Sei du selbst, alles andere wirst du eh verkacken - Marie Meimberg - E-Book

Sei du selbst, alles andere wirst du eh verkacken E-Book

Marie Meimberg

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Beschreibung

Kennst du den Moment, wenn man weinend am Boden liegt und plötzlich lachen muss – weil man weiß, dass daraus später eine tolle Geschichte wird? Kennst du die Aufregung beim Schluss machen, weil man weiß, dass etwas Neues beginnt? Ist das Leben nicht immer dann am spannendsten, wenn ein Plan mal nicht funktioniert? Und wenn die Fehler der Freundin das sind, was man am meisten liebt – warum verbiegen wir uns dann selbst so oft? Wie lernt man fliegen, wenn man nie den Schritt über die Klippe riskiert? Marie Meimberg erhebt das Scheitern zur Kunstform und zeigt in zahlreichen berührenden Geschichten und Zeichnungen, wie wir erkennen, was wirklich in uns steckt. Auf dem Weg zum Glück lässt sie keinen Umweg aus. Denn Wunder warten nicht auf Asphaltstraßen, Baby!

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.deDie zitierten Songtexte sind entnommen aus:Where Did You Sleep Last Night (Spiritual), interpretiert von Nirvana, DGC Records, 1994.

La Mer von Charles Trenet und Léo Chauliac.

My Heart Will Go On von Will Jennings und James Horner, interpretiert von Céline Dion, Epic Records, 1997.

Creep von Radiohead, Albert Hammond und Mike Hazlewood, interpretiert von Radiohead, EMI, 1993.

Ready Or Not von Nelust Wyclef Jean et al, interpretiert von The Fugees, Ruffhouse Records, 1996.

It Ain’t Me Babe von Bob Dylan, Columbia Records, 1964.

I Want You von Bob Dylan, Columbia Records, 1966.

Sunny von Bobby Hebb, interpretiert von Stevie Wonder, Philips, 1966.ISBN 978-3-492-97207-9März 2016© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016Covergestaltung: Medienbuero Di Stefano, BerlinCovermotiv: Marie MeimbergInnenillustrationen: Marie MeimbergDatenkonvertierung: Fotosatz Amann, MemmingenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Ich lüge nicht. Ich erzähl Geschichten.

Ich war eine gar nicht mehr so kleine Marie – zumindest fand ich das, mein Vater sah das anders –, da erlebte ich den mit Abstand schlimmsten Tag meines Lebens. Ever. Eigentlich fing er gar nicht übel an. Er fing sogar richtig schön an: Wohlig umkuschelt im Bett meines damaligen Freundes: Hanno Hase. So hieß der zwar nicht wirklich, aber ich nenne ihn hier einfach mal Hanno Hase, weil ich ihn seit sehr langer Zeit nicht mehr gesehen habe, woran ich zu großen Teilen selbst schuld bin. Aber das ist eine andere Geschichte.

Der schlimmste Tag meines Lebens begann auf jeden Fall in seinen Armen. Die Sonne strahlte aufs Bett, und ich war glücklich. Ich hatte noch nicht oft mit jemandem im Bett übernachtet, der nicht meine Schwester oder sonst irgendein Mitglied meiner Familie war. Und erst recht nicht mit meinem Freund.

Das wiederum lag zum einen daran, dass sich in meinem noch recht kurzen Leben einfach nicht allzu viele Möglichkeiten ergeben hatten, einen Freund zu haben. Und zum anderen wollte es mein Papa so gar nicht einsehen – der Tatsache zum Trotz, dass meine Periode mich jeden Monat krampfen ließ und meine Brüste zwar klein, aber durchaus erkennbar herangewachsen waren –, dass aus seiner kleinen Marie so langsam eine größere geworden war. Kurz: Ich hatte absolutes Bei-Hanno-Übernachtungs-VERBOT.

Dazu muss man vielleicht wissen, dass meine Eltern eigentlich sehr entspannte Eltern waren. Alle meine Freunde nannten sie Amy und Klaus, das Du war völlig normal, ich durfte alleine die Welt entdecken, mit meiner Freundin Michi auf dem Tandem durch Deutschland fahren … aber bei Hanno übernachten??! No fucking way! Es gab eigentlich ohnehin nur drei Dinge, die absolut no-fucking-way klargingen: Schlechte Noten. Rauchen. Und eben bei Hanno übernachten.

Nun hab ich mich ja quasi selbst gespoilert. Denn irgendwas musste ja passiert sein, zwischen dem absoluten »Hanno-Übernachtungs-Verbot« und morgens in seinen Armen aufwachen. Und das, was da passierte, ist wahrscheinlich schon in Hunderttausenden anderen Familien passiert und wird auch noch Hunderttausende Male passieren: Ich hatte gelogen.

Denn: Wenn man unbedingt bei seinem Freund schlafen möchte, das aber auf gar keinen Fall ever denkbar ist, dann schläft man halt bei seiner Freundin. In meinem Fall bei der Michi. Und während man sich auf den Weg zur Beste-Freundin-Sleep-over-Schlafanzug-Party macht, biegt man einmal falsch ab und landet – huch – an der Bushaltestelle und steigt aus Versehen in den nächsten Bus ein, der ganz zufällig in Richtung Hanno fährt.

Das klingt jetzt hier ziemlich einfach. Aber wenn man in einem Dorf wohnt, in dem die Mama und der Papa als Dorfärzte quasi eine Art Berühmtheit sind, die – ob man das will oder nicht – automatisch auf einen abfärbt, und all die Omas, die nicht wissen, wohin mit ihrer Oma-Zeit, weil ihr Mann schon gestorben ist und ihnen auf dem Dorf genauso langweilig ist wie all den saufenden oder kiffenden Jugendlichen, was aber wohl leider beides für Omas keine Zeit-Totschlag-Option ist und sie anstatt einfach gemütlich auf der Parkbank einen zu kiffen, sehr viel Zeit in der Sprechstunde meiner Mama verbringen.

Die Sache ist nur die: Wenn man zum Arzt geht, um seine Zeit zu vertreiben. Und nicht, weil man wirklich krank ist, dann muss man da ja irgendwas erzählen können. Einmal habe ich mir zum Beispiel meine Haare knallrot gefärbt – für meine Eltern eine völlig okaye Sache – aber für die nicht-kiffenden Dorf-Omas ein ziemlicher Skandal.

Und so wusste meine Mama schon einfach alles über meine neue Frisur, bevor sie mich überhaupt gesehen hatte, weil es ihr den ganzen Tag in der Sprechstunde berichtet wurde. Und genau deswegen war auch höchste Vorsicht geboten, wenn man ganz aus Versehen in den Bus gen Hanno einstieg. Denn wenn auch nur eine der Spitzel-Omas einen sichtete, konnte es trotz nicht mehr roter Haare dazu führen, dass sie in der Sprechstunde etwas sagten wie:

»Ah und d’Tochter isch au scho aufm Weg nach Wangen gwäh heid morge…?!« (An alle Schwaben, verzeiht: Ich habe es bis heute nicht gelernt. Ich bleibe eine neigschmecktä. An alle anderen: Das heißt so viel wie: Ach, und die Tochter war heute Morgen auch schon auf dem Weg nach Wangen?!) – und dann flog alles auf.

Denn meine Mama zeichnet sich nicht nur durch ihren entzückenden französischen Akzent aus, sondern noch viel mehr durch ihre Spürhundnase. Und wenn sie mich gefragt hätte: Warum warst du heute in Wangen? Hätte ich noch die beste Lügen-Performance ever hinlegen können, Amy hätte es sofort gemerkt. Manchmal merkte Mama auch, dass ich verliebt war, bevor ich mir das selber eingestand. Aber nicht nur gefühlstechnisch funktionierte ihre Mama-Spürhundnase. Auch so im klassischen Riech-Sinn. Manchmal kam sie in mein Zimmer und blieb kurz stehen, atmete dreimal laut durch die Nase ein und fragte, ob ich nicht mal den angebissenen Apfel hinterm Sofa vorholen wolle. Oder dann später auch, ob ich wirklich glaube, sie würde es nicht riechen, dass ich Tabak und Gras in meinem 28 QUADRATMETER GROSSEN (!) Zimmer habe.

Es galt also: Mama-Spürhundnase und Spitzel-Omas vermeiden. Und (YAY!) es gelang – sodass ich am Morgen des schlimmsten Tages meines Lebens in Hannos Armen erwachte und mich außerordentlich gut fühlte. Und Hanno offensichtlich auch. So gut, dass wir taten, was man tut, wenn man mit jemandem im Bett liegt und sich außerordentlich gut fühlt. Wir taten es mit Gummi, denn, wenn man offiziell absolutes Hanno-Übernachtungs-Verbot hat und die eigenen Eltern gleichzeitig die eigenen Hausärzte sind, ist es schwer zu erklären, warum man die Pille haben will. Wir lagen also im sonnendurchfluteten Zimmer. Im Bett. Taten es. Und ich war ein sehr glückliches Mädchen. Bis Hanno fluchte. Und ich erschrak. Denn Hanno fluchte nur, wenn er Auto fuhr oder seine Fußballmannschaft verlor. Ansonsten war Hanno ein sehr friedlicher Mensch, der sich trotz seiner (auf mich unfassbar anziehend wirkenden) coolen Art sehr galant ausdrückte. Und dann das: »Verfickte Votzenscheiße. Fuck. Fuck. Fuck.«

Da lag ich also. Im sonnendurchfluteten Bett. Und fühlte mich auf einmal gar nicht mehr so außerordentlich gut.

»Äh, alles okay?« Fragte ich. Äußerst bescheuert. Als ob jemand »Verfickte Votzenscheiße. Fuck. Fuck. Fuck« sagt, wenn alles okay ist. Als würde man morgens im sonnendurchfluteten Bett liegen, und der eine so, verliebt säuselnd: »Guten Morgen« – und der andere so, voll verliebt und mit weicher Stimme: »Verfickte Votzenscheiße. Fuck. Fuck. Fuck.«

Es dauerte einen Moment, bis Hanno klar wurde, dass mir überhaupt nicht klar war, was hier gerade geschah. Und als es ihm klar wurde, da verwandelte sich sein Gesicht von einem »Verfickte Votzenscheiße. Fuck. Fuck. Fuck«-Ausdruck in einen »Du musst jetzt ganz stark sein«-Ausdruck. Ganz ehrlich, der machte mir noch viel mehr Angst. »Der Gummi. Der. Also. Ähm. Der ist gerissen.«

Und BÄM. ZACK. Er hatte sich verwandelt. Der wunderschöne Morgen. Im Sonnenbett. Wie dunkle Gewitterwolken rasten meine Gedanken. Denn dieser Satz bedeutete so viel mehr als nur: »Der Gummi. Der. Also. Ähm. Der ist gerissen.«

Es gibt so Sätze, die man nie vergisst. Meistens sind das eher so epische Kaliber wie: »Ich bin ein Berliner.« Oder: »I have a dream.« Manchmal ist es aber eben auch wahre Dichterkunst. Wie: »Der Gummi. Der. Also. Ähm. Der ist gerissen.«

Ein paar Worte. Aneinandergereiht. Zu einem ganz besonderen Zeitpunkt. Und alles verändert sich. Mal die Weltgeschichte. Mal mein gerade noch perfekter Morgen: Ein »Der Gummi. Der. Also. Ähm. Der ist gerissen«. Und zack. Da ist er. Der schlimmste Tag meines Lebens.

Wer nun denkt: Übertreib mal nicht, du angeblich gar nicht mehr so kleine Marie, dem möchte ich an dieser Stelle »Verfickte-Votzenscheiße-Fuck-Fuck-Fuck-WOHL!!!« entgegnen. Und einige Argumente zu meiner These hinzufügen:

1. Ich bin ein junges Mädchen mit wenig sexueller Erfahrung, und mein Freund teilte mir soeben mit, dass der Gummi »Also. Ähm. Gerissen« sei.

2. Auch wenn ich ein junges Mädchen mit wenig sexueller Erfahrung bin, bin ich nicht bescheuert. Ich weiß, dass ich auf keinen Fall schwanger werden will. Und dass ich die Pille danach brauche. Das fühlt sich schäbig an. Weil ich wirklich keine Sekunde daran zweifle, dass ich absolut auf keinen Fall ever jetzt schwanger werden möchte.

4. Ich brauche die Pille. Und es ist Wochenende. Das bedeutet: Es gibt auf dem Land weit und breit nur eine Möglichkeit, an ein Rezept zu kommen: Man muss zum diensthabenden Arzt.

5. Das ist an diesem Wochenende mein Papa.

Ich fasse zusammen: Ich schlafe bei meiner besten Freundin Michi. (Nicht.) Der Gummi ist also ähm gerissen. Ich brauche die Pille danach. Mein Papa (der mit dem absoluten Hanno-Übernachtungs-Verbot) ist der einzige diensthabende Arzt. Weit und breit. Merkste selber jetzt!

Ich liege also im immer noch sonnendurchfluteten Bett. Und möchte sterben. Mir ist unfassbar übel. Und ich habe zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, dass NICHTS geht. Gar nichts. Ich liege einfach da. Und habe das Gefühl, mein Bauch frisst mich gleich auf. Irgendwie wäre mir das auch gar nicht so unrecht, denn ich weiß einfach absolut gar nicht, wie es jetzt weitergehen soll.

Also starre ich einfach nur an die Decke. Und mache Hanno dadurch noch mehr Angst, als er mir mit seinem Gefluche. So liege ich da. Ich hab keine Ahnung, wie lange. Weil ich ja gefühlt von meinem Bauch aufgefressen werde und in meinem Magen so eine Art zeitloses Paralleluniversum zu existieren scheint – oder eher ein schwarzes Loch. Aber egal. Ich liege auf dem Bett und starre ins Nichts.

Bis sich aus dem Nichts plötzlich Konturen bilden. Denn direkt über dem Bett ist Hannos Dachschräge. Sie ist aus Holz, und manchmal, wenn ich nicht gerade damit beschäftigt bin, mich von meinem eigenen Bauch auffressen zu lassen, um in mein Schwarzes-Magen-Loch zu verschwinden, forme ich mit meinem Körper eine Kerze und strecke die Beine an die Dachschräge. Dabei kippt mein Kopf etwas nach hinten. Und ich sehe das Muster im Holz. Das immer selbe Muster.

Es sieht ein bisschen aus wie ein Wurm. Und wenn ich nicht gerade denke, ich müsse sterben, weil ich UNMÖGLICH meinem Papa sagen kann: »Hey, weißt du noch, als ich sagte, ich würde bei Michi schlafen? Haha, das war eine Lüge. Und weißt du noch, als du sagtest, ich dürfe auf keinen Fall bei Hanno übernachten? Haha, hab ich trotzdem gemacht. Und weißt du noch, wie du dachtest, ich sei noch Jungfrau, also bis gerade eben in dieser Sekunde? Haha, das bin ich nicht. Und weißte noch was? Ich brauch die Pille danach. Und weißte auch, von wem? Von dir!« – dann mag ich den Wurm. Er ist einfach immer da. Und vielleicht bin ich seltsam, aber manchmal führe ich eine Art inneres Gedankengespräch mit ihm.

Ich liege also im Bett, starre ins Nichts, möchte sterben, und auf einmal ist er da. Der Wurm.

Um alle Happy-End-Liebenden hier schon mal zu enttäuschen: Der Wurm hat mir nicht mitgeteilt, dass alles gut wird, weil er ein verwunschener Prinz ist, der auf einem Einhorn zurück in die Zeit reisen und Also-Ähm-gerissene Gummis flicken kann. Und ich bin auch nicht durchgedreht oder so. Aber dieser Wurm. Der bedeutete irgendwie Heimat. War ein Anker. Ich hab ihn einfach nur angesehen, den Wurm. Und hatte etwas, woran ich mich festhalten konnte.

An Menschen hielt ich mich ungern fest. Nicht, dass ich ihnen nicht vertraute. Aber irgendwie fühlte ich mich wohler dabei, nur mich selbst zu halten. Es gab eigentlich nur einen Menschen, den ich in absoluten Notfällen anrufen wollte. Mein »Wer-wird-Millionär-Alltags-Joker« quasi. Selbst wenn ich eines Morgens ohne Essen auf dem Mars aufwachen würde – und aus Marsstaub eine Rakete bauen müsste, um wieder zur Erde zurückzukommen: Er wüsste bestimmt, wie man ne Mars-Rakete baut. Und er würde keine dummen Fragen stellen, wie ich denn jetzt auf dem Mars gelandet sei. Und ob ich auch mal daran gedacht hätte, dass andere Menschen sich vielleicht Sorgen um mich machen könnten. Nein. Er würde ohne viel Gefühlspalaver seine Marie-Mars-Mission rocken und mich danach auf ein Bier einladen. Guter Mann. Der Freund meiner Schwester: Christof. Sie waren schon seit Ewigkeiten zusammen. Und er für mich wie der große Bruder, den ich nicht hatte.

Aber sonst? Sonst gab es eben Würmer. Im Holz. Oder den großen Wagen.

Nennt mich verrückt. Aber ich habe das bis heute. Es gibt einfach Dinge, die mir ein gutes Gefühl geben. Egal, ob ich einsam bin, oder traurig, oder ängstlich, sie machen, dass ich irgendwie wieder mehr ich bin. Und so war das auch heute. Der Wurm war einfach nur da. Und ich wollte nicht mehr sterben. Mir war immer noch übel. Und ich wusste immer noch, dass das alles völlig unmöglich war. Aber irgendwie konnte ich mich wieder bewegen. Ich lächelte den Wurm an. Nickte ihm zu und sagte zu Hanno: »Bring mir mal ne Kippe von deinem Bruder. Und dann fahr mich nach Hause.« Hanno schaute mich verdattert an. Und ich muss zugeben, ich war selbst etwas überrascht über das, was ich mich selbst sagen hörte. Denn erstens rauche ich überhaupt nicht. Und zweitens war die Vorstellung, nach Hause zu fahren, immer noch völlig unmöglich. Aber anscheinend war die Kraft des Holzwurms mit mir, und Hanno tat, worum ich ihn gebeten hatte.

Im Auto sprachen wir kein Wort. Hanno sah überhaupt gar nicht so cool aus wie sonst. Und tat mir irgendwie leid. Ich legte meine Hand auf seine Rechte, die schwitzig am Steuerknüppel ruderte, und war seltsam ruhig. Ich fuhr direkt in die Hölle. Und lächelte. Ich kramte im Handschuhfach und fand die NIRVANAMTVUNPLUGGED-Kassette, schob sie in die nigelnagelneue Anlage und drehte die Lautstärke auf. Eigentlich war das immer der Moment, in dem Hanno anfing, laut mitzusingen, und wir grölend durch die Pampa fuhren, denn seine Anlage war sein ganzer Stolz. Er hatte den kleinen roten Peugot 205 von meinem Papa abgekauft. Und dann eine Anlage reingebaut, die fast so groß war wie das ganze Auto. Wenn man den Bass aufdrehte, vibrierte der Sitz, und das ganze Auto wippte mit dem Sound. Ich liebte das. Doch heute sang ich alleine:

»My girl,

my girl,

don’t lie to me –

Tell me where did you sleep last night.«

Ich kurbelte das Fenster runter. Und zündete mir sehr ungelenk die geschnorrte Kippe an. Und musste husten. Es schmeckte wirklich überhaupt gar nicht gut. Und dennoch rauchte ich weiter.

»My girl,

my girl,

where will you go –

I’m going where the cold wind blows.«

Ich sang. Und rauchte. Und sang. Und rauchte. Bis ich feststellte, dass ich viel lieber singen als rauchen wollte. Also schnippte ich die Zigarette aus dem Fenster und brüllte: »In the pines, in the pines – Where the sun don’t ever shine – I would shiver the whole night through« – bis ich von lautem Hupen unterbrochen wurde.

Das Auto hinter uns flippte völlig aus. »Alter, was will der denn? So ein Arschloch!« waren Hannos erste Worte auf unserer Fahrt. Doch das schien das Auto hinter uns nicht zu beeindrucken. Es drängelte. Hupte. Und war offensichtlich unfassbar sauer. Dabei war Hanno ein echt guter Autofahrer und hatte absolut gar nichts falsch gemacht. Das aber schien dem Auto hinter uns völlig egal. Es fuhr immer dichter auf. Und Hanno fluchte wild. Ich wollte gerade mit einsteigen. Doch mein »Was will der Depp?!« blieb mir im Hals stecken. Denn der Depp. Im Auto hinter uns. Das war mein Papa.

Und plötzlich war es wieder da. Das Gefühl, mein Magen fräße mich auf. Denn noch viel schlimmer, als meinem Papa sagen zu müssen:

»Hey, weißt du noch, als ich sagte, ich würde bei Michi schlafen? Haha, das war eine Lüge. Und weißt du noch, als du sagtest, ich dürfe auf keinen Fall bei Hanno übernachten? Haha, hab ich trotzdem gemacht. Und weißt du noch, wie du dachtest, ich sei noch Jungfrau – also bis gerade eben in dieser Sekunde? Haha, das bin ich nicht. Und weißte noch was? Ich brauch die Pille danach. Und weißte auch von wem? Von dir!«