Sei ein Frosch! - Nam Nguyen - E-Book

Sei ein Frosch! E-Book

Nam Nguyen

4,5

Beschreibung

Von einem Termin zum nächsten hetzen, nebenbei noch die Mails checken und das Geschenk für die Schwiegermutter besorgen. Oft sind wir so beschäftigt, dass wir vergessen, was wir eigentlich wollen. Nam Nguyen kennt das aus eigener Erfahrung. Für seine Karriere vernachlässigt er seine Familie und alles, was ihm wichtig ist. Er schlittert in eine Krise und überlebt nur knapp einen Suizidversuch. Es ist die schlimmste Zeit seines Lebens, aber auch ein Wendepunkt. Als er auf einem Spaziergang einen Frosch sieht, fällt ihm die Lösung ein: Sei ein Frosch! Ruhe gelassen in dir und sei gleichzeitig wach und aufmerksam. Ergreife deine Chancen, ohne ihnen nachzujagen. Wie ein Frosch, der am Teichrand sitzt - bis eine Mücke vorbeifliegt. In diesem sehr berührenden Buch beschreibt Nam Nguyen, wie er die Weisheit des Frosches in sein Leben integriert hat. Und er gibt Tipps, wie wir alle das Frosch-Prinzip für uns entdecken können.

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Haupttitel

Inhalt

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Nam Nguyen

Sei ein Froschoder die Kunst, im Leben denrichtigen Moment zu erwischen

Patmos Verlag

Meiner Mutter und Frau Gisela L. gewidmet.

Sie sind meine Fixsterne,

zugleich meine Leitsterne,

die immerwährend leuchten,

aus einer anderen Welt im Universum, tief im Fernen.

INHALT

Vorwort: Tiefes Grau

Westwind

Verweht

Böen

Leergefegt

Im Auge des Sturms

Windgepeitscht

Entwurzelt

Ostwind

Aufgefrischt

Passat

Herbstluft

Nachwort: Hohes Blau

Danksagung

Vorwort: Tiefes Grau

Er sitzt in der ersten Reihe des Seminarraumes, ganz links. Seinen Stuhl hat er ein wenig weiter nach links gerückt – ein Signal, dass er sich abkapselt. Dies fällt mir auf, ebenso seine Sitzhaltung: gekrümmt, unbehaglich. Seine Schultern zucken unkontrolliert mal links, mal rechts hoch. Das Gesicht ist grau, fast grünlich. Er dürfte Mitte dreißig sein – so schätze ich.

Während meines Vortrags macht er sich viele Notizen. Er beobachtet mich aufmerksam, aber wenn sich unsere Blicke treffen, schaut er schnell weg.

In diesem Herbst 2009 halte ich ein »Frühstücksseminar« für leitende Angestellte. Das Thema: »Abfindung – und dann?« Es ist gut besucht, trotz des ungemütlichen Wetters: grauer Himmel, windig, nasskalt.

Nach dem Seminar steht er noch eine Weile am Rand des Raums. Ich packe meine Unterlagen und Hilfsmittel ein; als ich das nächste Mal aufschaue, ist er gegangen. Ist halt so, denke ich mir. Was genau ihn plagt, werde ich wohl nie erfahren. Aber dass ihn etwas plagt, war nicht zu übersehen.

Inzwischen hat sich der Raum komplett geleert. Ich schalte das Licht aus und will die Tür hinter mir zuziehen, da steht plötzlich jemand neben mir und schaut mich an. Es ist der Mann, der mich während des Seminars so gemustert hatte. Jetzt kann ich sein Namensschild lesen: Dr. Piet Janßens.

»Hätten Sie ein wenig Zeit für mich? In Ihrem Vortrag haben Sie den Zuhörern erlaubt, einen Hauch Ihres privaten Lebens kennenzulernen. Ich habe ein persönliches Problem und habe den Eindruck gewonnen, dass Sie dieses Problem kennen. Ich würde gerne mit Ihnen darüber reden.«

Auf einmal ist von der anfänglichen Zurückhaltung nichts mehr zu spüren. Dr. Piet Janßens erzählt in allen Einzelheiten seine Geschichte. Seine Firma wollte den Bereich, den er leitete, mit einem anderen zusammenlegen. Man hat ihm eine Abfindung angeboten, wenn er einen Aufhebungsvertrag unterschreibt. Er weigerte sich. Daraufhin hat ihn die Firma kaltgestellt. Jeden Tag kommt er ins Büro und sitzt ohne jegliche Aufgabe bis abends am Schreibtisch. Er versucht, die Situation auszusitzen. Von meinem Seminar erhofft er sich Hinweise, wie er beruflich »überleben« kann – das ist sein Wort.

Während Dr. Janßens erzählt, zieht er unkontrolliert die Schultern mal links, mal rechts hoch – genau wie vorhin beim Vortrag. Immer wieder reckt er den Kopf, wie um seinen verspannten Nacken zu entlasten.

Seine perspektivlose berufliche Situation ist nur eins seiner Probleme. Er hatte sich an der Börse verspekuliert und fast sein ganzes Geld verloren. Mit dem Rest seines Vermögens will er nun seine Finanzen »erhalten und aufbessern« – so drückt er sich aus. Sein Scheidungsprozess läuft. Er wohnt jetzt wieder zur Miete in einer kleinen Wohnung. In seinem Haus lebt seine Noch-Frau mit ihrem neuen Lebenspartner und seinen zwei halbwüchsigen Kindern.

Am Ende sagt er:

»Ich fühle mich wie in einem Sturm, einem gewaltigen. Er hat alles ruiniert: den Beruf, meine Familie, das Vermögen und mein Leben. Ich sehe keine Chance zu entkommen. Vielleicht können Sie mir mit Ihren Erlebnissen helfen.«

Ja, ich kann.

Aus seiner Erzählung habe ich erkannt: Dr. Piet Janßens hat vergeblich nach einer Lösung für seine Probleme gesucht. Ähnlich wie die meisten Patienten in einer Arztpraxis, die nur eine Linderung ihrer Symptome wollen. Heilung ist jedoch erst möglich, wenn die Ursachen gefunden sind. Diese kann nur der Betroffene bei sich selbst entdecken und seinen individuellen Weg zur Lösung seiner Probleme beschreiten.

Dies heißt, mit allen Sinnen und mit Einsatz der Vernunft die Chancen im Alltag zu erkennen und zuzugreifen – im richtigen Moment. Es heißt auch, den eigenen Zielen nicht kopflos hinterherzurennen. Genauso wenig bedeutet es, Probleme mutlos auszusitzen und zuzusehen, wie die Chancen an einem vorbeiziehen. Ein guter Weg kann sein, besonnen und gelassen auf die passende Gelegenheit zu warten. Und sie dann auch zu erkennen und vor allem zu handeln. Wie ein Frosch, der am Teichrand sitzt und erst dann zuschnappt, wenn die Fliege in Reichweite ist.

In diesem Buch erzähle ich, wie ich meinen Weg mithilfe der Haltung des Frosches gefunden habe. Ich erzähle von dem Ungleichgewicht, das es in meinem Leben gab, von dem Sturm, der mich schüttelte, und davon, wie ich den guten Weg aus dem Sturm fand. Und ich hoffe, dass mein Weg auch für Sie Entdeckungen bereithält, dass Sie in diesem Buch Anregungen finden, Ihre persönlichen Chancen zu erkennen und mithilfe des Frosch-Prinzips Ihre eigenen Lösungen zu finden.

An dieser Stelle möchte ich sagen: Alles, wovon ich erzähle, hat sich zugetragen. Aber es hat sich nicht alles ganz genau so zugetragen, wie ich es hier erzähle. Manches habe ich bewusst übertrieben. Zum Beispiel habe ich eine Entwicklung, die einige Zeit dauerte, in ein Ereignis zusammengefasst. Das habe ich getan, um auf den Punkt zu kommen. Ebenso habe ich die Geschichten verfremdet und manche Namen verändert, um meine Bekannten, meine Freunde, meine Familie und: ja, auch mich selbst zu schützen. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.

Ich bin für die Begegnungen mit diesen Menschen und für ihre Begleitung bis hierhin tief dankbar.

Westwind

Verweht

Helles Licht liegt auf mir. Ich stehe am Rednerpult. Der Rest des Kongresssaals ist halb dunkel. Nur in den ersten zwei Reihen kann ich die Zuhörer erkennen. Es ist Winter im Jahr 1980. Ich halte zum ersten Mal einen Vortrag vor so großem Publikum. Es geht um die physikalischen Folgen einer Rissbildung in einer Betonwand. Die Herren in Anzügen hören mir aufmerksam zu. Als ich fertig bin, applaudieren sie laut. Der Geschäftsführer meiner Firma tritt nach vorne neben mich.

»Vielen Dank für diese hervorragenden Ausführungen. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie nochmals um Applaus für Herrn Nam Nguyen. Nicht nur für seinen Vortrag: Herr Nguyen ist heute Morgen auch Vater geworden!«

Prasselnder Beifall brandet auf. Als die Welle vorüber ist, gehe ich zurück zu meinem Platz. Mein Blick geht zur Fensterreihe. Sie ist von hellblauen Vorhängen verdeckt. Jemand spricht. Der nächste Redner. Ich weiß aber nicht, worüber er spricht. Ich höre nur ein Rauschen. Zerfetzte Worte. Die Zuhörer neben mir sitzen so verschwommen, so stumpfsinnig da. Meine Gedanken schweifen ab.

Meine Frau Agnes liegt jetzt im Krankenhaus. Ist unser kleiner Sohn bei ihr oder ganz allein in einem eigenen Zimmer? Oder gar in einem Brutkasten? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, wie wir ihn nennen werden. Ich habe meinen Sohn noch gar nicht gesehen. Als er vor drei Stunden geboren wurde, war ich schon hier auf dem Kongress. Die Rezeption des Hotels hat mir die Nachricht aus dem Krankenhaus, in dem meine Frau liegt, überbracht. Einige Minuten, bevor ich mit meiner Rede drangekommen bin.

Plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Der Vertriebsleiter steht neben mir. In seiner Hand eine Champagnerflasche. Er zieht mich aus meiner krummen Sitzhaltung hoch und sagt:

»Gratuliere! Komm bitte mit mir. Ein Kunde wartet auf uns im Foyer und will gleich mit uns reden. Du hast eine tolle Chance: Du kannst demnächst ein großes Projekt in den USA leiten.«

Wie Herbstlaub fallen Gedanken durch meinen Kopf. Und keinen davon kann ich festhalten. Nach außen hin bleibe ich aber ruhig und sage nur: »Geh schon mal vor, ich komme gleich nach.«

Zum Glück fragt der Vertriebsleiter nicht nach und geht vor ins Foyer. Es ist gerade Pause zwischen den Vorträgen. Mein Blick geht durch die Menschenmassen zur Tür. Wenn ich hindurchgehe und noch durch zwei andere Türen, komme ich zum Hotelparkplatz und zu meinem Auto. Ich könnte mich ganz unauffällig hinausschleichen und wegfahren ...

Die Menschen im Foyer gehen nach und nach zum Büfett hinüber. Mit Canapés und Sektgläsern ausgestattet, reichen sie einander die Hände, unterhalten sich, bringen sich ins Gespräch. Einer von ihnen hat sich vor die Tür gestellt und versperrt mir den Blick auf den Ausgang.

Ich stehe auf und bleibe einen kurzen Moment lang stehen. Dann glätte ich meine Krawatte – und folge dem Vertriebsleiter ins Foyer.

***

In dieser Situation war alles perfekt. Ich wusste, ich hatte einen tollen Vortrag gehalten. Zur Vorbereitung hatte ich vor dem Spiegel geübt – die Gestik, die Aussprache. Ich übte auch im Wald. Die Bäume waren meine Zuhörer. Nun bin ich aus der Masse der Projektleiter in meinem Unternehmen deutlich herausgestochen. Mein Vorgesetzter hat mich öffentlich gelobt, das Publikum hörte nicht mehr auf zu applaudieren. Ohne Zweifel war es der bislang höchste Gipfel meines beruflichen Erfolgs. Dazu kam die Aussicht auf noch mehr Erfolg. Und ich war erst dreiunddreißig Jahre alt.

Auch privat war ich vom Leben beschenkt. Ich hatte eine wunderbare Frau. Ich hatte einen gesunden kleinen Sohn. Ich hatte alles, was Lebensglück ausmacht. Und trotzdem: War ich glücklich? Was heißt Glück eigentlich?

Statt mich zu freuen, fühlte ich mich leer. Statt stolz zu sein, hatte ich Angst. Angst, ob ich es schaffen würde. All das, was ich mir vorgenommen hatte.

Seit ich zum Studium aus Vietnam nach Deutschland gekommen war, schwebte vor meinem inneren Auge ein Bild von meiner ersehnten Zukunft: Ich, ein strahlender Mann, stehe stolz in der Mitte von Ehefrau und nett angekleideten Kindern. Daneben ein Wagen mit Stern auf der Kühlerhaube, dahinter ein frei stehendes Haus im Grünen. Meine Familie und ich werden abgesichert sein. Verwandte und Freunde werden mich bewundern für alles, was ich vollbracht habe.

Das war mein Ziel: Karriere zu machen, ein guter Vater und Ehemann zu sein. Dafür arbeitete ich viele Stunden am Tag. Erst im Studium, dann bei meiner Firma. Ich besuchte Kongresse, engagierte mich als Projektleiter, ging pünktlich zu Meetings und lieferte meinen Beitrag ab. Meine Vorträge bereitete ich mit großer Sorgfalt vor. Kurz: Ich tat alles, was nötig war, um meinen Erfolg zu sichern. Und trotzdem fühlte ich mich nach allem Erfolg nicht erfolgreich.

Im Kongresssaal schoben sich mir Zweifel ins Bewusstsein – nicht zum ersten Mal. Obwohl ich mich selbst entschieden hatte, Karriere zu machen, fühlte ich mich nun wie ein Getriebener. Ja, das ist es. Es waren nicht nur Leere und Angst in mir. Da war auch das Gefühl, ein Gehetzter zu sein. Ich war in diesem Kongresssaal nicht dort, wo ich sein wollte. Wo wollte ich sein? Bei Agnes und dem Baby! Was wollte ich in diesem Moment tun? Ihre Hand halten und mein Baby liebevoll in die Arme nehmen! Wie wollte ich mich fühlen? Glücklich, stolz, voller Freude! – Ich war in diesem Moment nicht der, der ich sein wollte. Ich bestimmte nicht selbst über mich.

Nur: Wer bestimmte dann über mich?

War es mein Vorgesetzter? Er hatte zwar den Wunsch geäußert, dass ich am Kongress teilnehme. Aber ich hätte auch Nein sagen können. Auch der Vertriebsleiter und der amerikanische Kunde hatten mich zwar gebeten, die Projektleiterrolle zu übernehmen. Aber Ja gesagt hatte ich selbst. Die Frage ist nur: Warum? Was hat mich dazu gezwungen? Wollte ich ihnen gefallen? Habe ich mich nicht getraut zu sagen, dass es mir zu viel wird? Nein, das war’s nicht. Ich weiß, was es war: Ich fühlte mich verpflichtet. Meinem zukünftigen Erfolg verpflichtet.

Ja, es war das Pflichtgefühl. Der Termin für den Kongress stand seit Monaten fest. Datum und Uhrzeit waren in meinen Kalender eingetragen. Und ich hatte längst gelernt: Wer im Westen Erfolg haben will, muss nicht nur gute Arbeit leisten, sondern zuallererst einmal seine Termine zuverlässig einhalten. Das ausgetüftelte Konzept, die beste Idee nützen im Westen gar nichts, wenn sie nicht zum verabredeten Zeitpunkt vorliegen. Niemals zu spät kommen, das habe ich in Deutschland gelernt. Niemals einen vereinbarten Termin absagen! Nicht einmal für die Geburt eines Kindes!

Inzwischen weiß ich: Es war kein »Wer«, der damals über mich bestimmte. Es war ein Ding: mein Terminkalender. Gut, ein Terminkalender ist natürlich kein echter Verursacher. Aber er ist auf jeden Fall ein echtes Anzeichen. Ein Symbol für eine bestimmte Lebensweise.

Diese Lebensweise habe ich heute, nach vielen Jahren des Ringens, des Leidens und des Suchens, überwunden. Aber es ist eine Lebensweise, die ich trotzdem jeden Tag beobachte. Manchmal auch noch bei mir selbst, aber vor allem bei Freunden, Geschäftspartnern und auch bei Unbekannten. Diese Art zu leben regiert unsere ganze Gesellschaft. Das Leben, von dem ich spreche, ist: Planleben.

Das, was die Menschen in Europa und Nordamerika aus meiner Sicht am stärksten gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass ihr ganzes Leben praktisch aus Verpflichtungen besteht. Wie sonst sollte man die Abfolge an Terminen verstehen, die den Alltag jedes Managers, aber auch jeder Hausfrau und jedes Schulkindes ausmachen? Eine Verpflichtung folgt auf die andere. Wie die Steine einer Mauer grenzen sie aneinander, fugenlos und unverrückbar. So ein Leben wäre in Vietnam undenkbar.

Dass die Deutschen mit der Zeit anders umgehen als die Vietnamesen, spürte ich, sobald ich mit neunzehn Jahren in Köln aus dem Flugzeug gestiegen war. Damals hatte ich noch keine genauen Worte dafür. Aber eins fiel mir sofort auf: Die Menschen hier laufen anders durch die Stadt, als ich es aus meiner Heimat gewohnt war. In Vietnam schlendern die Passanten auf der Straße entlang; manche gehen auch rasch, jeder in seinem eigenen Tempo. Die, die flott unterwegs sind, laufen schnell, aber nicht gehetzt.

Hier nicht. Die Flugpassagiere, die in Köln mit mir ausgestiegen waren, strebten eilig und mit entschlossener Miene der Gepäckausgabe zu. Nicht nur die Geschäftsleute, sondern auch junge Paare mit Kindern. Sie gingen so zielgerichtet, ihre Schultern unbewusst hochgezogen, den Körper mechanisch nach vorne gebeugt, als ob die Zukunft ihrer Familie davon abhängen würde, dass sie möglichst rasch ihre Koffer ergattern und in den Shuttlebus einsteigen. Dabei herrschte in diesen Bussen nicht einmal Platzmangel ...

Die Zielgerichtetheit der Deutschen war aber nur der Anfang einer ganzen Reihe merkwürdiger Beobachtungen. Genauso verblüffend fand ich, dass die Menschen hier ganz genau wissen, was sie in der nächsten Stunde, am nächsten Tag, in der nächsten Woche tun werden. Ja, sie wissen sogar, was sie am 12. März nächsten Jahres machen. Und genau das tun sie auch am 12. März des folgenden Jahres!

Außerdem haben sie für alle möglichen Tätigkeiten ihre ganz persönlichen »Zeiten«. Eine »Mahl-Zeit«, eine »Arbeits-Zeit«, eine »Aufsteh-Zeit«, »Frei-Zeit«, ebenso wie ihre »Zubettgeh-Zeit«: Die Menschen im Westen haben einen festgelegten Tagesrhythmus, und der ist immer abhängig von der Uhr. Interessanterweise wird dieser Tagesrhythmus auch dann beibehalten, wenn er gar nicht mehr passend ist. Alte Menschen, die ihr Leben lang um sechs Uhr aufgestanden sind, um zur Arbeit zu gehen, sind so sehr von dieser Gewohnheit beherrscht, dass sie selbst im Ruhestand jeden Tag um sechs Uhr aufstehen. Um sieben, nachdem sie gefrühstückt haben, wissen sie dann nicht mehr, was sie mit ihrer Zeit überhaupt anfangen sollen.

Die Krönung dieser Uhrfixierung des Westens ist für mich die Zeitumstellung. Da wird einfach beschlossen: Ab heute wird die Uhr eine Stunde vorgestellt. Die Sonne geht nicht um sechs Uhr auf, sondern um sieben Uhr. Und abends geht sie nicht kurz nach sechs Uhr unter, sondern kurz nach sieben. Dadurch müssen wir erst eine Uhrzeit-Stunde später die Lichter anschalten. Wir sparen Strom. Diese Denkweise ignoriert den natürlichen Tagesrhythmus und versteht die Zeit nur als eine künstliche, von Menschen gemachte Einteilung.

Zeit ist in dieser Denkweise kontrollierbar und muss kontrolliert werden. Zahllose Zeitmanagement-Methoden erlauben es, die Termine minutengenau zu takten. Methoden, die ich über Jahre und Jahrzehnte auch verwendet habe. Ohne Pause ist der ganze Tag eingeteilt. Ohne Pause? Nein, denn ich wusste ja, wie ungesund das ist. Daher habe ich sorgfältig in meinen Kalender eingetragen: 18.00-19.00 Entspannung. Und ich habe mich gewundert, warum die Entspannung nicht zu dem Zeitpunkt zu mir kam, zu dem ich sie eingeplant hatte.

Aber eigentlich ist es kein Wunder: Wenn die ganze Lebenszeit von Verpflichtungen und Terminen angefüllt ist und Ausruhen nur eine weitere Verpflichtung ist, bleiben kein Raum und keine Zeit mehr für das, was ein Mensch jetzt gerade tun will. Und zwar frei und spontan. Keine Zeit für Familie, Freunde, Hobbys. Keine Zeit, um den Schreibtisch aufzuräumen, der seit einer Woche überquillt. Keine Zeit, um die Briefe zu sortieren, aus dem Fenster zu schauen, nachzudenken, die Fußsohlen zu spüren oder in einem Buch zu versinken. Denn jetzt ist nicht »Aufräumen«, sondern »Entspannen« angesagt. Und in 45 Minuten ist schon der nächste Termin.

Bei meiner Ankunft in Deutschland vor gut vierzig Jahren waren diese Eile und diese Taktung für mich einfach nur befremdlich. Mittlerweile bin ich selber oft genug von A nach B gerast, um zu wissen, wie sich das anfühlt, nach der Ankunft in B sofort weiter nach C rennen zu müssen: Der Körper ist noch am Flughafen, der Geist bereits bei der geschäftlichen Besprechung, die am Nachmittag geplant ist. Während man noch am Förderband steht und wartet, holt man in der Fantasie schon den Wohnungsschlüssel zurück vom Nachbarn, der während des Urlaubs die Pflanzen gegossen hat. Weil sowohl die Kollegen als auch der Nachbar nicht unendlich viel Zeit haben, fühlt man sich immer irgendwie verpflichtet, möglichst schnell bei ihnen zu sein.

Man läuft wie der Sekundenzeiger einer Uhr: tick, tick, tick. Von ihr kann man sich fast nicht trennen. Und von ihr fühlt man sich ständig gehetzt. Ohne Pause!

Was ist die Folge davon?

Dies zeigt eine Episode, die ich früher einmal erlebt habe. Damals, als ich gerade neu angefangen hatte in meinem Beruf.

Im Sauseschritt

Ein flüchtiger Blick auf meine Armbanduhr: kurz vor halb drei Uhr morgens. Es ist der dritte Tag in Folge, an dem ich um diese Zeit von der Firma nach Hause komme. Der Nebel des Spätherbsts lässt das Scheinwerferlicht meines Wagens nicht durchdringen. Ringsum erscheinen die Weinberge schemenhaft – wie in einem mystischen Bild der chinesischen Tuschmalerei. Ich schleiche mit dem Wagen die letzten Kilometer den Berg hoch zu mir nach Hause. Am liebsten würde ich das Auto am Straßenrand anhalten und gleich meine Augen zumachen. Ich kann sie kaum noch offen halten. Aber die Straße ist zu eng und unübersichtlich zum Anhalten.

Endlich bin ich da. Mehrmals versuche ich, den Hausschlüssel ins Türschloss zu stecken. Die Hände zittern. Die Augen fallen dauernd zu. Es ist ein anderes Ich – schlafwandlerisch, stumpf, roboterartig. Selbst dieser maschinenartige Körper versagt in seiner Bewegungskoordination nach achtzehn Arbeitsstunden, drei Tage hintereinander.

Das Rechenzentrum der Universität Stuttgart ist am Tag überlastet. Meine Firma teilt sich mit der Universität die Leistungskapazität eines großen Rechners. Das auf mich übertragende Projekt benötigt große Vor- und Aufbereitung – die Hollerith-Lochkarten müssen kistenweise manuell gestanzt werden, nachdem die Programmierungsarbeit abgeschlossen ist. Die Komplexität der Aufgabe benötigt viel Rechenzeit, daher stellt das Rechenzentrum meine Berechnungen ans Ende der Warteschlange. Deshalb arbeite ich nachts an dem Projekt. Tagsüber auch.

Der Countdown meiner Probezeit läuft parallel mit dem Projekt. Gleichzeitig finden Teilklausuren meiner Diplomprüfung statt. Ich muss lernen. Zum ersten Mal, nun durch den Stress in meinem Berufsleben, spüre ich Außendruck und einen Zwang, dem ich kaum entkommen kann. Die Zeitspanne von acht Uhr morgens bis zwei Uhr am Tag danach, jeden Tag, reicht während dieser Phase für die Arbeit nicht aus. Angst vor Versagen taucht in mir auf, in dieser nebligen Nacht auf dem Weg nach Hause.

Ich darf bei diesem Projekt nicht versagen. Ich darf diese Stelle nicht verlieren. Nicht jetzt, da ich nach all den Nebenjobs im Studium endlich richtig Geld verdiene. Nicht jetzt, da wir frisch verheiratet sind. Wo wir endlich den Kampf gegen die Vorurteile der Familie meiner Frau gewonnen haben. Für diese traditionelle deutsche Familie, die in ihrer kleinen Gemeinde ein hohes Ansehen genießt, ist die Heirat ihrer Tochter mit einem Ausländer eine echte Herausforderung. Von meinem Heimatland erfahren sie aus den Fernsehnachrichten täglich, dass dort Krieg herrscht, dass es beinahe ein Entwicklungsland ist. Auch für mich ist diese Heirat eine Herausforderung, denn ich fühle mich oft von der Familie meiner Frau nicht akzeptiert. Ich zweifle, ob Agnes mir nach Vietnam folgen würde. Daher muss ich unbedingt beweisen, dass ich hier in Deutschland erfolgreich sein kann. Ich habe für sie Verantwortung.

Als das Türschloss endlich aufgeht, torkele ich ins Schlafzimmer. Meine Frau schläft tief. Auf ihrem Gesicht liegt die gleiche unschuldige Leichtigkeit, die sie auch im Alltag ausstrahlt. Ich will sie nicht wecken und gehe ins Wohnzimmer. Auf dem Esstisch liegt ein Zettel:

»Das Essen ist im Kühlschrank. Bitte warm machen. Gute Nacht!«

***

Erschöpfung, Konzentrationsschwäche, körperliche Symptome wie Händezittern, eingeengtes Blickfeld und Schlafstörungen: Das alles sind Zeichen für Stress. Dazu kommt das Gefühl von innerer Leere. Das Gefühl, dass alle Anstrengung nie genug ist. Das Gefühl, nichts zu bewirken mit der Arbeit. Angst zu versagen.

Bei mir fing das schon zu Beginn meiner Karriere an. Auch wenn ich seither meistens weniger als achtzehn Stunden pro Tag mit Arbeit verbrachte, das Gefühl ist immer geblieben: Ich muss mehr leisten. Ich muss, muss, muss ...

Seit etwa dreißig Jahren gibt es ein Wort für das, was sich damals bei mir entwickelte: Burnout. Laut Einschätzung der Betriebskrankenkassen 2010 leiden rund neun Millionen Menschen in Deutschland unter dem Syndrom. Sie fühlen sich ständig unter Druck, emotional erschöpft, ausgebrannt.

Ich habe nachgelesen: Burnout kommt nicht nur davon, immer mehr Arbeit in immer kürzerer Zeit leisten zu müssen. Es kommt auch nicht nur davon, ständig erreichbar und verfügbar zu sein. Burnout entsteht, wenn der Sinn verloren geht. Wenn ein Mensch ständig Dinge tut, deren Sinn er in diesem Moment nicht erkennt. Er tut sie trotzdem, weil er sich irgendwann einmal dazu verpflichtet hat. Versprochen ist versprochen. Vertrag bleibt Vertrag. Ich erkenne: Genauso ging es mir bei meinem Vortrag im Kongresssaal. Und oft davor und danach. Ich tat nicht das, was in diesem Moment das Richtige war, sondern das, wovon ich einen oder zwei Monate zuvor gedacht hatte, dass es zu diesem Zeitpunkt das Richtige sein würde.

Das Richtige in diesem Moment. Diese Worte erinnern mich an ein Bild, das ich einmal in einem Museum gesehen habe. Es ist das Bild von Kairos. Er wird dargestellt als ein schnell rennender Mann mit einer Locke an der Stirn. Aber sein Hinterhaupt ist kahl.

In der griechischen Mythologie gibt es zwei Götter der Zeit. Kairos ist der Gott des richtigen Augenblicks. Der guten Gelegenheit. Kairos läuft rasch auf einen Menschen zu und schnell an ihm vorbei. Nur genau in dem Augenblick, in dem Kairos vor einem Menschen steht, kann der Mensch die Locke ergreifen und Kairos damit festhalten. Er »ergreift die Gelegenheit beim Schopf«.

Wenn der Mensch diesen Augenblick verpasst, dann ist es zu spät. Sobald Kairos an ihm vorüber ist, kann er ihn nicht mehr packen. Denn am Hinterkopf hat Kairos keine Haare. Wenn der gute Augenblick vorbei ist, ist er für immer verloren. Dann nützt es nichts mehr, das Richtige zu tun.

Kairos repräsentiert die subjektive Zeit. Die Zeit, die manchmal langsam und manchmal schnell vergeht. Je nachdem, was ein Mensch gerade tut. Bei Kairos gibt es einen richtigen Zeitpunkt, um einen Brief zu schreiben, und einen richtigen Zeitpunkt, um Lochkarten zu stanzen. Einen Zeitpunkt, um einen Vortrag zu halten, und einen Zeitpunkt, um ein Kind im Arm zu halten. Einen Zeitpunkt für Trauer und einen Zeitpunkt für Freude.

Der andere griechische Gott der Zeit ist Chronos. Er steht für die Zeit, die gemessen wird. Die abgemessene Lebenszeit. Sie geht gleichmäßig und beständig. Sekunde für Sekunde tickt sie an den Menschen vorbei, jede Sekunde ist gleich lang und gleich wichtig. Chronos repräsentiert also die objektive Zeit. Ihm ist es vollkommen gleichgültig, was ein Mensch gerade tut. Ob er lacht oder weint, arbeitet oder mit einem Kind spielt – die objektive Zeit vergeht immer gleich schnell. Die Uhr ist überall gegenwärtig. Ihr Ticken treibt uns an weiterzugehen, der Zeiger dreht sich drohend und verlangt, dass wir uns mit ihm bewegen und niemals stehen bleiben, wenn möglich vierundzwanzig Stunden am Tag.

Dieser Befehl ist allmächtig. Chronos sitzt beim Essen daneben, seine Finger tippen ungeduldig auf den Tisch: »Schluck schnell runter, der Berg von Arbeit muss noch abgearbeitet werden – noch heute bei Tageslicht!« Sein Ticken dringt nachts in unsere Ohren: »Du musst gleich schlafen, sonst wirst du morgen nicht fit sein für das wichtige Meeting.«

Doch vor Angst, nicht schlafen zu können, können wir nicht ruhig liegen. Wir wälzen uns im Bett herum, dösen, werden gleich wieder wach, stehen auf, legen uns voller Mattheit wieder hin – bis das Ticken von Chronos beim Sonnenaufgang auf einmal schriller wird.

Eine bestandene Prüfung, den neuen Arbeitsvertrag, einen Brief von einem Freund oder von der Mutter: All das überbringt uns Kairos. Aber er wendet sich direkt wieder ab. Die aufkommende Freude brennt hell wie ein kleines Feuerwerk, erlischt aber schnell wieder. Dagegen ist der neben uns stehende Chronos übermächtig. Er hat uns im Griff. Mit der Uhr vor Augen und ihrem Ticken in den Ohren bewegen wir uns viel zu mechanisch, um die Locke von Kairos überhaupt erreichen zu können.

Es ist nicht so, dass wir das Glück nicht bemerken. Wir sehen es. Wir spüren es. Aber wir können es nicht greifen und wissen nicht, wie wir damit umgehen sollen, falls das Glück einmal unvermittelt vor uns steht. Vielleicht wissen wir nicht einmal, was wir eigentlich unter »Glück« verstehen!

Ich zum Beispiel habe sehr wohl die wichtigen Ereignisse in meinem Leben wahrgenommen. Das Weinen meiner Frau, als der Schmerz der Wehen immer stärker wurde, die Geburt unseres ersten Kindes. Aus der Sicht eines Außenstehenden ist es ein Lebensglück, ein frischgebackener Vater zu sein. Ich freute mich zwar auch, aber der innere Druck trieb mich weiter.

Jedes Mal, wenn Kairos an mir vorübereilte und ich nicht nach ihm greifen konnte, dachte ich: Ich habe mein Ziel noch nicht erreicht. Ich bin noch nicht glücklich. Meine Familie ist noch nicht glücklich. Also muss ich mich noch mehr anstrengen. Mehr Leistung bringen. Mehr rennen.

Jetzt weiß ich: Ich habe den Zeitpunkt verpasst, um bei meiner Frau zu sein. Ich habe den Zeitpunkt verpasst, um bei meinem kleinen Sohn zu sein. Ich bin an meinem Glück vorbeigerannt.

Ich frage mich aber: Warum ist es mir nicht früher aufgefallen, dass ich mich von meinem Lebensglück entferne? Warum konnte ich so sehr Opfer von Chronos werden, obwohl dieser westliche Lebensstil mir von Anfang an befremdlich vorgekommen war? Als Vietnamese hatte ich doch den Vorteil des Außenblicks. Das ist nicht nur ein subjektives Gefühl, sondern wissenschaftlich nachgewiesen.

Ich habe nachgelesen: Wie ein Volk mit der Zeit umgeht, ist ein Teil seiner Kultur. Die Pioniere der interkulturellen Forschung wie Geert Hofstede oder Edward T. Hall stellen den Unterschied des Zeitverständnisses zwischen monochronen und polychronen Kulturen heraus. Monochron heißt: Es gibt nur eine Zeit. Sie ist linear, man kann immer nur eine Sache nach der anderen erledigen. Deshalb muss man im Voraus planen und Termine genau einhalten. Ich denke mir: Das ist Chronos. Polychron heißt: Es gibt viele Zeiten parallel. Man kann mehrere Dinge gleichzeitig tun. Deswegen kann man, auch wenn man mit etwas Wichtigem beschäftigt ist, spontan eine andere Tätigkeit dazwischenschieben, ohne dass die erste zu kurz kommt. Ich denke mir: Das ist Kairos.

Zur Zeit meiner Kindheit waren in Vietnam die objektive Zeitplanung nach der Uhr und die Prioritätensetzung nach dem Kalender unbekannt. Chronos hatte nichts zu sagen. Der Takt der Uhr war dehnbar, besonders für ein Gespräch, für eine Begegnung. Die Dinge wurden dann getan, wenn sie vor einem standen. Wenn der richtige Zeitpunkt für sie da war.

Und wann ist in Vietnam der richtige Zeitpunkt, um zum Beispiel einen Freund zu treffen? Nun ja: Wenn man den Wunsch verspürt, mit ihm zu sprechen.

Niemandem wäre es dort eingefallen, sich zu einem privaten Treffen zu verabreden. Wer einen Freund besuchen will, setzt sich auf sein Moped oder in den Bus und fährt zu ihm. Ohne zu wissen, ob er da ist. Sobald der Besucher dort ist, lässt der Freund alles stehen und liegen und kümmert sich nur um ihn. Auch wenn er am nächsten Tag eine Prüfung hat. Stillschweigend verschiebt er sein Lernen auf später. Niemals würde er dem Besucher sagen, dass er etwas anderes zu tun hat. Aber wir Vietnamesen sind es gewohnt, auf subtile Signale zu achten. Der Besucher schaut genau auf seinen Freund. An seiner Mimik, an der Haltung seiner Hände, an seiner leichten Unruhe merkt er, wenn dieser nicht frei ist, und verabschiedet sich bald wieder.

Im geschäftlichen Bereich gibt es schon Verabredungen, aber nicht auf die Minute genau. Zu Behörden geht man einfach hin. Dort ist die Tür ständig offen. Wenn der Mitarbeiter gerade einen Kaffee trinkt oder mit einem Kollegen plaudert, setzt sich der Antragsteller hin und wartet. Auch wenn der Beamte erst in einer halben Stunde zurückkommt, nimmt man ihm das nicht übel. Es ist normal. Dafür weiß der Wartende: Sobald der Beamte da ist, kümmert er sich nur um mein Anliegen, bis die Sache erledigt ist. Und bis es so weit ist, muss halt alles andere warten.

Der richtige Zeitpunkt, um zu arbeiten, ist, wenn die Arbeit nötig wird: Das Unkraut im Feld muss gejätet, der defekte Tisch muss repariert, das Haus für die neue Familie muss gebaut werden. Der richtige Zeitpunkt zum Essen ist, wenn der Mensch hungrig ist, wenn etwas zu Essen gefunden wurde, wenn das Essen fertig gekocht ist. Der richtige Zeitpunkt, um mit dem Nachbarn zu sprechen, ist, wenn man ihm auf der Straße begegnet.

So läuft es in Vietnam. Wir erledigen alle Aufgaben, ob zu Hause, bei der Arbeit oder in der Schule, spontan – so wie sie kommen. Und ja, wir haben deutlich weniger Stress. So gesehen scheint dieser Umgang mit der Zeit besser zu sein als das hektische Leben nach der Uhr im Westen. Die Frage ist nur: Ist dadurch wirklich alles besser? Und: Macht diese Lebensweise glücklich?

Ja, in Vietnam sind die Menschen ein gutes Stück gelassener als in Europa. Sie sind mehr bei ihren Freunden, bei ihrer Familie, bei sich selbst. Eine Studie der Universität Washington, die unter dem Titel Emotions 2011 veröffentlicht wurde, bestätigt erneut, dass Asiaten der sozialen und familiären Harmonie einen hohen Wert geben. Ich stimme der Aussage voll zu.

Aber ein Leben nach Kairos hat auch Nachteile. Ob Bauvorhaben, alltägliche Erledigungen oder einfach nur der Wunsch nach einem neuen Wohnzimmerschrank: Die meisten Dinge geschehen sehr langsam. Oder werden nie vollendet. Wo Kairos regiert, sind Abmachungen, Zusagen oder Ziele jederzeit verrückbar. Auch in Vietnam haben zum Beispiel Fernreisebusse zwar einen Fahrplan. Offiziell. Praktisch schaut aber kein Passagier wirklich danach. Denn wenn der Fahrer mitten auf der Strecke Hunger bekommt oder einen Bekannten sieht, mit dem er etwas regeln muss, hält er einfach an und steigt aus. Die Fahrgäste warten so lange, bis er satt ist oder seine Geschäfte geregelt hat. Und keiner ist böse, denn Unvorhergesehenes ist normal. Fahrpläne sind in dieser Welt genauso überflüssig wie der Vorsatz, pünktlich zu einem Termin zu kommen.