Sei lieb zu Berndi... - Anita Ossinger - E-Book

Sei lieb zu Berndi... E-Book

Anita Ossinger

0,0

  • Herausgeber: 110th
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Im Jahre 1973 legalisiert der österreichische Staat den Missbrauch an einem Kind. Der zu schwerem Kerker verurteilte Lehrer wird begnadigt und erhält die Erlaubnis, das von ihm geschwängerte 13-jährige Kind zu heiraten; er kann also "ganz legal" den Missbrauch an seinem Opfer über Jahre fortsetzen. - 1976 wird dieser Pädophile sogar als pädagogischer Mitarbeiter im SOS-Kinderdorf in Salzburg angestellt. Zahlreiche seelisch schwer beeinträchtigte Waisenkinder werden somit einem Straftäter anvertraut. Der österreichische Staat setzt dem Ganzen die Krone auf und übernimmt seinen gefallenen Staatsdiener wieder in den Schuldienst. Erst als die Eltern eines ganzen Dorfes gegen den unfähigen Lehrer mobil machen und sich weigern, ihre Kinder weiter in die Schule zu schicken, muss der österreichische Staat reagieren und befördert seinen Schützling in die Frühpension, wo er auf Kosten des Steuerzahlers bis heute ein beschauliches Leben führt. Sein ihm anvertrautes Opfer wurde nach sechsjährigem Scheidungskrieg endlich schuldlos von ihm geschieden. Dieser lange Leidensweg, vom ersten sexuellen Missbrauch bis zur Scheidung, wird in diesem Buch dokumentiert.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 462

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anita Ossinger

Sei lieb zu Berndi…

Die Geschichte einer leidvollen Kindheit

Impressum

Cover: Karsten Sturm, Chichili Agency

© 110th / Chichili Agency 2015

EPUB ISBN 978-3-95865-592-8

MOBI ISBN 978-3-95865-593-5

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Im Jahre 1973 legalisiert der österreichische Staat den Missbrauch an einem Kind. Der zu schwerem Kerker verurteilte Lehrer wird begnadigt und erhält die Erlaubnis, das von ihm geschwängerte 13-jährige Kind zu heiraten; er kann also „ganz legal“ den Missbrauch an seinem Opfer über Jahre fortsetzen. – 1976 wird dieser Pädophile sogar als pädagogischer Mitarbeiter im SOS-Kinderdorf in Salzburg angestellt. Zahlreiche seelisch schwer beeinträchtigte Waisenkinder werden somit einem Straftäter anvertraut.

Der österreichische Staat setzt dem ganzen die Krone auf und übernimmt seinen gefallenen Staatsdiener wieder in den Schuldienst. Erst als die Eltern eines ganzen Dorfes gegen den unfähigen Lehrer mobil machen und sich weigern, ihre Kinder weiter in die Schule zu schicken, muss der österreichische Staat reagieren und befördert seinen Schützling in die Frühpension, wo er auf Kosten des Steuerzahlers bis heute ein beschauliches Leben fuhrt. Sein ihm anvertrautes Opfer wurde nach sechsjährigem Scheidungskrieg endlich schuldlos von ihm geschieden. Dieser lange Leidensweg, vom ersten sexuellen Missbrauch bis zur Scheidung, wird in diesem Buch dokumentiert.

Kapitel 1

Ich war gerade elf Jahre alt geworden, als ich zum ersten Mal den Namen jenes Mannes zu hören bekam, der in den folgenden Jahrzehnten mein Leben bestimmen sollte. Es war 1970, zu Beginn meines fünften Schuljahres, als der Bruder meiner damaligen besten Freundin in der Schule eine Strafarbeit zu schreiben bekam, die wir Kinder für ungeheuerlich lang hielten. Alle drei, meine Freundin Brigitte, ihr Bruder und ich waren entrüstet über die Anzahl der Seiten im Lesebuch, die er abzuschreiben hatte. Verwundert erkundigte ich mich nach dem Lehrer, der solch hohe Strafen an uns Kinder verteilte. Meine Freundin nannte mir den Namen und ergänzte: „Er ist neu an der Schule.“ – „Wie heißt der?“, fragte ich reflexartig nach. – „O.“, wiederholte sie den mir bisher unbekannten Namen.

„So ein komischer Vogel“, entfuhr es mir, ohne zu ahnen, dass mich dieser Name fast mein ganzes Leben lang mit Schrecken begleiten sollte. Aber erst Monate später sollte sich der fremde Name mit dem Abbild eines wirklichen Menschen verknüpfen.

Vor dem Lebensmittelladen von Brigittes Eltern parkte ein roter Austin Mini 850, die Autotür stand weit offen und ein schlanker, groß gewachsener Mann mit Brille unterhielt sich, mit einem Bein locker auf einer Stufe stehend und mit der Hand an der geöffneten Wagentüre abgestützt, lebhaft mit der Mutter meiner besten Freundin. Ich kam gerade aus dem Geschäft, erblickte die beiden und huschte mit einem knappen, schüchternen „Grüß Gott“ an den plaudernden Erwachsenen vorbei. Ich spürte, wie mich die Augen des Mannes aufmerksam verfolgten, bis ich endgültig ihrem Blickfeld entflohen war.

Der Anblick des groß gewachsenen, brillentragenden Mannes war meine erste bewusste Wahrnehmung von diesem Menschen. Während dieser Zeit ging er aber schon bei den Eltern meiner Freundin regelmäßig ein und aus, die ihn als Nachhilfelehrer, wie vier andere Familien der Gemeinde auch, engagiert hatten. Auf Grund der Bekanntschaft meiner Eltern mit jenen von Brigitte dauerte es nicht lange, bis sich die Wege meiner Mutter und meines Vaters mit denen von O. kreuzten. Schnell entwickelte sich ein reger, immer intensiver werdender Kontakt zwischen dem smarten Lehrer und meinen Eltern. Vorerst kam er nur an den Abenden. Später häuften sich seine Besuche und ich fühlte, wie sein Interesse an mir immer stärker wurde, doch ich erwiderte sein Augenmerk nicht im Geringsten. Er war ein Freund meiner Eltern, ich war ein Kind, das mit den anderen Kindern des Hauses und der Umgebung spielen wollte. Die Kinder des Hauses waren mir das Bedeutendste. Wir spielten eine Reihe von Spielen, wie „Der Kaiser schickt Soldaten aus“, „Zimmer, Küche, Kabinett“ oder „Land abnehmen“ …

So schenkte ich dem Lehrer vorerst keine Beachtung. Dennoch bemühte er sich immer wieder, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Er hütete sich vorerst noch, mich vor meiner Mutter oder meinem Vater anzusprechen. Vielmehr suchte und provozierte er immer öfter Situationen, in denen er mit mir alleine sein konnte. Es dauerte nicht allzu lange und O. hatte das Vertrauen meiner Eltern vollständig gewonnen. Bald wurde er von ihnen nur noch liebevoll mit dem Vornamen angesprochen, den meine Mutter voller Begeisterung und Zuneigung noch mit dem verniedlichenden „Diminutiv-i“ versah; dies hauptsächlich, um den Nachbarn ihre große Vertrautheit mit dem „Herrn Lehrer“ beweisen zu können. Langsam aber stetig erschlich er sich jedoch auch mein Vertrauen, denn er schien der Einzige zu sein, der mich wirklich wahrnahm und sich für mich einsetzte. Für meine Familie, so hatte ich meist das Gefühl, existierte ich nicht wirklich. Meine Mutter legte ihr Hauptaugenmerk nahezu ausschließlich auf sich selbst, nur wenn sie schlecht gelaunt war, was nahezu täglich der Fall war, bekundete sie lediglich in Form von Prügeln reges Interesse an mir. Mein Vater verbrachte den Großteil seiner Zeit mit Trinken und Schwarzarbeiten, heimgekommen ist er nur an den Wochenenden. Zu Hause hatte ihn meine Mutter fest in ihrer Hand, sie kontrollierte seine Arbeitszeiten und verfügte über das erwirtschaftete Geld. In den seltenen Momenten, wo er nicht arbeitete und sich nicht dem Alkohol hingab, konnte ich ein bisschen Zuneigung seinerseits verspüren. Aber das war meinem kindlichen Bedürfnis nach Liebe und Geborgenheit zu wenig, es war genug, um nicht vollkommen zu verhungern, aber gesättigt war ich nie.

Diese emotionale Bedürftigkeit war meine große Schwäche und O. wusste sie für sich zu nutzen. Er setzte sich für mich ein, er gab mir das Gefühl, verstanden zu werden, er ermutigte mich, meine Interessen zu vertreten. So bestärkte er mich, einen unerlaubten Religionstest zu verweigern; ich hatte Erfolg damit, was meine Bewunderung für diesen scheinbar klugen und einfühlsamen Mann, der sich für mein Leben und meine Probleme interessierte, stärker werden ließ. Ich war zu jung und zu naiv, ich bemerkte nicht, wie er mich mit unsichtbaren Fäden nach seinen Wünschen, seinen Vorstellungen manipulierte. Als Erstes stahl er mein Herz – später meinen Körper.

Unbedacht begann ich mich Bernd O. gegenüber zu öffnen. Ich erzählte ihm von meinem Schulalltag, meine Leistungen wurden auch besser, da ich nun einen Ansprechpartner hatte. Es folgten Geschenke, vorerst ein Buch mit dem Titel „Vevi“, später ein Fahrrad und nahezu unmerklich wurde es selbstverständlich, dass der Bernd täglich bei uns, wie ein Familienmitglied, ein- und ausging.

Unterdessen waren die Nachhilfestunden bei den Familien im Ort beendet und Bernd O. veranlasste seine Versetzung in eine kleine Bergschule nach Kleinradl, da er mit dem Direktor der Volksschule in Eibiswald kein Auskommen fand. Doch der Weg zurück an seine alte Schule war auch versperrt, denn seine Stelle wurde schon nachbesetzt. So lehrte er an der kleinen Bergschule, in der er keine Kollegen und auch keinen Direktor an seiner Seite hatte. Nur drei Altersstufen, die er in einer Klasse unterrichten konnte, so wie er es für richtig hielt. Untergebracht in einer kleinen Wohnung im Schulgebäude und versorgt vom benachbarten Bauern, dessen Kinder ebenfalls von Bernd unterrichtet wurden, schien er dort ein geordnetes Leben zu führen.

Eines Tages hatte Brigitte die Idee, Bernd mit den Fahrrädern einen Besuch abzustatten und nun, da ich ein neues Fahrrad besaß, konnte ich sie auch begleiten. Für mich war das in Ordnung, denn ich mochte ihn ja auch. Ich ahnte nicht, in welch schicksalhafte Situation mich einer dieser Besuche bringen sollte. Es gefiel uns gut, mit den Rädern zur kleinen Schule zu strampeln und so wiederholten wir den Ausflug. Es geschah nichts Ungewöhnliches, aber die Großmutter meiner Freundin verbot die Besuche mit den Worten: „Es schickt sich nicht für ein Mädchen, einen jungen Mann zu besuchen, der alleine lebt.“

Mein Bruder erzählte mir eines Tages, dass er den „Berndi“ beobachtet hätte, als er meine Freundin küsste – er alarmierte daraufhin sofort ihre Mutter. Dieser Vorfall schien wohl der wahre Grund für das Verbot zu sein. Auch erfuhr ich viele Jahre später, dass Bernd O. zu jener Zeit schon bei Brigittes Eltern wohnte, Brigitte auch für ihn schwärmte, wie es oftmals junge Mädchen für ihre Lehrer tun, wodurch eine versteckte Rivalität zwischen uns entstand. Aber damals erschienen mir diese Dinge nicht besonders wichtig und ich kümmerte mich nicht weiter darum.

Der Aufmerksamkeit ihrer Großmutter verdankte meine Freundin die ihr verbliebene Unschuld, meinen Eltern hingegen entgingen seine gierigen Blicke oder sie maßen ihnen keine Bedeutung zu. Viel zu mächtig wurde ihr Wunsch, ihr Wille, „Berndi“ bei uns wohnen zu haben, zu sehr widmeten sie sich dem Konkurrenzkampf mit Brigittes Familie um seine Gunst. Das Szenario schien wie ein groteskes Abwerben Bernds von Brigittes Eltern. Seine Wirkung auf unseren sozialen Status ließ meine Familie anscheinend alle Bedenken vergessen, alle moralischen Regeln brechen. Er genoss den Rang eines „Heiligen“, egal was er tat. Seine Besuche bei uns blieben häufig, dabei verwickelte er mich in Abwesenheit meiner Eltern in Gespräche, die mir seltsam und komisch erschienen. Es hatte immer den Anschein, als fordere er etwas ein, was ihm nicht zustünde.

„Ich würde mich so freuen, wenn du mich besuchen würdest. Ich bin so alleine. Jetzt, da du ein Fahrrad hast, kannst du mir doch den Gefallen tun – oder bin ich dir nicht gut genug?“, meinte er eines Tages.

Ich antwortete verlegen: „Ja, ich kann schon mal kommen.“

„Vergiss es aber nicht!“, kam es fordernd zurück.

„Nein, nein“, sagte ich hastig und rannte in den Hof zum Spielen.

Es verstrichen Wochen, ehe ich ihm den versprochenen und für mich als Last empfundenen Besuch abstattete. Es war sehr anstrengend mit dem zusammenlegbaren, ohne Gangschaltung versehenen Minirad die bergige und lange Strecke zu bewältigen, vor allem, weil meine Freundin nicht dabei war und ich niemanden zum Quatschen und Herumalbern hatte. Mit knallrotem Kopf und völlig durchgeschwitzt stand ich dann vor seiner Wohnung. Er empfing mich freudestrahlend. Nachdem ich seine Wohnung betreten hatte, gab er mir zu trinken, um meinen großen Durst zu löschen. Ich nahm ihm gegenüber auf einem roten Fauteuil mit schwarzen Armlehnen Platz. An den Inhalt des Gesprächs, das er mit mir führte, erinnere ich mich nicht, jedoch daran, noch nie zuvor so lange mit ihm alleine gewesen zu sein.

An jenem Nachmittag in seiner Wohnung geschah nichts Außergewöhnliches, er schien nur große Freude an meinem Besuch zu haben, sodass ich beschloss, öfter zur kleinen Schule zu radeln. Bei einem meiner folgenden Besuche bei Bernd O. stand ich am Fenster und blickte auf die sich vor mir ausbreitende Hügellandschaft, als ich plötzlich zwei Hände an meinem Körper spürte, die sich von hinten ihren Weg zu meinen kindlichen Brüsten suchten. Ich erstarrte bei diesen Berührungen, mein Atem stockte, als er seinen Körper an mich presste und ich seine Erregung zwischen meinen Beinen fühlte. Er begann mir ins Ohr zu stöhnen, er hob mich hoch und trug mich auf sein Bett. Ich lag wie versteinert dort, er hingegen war dabei, mich zu entkleiden. Mein Herz pochte wie verrückt. Ich wusste nicht wirklich, was mit mir geschah, was er mit mir vorhatte. Ich hielt meine Augen fest geschlossen, stellte mich tot, denn ich wusste, Schreien würde nichts helfen, da mein Rufen ohnehin von niemandem gehört werden konnte. So verstummte ich – nur in meiner Seele brannte sich ein Schrei nach dem anderen ungehört ein.

Immer wieder versuchte er meine fest aneinander gepressten Schenkel zu öffnen, um mit seinem vor Erregung gehärteten Genital in mich einzudringen. Seine Hände waren überall auf meiner Haut, sie schienen sich unendlich zu vermehren, griffen jedes Körperteil ab. Sein nackter schwerer Körper drückte mit vollem Gewicht auf meinen zerbrechlichen Leib, ich spürte seine Schambehaarung und nach einer Reihe immer heftig werdender Bewegungen ließ er von mir ab und eine zähe Flüssigkeit kroch meine missbrauchten Schenkel hinunter. Es schien nun endlich vorbei zu sein, er verharrte noch einige Zeit reglos neben mir auf dem Bett, ehe er sich erhob, sich ankleidete und für einige Zeit den Raum verließ. Ich öffnete zum ersten Mal seit Beginn des Missbrauchs meine Augen, blickte mich im Zimmer um, wobei ich zu meinem Erstaunen feststellte, dass ich nicht gestorben war. Nichts rund um mich hatte sich verändert. Ich setzte mich auf, starrte auf meine beschmutzten Oberschenkel und zog mir schnell meine Hose darüber. Keiner sollte sehen, was passiert war – selbst ich nicht.

Dann betrat er erneut das Zimmer, aber er benahm sich, als wäre nichts geschehen. Es erschien mir unglaublich, doch ich war froh darüber, dass er sich jetzt wieder normal verhielt. Gehetzt, als würde ich vom Leibhaftigen verfolgt, raste ich mit meinem Rad zurück ins Tal. Meine größte Furcht war, dass ich mich oder irgendetwas an mir das Geschehene verraten könnte. Ich dachte jeder würde auf den ersten Blick die schreckliche Tat, die an mir verübt wurde, erkennen. Ich schämte mich so! Meine vor Angst geweiteten Pupillen blickten unruhig auf den ersten Menschen, der meinen Weg querte. Ich heftete meinen Blick an die fremde Person, ich stierte ihr ins Gesicht und erwartete jeden Augenblick eine Reaktion, doch es geschah nichts. Der Mann erwiderte meinen Gruß und ging an mir vorüber.

„Andere werden es sehen …“, dachte ich, „… meine Mutter und gewiss meine Freundin werden es sehen.“

Doch wieder ereignete sich, entgegen aller meiner kindlichen Erwartungen und Ängste, nichts. Niemand erkannte das Leid, welches er über mich gebracht hatte und ich war nicht in der Lage, es jemanden zu erzählen. Ich beschloss, all dies zu verheimlichen. Wenn es niemand sah, dann sollte es auch niemand von mir erfahren. Ich wich der Sache aus: es gab keine Besuche mehr.

***

Mittlerweile war es Sommer geworden und die Ferienzeit begann.

Ich dachte mit dem Ende meiner Besuche sei auch dem sexuellen Missbrauch ein Riegel vorgeschoben, doch ich irrte mich, das wahre Martyrium sollte erst jetzt beginnen. Meinen Eltern konnte ich mich nicht anvertrauen und so blieb der „Berndi“ ein guter Freund der Familie. Diese Freundschaft gipfelte in der Idee eines gemeinsamen Zelturlaubes in Istrien. Drei Erwachsene, mein Hund und ich in einem Zelt – ich hatte das Gefühl, als könnte ich schon jetzt seinen feuchten Atem spüren. Es wurde also alles für den kleinen Familienausflug nach Savutrija in den 850er Mini verladen, an jenen Ort, wo Bernd zum ersten Mal das Meer sah.

Zu Beginn des Urlaubs schliefen meine Eltern und ich im Innenzelt und Bernd im Vorzelt, doch es war schon Ende August und die Nächte wurden frischer, meinte zumindest meine Mutter. So ergab es sich, dass er einen Platz im Innenzelt bekam, dicht an meiner Seite. Nacht für Nacht war ich ihm nun ausgeliefert, seine Finger krochen wie kleine bösartige Insekten unter meine Decke. Dort an meinem Körper angekommen, begannen sie sich über meine kindliche Scham und meine Brüste zu verteilen. Drehte ich mich zur Seite, versuchte er sich mit seinem erigierten Glied von hinten Einlass zu verschaffen. Niemand wollte etwas bemerken. Untertags verlief alles normal, denn vorläufig hütete er sich noch, vor anderen Menschen seine perversen Absichten zu demonstrieren. Nur im Auto, wenn ich hinter ihm saß, griff er immer wieder mit seiner linken Hand nach meinen Beinen. Wiederum wollte niemand etwas wahrhaben.

Der Urlaub ging vorüber, wir kehrten nach Hause zurück und die Schule begann erneut mit ihrem alljährlichen Zyklus. Eine Veränderung meines Wesens setzte nun langsam, aber für andere wahrnehmbar, ein. Den bohrenden Fragen meiner Freundin wich ich aus, ich begann mich mehr und mehr zu verschließen. Nur im Spiel kehrte meine Unbekümmertheit für kurze Zeit zurück, ich wollte dieses flüchtige Glück nicht durch Gedanken an die schrecklichen Vorfälle entschwinden lassen. Ich wollte es festhalten, solange es mir möglich war.

Es wurde Oktober, zu meinem zwölften Geburtstag schenkte er mir einen Verlobungsring aus Rotgold mit einem weißen Stein. Er erwartete, dass ich den Ring tragen würde; aber niemand fragte nach diesem außergewöhnlichen Geschenk eines erwachsenen Mannes an ein gerade zwölfjähriges Mädchen. Im Winter, bei hoher Schneelage und damit verbundener Unpassierbarkeit der Straße zur kleinen Bergschule, verschlimmerte sich meine Situation beträchtlich. In diesen Fällen wurde es zur Gewohnheit, dass er bei uns in der Wohnung, im Durchgangszimmer zwischen Küche und Schlafzimmer, nächtigte. Es war eine untragbare Situation. Vier Menschen und ein Hund in einer winzigen Wohnung, doch meine Eltern erkannten scheinbar nichts Bedenkliches an dieser Konstellation. Ganz im Gegenteil: Ich musste gemeinsam mit Bernd in ihrem Ehebett nächtigen, weil sie angeblich krank waren und im geheizten Kabinett schlafen wollten. Nicht alle Erwachsenen in dem großen Haus waren jedoch derart naiv und es begannen sich die Gerüchte über uns und die sonderbaren Vorgänge zu mehren:

„Was sucht der bei denen? Jetzt schläft er auch schon dort. Irgendetwas stimmt da nicht. Ob das mit rechten Dingen zugeht?“ – Dieser Art waren die hinter vorgehaltenen Händen getuschelten Meinungen, die im Haus und der Umgebung die Runde machten.

Meine Mutter wehrte die Gerüchte lapidar mit der immer gleichen Floskel ab: „Die sind doch nur neidisch. Wir sind eben was Besseres.“

Im ganzen Ort verbreiteten sich nun die Geschichten über die täglichen Besuche und die Übernachtungen wie ein Lauffeuer und Bernd O. verlor allmählich den Kontakt zu den anderen Familien, bei denen er früher ein nicht ungern gesehener Gast war. – Doch nichts konnte ihn davon abhalten, bei uns weiter ein- und auszugehen.

Ostern stand vor der Tür und Istrien entwickelte sich zu einem beliebten Urlaubsziel für meine Familie. Das letzte Jahr erstandene Zelt wollte schließlich genutzt werden und so stand das Reiseziel für die nächsten Sommerferien auch schon fest. Ein Zelturlaub. Als sei es nie anders gewesen. „Berndi“ war nun schon Teil der Familie und daher bei jedem Urlaub ein willkommener Gast. Diese Einladungen ließ er sich nie entgehen, zu groß war sein Bedürfnis, in meiner Nähe zu sein, um mich immer wieder zu missbrauchen. Inzwischen hatte ich zum ersten Mal meine Tage bekommen. Meiner tiefen seelischen Verletzung folgte nun also eine dramatische körperliche Veränderung, der ich hilflos und ohne Unterstützung gegenüberstand.

Im Sommer reisten wir wieder nach Istrien, dieses Mal stand Isola auf dem Programm. Dort freundete ich mich mit einem gleichaltrigen Jungen an. Wir verstanden uns prächtig, wir tobten im Wasser oder spielten mit dem Ball und genossen die schöne Zeit. Dem eifersüchtigen Bernd entging diese, wenn auch bloß spielerische und kindliche Zuneigung nicht und eines Tages, als ich den Jungen vor den Waschanlagen traf, tauchte auch Bernd plötzlich dort auf. Er vertrieb meinen Spielkameraden für immer unter Androhung von Prügel, falls er ihn noch einmal in meiner Nähe sehen sollte. Das war das abrupte Ende einer kurzen Freundschaft. Zur gleichen Zeit hatte eine junge, blonde Slowenin an ihm Interesse gezeigt, sie wollte mit ihm ausgehen und ihm die Umgebung zeigen. Er lehnte die romantische Einladung aber erschrocken ab. Der jungen Frau kam diese ablehnende Haltung vorerst nicht weiter komisch vor. Erst als sie dann in einem kurzen Gespräch mit meiner Mutter erfuhr, dass Bernd nicht, wie von ihr angenommen, mein Bruder war, fand sie die ganze Situation doch etwas eigenartig. Meine Mutter reagierte auf ihre Frage, wer denn Bernd sei und in welchem Verhältnis er zu unserer Familie und mir stünde, er sei nur ein Freund der Familie.

Die junge Slowenin antwortete darauf etwas verwundert: „Das finde ich sehr merkwürdig, dass ein erwachsener Mann so viel Zeit mit einem Kind verbringt.“

Meine Mutter entgegnete naiv und die junge Frau abwimmelnd: „Ja, er mag sie halt sehr gerne.“

Dass der „Berndi“ nur noch neben mir im Zelt schlief, war inzwischen selbstverständlich geworden. Es schien, als ob jeder Mensch, der uns begegnete, instinktiv meine Qualen wahrnehmen konnte, nur meine Eltern offensichtlich nicht. Das kränkte mich umso mehr, da ich mich niemandem anvertrauen konnte. Meine Eltern beschlossen, ab nun ihre Abende alleine verbringen zu wollen und mich ganz der Obhut ihres neuen Lieblings zu überlassen. Oftmals fuhren wir ziellos mit dem Auto in der näheren Umgebung umher, aber besonderen Gefallen fand er an Spaziergängen im Hafen, an der Mole, wobei er mir die dort ankernden oder vorbeifahrenden Schiffe erklärte. Er verpackte seine pädophilen Fantasien, die nicht selten traurige Wirklichkeit wurden, in romantische, märchenhafte Träumereien. Während er den Sternenhimmel betrachtete, schwärmte er vom gemeinsamen Höhepunkt, den er mit mir erleben möchte. Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Ich spürte nur jede Nacht, wie lebendig und todernst diese Märchen für mich werden konnten, wenn er versuchte mit seinen Fingern in mich einzudringen.

***

Zu Hause wollten die Gerüchte um die seltsamen Vorgänge in unserer Familie nicht verstummen, die Blicke der Dorfbewohner und Nachbarn sprachen Bände. Auch an Bernd O. ging diese misstrauische und feindselige Stimmung nicht spurlos vorüber, sodass er beschloss, eine mögliche Stelle als Studienrat in Deutschland anzunehmen. Es wurde ihm zu gefährlich, er wusste um das Verbrechen, welches er nahezu täglich an mir beging. Als ich davon erfuhr, er berichtete uns von der angeblichen Arbeitsstelle in Deutschland, durchströmte mich ein Gefühl der Erleichterung. Es würde Frieden einkehren in meiner Seele und mein Körper sollte wieder mir alleine gehören. Meine Eltern betrauerten sein Fortgehen, so als würde ihr einziger Sohn in den Krieg ziehen. Sie hatten „Berndi“ so sehr in ihrem Herzen aufgenommen und so sehr schlossen sie ihre Augen vor seinem wiederholten, zerstörerischen Einbruch in den kindlichen Körper ihrer Tochter.

Ich hoffte nun, etwas Ruhe zu finden, meine Fröhlichkeit wieder leben zu lassen, aber das Glück ließ sich nur kurz von mir halten und der finstere Schatten, der sich vor einiger Zeit dunkel über meine Kindheit gelegt hatte, kehrte unaufhaltsam und schicksalhaft zurück. Es geschah bei seiner Fahrt nach Deutschland, als O. beim Überqueren einer Straße von einem Auto angefahren und schwer verletzt liegen gelassen wurde. Es schien wie eine Strafe für seine begangenen Sünden, das Resultat aber war die Verlängerung meines Leidensweges.

Ich erfuhr von seinem Unfall mit der damit einhergehenden Einlieferung in das Kufsteiner Krankenhaus von meiner aufgeregten Mutter. Meine Freundin und ich verbrachten diesen Tag an unserem Lieblingsplatz, bei einer kleinen Brücke, an deren Ende ein herrlicher Apfelbaum stand; auch wuchsen dort Weintrauben mit ihrem säuerlichem Fruchtfleisch. Um an das geschmackvolle Innere der Traube zu gelangen, musste zuerst die Schale abgezogen werden. Wir stülpten die Schale gekonnt über die Zungenspitze und bliesen sie dann auf den Boden, so nach dem Motto: Wer spuckt am weitesten? Es gab Tage, an denen die schmale Straße zur Brücke blau übersät war von den vielen Schalen der Schilchertraube. Als ich zurückkam und durch die Wohnungstür trat, wirbelte meine Mutter in hellster Aufregung durch unser beengtes Zuhause. Sie rief, hektisch nach Luft schnappend: „Der Berndi liegt schwer verletzt im Krankenhaus in Tirol. Er hat mich angerufen, ich soll ihn besuchen kommen!“

Wir hatten kein eigenes Telefon in der Wohnung, der nächste Apparat befand sich im Lebensmittelladen von Brigittes Eltern. Sie waren es auch, die meiner Mutter die Nachricht überbrachten. Sie ergänzte nervös fragend: 

„Ich werde so schnell wie möglich zu ihm fahren. Kommst du mit?“

„Nein, das freut mich nicht“, gab ich kurz zurück. Was sollte ich dort? Ich war doch froh, dass er endlich nicht mehr in meiner Nähe war und seine schmutzigen Neigungen an mir ausleben konnte. Erkannten meine Eltern keine Veränderung an mir? Erkannten sie nicht eine entspanntere, glücklichere Tochter, seit ihr Peiniger seine Abreise angetreten hatte? Anscheinend ging mein Leben spurlos an ihnen vorüber – nur so konnte ich mir ihre Gefühllosigkeit erklären. Meine Mutter machte sich also alleine auf den beschwerlichen Weg –die schlechten Verkehrsverbindungen machten aus dem Besuch eine kleine Odyssee –, um ihren verlorenen, verletzt und am Straßenrand liegen gelassenen Sohn wiederzusehen. Sie ging vollkommen auf in ihrer Rolle als Ersatzmutter für Bernd; so war bei ihrer Heimkehr von nichts anderem mehr die Rede, nur noch dessen Gesundheitszustand stand im Mittelpunkt aller familiären Unterhaltungen. Sie erzählte atemlos: „Der arme Berndi! Sein ganzes Knie ist kaputt! Hoffentlich bleibt sein Fuß nicht steif. Was wird das noch werden? Aber er hat sich so gefreut, als er mich gesehen hat und er war ja so traurig, dass seine Anita nicht mitgekommen ist.“ Ich hörte meine Mutter zwar jammern, ihre Worte und vor allem Bernds gesundheitlicher Zustand waren mir aber vollkommen egal. Sie hingegen lamentierte munter weiter: „Hätte es ihn am Kopf getroffen, dann wäre er tot gewesen. Er war fast schon auf der anderen Straßenseite, er wollte gerade den Gehsteig betreten, als ihm dieser schreckliche Unfall passierte …“ – In dieser Tonart ging es fast ununterbrochen dahin, bis nach ungefähr vierzehn Tagen Bernd, auf einen Stock gestützt, vor unserer Haustür stand.

Der dunkle Schatten legte sich erneut über mein Leben.

***

Es war für meine Eltern eine Selbstverständlichkeit, ihren schwer verletzten, aber wiedergewonnenen Sohn bei uns aufzunehmen, also nistete sich mein Peiniger in unserer winzigen Wohnung ein. Auch mein letzter Zufluchtsort war somit vom „Feind“ besetzt, meine Hoffnung auf körperlichen und seelischen Frieden verlor sich mit dem Anblick seiner Person auf unserer Türschwelle im Nichts. Zu allem Übel fiel der Zeitpunkt seiner Rückkehr auch noch in die Ferienzeit, ich verbrachte viel Zeit zu Hause und er nutzte nun alle Gelegenheiten, sich an mir zu vergehen, um sich seine Befriedigung zu verschaffen. Wenn meine Mutter morgens das Haus verließ, um einkaufen zu gehen, weckte er mich und drängte mich auf sein provisorisches Bett. Er handelte dabei immer dreister und selbstgefälliger, es schien als habe er auch die Angst verloren, von meiner Mutter bei seinen sexuellen Attacken gegen mich ertappt zu werden. Kein Gedanke über ein verfrühtes Heimkehren meiner Mutter schwächte sein aggressives Vorgehen. Manchmal stieg in mir die düstere Vorstellung einer stillen Abmachung zwischen „Berndi“ und meiner Mutter auf – so blind, wie sie sich in dieser Situation verhielt. Um so mehr fürchtete ich mich, dass jemand die Tür öffnete und das Verbotene entdecken könnte. Ich schämte mich, doch seine Gedanken kreisten nur um seine Befriedigung. Nun verlangte er schon den oralen Verkehr von mir, ich sollte sein Glied, welches er „Bimbo“ nannte, in den Mund nehmen. Mich würgte und reckte es, ich stand kurz davor mich zu übergeben. Dann fing er zu plaudern an. Er prahlte damit, zehnjährigen Schülerinnen an die Brustknospen gegriffen und mit seinen dreckigen Fingern an ihre Scham gefasst zu haben. Es habe ihnen gefallen, erzählte er stolz und sie wären immer wieder gekommen. Niemand wusste oder wollte davon wissen.

Wieder einmal war meine Mutter außer Haus. Bernd war es nun nicht mehr genug, mich zum Oralverkehr zu nötigen, er wollte jetzt alles.

Auf meinem Weg zur Toilette packte er mich und zog mich auf sein Bett, er fing an mich zu entkleiden, seine Hände waren überall, ich konzentrierte mich darauf, meine Schenkel fest aneinander zu pressen. Er lag auf mir, drückte mir seinen Penis in den Mund, seine Bewegungen wurden immer heftiger und seine Gier nach Befriedigung steigerte sich zusehends. Mit aller Kraft drängte er sein Knie zwischen meine Schenkel und plötzlich ging alles sehr schnell. Ich konnte der rohen Gewalt nicht mehr standhalten, meine Gegenwehr brach zusammen und ich spürte wie sich etwas Hartes den Weg in meinen Körper erzwang. Gleichzeitig breitete sich ein höllischer brennender Schmerz, der mich wie ein Blitz durchfuhr, in meinem Körperinneren aus. So stellte er sich also den gemeinsamen Höhepunkt vor, von dem er immer geschwärmt hatte. Es war vorbei und die Gewalt an mir hatte einen neuen Gipfel erreicht. Nicht nur war Bernd O. gewaltsam in meinen Kinderkörper eingedrungen, jetzt gesellte sich zu all dem Ekel und dem Leid auch noch die Angst vor einer Schwangerschaft.

Ich erinnerte mich noch mit schaurigen Schrecken an die scharfen Worte meiner Mutter, als sie über die Schwangerschaft von Gelis älterer Schwester erfuhr. Sie zürnte ungehalten: „Wenn sich das meine Anita erlauben würde, dann könnte sie was erleben!“ Wie könnte ich nach diesen Kommentar, nach dieser Bekundung des fehlenden Mitgefühls, auch nur ein Sterbenswörtchen meines Zustandes erwähnen? So blieb ich alleine mit meinem Schmerz und meinen Ängsten.

Inzwischen hatte ein neues Schuljahr seinen Anfang genommen, mein Peiniger befand sich noch im Krankenstand und meine Mutter ließ ihm weiter eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung in unserer winzigen Wohnung zukommen. Sie bereitete ihm Heublumenbäder, bewegte sein verletztes Bein unter Dampf und bekochte den Vergewaltiger ihrer Tochter mit Hingabe. Anstrengungen und Aufwendungen, die sie für mich niemals erbracht hätte. Er durfte sogar in einen Eimer pinkeln (… der Weg zur Toilette am Gang zu weit gewesen wäre), den meine Mutter dann mit Wonne leerte.

„Berndi, musst du noch einmal lulu?“, waren unter anderem ihre Worte, die mir einen Schauer über den Rücken laufen ließen. Sogar beim An- und Ausziehen war sie ihm behilflich, so als läge er bereits auf dem Sterbebett. Mein Vater, zwar nur an den Wochenenden zu Hause, schien mit der skurrilen Szenerie in seinem Heim einverstanden zu sein, zumindest protestierte er niemals.

Eines Tages ereignete sich eine bemerkenswerte Szene: Bernds Vater war bei uns aufgetaucht. Er schrie sich die Seele aus dem Leib, ging auf meinen Vater los und wollte ihn verprügeln. Sämtliche Hausbewohner waren dabei amüsierte und neugierige Zaungäste. Alle kamen sie aus ihren Löchern, um dem grotesken Theaterstück in ihrem Hof beiwohnen zu können. Doch auch dieser spektakuläre Auftritt veranlasste ihn nicht, in sein Elternhaus heimzukehren. Er hauste weiterhin bei uns, wo meine emsige Mutter unermüdlich für das Wohlergehen ihres „neuen Sohnes“ sorgte. Dieser zeigte sich erkenntlich und schenkte uns ein Fernsehegerät. Unsere Familie hatte damit einen neuen Status erlangt, angesichts der Tatsache, dass es zuvor für vierzig Parteien nur ein einziges Fernsehgerät gab. Die Mühen hatten sich scheinbar gelohnt, nur mich beachteten meine Eltern jetzt noch weniger und Bernd hatte leichtes Spiel seine Misshandlungen unbemerkt fortzuführen. Seine Genesung war Dank der Aufopferung meiner Mutter nahezu abgeschlossen und auch sein offizieller Krankenstand neigte sich dem Ende zu. Da er aber ein Reservistendasein beim Bundesheer fristete, musste er vor einem erneuten Dienstantritt als Lehrer noch seine vereideten Pflichten gegenüber dem Staat erfüllen. Doch seine Pläne waren andere: Er konnte nicht einrücken, er wollte nicht Monate von mir getrennt sein … Nicht jetzt, da alles perfekt für ihn lief.

An dem Abend, wo er in die Kaserne musste, setzte er mich in sein Auto und wir fuhren los. Am Posten vor der Kaserne angekommen, versuchte er wortreich seiner Verpflichtung als Leutnant der Reserve zu entkommen, doch alle seine Argumente halfen ihm nicht. Es kam zu einem lauten Wortgemenge, der Postenkommandant musterte mich eindringlich und nach einem Telefonat erschien die Militärstreife. Auch die vorgefahrenen Militaristen der Streife appellierten ernsthaft an Bernd, doch dieser redete immer nur davon mich nach Hause bringen zu müssen. Doch dieses vorgeschobene Argument fand keinerlei Gehör, die Situation spitzte sich unaufhaltsam zu und eskalierte plötzlich, als bei Bernd sämtliche Gehirnfunktionen auszusetzen schienen.

Er schrie mich an: „Halt dich fest!“, dann trat er wie besinnungslos aufs Gaspedal und raste in Richtung Posten. Die Männer hechteten geistesgegenwärtig zur Seite, sprangen in ihren Streifenwagen und eine wilde Verfolgungsjagd begann. Ich hielt mir verängstigt die Augen zu – ich dachte, der Wagen würde sich jeden Moment überschlagen. Mit Vollgas und ohne Rücksicht auf Verluste flüchtete er in Richtung unserer Ortschaft, gefolgt von der Militärpolizei unter Blaulicht. Er raste wie ein Verrückter, es gelang ihm aber nicht, die Verfolger abzuschütteln. In seiner Verzweiflung setzte er ein gewagtes Manöver und verschaffte sich einen kleinen Vorsprung: Er bog in Richtung Rehabilitationszentrum ab, die halsbrecherische Fahrt endete auf einem Parkplatz – es war eine Sackgasse. Umdrehen konnte er nicht, zu gering war der Abstand zu seinen Jägern. Wir stürmten aus dem parkenden Fahrzeug in Richtung Krankenhauseingang. Wir versteckten uns im Parterre in einem Badezimmer. Ich hörte die Stimmen der Militärpolizisten, welche die Gegend nach uns absuchten. Scheinbar hatten sie nicht mit unserer waghalsigen Flucht ins Krankenhaus gerechnet, denn sie suchten nur oberflächlich im Inneren und rückten dann wieder ab.

Zu unserem Glück hatte bereits der Nachtdienst begonnen, es war schon kurz vor Mitternacht. Die langen Flure waren schon abgedunkelt und nur wenige Menschen waren noch unterwegs. Ich spürte meinen rasenden Herzschlag, vor allem in jenen Momenten, als Stimmen sich näherten. Meine Gedanken rotierten unaufhörlich. „Wann werden sie uns finden? Was wird dann passieren?“, dachte ich zitternd. Wir verharrten lange Minuten, ehe wir es wagten einen Blick aus dem Fenster zu riskieren, schließlich hinauszuspringen und wegzufahren. Bernd blickte ununterbrochen nervös in den Rückspiegel, dann parkte er vor der Hauptschule bei uns zu Hause. Es schien ihm der richtige Platz zu sein. Schleichend bewegte ich mich zehn Minuten durch die Nacht, um zu überprüfen, ob sich Soldaten vor unserem Haus befanden. Es waren noch keine Soldaten da, aber dafür meine Mutter, brüllend in ihrem Nachthemd: „Ja, was fällt denn dir ein, so spät daherzukommen.“ Keine Erleichterung über meine Ankunft, keine Fragen zu meiner Befindlichkeit, nur aufgebrachtes Schreien. In meiner Not versuchte ich ihr die ganze Geschichte in Kurzform zu präsentieren. Ihre Wut legte sich schnell und sie war auch sichtlich erleichtert, als ich ihr versicherte, dass es „Berndi“ gut gehe und er wohlauf sei. Dann schlich ich zurück zur Schule, wo ich Bericht bezüglich der fehlenden Präsenz des Militärs ablegte.

Wieder zu Hause angekommen, fiel ich todmüde in mein Bett. Als ich am Morgen aufstand, um in die Schule zu gehen, stand die Militärstreife vor unserer Wohnung. Sie schienen nicht so einfältig, wie er es sich erträumt hatte und führten ihn in Handschellen ab. In diesem Moment half ihm keine seiner Inszenierungen, kein Theaterspiel; er fing nur an zu weinen und zitterte am ganzen Körper. Der selbsternannte Held zeigte für einige Augenblicke sein wahres Gesicht. Mein großer Bruder war an diesem Tag zu Besuch, doch auch er fühlte sich auserkoren, für den Peiniger seiner Schwester einzutreten. Er wandte sich mit entsetzter Miene an die Militärpolizisten: „Nehmt doch ein bisschen Rücksicht! Ihr seht doch, wie schlecht sein nervlicher Zustand ist!“

„Das hilft jetzt alles nichts! Vorerst nehmen wir ihn mit, wir bringen ihn ins Heeresspital. Dort wird man ihn schon entsprechend versorgen. Desertieren ist kein Kavaliersdelikt!“, gaben die Männer unbeeindruckt zurück. Dieses Spektakel in unserem Haus sorgte natürlich für Gesprächsstoff im Ort. Die Menschen zerrissen sich ihre Münder, deren Kinder mieden vermehrt den Kontakt mir mir und als Lehrerhure wurde ich auch beschimpft. Nicht nur von den Erwachsenen, auch meine Mitschülerinnen und sogar meine beste Freundin wurden in diesen Sog der Ablehnung mitgerissen, was mich am stärksten traf.

Ich begann in eine trübe Einsamkeit einzutauchen und meine Isolation von der Mitwelt nahm täglich, stündlich, im Minutentakt zu. Ich litt ungemein und niemand wollte es wahrnehmen, niemand schien sich seine Finger verbrennen zu wollen. Man kümmerte sich nicht um fremde Angelegenheiten. Währendessen überbrückte Bernd seine Zeit im Heeresspital, versüßt von Besuchen meiner Mutter, die sich Sorgen um ihren verletzlichen „Ziehsohn“ machte. Auch mich hielt meine Mutter an, sie bei ihren Besuchen zu begleiten.

Die Präsenzdiener im Hospital beobachteten uns, wobei sie Bernd fragten: „Ist das deine kleine Schwester?“ Sie meinten dabei die schmächtige Person, die widerwillig neben seinem Krankenbett stand und sich von ihm unsittlich anfassen lassen musste. Sie meinten mich, ein dreizehnjähriges Mädchen, dessen Mutter wegsah, obwohl der Missstand unübersehbar war.

„Nein, das ist meine Freundin“, antwortete er ungeniert und versuchte damit den Missbrauch zu legalisieren.

„Die ist ja noch ein Kind! Spinnst du?“, erwiderten die jungen Männer entrüstet.

„Sie ist schon viel älter als sie aussieht“, konterte er.

„Komisch …“, murmelten die Wehrmänner resignierend und brachen das Gespräch ab.

Ich aber konnte nichts so einfach abbrechen. Noch keine dreizehn und ich wurde zum Fotografen geschleppt, weil „Berndi“ ein Bild von mir wollte. Davor noch zum Friseur, um die langen braunen Haare auf große Lockenwickler zu drehen, dann auftoupieren, schlussendlich in ein schwarz gestreiftes Minikleid gezwängt, etwas Schminke vom Fotografen aufgelegt, dann vor der Kamera in Position gebracht und fertig war das skurrile Trugbild eines Kindes, das als Erwachsener betrachtete werden sollte. Mit diesem Foto – seiner Ansicht nach war leider etwas wenig Bein zu sehen – ging er dann in der Kaserne „hausieren“ und wollte seine Kameraden damit beeindrucken. Doch der Militärdienst war ihm ein Dorn im Auge, besonders wegen der dadurch erzwungenen Trennung von mir. So stellte er sich eines Tages einer ärztlichen Kommission, die ihn auf Grund seines nervlich labilen Zustands für den Dienst untauglich erklärte. Er konnte seine Heimkehr antreten, dabei mein Martyrium und seine Befriedigung endlos verlängern.

Jahre später, als Bernd O. Hauptschullehrer und pädagogischer Mitarbeiter im SOS-Kinderdorf war – wie zynisch –, prahlte er gerne vor seinen vierzehnjährigen Schülern mit seinen abenteuerlichen, fast schon revolutionären Militärgeschichten. Seine Lieblingsgeschichte, als er angeblich einem Vorgesetzten in den Stiefel urinierte, blieb mir deutlich in Erinnerung. In Wahrheit krümmte er sich vor Angst bei dem Gedanken an das Bundesheer, seine Geschichten waren erlogen und Macht übte er nur über ein kleines Mädchen aus. Zurück aus dem Lazarett, fand Bernd in der Nachbargemeinde eine Stelle als Hauptschullehrer, aber das änderte nichts an seinen Gewohnheiten. Er wohnte weiter in unserer kleinen Wohnung, bestehend aus einem Zimmer – und die Befriedigung seiner sexuellen Erregungen lebte er immer noch ungehindert an mir aus. Nach gezielter und behutsamer Vorarbeit hatte er es nun auch fertiggebracht, sein Verhältnis mit mir in der Familie offenzulegen. Es war unfassbar: Ich schlief nicht mehr in meinem eigenen Bett, ich nächtigte mit ihm zusammen, so wie Mann und Frau, geduldet von meinen Eltern – und das im Alter von dreizehn Jahren.

Auch in der Schule wurde die Situation immer unerträglicher. Einige Klassenkameraden sprachen mich auf die seltsame Beziehung an, ich leugnete, solange es mir möglich war. Andere waren grausamer, sie wurden handgreiflich, sie stellten mir das Bein, während wir im Kreis liefen und ich ging zu Boden; ein anderes Mal spürte ich ihre Ellbogen in meinem Rücken. Aber die Lehrer drehten sich ungerührt zur Seite, um nicht eingreifen zu müssen. Nur einmal war meine Klassenlehrerin bei meiner Mutter, schon zu Beginn der herumschwirrenden Gerüchte, doch nichts geschah, weder im Guten noch im Schlechten. Ich war nun die „Lehrerhure“ und niemand wollte mehr mit mir zu tun haben. Auch meine engste Freundin Brigitte schloss die Haustüre vor meiner Nase, zuvor noch nach einer offensichtlichen Ausrede ringend. Meine einzige Vertrauensperson, meine Schwägerin, war auch nicht mehr da; sie hatte meinen Bruder verlassen und bald darauf mich. Ich war allein. Angst, Einsamkeit und Verzweiflung ergriffen Besitz von mir, das Kind in meiner Seele begann zu sterben. Tag für Tag, Nacht für Nacht, ohne Einhalt drang er in meinen Körper ein, den ich schon halb verlassen, abgestreift hatte, aber nun forderte er auch noch meine Seele, mein Innerstes. Mein Körper meldete sich trotz meiner Verneinung, ich hatte Schmerzen in der Lunge, ich bekam nur noch schwer Luft. Mein Vater und sein „Berndi“ brachten mich zum Lungenfacharzt, doch der konnte keine organischen Mängel feststellen. Wie sollte er auch, es waren die Symptome meines seelischen Leides.

Ich spielte kaum noch im Freien mit den anderen Kindern. Er war nachmittags immer zu Hause und da er ein Auto hatte, frönten wir alle gemeinsam der Lieblingsbeschäftigung meiner Mutter. Wir fuhren mit dem Auto spazieren – mir blieb keine Wahl. Dabei verlangte Bernd von mir, kurze, enge Röcke anzuziehen und nicht die angenehmen Jeans, die ich sonst am liebsten trug. Einmal schenkte er mir einen braunen Lederrock, den musste ich dann anziehen, wobei er mir jedes Mal beim Einsteigen zwischen die Beine fasste. Ich verabscheute es.

Als wir unsere Verwandtschaft in Slowenien besuchten, wurde ihnen Bernd als mein Freund vorgestellt. Die Tante meiner Mutter meinte noch: „Ja, er hat schon recht. Die Mädchen von heute sind eh schon alle verschmutzt, die kann man sich gar nicht früh genug aussuchen.“ Diese Worte trafen mich in meiner Unsicherheit. Der Wahnsinn, das Unfassbare hatte klammheimlich Normalität erlangt, keiner in meiner Familie schien sich daran zu stoßen, dass ein 28-jähriger Mann ein 13-jähriges Mädchen im Bett hatte.

Mitterweile war es Weihnachten geworden und ich bekam noch meine Tage. Die monatliche Ungewissheit war ebenso unerträglich wie der regelmäßige und nun von den Eltern legalisierte Missbrauch selbst. Monat für Monat hieß es warten, zittern und hoffen. Kurz machte sich Erleichterung in mir breit, wenn der monatliche Zyklus seinen Lauf nahm, doch sehr schnell machte sie der Angst vor dem nächsten Monat Platz. Mein jüngerer Bruder kam in den Weihnachtsferien zu Besuch – ich hatte noch etwas Hoffnung, dass er mich retten könnte. Er erkundigte sich über die Gerüchte, doch durch eine kurze Schilderung der Lage von meinen Eltern beruhigt, verbrüderte er sich mit meinem Peiniger. So war auch dieser Hoffnungsfunke lautlos erloschen. Die Feiertage waren vorüber, ein neues Jahr brach an und die Schule begann von Neuem. Schon am ersten Tag merkte ich, dass sich nichts gebessert hatte, vielmehr kam ich mir vor wie in der Hölle. Auch in meiner Klasse wurde ich nun angegriffen, es blieb mir keine Ecke mehr, in der ich mich sicher fühlen konnte. Meine Leistungen ließen nach, ich konnte mich kaum noch auf den Unterricht konzentrieren, viel zu sehr beschäftigte mich die Angst vor einer Schwangerschaft. In meinem Lieblingsfach „Turnen“ sollte ich eines Tages vom Bock springen, als während des Sprunges ein stechender Schmerz meinen Bauch durchfuhr. Ich stürzte ungebremst zu Boden und ein Aufschrei ging durch den Turnsaal. Sofort eilte die Lehrerin herbei und fragte sehr aufgeregt: „Was ist los mit dir? Hast du dich verletzt? Kannst du aufstehen?“ Ich konnte nicht antworten, zu stark war der Schmerz, er nahm mir jegliche Luft zum Atmen und Übelkeit gesellte sich noch dazu. Ich nahm all meine Kraft zusammen und stand langsam wieder auf; ich wusste nicht, was mit mir los war. Meine Klassenkollegen starrten mich erschrocken an. Ich setzte mich kreidebleich auf eine Bank und hoffte, dass die Stunde bald zu Ende sein würde und ich nach Hause konnte. Langsam fühlte ich mich besser, aber daheim sollte niemand etwas von dem Zwischenfall erfahren.

Mitte Februar ließen sich plötzlich meine Tage Zeit und eine böse Vorahnung kroch in mir empor, ich wurde immer unruhiger und dieses Mal entging es nicht einmal meiner Mutter. Bernd äußerte sehr fachmännisch, ich hätte wohl irgendeine Entzündung, aber meine Mutter widersprach dem Helden und meinte: „Nein, wegen so etwas bekommt man die Regel trotzdem. Das hat damit gar nichts zu tun.“ Sie sprachen in meiner Gegenwart, als ob ich nicht anwesend sei, was meine Angst unermesslich steigerte. Es führte soweit, dass ich zu beten begann. Gott war jetzt mein einziger Ansprechpartner, ich bot ihm alles was ich besaß, wenn er nur die Regel kommen ließe. Nur noch einmal! Ich flehte ihn an, ich schlug ihm einen Tauschhandel vor. Leider hatte ich nur wenig anzubieten, aber dafür wollte ich alles geben.

„Ich werde bessere Leistungen in der Schule erbringen, immer tun, was man von mir verlangen würde und immer brav sein“, flüsterte ich in Richtung Himmel, wo ich Gott vermutete und er mich hoffentlich erhörte. Panik überfiel mich. Was ist, wenn ich wirklich schwanger war? Wie würden die Menschen und meine ehemaligen Freundinnen reagieren? Solcherart Gedanken übernahmen die Herrschaft über mich. Ich konnte nicht mehr auf die Straße gehen, nun da mich die Angst beherrschte, dass jemand meinen Zustand bemerken würde. Was sollte ich dann sagen? Dass ich Mutter werde? Nein, das war unmöglich. Ich kostete in diesen Momenten den bitteren Geschmack der Einsamkeit, die noch vor mir liegen und mich Jahrzehnte begleiten sollte.

Auch Ende Februar hatte ich meine Tage noch nicht bekommen, stattdessen steigerte sich mein Appetit enorm und ich aß nun für zwei.

Mein kindlicher Körper, zuvor schlank und grazil, sog die vermehrte Nahrung förmlich in sich auf, so blieb es niemanden verborgen, wie ich mich veränderte, besser und gesünder aussah.

Auch Nachbarn sprachen meine Mutter darauf an: „Die Anita schaut jetzt aber gut aus, die hat ja ganz schön zugenommen.“

„Ja, das stimmt, sie isst halt jetzt sehr viel, weil sie in die Pubertät kommt. Da essen Kinder eben mehr“, antwortete meine Mutter ohne dabei rot zu werden.

„Ja, ja, so wird es wohl sein“, kam es in typischer Small-Talk-Manier zurück. Ich ahnte auch schon, worin dieser übermäßige Appetit seinen Ursprung hatte: Nicht etwa in der gerade anbrechenden Pubertät, sondern im Realwerden meiner größten Befürchtung – einer Schwangerschaft.

Ab diesem Zeitpunkt meiner sichtbaren körperlichen Veränderung war ich nicht mehr so alleine mit dem Problem. Wohl immer noch seelisch, aber meine Eltern und auch Bernd konnten die immer stärker werdende morphologische Umbildung meiner Person nicht mehr vertuschen. So beschlossen die drei – meine Mutter, mein Vater und Bernd – mich zu einem praktischen Arzt, welcher ein Bekannter von Bernd war, zu bringen.

„Er ist ein Freund von mir. Der wird dicht halten, wenn sie schwanger ist“, hörte ich Bernd selbstzufrieden zu meinen Eltern sagen.

Bei der Ordination angekommen, warteten meine Eltern im Haus der Schwester des besagten Arztes; in diesem Haus hatte er auch schon während seiner Anstellung als Lehrer in dieser Gemeinde gewohnt. Meine Angst wurde zur Verzweiflung. Niemand hatte mit mir gesprochen, ich wusste nicht was mit mir hier passieren würde. So musste sich ein Tier auf dem Weg zur Schlachtbank fühlen, diese unbewusste Vorahnung eines schrecklichen Ereignisses. Bernd jedoch nahm alles ganz gelassen, sah sich schon als zukünftiger Vater und stolzierte wie ein aufgeblähter Gockel vor mir herum. Ich zitterte, und seine aalglatte, aufgesetzte Freundlichkeit machte alles nur noch schlimmer. Ein kräftiger Mann um die fünfzig, dunkelhaarig, in weißer Kleidung, öffnete uns die Tür zu einem mondänen Einfamilienhaus. Er führte uns gelassen in das Wohnzimmer, dort saß seine Frau; sie war angeblich ebenfalls Volksschullehrerin. Sie begrüßte uns freundlich. Ich konnte nicht erkennen, ob sie über den Grund unseres Besuches Bescheid wusste; jedoch spürte ich ihr Mitleid, und in ihren Augen konnte ich eine abgrundtiefe Abneigung gegenüber Bernd wahrnehmen. Die beiden Männer sprachen einige Minuten, warfen verstohlene Blicke in meine Richtung, dann musste ich aufstehen und der weiß gekleidete Mann führte uns in seine Ordination. Er sagte freundlich: „Na, dann gehen wir mal rüber“, doch trotz seiner Freundlichkeit hatte er etwas Abschreckendes an sich – vor allem seine dunkel behaarten Unterarme machten mir Angst. Auch Bernd konnte es sich nicht verkneifen, hinterdrein zu watscheln. Mir schien, als wollte er die Gelegenheit nicht verpassen, mich nackt und mit gespreizten Beinen, hilflos auf dem Untersuchungssessel zu sehen, sich an meiner Wehrlosigkeit zu ergötzen.

Der Arzt war sehr vorsichtig, die Untersuchung kurz und das Ergebnis eine diagnostizierte Schwangerschaft.

Er richtete sich an Bernd: „Das Mädchen ist schwanger. Mindestens im zweiten Monat, das ist definitiv. Du weißt, dass ich das melden muss.“

„Da finden wir eine Lösung. Das wäre nicht so gut. Du weißt ja … die Situation ist heikel“, antwortete er mit der Routine eines Serientäters.

Der Arzt schüttelte etwas unbeholfen den Kopf und sagte zu mir: „Du tust mir leid, kleines Fräulein, ich wünsche dir alles Gute. Du hast eine schwere Zeit vor dir.“ Dann ging er und ließ uns alleine.

Ich vernahm die Worte: „Sie ist schwanger“ – und in diesem Augenblick blieb die Zeit stehen. Alles war weit weg, ich fühlte mich wie in einer schalldichten Glocke eingeschlossen, alles lief nun wie fremdgesteuert ab, kein klarer Gedanke war zu ergreifen. Wir stiegen in den Wagen, fuhren zurück in das Haus, in dem meine Eltern warteten. Dort saßen sie in der Küche, eine gemütliche Runde. Mein Vater, dessen Zunge durch einige Gläser Alkohol schon sehr locker saß, erzählte einen Witz nach dem anderen. Es war ein schauderhaftes Bild, alle bogen sich vor lachen, als wir den Raum betraten. Niemand wollte in diesem Moment des allgemeinen Frohsinns die bedrückende Nachricht hören, niemand interessierte sich für mich. Mein Vater sagte schließlich, sichtlich angetrunken und immer noch lachend: „Na, was war?“ Ich konnte nichts sagen, auch hörte ich die Antwort von Bernd nicht, alles war immer noch unendlich weit weg von mir. Nur die plötzliche Betroffenheit in ihren Gesichtern drang in mein Bewusstsein.

„Sie wissen es“, dachte ich seltsam abwesend und hörte meinen Vater sprechen: „Na, da müssen wir halt jetzt zu unserem Dirndl halten, da können wir sie jetzt nicht im Stich lassen.“ In seinem benebelten Zustand gelang ihm nichts besseres, als die Angelegenheit zu verharmlosen. Die anderen anwesenden Menschen – ich weiß heute nicht mehr, wer sie waren – reagierten mit Unverständnis, und Mitleid spiegelte sich in ihren Gesichtern.

Am Abend gingen wir in eine bekannte Hendlstation essen, wo gleich die Gelegenheit des gemütlichen Zusammenseins genutzt wurde, um das weitere Vorgehen bezüglich meiner Schwangerschaft zu beraten. – So, als handle es sich bloß um einen der nächsten Familienausflüge. Die drei – mein Peiniger, mein Vater und meine Mutter – sprachen über eine Abtreibung und die bestehenden Möglichkeiten diese an mir vornehmen zu lassen, so als handle es sich dabei um irgendeine lästige Nebensächlichkeit, die es rasch zu bewältigen gelte.

„Musst halt noch ein paar Jahre warten, bis du Vater werden kannst und inzwischen musst du halt etwas aufpassen“, tröstete mein Vater „Berndi“ in jovialer Manier und meine Mutter fügte ganz pragmatisch hinzu: „In Marburg, bei Doktor W. können wir es wegmachen lassen. Der macht das bestimmt. Vor ein paar Wochen war ich schon mit jemand anderem dort, da ist es ohne Probleme gegangen.“ Vater reagierte nun auch sehr zielstrebig: „Da könnt ihr aber nicht lange warten. Da müsst ihr schon in den nächsten Tage fahren!“ Ich saß stumm daneben, versuchte alles zu begreifen, konnte aber nicht fassen, was mit mir geschehen sollte. In mir wuchs also ein Kind, ich sollte Mutter werden. Was haben die mit mir im Sinn? Wie wollen sie es mir wegnehmen, aus meinem Bauch rausholen? Es war mir klar, dass ich kein Kind haben sollte. Wie sollte es dann weitergehen? Auch zu Gott hatte ich all mein Vertrauen verloren, er hatte mich das letzte Mal im Stich gelassen, obwohl ich alles tat, was man von mir wollte. Ich war völlig alleine, nur durch das Kind in mir fühlte ich mich nicht ganz verlassen. Es gehörte mir – jetzt noch zumindest. Ich würde jemanden haben, mit dem ich spielen konnte, eine Freundin für mich ganz allein. Dieser Gedanke wuchs in mir mit jeder Stunde. Doch die Entscheidung über das Leben des Kindes lag nicht in meinen Händen. Andere wollten entscheiden über Leben und Tod, über mich und mein Kind.

Früh am Morgen standen wir auf und ich hörte meine Mutter rufen: „Dass du dich ja ordentlich wäschst! Nicht dass ich mich noch mit dir schämen muss!“ Die Entscheidung war also gefallen. Ich fühlte mich wie eine Marionette, die sich widerstandslos Entscheidungen anderer zu fügen hatte. Wir parkten das Auto in der Nähe des Krankenhauses, ich atmete noch einmal tief den Geruch der Morgenluft. Meine Mutter deutete mit dem Zeigefinger auf ein großes, trostlos erscheinendes Gebäude: „Dort drüben ist das Spital, wir müssen nur noch über die Brücke.“

Ich vermochte den Ausführungen meiner Mutter nicht zu folgen, viel zu sehr war ich in Gedanken versunken: „Werde ich mein Kind noch in mir tragen, wenn ich wieder über diese Brücke zurückgehe, oder werde ich wieder so einsam wie früher sein?“

Trotz der Größe des Klinikums führte uns meine Mutter, ortskundig und ohne Umwege, in die gynäkologische Abteilung zu Doktor W. Der Arzt empfing meine Mutter und mich (samt der erzwungenen Begleitgesellschaft) sehr freundschaftlich und ungezwungen. Daraufhin sprachen sie einige Sätze auf slowenisch, sodass ich – wohl auch der Rest der Anwesenden – kein Wort verstand. Der Doktor geleitete mich schließlich in ein kleines Untersuchungszimmer. Er sprach nun deutsch mit mir. Endlich war ich alleine; kein Bernd, der sich lüstern an meiner Nacktheit und an der erniedrigenden Situation ergötzen konnte.

„Wurdest du schon einmal diesbezüglich untersucht?“, wollte der Arzt wissen und fügte hinzu: „Wie alt bist du denn?“

„Ja“, antwortete ich auf seine erste Frage und auf die zweite: „Ich bin dreizehn“.

Seine Mimik veränderte sich, seine Gesichtszüge verhärteten sich, er war sichtlich schockiert. Als er sich wieder gefasst hatte, sagte er in ruhigem Tonfall: „Du weißt also, wie das vor sich geht. Ich werde sehr vorschtig sein.“

Ich hatte mich inzwischen entkleidet. Er drang nun mit seinem Finger in mich ein, mit der anderen Hand presste er gegen meine Bauchdecke. Er hielt inne und schüttelte den Kopf: „Du bist nicht im zweiten Monat schwanger, sondern schon im dritten, ich meine eher in der vierzehnten Woche. Da nehme ich keinen Abbruch mehr vor – und schon gar nicht bei einem Kind. Das ist mir viel zu gefährlich!“

Ich spürte die Tränen über mein Gesicht laufen.

„Sind Sie sicher? Schauen Sie bitte noch einmal nach.“

„Schau mal mein Kind …“, er nahm meine Hand und legte sie auf meinen Bauch „… das, was du da spürst, ist dein Kind. Es ist schon zu groß. Es tut mir leid, ich werde es nicht machen. Du musst jetzt sehr tapfer sein. Du kannst dich jetzt wieder anziehen“, waren seine abschließenden Worte. Ich wischte die Tränen aus meinem Gesicht und kleidete mich wieder an. Die Entscheidung war wohl erneut gefallen. Ich hörte, wie es vor dem Untersuchungszimmer zu einer lautstarken Auseinandersetztung zwischen Doktor W. und meiner Mutter kam. Der Arzt war offensichtlich wütend und entrüstet über das Verhalten meiner Mutter. Was die beiden jedoch genau diskutierten oder welche Vorwürfe gemacht wurden, interessierte mich nicht ernsthaft. Mich beschäftigte nur noch der Gedanke an meine weit fortgeschrittene Schwangerschaft und alles, was damit einhergehen würde, ans Mutter werden. Je intensiver meine Gedanken darüber wurden, um so schöner wurde das Gefühl. Ich verspürte seit langem zum ersten Mal ein richtiges Glücksgefühl, ich schwebte förmlich zurück über die Brücke – es schien wie ein symbolisches Überqueren einer Grenze. Freude und Glück durchströmten mit einem Mal meinen Körper, meine Seele. Für meinen Peiniger und seine beiden „Komplizen“ war der ärztliche Befund keine Frohbotschaft, vielmehr machte sich Ratlosigkeit und Unmut unter ihnen breit, denn meine bisher als Lappalie betrachtete Schwangerschaft entwickelte sich nun für sie zu einem schwerwiegenden Problem.

„Doktor W. hat mich ordentlich zurechtgewiesen, er war empört. Was mir denn da eingefallen sei, mit einem Kind zu ihm zu kommen“, beklagte sich meine Mutter, sie zeigte sich dabei keineswegs einsichtig und war sich, wie seit jeher, keiner Schuld bewusst. Dann fuhr sie jammernd fort: „Er dachte, ich wäre, wie sonst auch immer, nur die Vermittlerin. Als er von mir aufgeklärt wurde, dass es sich um meine eigene Tochter handelt, wurde er noch wütender. Beinahe hätte er mich rausgeschmissen.“ Und resignierend fügte sie hinzu: „Was sollen wir denn jetzt tun?“ Es war ein verzweifelter Hilfeschrei. Auch mein böser Schatten wusste diesmal keinen Rat. Er schüttelte unsicher den Kopf. Zum ersten Mal hatte sich das Blatt gewendet, sie kamen in Not und Bedrängnis.

Ich fühlte mich gut, mir gefiel der Gedanke, künftig nicht mehr alleine zu sein. Es waren natürlich Wunschvorstellungen, Träumereien, denn wie ein kompletter Mensch, auch wenn es ein sehr kleiner ist, in meinem Kinderkörper Platz haben sollte, konnte ich mir nicht vorstellen. Ich blickte ungläubig auf meinen Bauch, er war immer noch flach.

Tags darauf ging ich wieder zur Schule. In mir machte sich das Gefühl breit, alleine im Klassenzimmer zu sein. Die anderen Kinder, alle meine Mitschüler waren mir plötzlich fremd geworden. Ich war an einem anderen Ort. Einem Ort, der den anderen Kindern unheimlich und fremd zu sein schien … Dem Unterricht konnte ich kaum noch folgen, zu sehr kreisten all meine Gedanken um mich selbst, um meinen Zustand. Im Laufe der Zeit wurde die vorerst innerliche Veränderung auch von außen unmissverständlich erkennbar und einfach zu deuten. Mein Körper passte sich dem wachsenden Leben in mir an, ich wurde immer rundlicher, bekam einen Schwangerschaftsbauch und langsam zog ich mich auch vollständig aus der Gemeinschaft zurück. Nur Bernd wusste meinen Rückzug und meine Schwangerschaft ungeniert zu genießen. Er lebte nun all seine sexuellen Bedürfnisse und Triebe ungehindert an mir aus. In seiner Gier drang er auch in meinen After ein, dabei blieb mir die Luft zum Atmen weg. Der brennende Schmerz war kaum zu ertragen. Er kommentierte seine Gier mit den Worten:„ Oh, das tut mir leid, das habe ich verwechselt.“ Doch diese Form der Verwechslung sollte noch oft vorkommen.

Die Osterferien standen vor der Tür und es war der Zeitpunkt gekommen, an dem ich mich weigerte die Schule zu besuchen. Ich konnte sie nicht mehr ertragen, die täglichen Quälereien, jetzt wo mein Bauch immer dicker wurde.