen) zu verschleiern. Die erste Billigflagge offerierte Panama, bald folgten Liberia, die Marshallinseln und weitere Staaten77KAP. 9.

Staaten, die auf der Einhaltung des internationalen Seerechts insistieren wollten, griffen nach dem Instrument der Hafenstaatkontrolle (»Port State Control«)78: Als erste Staatengruppe taten sich die Europäer im Paris MoU zusammen79. Es folgten zehn weitere regionale Zusammenschlüsse80.

Nach den Memoranda geben sich die Hafenstaaten das Recht, anlegende Schiffe zu inspizieren. Sollten sie den Anforderungen an Sicherheits-, Arbeits- und Umweltbestimmungen nicht genügen – insbesondere, wenn sie nicht seetüchtig sind –, werden sie bis zur Reparatur im Hafen festgehalten (»detained«). Das Recht dazu nehmen sich die Hafenstaaten, da die Schiffe freiwillig in den Hafen einlaufen. Somit wird nicht gegen die Freiheit der Schifffahrt verstoßen. Häufen sich die Probleme mit bestimmten Flaggen, rutschen diese von einer weißen auf eine graue Liste ab. Im Fall extremer Häufigkeit von Verstößen wird die Flagge auf eine schwarze Liste gesetzt und ihren Schiffen das Anlegen in den Häfen der betreffenden Region erheblich erschwert oder überhaupt verwehrt81.

Die Resultate der Inspektionen sind im Internet einsehbar, auch die der Inspektionen auf Schweizer Schiffen. Dabei fallen die Massmariner-/ Massoel-Schiffe durch besonders viele Defizite und Festhaltungen auf82.

Die Befürchtung der Schweizer Kapitäne und Reeder83, aber auch der Eidgenössischen Finanzkontrolle84 und des Schweizerischen Seeschifffahrtsamts85, dass die Schweizer Flagge von der grauen Liste, auf der sie sich gegenwärtig befindet, auf die schwarze Liste gesetzt werden könnte, ist sehr real. Dies käme einem Todesurteil für die restliche Schweizer Flagge gleich. Auf der schwarzen Liste sind sonst nur absolute Problemflaggen, mit denen niemand in Kontakt geraten möchte86.

Inzwischen hat der Bundesrat für die verbleibenden Schweizer Schiffe mit Bundesbürgschaft zu einer Notlösung gegriffen: Sie dürfen – unter Wahrung der Rechte des Bundes (Pfandrecht, Versicherungsansprüche und Zwangscharter im Krisenfall) – auf eine andere Flagge ausweichen87. Das kommt eigentlich der Aufgabe der Schweizer Hochseeflagge gleich.

BRAUCHT ES NOCH EINE SCHWEIZER HOCHSEEFLAGGE?

Es ist klar geworden, dass in der modernen Welt die Schweiz nicht wie im Zweiten Weltkrieg mit 14 Schiffen durch eine Krise durchgefuttert werden kann. Es ist auch wenig wahrscheinlich, dass die Schweiz erneut von feindlich gesinnten Nachbarn eingeschnürt wird. Aber natürlich sind Lieferengpässe auch in Zukunft zu erwarten.

Die Blockade des Suezkanals 2021 durch das 400 Meter lange Containerschiff Ever Given hat belegt, wie anfällig die Lieferketten sind, und die Covid-19-Pandemie hat dies in noch viel umfassenderer Weise spüren lassen KAP. 2. In einer globalisierten Welt ist das Modell der Versorgungssicherheit durch Bürgschaften allerdings überholt88. Hier besteht das Ziel, die verbleibenden Bürgschaften ohne weitere Schäden loszuwerden. Das könnte gelingen, wenn die betreffenden Schiffe im Moment der Hausse verkauft werden. Aktuell ist die Flagge für die Schweiz weit weniger wichtig als der Reedereistandort.

Wozu also bedarf es noch einer Flagge? Die Stellung der Schweiz in wichtigen internationalen Gremien wie der UNO oder der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) ist nicht davon abhängig, dass sie eine Seeflagge hat89. Anders dürfte es im Rahmen der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation (IMO) aussehen90, und es könnte insbesondere für die zukünftigen Umweltdebatten von Belang sein, dass die Schweiz hier gehört wird. Ein weiteres Argument für die Beibehaltung der Schweizer Seeflagge kommt vonseiten der Seefahrergewerkschaft Nautilus. Wer unter Schweizer Flagge arbeitet, darf im Notfall zumindest auf diplomatische Unterstützung hoffen91.

Das Schicksal des Schweizer Tankers San Padre Pio und seiner Crew belegt die Vorteile der Schweizer Flagge. Das Schiff diente der Betankung von Ölplattformen mit Diesel zum Antrieb der Maschinen. Vor der Küste Nigerias wurde das Schiff von einem Marineschiff gestoppt und in den nächsten Hafen beordert. Die Besatzung wurde wegen Ölschmuggels festgenommen. Nigeria warf ihr vor, dass sie ohne Bewilligung in den Hoheitsgewässern Nigerias Dieselöl transportierte92. Die Version der Besatzung war dagegen, dass sie sich außerhalb der Territorialgewässer (in der ausschließlichen Wirtschaftszone von Nigeria) befand93. Es sollte der Beginn einer langen Leidensgeschichte für die Besatzung werden: Zwölf der sechzehn Mann Besatzung kamen nach einem halben Jahr frei, während vier Schiffsoffiziere insgesamt zwei Jahre auf dem Schiff festgehalten wurden.

Die Schweizer Diplomatie bemühte sich intensiv um die Freilassung von Schiff und Besatzung. Die Vorstöße blieben allerdings unbeantwortet, bis die Schweiz Nigeria vor dem Internationalen Seegerichtshof in Hamburg einklagte. Im Eilverfahren wurde als vorsorgliche Maßnahme die Freigabe des Schiffes gegen eine Kaution von 14 Millionen US-Dollar angeordnet. In der Folge einigten sich Nigeria und die Schweiz auf höchstem Niveau auf Freigabe gegen Rückzug der Klage. Inzwischen hatte ein nationales nigerianisches Gericht die Seeleute von jeder Souveränitätsverletzung freigesprochen.

Der Vorgang gilt als Musterbeispiel dafür, wie sich ein seriöser Flaggenstaat – im Gegensatz zu einer Billigflagge – für seine Schiffe und ihre Besatzung einsetzen kann94. Wer in der Sache Recht hatte, wird wohl kaum je ans Licht kommen, zumal sich auch die Reederei beharrlich ausschweigt.

DIE SCHWEIZ ALS REEDEREISTANDORT

REEDEREI

Die Querelen um die Schweizer Hochseeflagge sind ein schweizerisches Sonderthema, das mit der großen Welt der Seefahrt wenig zu tun hat. Als Reedereistandort spielt die Schweiz demgegenüber eine ungleich wichtigere Rolle. Diese Geschichte gilt es hier zu erzählen.

Dem vorangegangenen Abschnitt konnten wir entnehmen, dass die Seefahrt – seit jeher – nach dem Flaggenprinzip organisiert ist95: Der Flaggenstaat mit seinem Schiffsregister ist im Prinzip für die Einhaltung des Arbeitsrechts, der Umweltbestimmungen und für Sicherheitsvorkehrungen auf dem Schiff verantwortlich. Vom Eroberungsfeldzug der Billigflaggen war bereits die Rede. Sie erlauben es, die Regulierungen zu unterlaufen, auch wenn sie nominell Klassifikationsgesellschaften (»Classification Societies«) mit der Überprüfung beauftragen96. Diese sogenannten »Class« sind private Unternehmen und etwa so unabhängig wie Auditfirmen KAP. 9. Dadurch, dass sie manchmal für Staaten, manchmal für private Unternehmen arbeiten, sind sie oftmals in Interessenkonflikten verhaftet97.

Neben dem Flaggenstaat spielt der Reedereistandort eine erhebliche Rolle. Die Sache ist allerdings kompliziert. Zunächst ist Reederei keine klar definierte Tätigkeit. Reeder sind häufig gar nicht Eigentümer ihrer Schiffe. Typischerweise sind sie Manager, Betreiber oder Charterer der Schiffe, die unter ihrem Logo auf den Weltmeeren unterwegs sind. So soll die MSC 384 von ihren 627 Schiffen gechartert haben. Auch dabei gibt es große Unterschiede: Chartern kann man auf Zeit (»Time Charter«98), für eine bestimmte Reise (»Voyage Charter«99) oder, häufiger noch, als sogenannter »Bare Boat Charterer«100, der die volle Kontrolle über das Schiff für eine längere Zeitperiode (typischerweise 10 bis 20 Jahre) übernimmt und dabei für Bemannung und Reisekosten aufkommt.

Reederei heißt aber noch viel mehr:

Begriff des Reeders

Art. 45

1Der Reeder ist der Eigentümer des Schiffes oder jede andere Organisation oder Person, die vom Eigentümer die Verantwortung für den Betrieb des Schiffes übernommen hat und die sich mit der Übernahme dieser Verantwortung bereit erklärt hat, die Aufgaben und Pflichten zu erfüllen, die den Reedern gemäß dem Seearbeitsübereinkommen vom 23. Februar 2006 auferlegt werden, ungeachtet dessen, ob andere Organisationen oder Personen bestimmte dieser Aufgaben oder Pflichten im Auftrag des Reeders erfüllen.

2Der Reeder hat das Seeschiff auszurüsten, zu bemannen und zu verproviantieren. Er ernennt und entlässt den Kapitän. Unter Vorbehalt seiner gesetzlichen Befugnisse und Pflichten werden die Obliegenheiten des Kapitäns vom Reeder frei bestimmt.101

Der Standort der Reederei hat mit dem Flaggenstaat in der Regel sehr wenig zu tun.

DER FLAGGENZWERG IST EIN REEDEREIRIESE

Die Schätzungen, wie viele Schiffe von der Schweiz aus bereedert werden, gehen stark auseinander. Eine verlässliche Statistik gibt es nicht. Das Eidgenössische Finanzdepartement (EFD)102 beruft sich auf den neu gebildeten Branchendachverband Swiss Trading and Shipping Association (STSA), der die Reedereiindustrie in der Schweiz auf 60 Unternehmen mit rund 900 Schiffen schätzt103. Vom EFD erwähnt werden die MSC, Massoel Shipping, die ABC Maritime, die Suisse-Atlantique Société de Navigation Maritime und die Nova Marine Carriers104. Das ist nur eine kleine Auswahl der 60 Unternehmen. Man hätte auch die Reederei Zürich, Gearbulk oder Atlanship hinzuzählen können. Gemessen an der Tonnage kommt das EFD zum Ergebnis, dass die Schweiz 2019 »weltweit Platz 9 sowie Platz 4 innerhalb von Europa« belege105. Das heißt, dass die Schweiz nach offizieller Einschätzung vor den klassischen Seefahrtsnationen Niederlande und Norwegen mit Großbritannien gleichzieht.

Andere Berechnungen zählen die Schiffe der großen, in der Schweiz ansässigen Rohstofffirmen hinzu. Nicht untypisch ist, dass Glencore seine Beteiligung an einer der größten Schüttgutreedereien, Swiss Marine mit 175 Erz- und Kohlefrachtern, geheim hielt. Dass Glencore einen Aktienanteil von 47,09 Prozent hielt, kam im Rahmen des Paradise-Papers-Leaks bei der Anwaltskanzlei Appleby ans Licht106. Die Geheimhaltung könnte darin begründet sein, dass der andere Großaktionär der Verletzung des Iran-Embargos verdächtigt wurde107. Weitere Beteiligungen von Glencore, etwa an Glenda und d’Amico108, sind bekannt.

MSC Zoe

MSC-Kreuzfahrtschiffe

Trafigura Maritime Logistics ist weniger geheimniskrämerisch. Das Haupthaus des Unternehmens, das 700 Schiffe betreibt, ist vor Kurzem aber von Genf nach Singapur verlagert worden. Immerhin unterhält die Reederei weiterhin ein Büro in Genf109.

Weniger diskret ist auch der Ölhändler Gunvor mit Sitz in Genf. Gunvor erklärt auf der Webseite seiner Clearlake Shipping, »one of the largest global charterers of tanker vessels« zu sein110. Weitere Rohstoffhändler mit Niederlassung in der Schweiz verfügen über erhebliche Flotten, die aber zum Teil von anderen Orten auf der Welt aus betrieben werden: so der Weizenhändler Cargill111, Louis Dreyfus112, Mercuria113 oder Vitol mit der Reederei Mansel114. Besonders schweizerisch gibt sich die Eiger Shipping, hinter der aber eigentlich das russische Unternehmen Lukoil steht115. Daneben haben Unternehmen, die sich auf Tiefseebohrungen (Transocean116) oder Tiefseebergbau (Allseas Group117) spezialisiert haben, ihren Sitz in der Schweiz.

Insgesamt kommen Beobachter mit einer etwas anderen Zählweise auf rund 2600 statt 900 Schiffe, die von der Schweiz aus bereedert werden sollen118. Aufgrund dieser erweiterten Statistik soll die Schweiz gar die Nummer 2 weltweit unter den Reedereistandorten sein119.

DAS BEISPIEL MEDITERRANEAN SHIPPING COMPANY (MSC)

Die MSC bereedert gemäß Statista 2021120 627 Schiffe, davon 243 eigene und 384 gecharterte. Stellt man allerdings auf die offiziellen Daten der IMO (GISIS) ab, soll nur eines der Schiffe der MSC gehören. Es ist zu erwarten, dass die MSC eine Vielzahl weiterer Schiffe als wirtschaftlich Berechtigte kontrolliert. Heute ist die MSC das größte Containerschifffahrtsunternehmen der Welt121.

MSC Cruises, der Kreuzfahrtarm des Unternehmens, ist die drittgrößte122 Kreuzfahrtreederei. Ihre 21 Schiffe123 gehören zu den größten der Welt, mit bis zu 5000 Passagieren und 2000 Personen Besatzung an Bord. Insgesamt beschäftigt MSC über 100 000 Personen, davon 700 bis 900 am Hauptsitz in Genf124.

Die MSC ist ein außerordentlich diskretes Unternehmen, Zahlen werden prinzipiell nicht veröffentlicht. Medien schätzen, dass der Umsatz des privaten Familienunternehmens 28 Milliarden US-Dollar erreichen könnte125. Forbes hat das Privatvermögen der Eignerfamilie Aponte auf 7,9 Milliarden US-Dollar geschätzt126.

Den Apontes ist es gelungen, ihre Familiengeschichte weitgehend selbst zu schreiben. Sie ergibt sich im Wesentlichen aus einem Wikipedia-Eintrag127. Ansonsten haben sich die Apontes mit Medienauftritten außerordentlich zurückgehalten. Nach der Familiensaga soll Gianluigi Aponte bis zum Alter von fünf Jahren in den italienischen Kolonien in Somalia gelebt haben, wo seine Eltern das Hotel Il Croce del Sud betrieben haben128. Nach dem frühzeitigen Tod des Vaters kehrte die Familie nach Neapel zurück, wo Gianluigi die lokalen Schulen einschließlich des Instituto Nautico di Piano besucht hat. Nachdem er 1960 das Seemannsdiplom erlangte129, navigierte er Vaporetti und dann Fähren im Golf von Neapel. Nach der Familiengeschichte verliebte sich der junge Kapitän eines Ausflugsboots in die Tochter eines reichen Genfer Bankers130.

Gianluigi Aponte verließ 1970 die Finanzinstitution des Schwiegervaters. Zusammen mit einem Investor erwarb er ein altes Frachtschiff zum Schrottpreis und gründete damit seine eigene Reederei (Aponte Shipping Company). Das in Monrovia, Liberia, registrierte Schiff setzte er auf wenig bedienten Routen nach Somalia und zu Nahost-Destinationen ein131. Ein weiteres gebrauchtes Frachtschiff kam 1971 hinzu132. Früh erkannte Aponte die Vorteile der Containerschifffahrt gegenüber der damals üblichen »Trampschifffahrt«, die mühsames Be- und Entladen durch Hafenarbeiter erforderte133. Ab 1980 erwarb er alte Schüttgutfrachter und baute sie zu Containerschiffen um. Von 1995 an begann er – nun unter dem neuen Firmennamen Mediterranean Shipping Company (MSC) –, auch Neubauten zu erwerben. Es folgte eine Phase des raschen Ausbaus. Gemäß Firmeninsidern soll das diskrete Firmenmotto lauten: »Land bedeckt einen Drittel des Planeten, wir kümmern uns um den Rest«134. Seit jener Zeit übernahm die MSC die Reederei von Hunderten von Frachtern; sie wurde zur größten Containerschifffahrtsgesellschaft weltweit. In neuester Zeit bestellte MSC nicht nur elf der größten Schiffe (die Baureihe Megamax-24) mit über 23 000 TEU (Containern) Kapazität, sondern erwarb auch eine Vielzahl von Secondhand-Schiffen, gerade noch rechtzeitig vor dem durch Covid bedingten Boom von 2021.

Man wird sich fragen, wie ein solcher Flottenausbau finanziert werden kann. Ein großer Frachter kostet mindestens 150 Millionen Franken, eines der supergroßen Luxuskreuzfahrtschiffe über 1 Milliarde Franken135