Wem verdanke ich mein Leben? - Regula Brühwiler-Giacometti - E-Book

Wem verdanke ich mein Leben? E-Book

Regula Brühwiler-Giacometti

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Beschreibung

In «Wem verdanke ich mein Leben??» ermöglicht Regula Brühwiler-Giacometti Adoptiv-, Spender- und Kuckuckskindern, ihre Suche nach ihren biologischen Wurzeln zu erzählen. Mit nur wenigen Informationen über ihre Familien haben sie sich auf eine emotionale Entdeckungsreise begeben. Das Buch versammelt 11 einzigartige Geschichten, die den vielschichtigen Weg der Protagonisten offenbaren. Ergänzt werden diese Erzählungen durch Beiträge von Adoptions-Experte Sandro Körber und Psychologin Claudia Leuenberger, die tiefe Einblicke in das menschliche Bedürfnis geben, die eigene Herkunft zu erforschen.

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In diesem Buch lässt Regula Brühwiler-Giacometti Adoptiv-, Spender- und Kuckuckskinder zu Wort kommen, die von ihrer Suche nach ihren biologischen Wurzeln erzählen, von ihren ganz individuellen emotionalen Entdeckungsreisen, auf die sie alle sich begeben haben – ausgerüstet mit nur wenigen Informationen. So entstanden elf einzigartige Geschichten, welche die verschlungenen Lebenswege der hier porträtierten Menschen nachzeichnen und einen Einblick gewähren in die tiefe menschliche Sehnsucht, die eigene Herkunft zu kennen. Ergänzt werden diese Erzählungen durch Beiträge des Adoptionsexperten Sandro Körber sowie der Psychologin Claudia Leuenberger.

«Hier möchte ich nicht nur Adoptierten eine Plattform bieten, sondern auch Spender- und Kuckuckskinder zu Wort kommen lassen. Denn auch ihnen fehlt ein wichtiges Puzzleteil in ihrer Lebensgeschichte.»

So unterschiedlich die in diesem Buch porträtierten Menschen sind – sie alle eint das große Bedürfnis, mehr über die eigene Abstammung, mehr über ihre biologische Familie zu erfahren. Denn die Familie ist Teil der eigenen Identität. Kinder, die bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen, gehören zu einer Sippe, die zumeist auf viele Generationen zurückblickt. Sie kennen ihre Großeltern, Tanten und Geschwister, finden Ähnlichkeiten und Besonderheiten, können sich in ihnen wiedererkennen. Diese Selbstverständlichkeit fehlt den Adoptierten, den Samenspenderkindern und Kuckuckskindern, und sie sind mit der Möglichkeit konfrontiert, dass sie vielleicht nie herausfinden werden, wer ihnen das Leben geschenkt hat.

Regula Brühwiler-Giacometti,

geboren 1958 in St.

REGULA BRÜHWILER-GIACOMETTI

WEM VERDANKE ICH

MEIN LEBEN?

Adoptiv-, Spender- und Kuckuckskinder auf der Suche nach ihrer Herkunft

CAMEO

1. Auflage 2023 Copyright © 2023 Cameo Verlag GmbH, Bern

Alle Rechte vorbehalten.

Der Cameo Verlag wird vom Bundesamt für Kultur

für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Lektorat: Susanne Schulten, Duisburg

Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Cameo Verlag GmbH, Bern

ISBN: 978-3-039510-42-9

E-Book: CPI books GmbH, Leck

Inhaltsverzeichnis

1.  VORWORTWie es zu diesem Buch kam

2.  MEIN NEUES LEBEN

3.  ADOPTION – EINFÜHRUNG

4.  DIE SUCHE NACH DER LEIBLICHEN FAMILIESandro Körber, MLaw, Leiter Zentrale Behörde Adoption des Kantons Thurgau

5.  AYMARAVon la Paz nach Bern

6.  ANNAMARIA«Das Italienerli»

7.  DANIELVom verlassenen Bub zum Fünf-Sterne-Hoteldirektor

8.  SAKUNTALAEin Opfer des Babyschmuggels

9.  SABRINAEin Platzspitzkind

10.  BRIGITTEIhr größter Traum geht in Erfüllung

11.  SPENDERKINDER – EINFÜHRUNG

12.  STEFANIE UND SIMONEZwei Halbschwestern lüften das Familiengeheimnis

13.  HANNESPlötzlich zwei Väter und vielleicht 50 Halbgeschwister

14.  KUCKUCKSKINDER – EINFÜHRUNGZwei Kuckuckskinder erzählen

15.  ANDRÉDas betrogene Kuckuckskind

16.  NELEBrief an meine Tochter

17.  DAS GRUNDBEDÜRFNIS JEDES MENSCHEN, DIE EIGENE HERKUNFT ZU ERGRÜNDENPsychologin und Psychotherapeutin lic. phil. Claudia Leuenberger

18.  SCHLUSSWORT

19.  DANK

ANMERKUNG

1.  Vorwort

Wie es zu diesem Buch kam

Es war unglaublich still im Saal. Die Anwesenden folgten aufmerksam den Worten der Leserin. Man hatte das Gefühl, sie atmeten kaum mehr. In ihren Augen sah man Bewunderung und Erstaunen. Nur meine Stimme füllte den Saal. Das erlebte ich bei all meinen Lesungen. Und ich erinnere mich noch ganz genau an den Tag, als ich meine erste Lesung in Einsiedeln durchführen konnte. Ich war hypernervös und so froh, dass mein Verleger, Gabriel Palacios, bei mir war und mich souverän durch den Abend begleitete. Mit seiner ruhigen und vertrauensvollen Art nahm er mir die Angst, vor Publikum zu lesen. An jenem Abend erlebte ich diese Stille und Aufmerksamkeit das erste Mal in meinem Leben. Ich genoss das wunderschöne Gefühl, das mir die Zuhörer übermittelten.

So wie es üblich ist bei Lesungen, konnten die Anwesenden im Nachhinein mein Buch erwerben und es von mir signieren lassen. Es waren etliche Menschen vor Ort, die eine ähnliche Biografie wie meine hatten, und sie waren sichtlich erfreut, mir ihre Lebensgeschichte anvertrauen zu dürfen. Diese Momente gehören wohl zu den emotionalsten, die mir meine Bücher geschenkt haben; die wunderbaren Begegnungen mit fremden und interessierten Menschen. Ich spürte sofort eine Verbundenheit, schließlich waren wir Schicksalsgenossen, und ich konnte bei ihnen sofort eine Vertrautheit mir gegenüber spüren. Mich mit anderen Adoptierten auszutauschen, war für mich ein Novum.

Einige von ihnen offenbarten mir, dass sie auch schon begonnen hätten, ihre Geschichte niederzuschreiben, bis ganz zu Ende haben sie es jedoch nicht gebracht. Ich animierte sie weiterzumachen, denn mir persönlich hatte das Niederschreiben meiner Biografie unheimlich dabei geholfen, die Vergangenheit zu verarbeiten und mich mit ihr zu versöhnen.

Viele Interessierte, die meine zwei Bücher «Seitensprungkind» und «Plötzlich Familie» erworben haben, haben mich zudem telefonisch oder per Mail kontaktiert. Es waren mehrheitlich Schicksalsgenossen, die mir ihre Lebensgeschichte erzählen wollten. Manchmal fragten sie mich auch nach Ratschlägen, wie sie wohl am besten vorgehen sollten, um ihre unbekannte Familie zu finden.

All das berührte mich sehr, und der Gedanke, diesen Schicksalsgenossen auch eine Möglichkeit zu bieten, ihre Biografie aufzuschreiben, ließ mich nicht mehr los. In meinem zweiten Buch haben meine «neuen Geschwister» ihren Lebensweg niedergeschrieben, und für einige war es tatsächlich ein heilsamer Weg. Sie konnten ihre schwierige Vergangenheit zu Papier bringen und sich von ihr verabschieden. Der Prozess des Aufschreibens erforderte ein Zurückblicken auf die Vergangenheit, was nicht ganz einfach war und auch ein paar schlaflose Nächte mit sich brachte. Aber schlussendlich war es auch für sie ein erlösender Prozess.

Es war nämlich so, dass sich nach dem Erscheinen meines ersten Buches «Seitensprungkind» sieben Halbgeschwister bei mir gemeldet hatten, von deren Existenz ich zum Teil gar nichts wusste! Es war ein Geschenk des Himmels, dass ich mit fast sechzig Jahren plötzlich Teil einer großen Familie wurde. Eine Halbschwester hatte sich auf die Suche nach ihrer (unserer) leiblichen Mutter gemacht und musste leider erfahren, dass sie bereits acht Jahre zuvor verstorben war. Sie suchte weiter und erfuhr, dass sie sieben Halbgeschwister hat, die alle – wie auch sie – von der Mutter weggegeben wurden.

In diesem Buch möchte ich nicht nur Adoptierten eine Plattform bieten, sondern auch Spender- und Kuckuckskinder zu Wort kommen lassen. Denn auch ihnen fehlt ein wichtiger Puzzleteil in ihrer Lebensgeschichte. Die Tragik ihrer Geschichten ist allerdings bei weitem nicht so ausgeprägt wie bei den Adoptivkindern, die in einer völlig unbekannten Familie aufwachsen müssen. Spender- und Kuckuckskinder können im Gegensatz zu den Adoptivkindern bei ihrer leiblichen Mutter groß werden. Der Vater hingegen bliebt der große Unbekannte. So ist auch bei vielen von ihnen der Wunsch präsent, die leibliche Familie väterlicherseits kennenzulernen, zu wissen, von wo die Hälfte ihrer Gene stammt.

Die heutigen technischen Möglichkeiten haben Türen geöffnet, die man vor ein paar Jahr kaum für möglich gehalten hat. So steht es bekanntlich heute jedem offen, eine DNA-Analyse durchführen zu lassen und seine Daten in einer Datenbank einzuspeisen, die dann nach möglichen Verwandten sucht. Viele lassen sich von der Neugier treiben, ohne sich bewusst zu sein, was für Risiken und Überraschungen das mit sich bringen kann. Das allwissende Internet erleichtert das Suchen nach den Spuren der Vergangenheit, man findet zum Teil ganze Familienstammbäume, die öffentlich zugänglich sind. Auch via Facebook wird fleißig nach Verwandten gesucht. In den letzten Jahren boomt die Ahnenforschung im Allgemeinen. Es scheint ein Grundbedürfnis des Menschen zu sein, die Geschichte der Vorfahren zu kennen und mehr über die eigene Abstammung zu erfahren. Wer bin ich und woher stamme ich? Wer sind meine Vorfahren? Das sind Fragen, mit denen wohl die meisten von uns einmal im Leben konfrontiert werden.

Doch die Familiennachforschung ist aufwendig und eine herausfordernde Geduldsprobe, die mit Kosten verbunden ist. Nicht immer findet man bei den Genealogie-Onlineportalen die gewünschten Informationen. Es müssen Ämter und Archive durchforscht werden, aber auch hier findet man nicht immer die gesuchten Daten. Es gelten zudem Schutzfristen. Kirchenbücher werden auch häufig als Mittel für die Suche benutzt, denn hier findet man Informationen über Taufen, Eheschließungen oder Begräbnisse, die bis ca. Mitte des 16.Jahrhunderts zurückreichen und eventuell zur gesuchten Verwandtschaft führen.

Als ich mich auf der Suche nach geeigneten Protagonisten machte, stieß ich auf reges Interesse. Ich konnte feststellen, dass nicht nur Adoptierte, sondern auch viele Spender- und Kuckuckskinder bereit waren, mir ihre Biografie anzuvertrauen. Sie erzählten mir spannende Geschichten, und ich kam nicht mehr aus dem Staunen heraus. Sie alle unterstützten von Anfang an das Buchprojekt und freuten sich, dass ihre Lebensgeschichte publiziert würde. «Endlich wird das Thema enttabuisiert», sagte ein Spenderkind zu mir. Ich war begeistert und wusste nun, dass mein Projekt realisierbar war und ein breites Publikum ansprechen und interessieren wird.

In diesem Buch erzählen nun elf Menschen ihre Geschichte. Nicht alle wollten ihren offiziellen Namen öffentlich machen. Das zeigt einmal mehr, dass noch nicht alle Familien bereit sind, offen mit der Vergangenheit umzugehen, sich ihr zu stellen.

Die Adoptierten …

Hier findet sich die Geschichte der adoptierten Aymara, die aus Bolivien stammt und in der Schweiz adoptiert wurde. Sie machte sich als Erwachsenes auf die Suche nach ihrer leiblichen Familie, jedoch erfolglos. Sie verbrachte die erste Zeit ihres Lebens in einem Kinderheim. Was wurde aus ihr?

Annamaria erzählt von ihrer abenteuerlichen und gefährlichen Suche nach der leiblichen Mutter in Süditalien und was aus dem ersten Treffen mit ihr wurde.

Daniel, der allein bei seinem Adoptivvater aufwuchs, berichtet von seinem Leben. Als er acht Jahre alt war, starb die Adoptivmutter. Als kleiner Bub war er völlig auf sich allein gestellt, der Vater hatte keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Mit zwölf Jahren musste er das Geld für seine Kleidung selbst verdienen. Er zerbrach aber nicht daran, sondern es machte ihn stark. Später wurde er Direktor eines Fünf-Sterne-Hotels in den Schweizer Alpen. Erst im fortgeschrittenen Alter machte er sich auf die Suche nach der leiblichen Mutter und den Halbgeschwistern.

Sabrina wurde als Kleinkind adoptiert und wuchs mit einem Adoptivbruder auf. Als Baby hatte sie zwei Herzinfarkte. Erst viel später erfuhr sie, dass ihre leibliche Mutter stark drogenabhängig und der Platzspitz ihr Zuhause gewesen war. Via Facebook fand sie schließlich einen Teil ihrer leiblichen Familie.

Sakuntala, in Sri Lanka oder vielleicht in Indien, geboren, kam als Fünfjährige in die Schweiz und wuchs bei einem Ehepaar auf, das keine Empathie für sie hatte. Sie fühlte sich immer wie ein Fisch auf dem Trockenen, an ihrer Kindheit erinnert sie sich nicht gern.

Brigitte erfuhr erst mit 14Jahren, dass sie adoptiert wurde. Als ihre Adoptivmutter starb, fand sie heraus, dass ihr Bruder sie Jahre zuvor gesucht hatte, ihr das aber verschwiegen worden war. 53Jahre zuvor hatte sich der damals Neunjährige in der Geburtsabteilung des Spitals von seiner kleinen Schwester mit einem «Tschüss» verabschiedet. An diesen bewegenden Moment erinnert er sich, als wäre es gestern gewesen.

Die Spenderkinder …

Stefanie und Simone sind zwei Halbschwestern, die bis vor kurzem nichts voneinander wussten und zufällig in einer DNA-Datenbank aufeinanderstießen. Was das für Turbulenzen mit sich brachte, erzählen sie ganz offen und spontan. Denn ihre Eltern hatten den zwei Lehrerinnen verschwiegen, dass sie mit einer Samenspende gezeugt wurden.

Hannes, der Anwalt, speiste aus Neugier seine DNA in eine Datenbank ein und stieß mit großem Erstaunen auf Halbgeschwister. Auch ihm hatten die Eltern die Zeugung mittels Samenspende verschwiegen. Er ging der Sache nach und fand heraus, dass die Frauenklinik in Bern in den 1980er-Jahren auf dieses Gebiet spezialisiert war. Medizinstudenten wurden für ein Entgelt dazu animiert, ihren Samen zu spenden. Dieser wurde dann zu einem Samencocktail gemischt, damit man die einzelnen Spender auf keinen Fall identifizieren konnte. Mit den heutigen Verfahren besteht nun jedoch die Möglichkeit, den biologischen Vater zu finden. Ist es vielleicht ein renommierter Medizinprofessor?

Die Kuckuckskinder …

André, 67-jährig, erfuhr erst vor kurzem, dass er ein Kuckuckskind ist. Für eine Begegnung mit seinem leiblichen Vater ist es für ihn zu spät. Ein Onkel gab das Geheimnis preis, als sein sozialer Vater im Sterben lag. «Er erwähnte es beiläufig. Er war überzeugt, dass ich Bescheid wusste.»

Als ihr Baby drei Monate alt war, erfuhr Nele von ihrer Mutter, dass sie aus einem One-Night-Stand entstand. Sie war damals 28Jahre alt.

Die Fortsetzung meiner eigenen Biografie findet hier ebenfalls Platz. Denn kurz vor dem Erscheinen meines zweiten Buches «Plötzlich Familie» erhielt ich von der Amtsstelle die Meldung, dass man noch einen Halbbruder väterlicherseits ausfindig machen konnte, der sich mit mir in Kontakt setzen wollte. Wie aufregend, meine Familie wird immer größer! Bald kann ich auch meinen eigenen Stammbaum aufzeichnen. Ich werde auch noch darüber berichten, wie sich die Beziehung zu meinen neuen Geschwistern entwickelt hat, was uns verbindet und was für schöne Momente wir schon miteinander hatten.

Als ich die Gespräche mit den Menschen führte, die hier porträtiert werden, fiel mir auf, wie extrem wichtig es für alle ist, dass man endlich offen über die Themen Adoption, Spender- und Kuckuckskinder spricht, dass eine Enttabuisierung stattfindet und man diese Formen von Familie in der Gesellschaft endlich als normal wahrnimmt und akzeptiert.

Dieses Buch entstand mitten in der Corona-Pandemie und verunmöglichte mir, alle Protagonisten persönlich kennenzulernen. Nicht nur die strengen Maßnahmen machten Begegnungen fast unmöglich, auch die geografische Entfernung spielte eine Rolle. Ich denke aber, dass ich trotz all diesen Schwierigkeiten die Menschen spüren konnte, die mir ihr Geschichte anvertrauten.

Die bereichernden Gespräche und der Austausch mit den Porträtierten haben auch mich auf meinem Lebenspfad wieder ein Stück weiter gebracht. Dank der Auseinandersetzung mit den hier geschilderten Geschichten habe ich größeres Verständnis für meine eigene, ich fühle mich nicht mehr allein mit meinem Schicksal. Was wir erlebt haben, war prägend, und die Vergangenheit wird uns immer wieder einholen, das ist völlig normal. Doch mit jedem Mal fühlt man sich gegen Rückschläge ein bisschen besser gewappnet.

Abschließend äußert sich auch noch MLaw Sandro Körber, ein Fachexperte in der Herkunftssuche, zu diesem Thema. Er erläutert, wie Adoptierte bei der Suche vorgehen sollten, was für Rechte und welche Pflichten sie haben. Sandro Körber wird über seine Erfahrungen im Umgang mit Betroffenen berichten. Auch die Psychologin lic. phil. Claudia Leuenberger wird fundierte Erkenntnisse vermitteln zum Grundbedürfnis jedes Menschen, die eigene Herkunft zu ergründen.

Nun wünsche ich meinen Lesern eine unterhaltsame Lektüre. Die Geschichten, die das Leben schreibt, sind ja bekanntlich die spannendsten.

2.  MEIN NEUES LEBEN

Ich habe als «Seitensprungkind» das Licht der Welt erblickt. Mein leiblicher Vater war verheiratet, als er eine Affäre mit meiner leiblichen Mutter einging. Meine leibliche Mutter war geschieden und musste sich bereits um die drei Kinder aus ihrer ersten Ehe kümmern, ihr Ex-Mann unterstützte sie nicht einmal finanziell. Und dann kam ich. Das Geld reichte nicht, und so musste sich meine Mutter schweren Herzens von mir trennen und mich zur Adoption freigeben.

1958 kam ich in der Frauenklinik St.Gallen zur Welt, meine Mutter durfte mich, dank der Gutmütigkeit einer Pflegefachfrau, für einen Augenblick in die Arme nehmen. Zu jener Zeit wurden nämlich die Babys, die zur Adoption freigegeben wurden, den Müttern gleich nach der Geburt entrissen. Damit keine Bindung zum Kind entstehen würde, lautete die Begründung. Doch die Bindung war schon da, denn uns hatte die Nabelschnur während neun Monaten verbunden, das kann man nicht einfach löschen!

Es folgte ein kurzer Aufenthalt in einem Kinderheim, dann wurde ich vorübergehend für zwei Wochen in einer Pflegefamilie untergebracht, bis ich schlussendlich zu meiner künftigen Adoptivfamilie nach Lugano kam. Mit zwei Jahren wurde ich adoptiert und ein Teil der Giacometti-Dynastie.

Dieser holprige Start ins Leben hinterließ seine Spuren. So war ich als Kind des Öfteren schwer krank und machte es meinen Adoptiveltern nicht leicht. Aber meine Adoptivmutter kümmerte sich gewissenhaft um mich, und mein Adoptivvater schenkte mir Nähe und Liebe.

Mit knapp zwei Jahren musste ich während zwei Monaten in ein Kinderheim in den Bergen, da meine ständige Bronchitis nicht heilen wollte. Also nochmals eine Trennung, die zur Folge hatte, dass ich meine Adoptiveltern nicht mehr erkannte, als sie mich wieder abholten. Heute würde man von einer solcher Trennung sicherlich abraten, umso mehr bei einer Vorgeschichte wie der meinen.

Als ich sechs Jahre alt wurde, bekamen meine Adoptiveltern einen eigenen Sohn. Ich war in dieser Zeit bei meinen Großeltern in Bern und kam als Notfall mit einem Darmverschluss in die Klinik. Mein Leben hing lange an einem dünnen Faden. War das vielleicht eine unbewusste Reaktion auf die Geburt meines Adoptivbruders? Wollte ich die Aufmerksamkeit auf mich lenken? Hatte ich Angst, dass meine Adoptiveltern mich nun wieder weggeben würden? Würden sie ihn nun mehr lieben als mich, und würde ich meinen Platz als Erstankömmling verlieren? Das mögen Spekulationen sein, doch weiß man heute, dass Emotionen Unglaubliches auslösen können. Nur die Sterne wissen, was damals in meinem Innersten ablief.

Mein Adoptivbruder war jedenfalls extrem lebhaft und anspruchsvoll, heute würde man ihn als klassisches ADHS-Kind bezeichnen. Ich schaffte es dennoch, die Aufmerksamkeit meiner Adoptiveltern auf mich zu lenken, indem ich das liebe, folgsame und disziplinierte Kind war. Und so wurde ich zum Lieblingskind meiner Adoptivmutter.

Dieses angepasste Verhalten kostete mir aber extrem viel Energie, und ich konnte nicht wirklich so sein, wie ich gern gewesen wäre. Meine Adoptivmutter war sehr streng und gefühlskalt, und ich war hochsensibel, was meine Beziehung zu ihr, von mir aus gesehen, sehr schwierig machte. Meine Defizite in Bezug auf Wärme und Geborgenheit wurden zum Glück durch meinen überaus liebevollen Adoptivvater ausgeglichen.

Leider stand es auch um die Beziehung zwischen meinen Adoptiveltern nicht zum Besten. Es wurde viel gestritten, und es herrschte eine kalte Atmosphäre in der Familie. Die Schwierigkeiten mit dem leiblichen Sohn wuchsen. Meine Mutter stieß an ihre Grenzen, weder Strenge noch Schläge konnten den Rebellen in ihm bändigen. Mein Adoptivvater schenkte auch meinem Bruder viel Liebe und Aufmerksamkeit, was die Konflikte zwischen den Eltern jedoch noch mehr eskalieren ließ.

Dann kam der schrecklichste Tag in meinem Leben. Ich war 18Jahre alt, als mein über alles geliebter Papi plötzlich und unerwartet an einem Herzinfarkt starb. Meine große Stütze war mit einem Mal nicht mehr da!

Die familiäre Situation wurde für mich immer unerträglicher. Meine Mutter litt seit Jahren unter starken Depressionen, die sie mit unzähligen Tabletten in den Griff zu bekommen suchte. Mein Adoptivbruder geriet immer mehr auf die schiefe Bahn und begann eine Drogenkarriere. Und ich stand ständig zwischen den Fronten.

Doch das Schicksal meinte es gut mit mir. Mit 20Jahren lernte ich meinen liebevollen Mann kennen, und drei Jahre später zog ich in die deutsche Schweiz, in seine Nähe. Bald heirateten wir, und als ich 28Jahre alt war, erblickte unser Sohn André das Licht der Welt.

Die geografische Distanz zu meiner Adoptivfamilie half mir, zu mir selbst zu finden. Ich sah meine Adoptivmutter immer noch oft, denn sie verbrachte jedes Jahr mehrere Wochen in den Ferien bei uns. Ich konnte mich nicht ganz von ihr lösen, sowohl aus Dankbarkeit, dass sie mich aufgenommen hatte, als auch aus Respekt. Das hatte zur Folge, dass ich in die vielen Probleme, die sie und mein Adoptivbruder hatten, involviert blieb.

2013 starb meine Adoptivmutter nach langer, schwerer Krankheit. Ich begleitete sie bis zum letzten Atemzug. Kurz bevor sie starb, sagte sie zu mir das Schönste, was sie mir zum Abschied anvertrauen konnte: «Du bisch s’liebste, was ich in mim Läbe g’ha ha.» Meine gefühlskalte Mutter sagte mir so etwas Berührendes – da konnte ich ihr alles vergeben. Ihre letzten Worte werde ich nie vergessen.

Dann kam 2016 – für mich ein ganz besonderes Jahr. Gabriel Palacios hatte mir in sein Buch «Lass dich einfach geschehen» folgende wunderschöne und schicksalsträchtige Widmung geschrieben: Regula, du kannst ganz vielen helfen. Doch lasse auch du dich einfach geschehen, herzlichst, Gabriel. Diese ganz besondere Widmung inspirierte mich zum Schreiben meines ersten Buches.

Nie hätte ich gedacht, dass ich so etwas mal tun würde! Doch der Prozess des Schreibens war für mich schlussendlich auch ein Heilungsprozess. Ich befasste mich zum ersten Mal intensiv mit meiner Vergangenheit, meiner Geschichte, meiner Adoption. Die Auseinandersetzung mit meiner Biografie war schmerzhaft. Ich litt während Monaten an einer Magenschleimhautentzündung und verlor sehr viel Gewicht. Doch als das Buch fertig war, meine Vergangenheit auf Papier gedruckt, ging es mir schlagartig besser. Meine Biografie zu schreiben war für mich persönlich die beste Therapie.

Gabriel Palacios hat mir diese Möglichkeit geboten, und dafür werde ihm immer dankbar sein.

Was das Buch auslöste, war schier unglaublich. Denn es meldeten sich bei mir sieben Halbgeschwister, von deren Existenz ich nichts gewusst hatte! Unsere gemeinsame leibliche Mutter hatte alle ihre Kinder weggeben müssen, denn sie war geschieden und konnte finanziell nicht für uns sorgen. Innert kürzester Zeit lernte ich vier Halbschwestern kennen und später auch drei Halbbrüder. Es war eine sehr aufregende Zeit und für uns alle ganz speziell. Ich hatte das erste Mal Kontakt mit leiblichen Halbgeschwistern und konnte Ähnlichkeiten in ihnen entdecken. Als Nichtadoptierte/r kann man sich kaum vorstellen, was es für eine/n Adoptierte/n bedeutet, plötzlich Blutsverwandte zu treffen!

30Jahre zuvor hatte ich bereits meine leibliche Mutter kennengelernt. Auch sie glich mir sehr, aber ich spürte, im Gegensatz zu meinen Halbgeschwistern, keine Bindung zu ihr und konnte auch keine Beziehung aufbauen. Es war keine Begegnung à la Happy Day. Und so brach ich den Kontakt zu ihr auch wieder ab.

Am Anfang trafen wir Halbgeschwister uns des Öfteren. Wir gingen auch manchmal einmal zusammen zum Grab unserer Mutter, die bereits zehn Jahre zuvor verstorben war. Und es stand auch sehr schnell fest, dass wir unsere Lebensgeschichten in einem Buch zusammenfassen würden, als Fortsetzung meines ersten Buches. Und der CAMEO-Verlag zögerte nicht lange.

«Plötzlich Familie» wurde ein Riesenerfolg, und das Buch stand gleich auf der Bestsellerliste. Über unsere überraschende Familienzusammenführung wurde in Tageszeitungen, Magazinen und lokalen Fernsehsendungen berichtet. Sogar ein Team der deutschen ARD kam zu mir nach Hause und strahlte unsere verrückte Geschichte in der Sendung Brisant aus. Zudem lud der deutsche SWR mich in die Sendung «Nachtcafé» ein. Es war wirklich eine spannende Zeit. Ich konnte Lesungen in verschiedenen Bibliotheken halten und wurde an Veranstaltungen eingeladen. Zu all diesen Anlässen wurde ich immer von einem Geschwister begleitet, und gemeinsam berichteten wir von unserer ersten Begegnung.

Als die anfängliche Euphorie langsam verflogen war und wir uns näher kennenlernten, merkten wir, dass wir zum Teil verschiedene Erwartungen an unsere Geschwisterbeziehung hatten. In der Zwischenzeit ist daher der Kontakt zu einigen Geschwistern eingeschlafen, und geblieben sind enge Beziehungen zu drei meiner Halbgeschwister. Zusammen haben wir dann eine zweitätige Reise mit unseren Partnern ins Tessin gemacht. Ich hatte ihnen versprochen, dass ich die Tantiemen vom gemeinsamen Buch «Plötzlich Familie» mit ihnen teilen würde und sie auf eine Reise in meine Heimatstadt Lugano mitnehmen würde. Wir verbrachten dort zusammen ein tolles Wochenende, haben vieles besichtigt, gemütliche Momente erlebt und auch sehr viel gelacht.

Und dann kam plötzlich noch ein Halbbruder dazu! Kurz vor der Veröffentlichung von «Plötzlich Familie» bekam ich die Meldung, dass bei den Recherchen über den Familienzweig meines leiblichen Vaters ein Bruder in Salzburg aufgetaucht sei. Schon wieder eine gewaltige Überraschung! Im Kapitel «Meine Suche nach den Wurzeln geht weiter» in meinem zweiten Buch hatte ich berichtet, dass ich noch herausfinden wollte, ob es eventuell Nachkommen meines leiblichen Vaters gäbe. Auch von der Existenz dieses Bruders hatte ich keine Ahnung! Die Recherche über seinen Wohnort hatte sich schwierig gestaltet, denn mein neuer Halbbruder hatte das Domizil mehrmals gewechselt. Die Erkundung führte von der Schweiz über Amerika bis nach Österreich.

Nach einer intensiven sechsmonatigen Suche wurde durch die Amtsstelle endlich eine Verbindung hergestellt. Er hatte sich immer eine Schwester gewünscht, und nun wollte er sie möglichst bald kennenlernen. Es folgte ein Austausch von E-Mails, und es gab bewegende persönliche Treffen. Überraschenderweise entdeckten wir viele Gemeinsamkeiten. Mein in Salzburg ansässige Bruder Gottlieb ist seit über 25Jahren in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Er setzt sich leidenschaftlich für bahnbrechende Entwicklungsstrategien ein, insbesondere in den Bereichen Wasser, Energie und Landwirtschaft. Seine Arbeit adressiert globale Herausforderungen wie Klimaschutz, Umwelt, Gesundheit und Armutsbekämpfung. Besonders hervorzuheben ist sein Einsatz für die Bildung in Afrika und Asien. Er unterstützt tatkräftig die nachhaltige Anpflanzung von nahrhaften Bäumen und Nutzpflanzen. In Anerkennung seiner bemerkenswerten Beiträge wurde er als Ehrenmitglied in den globalen Vorstand der UNAccc berufen, einer international agierenden indischen NGO.

Nun wollte ich unbedingt auch etwas mehr über meinen leiblichen Vater erfahren. Gottlieb beschreibt ihn als sehr geselligen Menschen, er soll ein Lebemann gewesen sei. Meine leibliche Mutter hatte mir erzählt, dass sie ihn als einen sehr fröhlichen Menschen in Erinnerung hatte. Das waren ideale Voraussetzungen, um einen Gasthof zu führen. Doch erzählt mir Gottlieb, sei es die Mutter gewesen, welche das Restaurant betrieben hatte, der Vater zog es vor zu jassen, Fußball zu spielen und im Jodlerchor zu singen. Anscheinend hatte er es bis zur zweithöchsten Fußballiga gebracht.

Gottlieb erinnert sich gut an die vielen Urlaube, die er mit seinem Vater im Tessin und im Bündnerland verbringen konnte. Er liebte auch schnelle Autos. Als mein Halbbruder elf Jahre alt war, trennten sich die Eltern, und er verlor gänzlich den Kontakt zu seinem Vater. Ich selber hätte noch so gerne ein Bild von meinem leiblichen Vater gehabt, doch Gottlieb besitzt leider keines. Seine inzwischen betagte Mutter wollte er nicht fragen bzw. wollte sie nicht mehr mit alten Geschichten belasten.

Mit einer Halbschwester und einen weiteren Halbbruder pflege ich immer noch einen intensiven Kontakt. Doch haben wir uns entschlossen, uns gegenseitig «Schwester» und «Bruder» zu nennen, wir sind uns einig, dass wir keine halben Sachen wollen! Wir haben schon viele wunderbare Momente miteinander verbracht. Mein lieber Bruder Mathias erfüllte mir sogar den Traum von einer Segeltour, und ich durfte mit ihm und seiner Frau eine Woche im Mittelmehr umhersegeln. Es war wunderbar!

Seither hat sich auch mein äußeres Erscheinungsbild geändert, ich habe sogar eine neue Frisur. Denn die feuchte Meeresluft brachte meine Naturlocken zum Vorschein, und ich konnte auf dem Segelboot nicht wie gewohnt mein Haar stylen. Mein Bruder war so entzückt ob meiner Haarpracht, dass er mir von da an verbot, meine Haare zu glätten. Und ich halte mich immer noch daran. Was so ein neuer Bruder bewirken kann!

Mit Mathias insbesondere verbringe ich sehr viel Zeit, auch weil wir seit einem Jahr glückliche Besitzer von einem kleinen Feriendomizil im gleichen Dorf im Tessin sind wie er. Wir unterstützen uns gegenseitig in Haus und Garten. Das gemütliche Zusammensein und mediterrane kulinarische Genüsse kommen auch nicht zu kurz. Zusammen erleben wir in jeder Hinsicht pure Lebensfreude und Glücksmomente. Was will man noch mehr? Und wer hätte das alles vor ein paar Jahren gedacht? Dank meinem neuen Bruder bin ich nun wieder zu meinen Tessiner Wurzeln zurückgekehrt.

Eine Lücke musste noch geschlossen werden, etwas wollte ich unbedingt noch wissen: Wie sieht das Spital aus, wo ich geboren bin? Wo haben meine leiblichen Eltern dazumal gewohnt, als sie sich kennenlernten? Wo haben sie mich gezeugt? Zusammen mit meinem Mann fuhr ich im Frühjahr 2020 für einen Tag in die Ostschweiz. Zuerst haben wir in St.Gallen das Frauenklinik aufgesucht, wo ich zur Welt kam.

An diesem Tag waren meine Gedanken ganz bei meiner leiblichen Mutter. Im Foyer des Spitals hielt ich inne, dachte fest an sie und stellte mir vor, wie verzweifelt sie gewesen sein musste. Ich versuchte ihre Zerrissenheit nachzufühlen und war unendlich traurig, dass man nicht versucht hatte, ihr eine andere Lösung anzubieten.

Ich versuchte, mich in meine Mutter einzufühlen … was für einen unfassbaren Schmerz muss sie erlebt haben, als sie sich von mir trennen musste. Ein traumatisches Erlebnis für sie und für mich. Sie musste sicherlich mit starken Emotionen kämpfen, war hin und her gerissen, denn es war abgemacht, dass sie gleich nach meiner Geburt die Einwilligung zur Adoption unterschreiben würde. Die Adoptionsvermittlerin wollte sie dazu überreden, doch meine Mutter brachte es nicht übers Herz, gleich auf mich zu verzichten. Als sie mich kurz in den Armen halten durfte, machte sie ihre Entscheidung rückgängig. Wie schlimm muss das für sie gewesen sein, über mein Leben, meine Zukunft entscheiden zu müssen! Jede Frau, die Mutter wird, könnte sich kaum vorstellen, ihr Kind wegzugeben! Doch die Umstände waren damals so schwierig, dass sich fast keine andere Lösung anerbot.

Meine Mutter unterschrieb die Adoptionspapiere also zunächst nicht. So kam ich in das Kinderheim Tempelacker, das gleich gegenüber der Frauenklinik gelegen ist, quasi auf der anderen Straßenseite. Dort wurde ich vorübergehend untergebracht für die ersten Wochen meines Lebens.

Leider konnte ich das Haus nur von außen betrachten, eine Besichtigung der Innenräume wurde mir aus Gründen der Privatsphäre und des Datenschutzes verweigert. Verständlich. Ich wäre sehr gern ins Kinderheim hineingegangen, wollte auch dort spüren, ob der Aufenthalt etwas bei mir auslösen würde, was für Gefühle, wenn überhaupt, sich manifestieren würden. Denn ich hatte einmal einen Klartraum: Ich war noch ein Baby, lag in einem Bettchen und starrte stundenlang zur Decke hinauf, hatte Angst, die Augen zu schließen, weil ich dann verloren gehen könnte. Immer wieder beugten sich unbekannte Gesichter über mich. Vermutlich wollten sie mich trösten, denn ich weinte anscheinend stundenlang.

Anschließend fuhren mein Mann und ich weiter nach Wil im Kanton St.Gallen, wo meine leiblichen Eltern damals wohnten. Beide Gebäude erwiesen sich als Zeugen vergangener Zeiten und waren noch intakt. Zuerst suchten wir anhand der damaligen Adresse nach dem ehemaligen Wohnhaus meiner Mutter. Das ältere Gebäude war noch gut erhalten, doch es war kein Wohnhaus mehr, sondern der Sitz einer Gewerkschaft. Dann gingen wir zu dem Mehrfamilienhaus, in dem mein Vater mit seiner Familie gewohnt hatte. Auch dieses Mehrfamilienhaus sah noch aus wie vor 60Jahren.

Zuletzt stand noch das Restaurant Krokodil auf dem Programm, denn mein leiblicher Vater war damals zur Zeit meiner Zeugung der Wirt gewesen. Wie ich es den Akten entnehmen konnte, sind sich meine leiblichen Eltern dort anlässlich eines Karnevalsballs nähergekommen. So bin ich quasi als Fasnachtskind zur Welt gekommen. Das 1908 in einem auffallenden Stil errichtete Gebäude stand noch, doch es ist kein Restaurant mehr. Zufrieden machten wir uns wieder auf dem Heimweg. Ein emotionaler Tag ging zu Ende. Es fühlte sich gut an, diese Orte besucht zu haben, ein Bild im Kopf zu haben, wo ich entstanden bin und wo ich die ersten Wochen meines Lebens verbracht habe. Ein weiteres kleines Puzzleteil in meiner Lebensgeschichte.

3.  ADOPTION – EINFÜHRUNG

Adoption entsteht meistens aus einer Notsituation heraus. Aus verschiedensten Gründen ist es der Mutter nicht möglich, für das kommende Kind zu sorgen, sei es, weil sie noch viel zu jung ist oder die finanziellen Verhältnisse es nicht zu lassen, sei es, weil sie physisch oder psychisch krank ist. Es gibt noch unzählige andere Gründe. Vor Jahrzehnten war es zudem für eine ledige oder geschiedene Frau eine Schande, ein uneheliches Kind in die Welt zu setzen. Sie wurde von der Gesellschaft geächtet und als liederlich bezeichnet.

Wenn es die Umstände der Mutter unmöglich machen, das Kind zu behalten, wird meistens schon während der Schwangerschaft nach einer Lösung gesucht und die Möglichkeit in Betracht gezogen, das Kind bei anderen Menschen unterzubringen. Bis in die 1980er-Jahre hinein war die finanzielle Lage der Mutter der Hauptgrund für eine Adoption. Die Behörden drängten auf eine schnelle Lösung, weil sie vermeiden wollten, dass die Kinder dem Staat zur Last fielen. Wie massiv dieser Druck ausgeübt wurde, kam erst Jahrzehnte später ans Licht, als Adoptierte sich zu diesem Thema lautstark meldeten. Es wurde dann plötzlich von «Zwangsadoptionen» geredet. Die Schweizer Regierung hat sich später für jene unwürdige Zeit entschuldigt und den Betroffenen, die inzwischen schon über 60Jahre alt waren, eine Entschädigung zugesprochen, was die seelischen Verletzungen auch nicht heilen konnte.

Adoptionsfachleute sowie Sozialarbeiter besitzen mittlerweile tiefere psychologische Kenntnisse und gehen das Verfahren einer Adoption viel differenzierter an. Heute wird zum Mittel Adoption als Ultima Ratio gegriffen, wenn es wirklich keine bessere Lösung gibt. Alleinstehende Mütter werden so gut wie möglich vom Staat unterstützt und von der Gesellschaft nicht mehr ausgestoßen. Das ist mit ein Grund dafür – nebst den besseren Verhütungsmöglichkeiten –, dass in der Schweiz viel weniger Kinder zur Adoption freigegeben werden als noch vor 50Jahren. Eine erfreuliche Entwicklung.

Die künftigen Adoptiveltern werden heute eingehend bezüglich ihrer Eignung geprüft, müssen sich einer langen Prozedur unterziehen und werden auf eine Adoption besser vorbereitet. Früher wurden die Verfahren schnell und oberflächlich abgewickelt, wichtig war lediglich, dass die Adoptiveltern in guten finanziellen Verhältnissen lebten und einen guten persönlichen Eindruck hinterließen. Viel mehr wurde nicht geprüft.

Es ist heute weitgehend bekannt und erwiesen, dass Adoptivkinder besonders viel Aufmerksamkeit und Einfühlungsvermögen benötigen. Ein fremdes Kind aufzunehmen bedeutet, sich auf ein ungewisses Abenteuer einzulassen, einen Weg voller Überraschungen zu gehen. Das Kind wurde bereits geprägt durch den Stress, den die ungewollte Schwangerschaft bei der Mutter ausgelöst hat.

Studien haben bewiesen, dass die ausgeschütteten Stresshormone auf das Ungeborene wirken und dessen Herzfrequenz erhöhen. Das führt dazu, dass diese Kinder später Mühe haben, ihre Gefühle zu kontrollieren. Die abrupte Trennung von Mutter und Kind, sagt man, sei das größte Trauma, das ein Mensch erleben kann. Mache Kinder verbringen zunächst eine gewisse Zeit – die auch Jahren dauern kann – in einem Kinderheim und kommen später mit einem bereits vollgepackten Rucksack in einer Adoptivfamilie an. Sie alle sind durch die Erfahrungen geprägt, die sie in den ersten Lebenswochen oder gar Lebensjahren gemacht haben, in denen sie vielmals Vernachlässigung oder Misshandlungen erlebt haben. Zudem tragen sie einen fremden genetischen Abdruck in sich. Eine nicht zu unterschätzende Arbeit kommt auf die Adoptiveltern zu, denn all diese Prägungen können zu Bindungsproblemen oder Verhaltensauffälligkeiten führen.

Aus den hier in diesem Buch versammelten Geschichten der Adoptierten ist klar ersichtlich, wie die Erfahrung des Weggegebenseins sie alle geprägt hat. Sie berichten von Gefühlen des Fremdseins, über Selbstzweifel und Identitätsprobleme. Wie Adoptierte schlussendlich ihr Leben meistern, hängt von verschiedenen Faktoren ab: Die genetischen Anlagen, die Resilienz, aber auch das Umfeld, in dem sie aufwachsen, spielen dabei eine Rolle.

Die Porträtierten haben sich auf eine Reise zu ihren Wurzeln gemacht, um ihrem Grundbedürfnis nach Vollständigkeit ihrer Identität nachzukommen, und sie haben dabei ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Wer sich von ihren Erzählungen angesprochen fühlt, für den empfiehlt es sich, eine Fachstelle aufzusuchen, die professionelle Hilfe bei der Suche anbietet. Diese können wertvolle Ratschläge geben und die Suchenden fachlich sowie psychisch unterstützten.

Denn die Recherchen bezüglich der biologischen Familie können ungeahnte Emotionen auslösen, gerade im Falle einer Kontaktverweigerung seitens der Ursprungsfamilie. Zudem führt nicht jede Herkunftssuche zum Erfolg. Welche Rechte bei der Suche nach der biologischen Familie heute den Adoptierten zustehen, erläutert anschließend ausführlich der Fachexperte Sandro Körber.

4.  DIE SUCHE NACH DER LEIBLICHEN FAMILIE

Sandro Körber, MLaw, Leiter Zentrale Behörde Adoption des Kantons Thurgau

Einleitung

Mit der Revision des Adoptionsrechts 2016, in Kraft seit 1.Januar 2018, wurde das Adoptionsgeheimnis gemäß Artikel 268b Absatz 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) konkretisiert und teilweise gelockert. Leibliche Eltern, die ihr Kind einst zur Adoption freigegeben haben (bzw. freigeben mussten) sowie ihre direkten Nachkommen erhalten Auskunft über das volljährige oder zumindest urteilsfähige Kind, sofern dieses zugestimmt hat. Umgekehrt ist auch der adoptierten Person ihrerseits das Recht zuteilgeworden, Auskunft über die direkten Nachkommen ihrer leiblichen Eltern zu verlangen, wenn sie volljährig sind und der Bekanntgabe zugestimmt haben.