Seitensprungkind - Regula Brühwiler-Giacometti - E-Book

Seitensprungkind E-Book

Regula Brühwiler-Giacometti

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Beschreibung

Ein Buch, das anderen helfen kann, sich besser zu verstehen. Regula Brühwiler-Giacometti wurde im Alter von zwei Monaten adoptiert. Die Adoption wurde dem Kind nie verheimlicht, aber erst im Erwachsenenalter, ausgelöst durch die Geburt ihres Sohnes, kommt der Wunsch in ihr auf, nach den eigenen Wurzeln zu suchen. Was gaben ihr die leiblichen Eltern durch die Gene mit? Kann sie sich in ihnen spiegeln? Oder war es die soziale Prägung, die sie durch die Adoptivfamilie erhalten hat, die ausschlaggebend für ihren Charakter und ihr Handeln wurde? Und vor allem: Welche Folgen hatte die frühe Trennung von der Mutter und die anschließende Adoption für ihr Leben? Begleitet von Angst, Selbstzweifel und dem Gefühl vom Fremdsein macht sie sich auf die Reise nach ihrer wahren Identität. Regula Brühwiler-Giacometti scheut sich dabei auch nicht, längst verdrängte Begebenheiten wieder ans Licht zu holen – und findet auf diesem Weg zu sich selbst.

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Seitenzahl: 270

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Regula Brühwiler-Giacometti

Copyright: © 2017 Cameo Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten. Lektorat: Katja Völkel, Dresden Covergestaltung: werbemacher.ch, Thun Coverabbildung: Cornelius Fischer, Aarau Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-9062587-35-5

Inhalt

Vorwort

Heimatlos

6. Oktober 1958: Mein holpriger Start ins Leben

Die Entscheidung war getroffen

Erste Lebensjahre

Kindheit

Die Pubertät: Eine große Identitätskrise

Wie ich Teil der Giacometti-Dynastie wurde

Das Leben mit einer depressiven Mutter

Ich gehe meinen Weg

Der rettende Prinz

Ein Rückblick: Reto. Die Hölle auf Erden

Die Geburt meines Sohnes: Eine Suche nach den Wurzeln nimmt ihren Lauf

Die „Allmächtige“ von Rapperswil und meine Akte

Die Begegnung mit meiner leiblichen Mutter

Die fehlende Urkunde

Eine letzte Versöhnung

Midlifecrisis: Die Aufarbeitung eines Traumas

Wie es zu diesem Buch kam

Meine seelische Wiedergeburt, meine Identitätsfindung

Adoption früher und heute: Zwei bewegende Geschichten

Tipps für die Suche nach den leiblichen Eltern

Meine Arbeit beim Gericht und der KESB

Mein Dank

Vorwort

Leibliche Eltern, Pflegeeltern, biologische Eltern, Adoptiveltern, Ursprungseltern, physische Eltern, natürliche Mutter, Bauchmami – es gibt unzählige Bezeichnungen, wie ein adoptiertes Kind seine Eltern nennen kann. Hinter jedem Adoptierten stehen immer zwei Paar Eltern. Was für ein Glück, könnte man meinen! Aber welche Rolle spielen alle diese verschiedenen „Eltern“ im Leben eines Adoptierten?

Sicher waren in meinem Leben für mich die allerwichtigsten Bezugspersonen meine Adoptiveltern, die mich aufgenommen, aufgezogen und umsorgt haben. Ich werde sie in meinem Buch Mami und Papi nennen, so wie ich immer zu ihnen gesagt habe. Denn diese Bezeichnung ist die intimste und sie sagt aus, dass sie meine Herzenseltern waren. Sehr lange wollte ich gar nichts über meine leiblichen Eltern wissen. Sie existierten für mich quasi gar nicht. Ja, sie hatten mich gezeugt und meine leibliche Mutter hatte mich 9 Monate in ihrem Bauch getragen – aber sie hatten mich verlassen! Ich konnte nicht verstehen und nachvollziehen, wie man sein eigenes Kind einfach weggeben kann. Es interessierte mich überhaupt nicht zu wissen, wer diese Menschen waren. Ich hörte es auch nicht gern, wenn meine Eltern über die Adoption sprachen, denn ich wollte nur das Kind von meiner Mami und meinem Papi sein.

Erst viel später, als mein Sohn zur Welt kam, musste ich feststellen, dass er eigentlich mein erster wirklicher Verwandter war, den ich zu Gesicht bekam. Die erste Person, die ich kannte, die ein Teil meiner Gene und meiner Anlagen in sich trug. Und mein kleiner André glich mir sogar in gewissen Dingen. Das war ein gewaltiges Erlebnis, das auch ein paar Fragen betreffend meiner Vergangenheit aufwarf. Plötzlich wollte ich mehr wissen. Was habe ich denn von meinem leiblichen Vater und meiner leiblichen Mutter geerbt? Wie sehen sie aus? Besteht eine gewisse Ähnlichkeit? Zudem interessierte mich auch zu erfahren, ob in ihren Familien Erbkrankheiten existierten. In der heutigen Zeit wird man von Ärzten konstant darauf angesprochen, ob gewisse Krankheiten in der Familie schon vorgekommen sind. „Ich weiß es nicht, ich bin adoptiert worden“, war meine Standardantwort beim Arzt. Aber jetzt, wo ich selber einen Nachkommen hatte, wollte ich doch ein bisschen mehr über meine Herkunft erfahren. Und so habe ich angefangen zu recherchieren, was vor 30 Jahren noch ein aufwendiges Unterfangen war. Das Adoptionsverfahren stand immer noch unter Geheimhaltung und ich kam nur sehr mühsam an spärliche Informationen heran. Ein Kapitel dieses Buches ist dieser Suche gewidmet. Es zeigt auch auf, wie viel einfacher es heute für die Adoptierten ist, an ihre Akten zu kommen. Man hat heute allgemein einen viel lockereren Umgang mit dieser Thematik.

Das einstige Tabuthema boomt in der letzten Zeit in den Medien. Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass nicht in der Zeitung, im Fernsehen oder im Internet das Thema Pflegekind oder Adoption aufgegriffen wird. „Familiensuche“ „Suche nach den Wurzeln“ „Meine fremde Heimat“ etc.: Adoptionsgeschichten scheinen das Publikum zu faszinieren. So kam auch kürzlich der berührende Film „Lion“ ins Kino, den ich nur empfehlen kann. Er erzählt die Geschichte eines indischen Knaben, der von einer australischen Familie adoptiert wurde und sich auf die Suche nach seiner leiblichen Familie macht. Es gibt wirklich viele tolle Berichte und wahre Geschichten über Adoptierte und über die Suche nach den Wurzeln. Diverse Dokumentationen zeigen die Suche und die Begegnung mit den Ursprungseltern und zeichnen sich durch viele emotionale Momente und rührende Szenen aus. In meinem Buch möchte ich noch einen Schritt weitergehen und das Ganze anhand meines Beispiels tiefer beleuchten – was sicher auch nur subjektiv geschehen kann. Was passiert wirklich im Inneren eines Adoptierten vor einem solchem Treffen? Wie wichtig ist es, seinen Ursprung zu kennen? Wie kann diese Begegnung einem helfen, seine eigene Lebensgeschichte besser zu verstehen?

In einigen Kapiteln werde ich kleine Ausschnitte aus den Büchern „Mit den Augen eines Kindes sehen lernen“ von Dr. Bettina Bonus zitieren. Sie sind für mich so treffend formuliert und helfen, ein tieferes Verständnis zu entwickeln dafür, was es bedeutet, adoptiert zu sein. Frau Dr. Bonus hat sich über 20 Jahre intensiv mit der Problematik von Pflege- und Adoptivkindern beschäftigt und sich mit den Auswirkungen einer Adoption auseinandergesetzt. Dabei konnte sie viele Kinder begleiten. Ihre Beobachtungen und Erfahrungen hat sie in ihrer sehr intensiven praktischen Arbeit als Erzieherin, Pflegemutter und als Assistenzärztin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gesammelt. Sie hat auch mir die Augen geöffnet und die Tragik einer frühen Trennung von der leiblichen Mutter erkennen lassen. Eine Pflichtlektüre für alle Pflege- und Adoptiveltern!

„Seitensprungkind“ ein bewusst provokativ formulierter Titel. Ich habe viel am Titel dieses Buches gebastelt, aber keiner konnte mich überzeugen. So lautete er zuerst „Giacomettis Adoptivtochter“ oder „Die ausgewählte Tochter“. Wie es zu „Seitensprungkind“ kam, kann ich im Nachhinein nicht erklären, es war ein plötzlicher Einfall, aber der Titel hat sofort all den wenigen Leuten, die ich in mein Projekt eingeweiht habe, und dem Verlag gefallen. Wie viele andere teile auch ich das Schicksal, eines dieser Kinder zu sein, die aus einer Affäre hervorgingen. Mein leiblicher Vater ging mit meiner leiblichen Mutter eine Affäre ein, er war bereits verheiratet. Diese Beziehung hatte Folgen: mich. Hatte er je erfahren, was seine heimliche Liebschaft hervorgebracht hatte? Weiß er, dass er auf diesem Planet noch eine Tochter hat? Vielleicht bin ich sogar seine einzige Tochter!

Das Thema Adoption ist und wird immer Interesse wecken. Spannend ist es auch, einen Blick weiter zurück in die Geschichte der Adoption zu werfen. Der Begriff Adoption kommt vom lateinisch adoptio. Diese Form der Annahme der Kinder war bereits im römischen Recht bekannt, also schon vor der Geburt Christus (vor über 2 000 Jahren!). Sie bezeichnet die rechtliche Begründung eines Eltern-Kind-Verhältnisses zwischen dem Annehmenden und dem Kind ohne Rücksicht auf die biologische Abstammung. Gaius (Iulius) Caesar, geb. 20 v. Chr., war ein Adoptivsohn des römischen Kaisers Augustus und bis zu dessen Tod sein designierter Nachfolger. Von Augustus zu möglichen Nachfolgern bestimmt, wurden er und sein jüngerer Bruder Lucius 17 v. Chr. von diesem adoptiert. Gaius Caesar übernahm zahlreiche Ämter und Titel, unter anderem den des princeps iuventutis („Führer der ritterlichen Jugend“). 4 v. Chr. wurde er für das Jahr 1 n. Chr. zum Konsul designiert und Pontifex.

Früher musste ein Chinese, der keine männlichen Nachfahren hatte, einen Jungen adoptieren, damit seine Familie „Ruhe vor seinem Geist“ hatte. Adoptierte und Pflegekinder bevölkern die Mythen und Sagen vieler Kulturen: Moses lag in einem Weidenkörbchen auf dem Nil, aus dem ihn die Tochter des Pharaos rettete und den kleinen Jungen aufzog. Auch Ödipus’ Eltern haben einst ihren Sohn weggegeben.

Die Adoption, d. h. die Kindesannahme, ist ein Rechtsinstitut, das in vielen Rechtskulturen stets das Gleiche bezweckt hat, aber immer wieder aus anderen Motiven heraus entwickelt worden ist. Es geht um die Herstellung eines Eltern-Kind-Verhältnisses. Der seiner Vergänglichkeit bewusste Mensch, dem Kinder und Erben versagt sind, möchte dank der Adoption in Nachkommen weiterleben. Er wünscht sich den Fortbestand seines Namens und seines Familienbesitzes. Früher diente das Institut der Adoption der Sicherung der Nachfolge.

In der schweizerischen Rechtstradition fand die Adoption erst Eingang durch die Aufnahme des römischen Rechts, und brachte die Einführung der Adoption in einigen Kantonen im 19. Jahrhundert. Die Wirkung bestand in allen Regelungen in der Schaffung eines Eltern-Kind-Verhältnisses. Erst 1907 wurde die „Annahme eines Kindes“ im Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) aufgenommen, es handelte sich um die Form einer adoptio minus plena (weniger volle Adoption), die schon im römischen Recht vorgebildet war. Später, im Jahre 1973, trat dann, gestützt auf das Leitbild einer „Erziehungs- bzw. Fürsorgeadoption“ und unter Berücksichtigung internationaler Rechtsentwicklungen, das neue Adoptionsrecht in Kraft. Das Adoptionsrecht untersteht permanent Revisionen. So wurde in der Schweiz kürzlich die Stiefkindadoption für Ehepaare angenommen. Aktuell steht zur Diskussion, ob auch die Adoption für gleichgeschlechtliche Paare eingeführt werden soll. Ob ein Kind unbedingt Mann und Frau als Eltern braucht, um sich gut entwickeln zu können, kann und möchte ich an dieser Stelle nicht beurteilen. Das Wichtigste ist sicher, welche Voraussetzungen und Fähigkeiten mitgebracht werden.

Mein Buch widmet ein Kapitel dem Vergleich der Adoptionsverfahren von früher und heute. Bezugnehmend auf diese Thematik findet man hier die bewegende Adoptionsgeschichte einer Freundin von mir, die regelrecht ihrer leiblichen Mutter entrissen wurde. Diese Episode zeigt auf, wie man in den 60er-Jahren mit alleinstehenden Müttern umging. Auch dieses Kapitel wird mit der Erzählung von befreundeten Eltern, die in der heutigen Zeit ein Kind adoptiert haben, vervollständigt. Es sind rührende Erfahrungsberichte, die ich unbedingt in dieses Buch integrieren wollte.

Meine Kindheit, die schwierige Pubertät und die Midlifecrisis sind auch Teil dieses Buches. Zudem werde ich über meine Suche nach den leiblichen Eltern und meine spätere Identitätsfindung berichten. Zum Abschluss gewähre ich einen Einblick über meine Arbeit beim Gericht und der KESB (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde), der mit einem Interview mit einer Fachrichterin ergänzt wird. Ich erzähle auch über meine langjährige Tätigkeit als Gerichtsdolmetscherin und werde über einige spektakuläre Gerichtsprozesse, bei denen ich übersetzt habe, berichten.

In meinem Buch befasse ich mich ausschließlich mit Inlandsadoptionen. Auslands- und internationale Adoptionen würden den Rahmen sprengen. Internationale Adoptionen sind sicher auch ein ganz spannendes Gebiet, wenn man bedenkt, dass zu meiner Jugendzeit ein riesiges Millionengeschäft entstanden ist und leider auch ganz viele Schwarzadoptionen getätigt wurden. Später wurden zum Glück die Bestimmungen in vielen Ländern, auch Drittländern, verschärft und eine bessere Kontrolle eingeführt.

Adoptieren ist auch heutzutage „in“, vielleicht momentan sogar eine Modeerscheinung, wie man bei so manchen prominenten Menschen beobachten kann. Das berühmteste und bekannteste Beispiel darunter ist sicher Angelina Jolie und Brad Pitt, die gleich drei Kinder zu sich holten. Nicht zu vergessen Madonna, die gar vier Kinder adoptiert hat. Es bleibt nur zu hoffen, dass sich alle Menschen zuvor auch ernsthaft damit auseinandergesetzt haben, welch herausfordernde Aufgabe es ist, Kinder mit den verschiedensten Hintergründen aufzunehmen. Kinder sind keine Prestigeobjekte.

Es gibt aber auch viele Stars und bekannte Persönlichkeiten, die selbst adoptiert wurden, man denke da nur an Marilyn Monroe, Jack Nicholson, Eric Clapton, Mike Tyson und Nelson Mandela. Auch der deutsche Politiker Willy Brandt wurde unehelich geboren und lernte seinen Vater nie kennen. Adoptiert wurde auch der Apple-Gründer Steve Jobs. Also hat ein adoptiertes Kind durchaus Chancen, im Leben Erfolg zu haben!

Außerdem gibt es noch die unehelichen Kinder von bekannten Sportlern, Politikern und anderen prominenten Persönlichkeiten, bei denen man versucht hat, die Angelegenheit so lange wie möglich geheim zu halten. Wir alle erinnern uns an die Schlagzeilen über den Seitensprung von Boris Becker, der mit seiner „Besenkammeraffäre“, dem Model Angela Ermakowa, eine uneheliche Tochter zeugte. Doch früher oder später kommt die Wahrheit meist ans Licht. Gerade in diesem Jahr stand in einem Artikel der Aargauer Zeitung ein Ausschnitt aus einem Interview, das der ehemalige Schweizer Skirennfahrer Bernhard Russi etwa vor vier Jahren gegeben hatte: „Ich hatte nicht nur zwei Frauen in meinem Leben, ich war kein Kostverächter und kein Ministrant. In der Theorie ist es möglich, dass irgendwo ein Kind von mir auftaucht. Er oder sie wäre mindestens 45 Jahre alt. Ganz ehrlich, fast jeder Mann in meinem Alter müsste diese Antwort geben.“

Ich teile daher mein Schicksal als uneheliches Kind mit tausenden anderen. Das tröstet mich ein wenig. So gibt es viele andere, die nicht wissen, wer ihr leiblicher Vater ist. Neben den adoptierten und den aus einer unehelichen Beziehung entstandenen Kindern leben auch noch tausende Pflegekinder in der Schweiz in Heimen oder in Pflegefamilien. Es sind aktuell circa 18 000 Kinder, was ungefähr gut einem Prozent der Wohnbevölkerung im Alter zwischen 0 und 18 Jahren, nach Angaben der PACH (Pflege- und Adoptivkinder Schweiz), für das Jahr 2017 entspricht.

Nicht zu vergessen sind die Kuckuckskinder, wie man diejenigen Kinder nennt, die Frauen einem Mann unterjubeln, ohne dass sie von ihm sind. Der ahnungslose Mann zieht dann ein Kind auf, welches die Gene eines anderen trägt. Das kommt häufiger vor, als man denkt. Es wird gesagt, dass es eine große Dunkelziffer von Kindern gibt, die während der Ehe mit anderen Männern gezeugt worden sind. Es wird behauptet, dass circa ein Zehntel aller Kinder, die in einer Ehegemeinschaft auf die Welt kommen, Kuckuckskinder seien. Viele von ihnen merken, dass sie etwas anders ticken als der Rest der Familie, ohne zu wissen, weshalb. Andere wiederum wachsen glücklich und zufrieden auf, ohne den geringsten Verdacht zu haben. Kuckuckskinder sind auch alles Seitensprungkinder!

Wie mein Leben als Kind verlief, das in jungem Alter in eine Adoptivfamilie kam, und welchen Einfluss diese Adoption auf mein weiteres Leben hatte, möchte ich in diesem Buch teilen. Sich diese Geschichte wieder vor Augen zu führen, längst Verdrängtes an die Oberfläche zu holen, war ein schwieriger Prozess, der mir aber am Ende helfen sollte, mich mit meiner Biografie zu versöhnen.

Heimatlos

Im Dezember 2013 saß ich im Zug Richtung Lugano. Diese Reise hatte ich schon unzählige Male gemacht, hauptsächlich in diesem Jahr, als meine Mami sehr krank wurde und ich sie fast jedes Wochenende besuchte. Doch diesmal war es anders. Ich reiste heim, aber meine Mami war nicht mehr da. Die großen Sorgen um sie waren verflogen. Mit den Sorgen war aber auch sie weg. Niemand erwartete mich nun in Lugano. Ich musste noch diverse administrative Arbeiten erledigen und hatte dafür ein Hotelzimmer gebucht, nicht weit entfernt vom Haus, in dem meine Mami die letzten Jahre gelebt hatte. Es war ein mulmiges Gefühl.

Früher habe ich mich jedes Mal riesig gefreut, wenn ich den Gotthardtunnel passiert hatte und an Airolo vorbeifuhr. Nun war ich wieder in meinem geliebten Tessin! All die schönen Erinnerungen an meine Kindheit und Jugendzeit mit ihren Ausflügen, Freundschaften, Pfadfinderlagern, Ballett und ganz besonders die Gedanken an meinen lieben Papi wurden wieder geweckt. Heute war ich traurig. Ich dachte an meine Mami, die erst kürzlich verstorben war. Und wie ein Blitz traf mich eine Feststellung, ein Gedanke den ich nie zuvor hatte: Ziemlich genau vor 55 Jahren – es war auch im Dezember – hatte meine Mami die gleiche Reise unternommen wie ich jetzt, mit mir, als achtwöchiges Baby. Eingewickelt und in eine kleine Tragetasche, brachte sie mich in meine neue Heimat, zu meiner neuen Familie. Sie hatte mich in Rapperswil bei der Adoptionsvermittlungsstelle abgeholt. Es war sicher eine große Aufregung für sie und auch für mich. Ich wurde in meinem kurzen Leben zu diesem Zeitpunkt bereits zum dritten Mal aus der gewohnten Umgebung herausgerissen und fremdplatziert. Nie zuvor hatte ich auf meinen Fahrten nach Lugano diese Gedanken, sie kamen jetzt, wo scheinbar alles zu Ende war.

Am Bahnhof angekommen, nahm ich, wie üblich, den Bus Richtung Lugano-Cassarate. Doch diesmal war das Ziel nicht mehr die Wohnung meiner Mami, sondern ein fremdes Zimmer in einem Hotel. Der Weg dorthin führte jedoch an meinem Elternhaus vorbei. Das fühlte sich komisch an. Ich bezog mein Zimmer und flüchtete sofort wieder ins Freie. Zum Glück musste ich einen Termin bei der Bank wahrnehmen und konnte nicht zu viel darüber nachdenken. Die Gefühle überwältigten mich erst später. Ein wenig Ablenkung bekam ich auch durch eine Kindheitsfreundin, die soeben aus den USA nach Lugano gekommen war, um ihre Eltern zu besuchen.

Ich lief wieder am Haus meiner Mami vorbei und konnte es kaum fassen, dass sie nicht mehr dort lebte und jetzt eine andere Person in ihrer Wohnung hauste. Ich hatte kein Zuhause und keinen Heimathafen mehr! Es war ein unfassbares Gefühl, auf das ich nicht vorbereitet war. Ich fühlte mich verloren. Meine Mami war keine einfache Person gewesen, sie war sehr streng und fordernd. Aber sie war meine Mami. Sie hat mich behütet, gepflegt und erzogen. Sie war meine Familie. Und nun stand ich da, alleine. Das gleiche Gefühl wie 55 Jahre zuvor, als mich meine leibliche Mutter weggegeben hatte.

Verlassen, allein, heimatlos. Nur diesmal, als erwachsene Person, wusste ich mit diesem Verlust und der Leere umzugehen. Ich konnte die Situation mithilfe meines Verstandes emotional einordnen, denn ich wusste, dass der Tod zum Leben gehört. Er ist unumgänglich. Für meine Adoptivmutter war er eine Erlösung. Ich hatte in der Zwischenzeit meine eigene Familie, die mir Kraft und Sicherheit gab. Darin bestand der große Unterschied zu damals, als ich von meiner leiblichen Mutter verlassen wurde. Als Neugeborenes war ich noch nicht in der Lage, diese komplexen Gedankengänge nachzuvollziehen und einzuordnen, war somit völlig hilflos der Situation ausgeliefert. Es bestand nur noch Leere und Angst. Den Verlust konnte ich damals nicht verarbeiten und die Trennung nicht verkraften. Ein Teil von mir wurde mir weggenommen.

6. Oktober 1958: Mein holpriger Start ins Leben

An einem Montag um null Uhr vierzig kam ich als Helga Oertli im Kantonsspital St. Gallen zur Welt. Meine leibliche Mutter durfte mich nur kurz sehen, ich wurde ihr gleich weggenommen, damit auf keinen Fall eine Bindung zwischen uns entstehen konnte. Das war zu jener Zeit so üblich. Aber die Bindung war eigentlich schon da. Wenn man 9 Monate im Bauch der leiblichen Mutter heranwächst und mit ihr durch die Nabelschnur verbunden ist, kann man das nicht einfach löschen. Aber das war die Abmachung mit der Schweizerischen Privaten Mütterberatung und Adoptivkinder-Vermittlung (später Adoptionsvermittlungsstelle): man würde uns gleich nach der Geburt trennen. Offenbar hatten die damaligen Behörden nicht die nötigen Kenntnisse über die starke Verbundenheit zwischen Mutter und Kind bereits im Mutterleib und über die weitreichenden Folgen, die solch eine Trennung für das Leben des Kindes (und auch für eine Mutter) auslösen kann. Doch meine leibliche Mutter wollte mich unbedingt noch einmal in die Arme schließen. Und so kam es, dass sie ihre Entscheidung rückgängig machte. Sie konnte mich nicht gleich loslassen, sie wollte mich nicht sofort zur Adoption freigeben. Zumindest versuchen würde sie es, für mich zu sorgen. Drei Kinder hatte meine Mutter bereits, für die sie die Verantwortung tragen musste. Sie war geschieden, von einer finanziellen Unterstützung durch den Ex-Mann, der jedoch nicht mein Vater war, konnte keine Rede sein. Ihre drei Kinder waren bei Verwandten oder in einem Heim untergebracht. Meine Mutter dachte, dass sie mich vielleicht auch bei Verwandten unterbringen könnte. Doch sie wollte unbedingt versuchen, auch für mich zu sorgen. Diese Tatsache habe ich erst viel später, etwa vor einem Jahr, aus den Unterlagen der Adoptionsvermittlungsstelle erfahren. Das hat mich sehr bewegt und betroffen gemacht, zu wissen, dass sie es nicht übers Herz gebracht hat, mich einfach gleich wegzugeben.

Als die Sozialarbeiterin der Adoptionsvermittlungsstelle meine leibliche Mutter damals in der Frauenklinik besuchte, war sie sehr erstaunt und überrascht über deren plötzlichen Sinneswandel, war es doch alles andere als das, was im Voraus geplant und abgemacht wurde. Als meine leibliche Mutter zwei Wochen zuvor eine Besprechung mit ihr hatte, ist man offenbar zum Schluss gekommen, dass die Freigabe zur Adoption die beste Lösung sein werde. In diesem Gespräch gab sie auch zu verstehen, dass der Vater bereits verheiratet sei. Daher bat sie eindringlich darum, seinen Namen an keiner Stelle zu erwähnen. Sie wollte nicht sein idyllisches Familienglück zerstören. Über den vermeintlichen Vater steht in den Akten: „Er sei ein dunkelhaariger, grosser und eher breitschultriger Typ, der sehr viel darstelle. Er sei Maschinenschlosser von Beruf.“ Genau wie der ursprüngliche Beruf meines geliebten Ehemannes! Habe ich vielleicht unbewusst in ihm meinen leiblichen Vater gesucht und gefunden? Zudem erzählte meine leibliche Mutter, dass das Waisenamt Wil über die ganze Geschichte informiert sei. Man habe ihr dort zwar angeraten, das Kind zu behalten. Gleichzeitig hat man ihr gesagt, es gäbe allenfalls auch in Wil geeignete Adoptiveltern. Meine leibliche Mutter wollte aber unter keinen Umständen, dass ihr Kind in der nächsten Umgebung platziert wird. Die Sozialarbeiterin der Adoptionsvermittlungsstelle versuchte meine leibliche Mutter nochmals zu überzeugen, dass eine Freigabe zur Adoption für sie und für das Kind die beste Lösung wäre. Im Bericht betreffend des Gesprächs zwischen der Adoptionsvermittlungsstelle und meiner leiblichen Mutter ist nachzulesen: „Ich war sehr erstaunt ab dieser Reaktion, umso mehr die Situation ja aussichtslos ist. Ich versuche dann doch nochmals, die Vorteile in ihrem ganz speziellen Falle wie eine Adoption im Interesse des Kindes hervor zu streichen und sie wird ein wenig unsicher. Doch ist es sehr fraglich, ob sie es durchführen wird. Sie lässt das Kind einen Monat im Kinderheim Tempelacker und wird dann entscheiden.“ Meine leibliche Mutter unterschrieb nicht.

So kam ich vorübergehend in ein Kinderheim in St. Gallen und wartete dort, wie das Schicksal für mich entschied. Nach ein paar Wochen musste leider meine leibliche Mutter kapitulieren, sich den Umständen beugen und ihr definitives Einverständnis für eine Adoption geben. Sie war gezwungen, ganztags zu arbeiten. Ihre finanziellen Mittel waren sehr beschränkt. So musste sie eine Entscheidung aus Vernunft treffen. Das Herz hatte hier keinen Platz. Andernfalls wäre ich mit größter Wahrscheinlichkeit in einem Kinderheim aufgewachsen. Aber das wollte sie nicht, sie wollte mir eine Chance geben, ein besseres Leben führen zu können und in der Geborgenheit einer Familie aufzuwachsen. Ich kann aus heutiger Sicht sagen, dass sie die bestmögliche Entscheidung getroffen hat. Denn wenn ich zurückblicke, hatte ich doch das große Glück, einen wunderbaren Papi an meiner Seite zu haben. Ihn hätte ich nie missen wollen! So oder so war aber der Start in mein Leben nicht ganz optimal.

Die Entscheidung war getroffen

„Nach reiflicher Überlegung bin ich doch zum Schluss gekommen, dass für Helga die Adoption das einzig Richtige ist. Da es für mich ein schwerer Entschluss ist, lege ich Ihnen die gute Wahl der künftigen Eltern Helgas besonders ans Herz. Auf jeden Fall will ich Helga allein im Kinderheim abholen und sie nachher mit Ihnen nach Rapperswil bringen“, schrieb meine leibliche Mutter an die Adoptionsvermittlungsstelle.

Zu jenem Zeitpunkt erhielt ich einen Vormund, der von nun an auch über das Schicksal meiner Platzierung zu entscheiden hatte. Er gab die Einwilligung zur Durchgangspflege bei einer Familie in Brunnen, bei welcher ich für zirka zwei Wochen untergebracht war. Ich war damals noch zu klein, um mich an diese Familie zu erinnern. Erst vor einem Jahr, als ich alle meine Akten zum ersten Mal sichten konnte, erfuhr ich von diesem Detail. Die Adoptionsvermittlungsstelle hatte dem Vormund als künftige Adoptiveltern eine Familie Giacometti aus Lugano vorgeschlagen. „Wir glauben, dass das dunkelhaarige rassige Maiteli sehr gut in den Tessin passen würde“, schrieb die Adoptionsvermittlungsstelle dem Vormund. Ich musste wirklich schmunzeln, als ich das vor einem Jahr zum ersten Mal las. Nota bene: Ich war zu jenem Zeitpunkt vier Wochen alt!

Meine künftigen Adoptiveltern hatten sich im März 1958 bei der Adoptionsvermittlungsstelle telefonisch gemeldet und im Juni des gleichen Jahres sind sie zu einem Gespräch nach Rapperswil gereist, das folgendermaßen protokolliert wurde:

„Herr und Frau Giacometti interessieren sich sehr dafür, ein Kindlein zu erhalten. Ihr Wunsch geht eindeutig darauf hin, ein Meiteli aufzunehmen, und zwar ein kleines. Frau Giacometti ist eine junge, ausgesprochen hübsche Frau, blond mit blauen Augen, sehr gepflegt. Trotz ihrer grossen Jugendlichkeit, auch im Aussehen, scheint sie recht tüchtig. Sie hilft ihrem Mann, der eine Filiale der Lindt & Sprüngli, Kilchberg, leitet, im Büro. Sie kann das gut neben ihrem Haushalt machen und macht es auch sehr gerne. Sie hat ihren Mann bei Lindt & Sprüngli, wo sie als Sekretärin arbeitet, kennengelernt. Herr Giacometti scheint zuerst ein typischer Tessiner, ist in Rom aufgewachsen, kommt aber aus einer sehr alt eingesessenen Bergellerfamilie. Er selbst möchte nicht ein Kindlein, das aus italienischer Abstammung kommt, oder den südländischen Typus hat. Für sein Alter scheint Herr Giacometti sehr jung. Man spürt dass er seine Frau sehr gerne hat und wünscht auch baldmöglichst ein Kindlein aufzunehmen. Schon wegen seines Alters meint er, sei es wichtig, dass sie nicht solange warten müssen. Bereits sein sie zwei Jahre verheirate und nach ärztlicher Auffassung, besteht nicht eine grosse Möglichkeit, dass sie ein Kind bekommen. Würde trotzdem eines eintreten, könnte sie dieses eine Kind niemals hergeben. Herr Giacometti orientiert sich auch über die Rechtsfragen und ist froh, dass er bald adoptieren könnte.“*

Im August 1958 folgte dann ein Hausbesuch in Lugano. Durch die Akten erfuhr ich folgendes darüber:

„Die Ehegatten Giacometti wohnen am Fusse des Monte Bré. Die Wohnung ist sehr geräumig, grosse Zimmer. Neubau. Helle, mit grossen Fenstern versehene Räume, die recht deutschweizerisch eingerichtet sind. Frau Giacometti erklärt, dass sie im Tessin nichts gefunden hätte, das ihr zugesagt habe. Die Wohnung ist blitzblank sauber und in sehr guter Ordnung. Doch hat man gar nicht das Gefühl, Frau Giacometti verbringe ihre ganze Zeit auf so prosaische Weise. Sie ist sehr aufgeschlossen und lebhaft, gesprächig. Herr Giacometti kommt von der Arbeit. Das Depot befindet sich gerade gegenüber. Auch er macht gleich einen sehr freundlichen Eindruck, ist lebhaft, nimmt gleich regen Anteil am Gespräch mit seinem gebrochenen Deutsch. Man kann sich die beiden sehr gut als Eltern vorstellen.“

Noch im selben Monat wurde meinen späteren Adoptiveltern ein „entzückendes Kindlein“ aus Aarau vorgeschlagen. Wie mir meine Mami später erzählte, fühlte sie sich überrumpelt. Es ging ihr alles zu schnell und sie war noch nicht so weit eingerichtet, um ein kleines Kind aufzunehmen. Aus diesem Grund lehnte sie das Angebot ab. Wenn man bedenkt, dass heutige Adoptiveltern Jahre warten müssen, bis ihnen ein Kind zugesprochen wird! Bereits zwei Monate später wurde meinen künftigen Adoptiveltern erneut ein Kind vorgeschlagen: Das war ich! Innerhalb kürzester Zeit kam die Einwilligung der Amtsvormundschaft Wil:

„Sehr geehrte Fürsorgerin. Ich bin im Besitze Ihrer Zuschrift vom 24.11.1958 und beziehe mich auf den gestrigen telefonischen Anruf. Ich möchte mit diesem, und nach Einsicht der Unterlagen bestätigen, dass ich mit der vorgesehenen Unterbringung des a. e. Kindes Helga Oertli in die Familie Giacometti Lugano-Cassarate, mit der Absicht einer späteren Adoption einverstanden bin. Ich nehme an, es handle sich um eine unentgeltliche Uebernahme der Pflege und Erziehung des Kindes und dass hierüber eine schriftliche Vereinbarung mit den Pflegeeltern über das Pflegeverhältnis getroffen wird, worin auch die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Adoption im Sinne des Art. 267 ZGB erwähnt werden. Ich sende Ihnen die mir übersandten Unterlagen mitfolgend zurück und verbinde damit meinen besten Dank für Ihre Bemühungen“,

schrieb der Amtsvormund im November 1958. Bei der Auswahl der Adoptiveltern war wohl damals das wichtigste Kriterium, dass sie sich in einer guten finanziellen Lage befanden. Die Gemeinde wollte nicht mehr für dieses Kind aufkommen müssen.

So rasch und oberflächlich wurden damals die Abklärungen betreffend einer Eignung zur Adoption getroffen. In meinem Dossier fand ich noch zwei Empfehlungsschreiben von Bekannten und sowie vom Arbeitgeber meiner zukünftigen Adoptiveltern. Innerhalb von nur zwei Monaten waren die Vorabklärungen abgeschlossen. Sicher gab es zu jener Zeit viel mehr Kinder, die zur Adoption freigegeben wurden als heute, aber es scheint ganz so, als wären die Adoptiveltern nur rudimentär auf ihre Eignung geprüft worden. Da stellen sich mir etliche Fragen: War es den zukünftigen Adoptiveltern damals bewusst, dass es nicht dasselbe sein wird, ein „fremdes“ Kind anzunehmen, wie sein eigenes Kind großzuziehen? Waren sie psychisch in der Lage, sich um ein eventuell traumatisiertes Kind zu kümmern? Hatten sie die Fähigkeit, für ein Pflegekind die richtige Betreuung, das Verständnis und die Geduld aufzubringen? Hatten sie genügend Feingefühl und Empathie, um auch schwierige Zeiten zu überstehen? Waren sie genügend charakterlich gefestigt? Wussten sie, was es bedeutet, ein Kind aufzunehmen, dessen Anlagen man nicht kennt? Und was tun, wenn es in der Schule völlig versagen würde oder in der Pubertät einen riesigen Absturz erleiden würde? Das sind alles Ereignisse, die bei einem Adoptivkind häufig auftreten können, häufiger als bei leiblichen Kinder. In dieser Hinsicht wurde offensichtlich viel zu wenig abgeklärt. Aber das gehörte zu jener Zeit, die Adoptionsverfahren und die Erkenntnisse über die Psychologie eines Adoptivkindes und damit verbundene Schwierigkeiten haben sich über die Jahre erst entwickelt. Zudem gab es in den 1960er-Jahren noch nicht so detaillierte Ratgeber zum Thema Kindererziehung, keine über Pflegekinder. Zu jener Zeit wurden Kinder noch autoritär und mit eiserner Disziplin erzogen, auch wenn mittlerweile Stimmen pro antiautoritären Erziehungsstil lauter wurden. Es war nicht üblich, sich als Erwachsene in die fragile Seele eines heranwachsenden Lebens hineinzuversetzen. Empathie gehörte nicht zu den expliziten Erziehungszielen.

Heute müssen sich willige Adoptiveltern auf einer langen Liste von wartenden Eltern hintanstellen und sich über Jahre darum bemühen, ein Kind zu bekommen. Immer wieder folgen für die zukünftigen Adoptiveltern zahlreiche Tests und Gespräche, zudem ist durch sie schriftlich genau zu begründen, weshalb sie ein Kind aufnehmen möchten. Entsprechende Kurse sind auch Pflicht.

Mitte November 1958, als ich etwa sechs Wochen alt war, teilte meine leibliche Mutter der Adoptionsvermittlungsstelle telefonisch mit, dass sie froh wäre, wenn das Kind durch die Mitarbeiter abgeholt werde und bat darum, das dem Kinderheim entsprechend zu berichten. Eigentlich hatte meine Mutter zuerst gesagt, dass es ihr wichtig gewesen wäre, mich persönlich abzuholen. Was war wohl der Grund dieses Wandels? Brachte sie es nicht übers Herz, mich nochmals zu sehen und dann wegzugeben? Das wissen nur die Sterne. So holte mich die Fürsorgerin in St. Gallen ab und protokollierte:

„Helga scheint ein dunkelhaariges, nicht unsympathisches Kindlein zu sein. Seine Äugelein zeigt es allerdings auf dem ganzen Weg nicht und schläft immer. Es hat eher ein rundes Gesichtlein, und ein tiefes Grübchen im Kinn. Sie soll ein sehr liebes Kind sein, nur wenn ihr etwas nicht passt, schreie sie los, wie kein zweites.“

Aus den Akten erfahre ich ein letztes Mal etwas über meine leibliche Mutter:

„Sie erkundigt sich, wie es der Kleinen geht und ob sie eventuell ein Bildchen erhalten könne, sie habe selber noch fotografieren wollen, sei aber nicht dazu gekommen.“

Ich kann nur schwer hoffen, dass ihr dieser Wunsch erfüllt wurde.

Am 1. Dezember 1958, ich war knapp zwei Monate alt, traf ich in Lugano ein und wurde nun vorerst die Pflegetochter meiner Mami und meines Papi. Am 11. Dezember unterschrieben die beiden die Erklärung, in der sie sich verpflichteten, „in gesunden und kranken Tagen“ für mich finanziell aufzukommen, mich eine Schul- und Berufsausbildung genießen zu lassen und mich wie ihr eigenes Kind zu behandeln. All dies haben mein Mami und Papi in ihrer wunderbaren Art erfüllt.

Die rechtlichen Bestimmungen, die zu jener Zeit maßgebend waren

Als ich dann im Jahre 1960 definitiv adoptiert wurde, waren noch die alten Bestimmungen des Zivilgesetzbuches (ZGB) vom 1. Januar 1912 in Kraft. Hier ein Auszug aus der „Aktennotiz“ des EJPD vom 13.02.2014:

„Das alte Recht erkannte unter dem Titel ‚Kindesannahme‘ einer solchen Annahme nur beschränkte Wirkungen zu. Die Kindesannahme betraf vor allem den Familiennamen, die Unterhaltspflicht, die elterliche Gewalt und das Erbrecht, das jedoch stark eingeschränkt werden konnte. Hingegen konnte das Schweizerische Bürgerrecht (somit auch das Heimatrecht) durch die Annahme nicht erworben werden und das angestammte Kindesverhältnis zu den leiblichen Eltern dauerte fort: Das Kind gehörte mit der Kindesannahme somit zwei Familien an, was sich auch darin äusserte, dass die leiblichen Eltern ein Besuchsrecht beanspruchen konnten, das ursprünglich auch durch Vertrag nicht wegbedungen und nur durch die zuständige Behörde selbst entzogen werden konnte. Zudem bestand weiterhin eine gegenseitige Unterstützungspflicht zwischen leiblichen Eltern und dem angenommenen Kind. Dieses behielt überdies sein Erbrecht gegenüber seinen leiblichen Eltern; das Kindesverhältnis wurde nicht aufgelöst. Dies führte unter anderem dazu, dass bei einem allfälligen Tod der oder des Annehmenden die leiblichen Eltern wieder sämtliche Rechte, die mit der Kindesannahme an die Adoptiveltern übertragen wurden, zurückerhielten und das Kind auch wieder seinen ursprünglichen Namen annehmen musste.

Fazit: Die Ausgestaltung der Kindesannahme mit den Wirkungen einer einfachen oder schwachen Adoption entsprach den Anschauungen der Entstehungszeit des ZGB. Damals ging man im Übrigen nicht davon aus, dass von diesem Institut häufig Gebrauch gemacht werden würde. Das alte Recht der Kindesannahme kannte kein Adoptionsgeheimnis; angesichts der beschränkten Wirkungen der Annahme und der Tatsache, dass das adoptierte Kind weiterhin seiner angestammten Familie angehörte, ja dass die leiblichen Eltern sogar ein Besuchsrecht hatten, hätte ein solches Geheimnis auch wenig Sinn gemacht.“

Am 1. April 1973 trat das neue Adoptionsrecht in Kraft, welches sich wesentlich vom alten Recht unterscheidet. Das ZGB sieht nun die Volladoption vor:

Der Adoptierte begründet zu den Adoptiveltern ein Kindesverhältnis mit der Verwandtschaftswirkung, als ob er ein leibliches Kind der Adoptiveltern wäre. Die bisherigen Kindesverhältnisse erlöschen. Das adoptierte Kind erhält den Nachnamen der Adoptiveltern. Zudem dürfen ihm diese einen neuen Vornamen geben, sofern dies mit dem Kindeswohl vereinbar ist. Der Adoptierte erhält das Kantons- und Gemeindebürgerrecht desjenigen Adoptivelternteils, dessen Namen es trägt. Die Adoption ist unauflöslich und die Wirkungen endgültig.