Selbstbestimmung bis zuletzt - Frank Saliger - E-Book

Selbstbestimmung bis zuletzt E-Book

Frank Saliger

4,9

Beschreibung

Jeder Bürger hat das Menschen- und Grundrecht, selbstbestimmt Art und Zeitpunkt seines Todes unter Einschluss der Hilfe Dritter festzulegen. Diesem Recht entspricht es, dass Suizid, Suizidversuch und Teilnahme am Suizid in Deutschland seit über 150 Jahren straflos sind. Mit dieser tiefverwurzelten Tradition bricht, wer die organisierte Freitodbegleitung durch Sterbehilfevereine unter Strafe stellen will. Dazu bedürfte es zwingender Gründe. Abstrakte Befürchtungen vom Tod als normaler Dienstleistung, als Geschäft oder als Teil einer neuen „Suizidkultur“ genügen dafür nicht und gehen an den realen Bedürfnissen leidender Menschen vorbei. Der Autor zeigt auf, dass die bisherigen Gesetzentwürfe und rechtspolitischen Vorschläge, die organisierte Freitodbegleitung zu kriminalisieren, verfassungswidrig sind.

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StHDGeschäftsstellenPostfach 100 410D-20003 HamburgKuttelgasse 4Reeperbahn 1www.sthd.chCH-8001 ZürichD-20359 [email protected]. 0041 43 542 6326Tel. 0049 40 2351 9100

Gliederung

A. Anlass und Gang der Untersuchung

B. Die Tätigkeit von Sterbehilfe Deutschland

I. Zweck, Mitgliedschaft und Ethische Grundsätze

II. Voraussetzungen und Ablauf der Suizidbegleitung

C. Zur Zulässigkeit der Kriminalisierung organisierter Freitodhilfe

I. Menschen- und verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt des Rechts auf selbstbestimmte Lebensbeendigung

1. Das Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung in Gestalt der Selbsttötung

a. Das Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung als Teil der Achtung des Privatlebens gem. Art. 8 EMRK

aa. Begründung und Inhalt des Rechts auf selbstbestimmte Lebensbeendigung

(1) Grundsatzurteil Pretty/Vereinigtes Königreich: Art. 8 EMRK als sedes materiae eines Rechts auf Selbstbestimmung

(2) Fall Haas/Schweiz: Explizite Anerkennung eines Rechts auf selbstbestimmte Lebensbeendigung

(3) Fälle Koch und Gross: Bestätigung und Konkretisierung des Rechts auf selbstbestimmte Lebensbeendigung

bb. Schranken des Rechts auf selbstbestimmte Lebensbeendigung

(1) Grundsatzurteil Pretty/Vereinigtes Königreich

(2) Fall Haas/Schweiz

(3) Fälle Koch und Gross

cc. Schlussfolgerungen zur Rechtsprechung des EGMR und ihre Beachtlichkeit für die Auslegung des Grundgesetzes

b. Das Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung nach deutschem Verfassungsrecht

aa. Die Existenz freiverantwortlicher Selbsttötungen

bb. Kein verfassungsrechtliches Verbot der Selbsttötung

(1) Die Argumente der Befürworter

(a) Kein Verfügungsrecht über das eigene Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG

(b) Umfassende Schutzpflicht des Staates für das Leben

(c) Unverfügbarkeit der Menschenwürde

(2) Widerlegung der Argumente

(a) Kein Selbsttötungsverbot aus dem Recht auf Leben

(b) Kein absoluter Lebensschutz und keine Rechtspflicht zum Weiterleben

(c) Selbstentwürdigung grundsätzlich kein Gegenstand des Menschenwürdeschutzes

(d) Unvereinbarkeit eines Selbsttötungsverbots mit Menschenrecht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung gem. Art. 8 EMRK

cc. Suizid durch Behandlungsverweigerung als Teil des Rechts auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper

dd. Das Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts

(1) Begründung des Rechts auf selbstbestimmte Lebensbeendigung

(2) Inhalt des Rechts auf selbstbestimmte Lebensbeendigung

(3) Schranken des Rechts auf selbstbestimmte Lebensbeendigung

(a) Allgemeines

(b) Sittengesetz

(c) Rechte anderer

(d) Verfassungsmäßige Ordnung

(aa) Allgemeine Voraussetzungen

(bb) Anwendung auf Suizid und Suizidteilnahme

(α) Der Schutz menschlichen Lebens

(β) Der Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung

2. Betroffene Grundrechte der als Suizidhelfer für StHD tätigen Vereinsmitarbeiter, Ärzte und von StHD selbst

a. Grundrechte der Vereinsmitarbeiter

aa. Berufsfreiheit, Art. 12 Abs. 1 GG

bb. Gewissensfreiheit, Art. 4 Abs. 1 GG

cc. Allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG

(1) Mangelnde Professionalität der organisierten Suizidhilfe?

(2) Entgeltlichkeit versus Gewinnorientierung

(3) Förderung einer „Suizidkultur“?

b. Grundrechte der Ärzte

aa. Berufsfreiheit, Art. 12 GG

bb. Gewissensfreiheit, Art. 4 Abs. 1 GG

c. Grundrechte von StHD

3. Zwischenergebnis: Grund und Grenzen einer Kriminalisierung organisierter Freitodhilfe

II. Strafrechtsdogmatischer Ausgangspunkt

1. Die Entwicklung des Rechts der täterschaftlichen Sterbehilfe

a. Die Unterscheidung von aktiver, indirekter und passiver Sterbehilfe

b. Die Mitzuständigkeit des Zivilrechts

c. Das Strafrecht der Sterbehilfe nach BGHSt 55, 191

2. Die Straflosigkeit von Suizid und Suizidversuch im StGB und die Gründe dafür

3. Die Straflosigkeit der Suizidteilnahme und die Gründe dafür

a. Systematik und Wille des historischen Gesetzgebers

b. Das Teilnahmeargument

c. Verteidigung des Teilnahmearguments

d. Kriminalpolitische Gründe

4. Fortbestehende Strafbarkeitsrisiken für Suizidteilnehmer

a. Tötung in mittelbarer Täterschaft und Fahrlässigkeit bei fehlender Freiverantwortlichkeit

b. Unterlassungsstrafbarkeiten

c. Nebenstrafrechtliche Risiken

5. Zwischenergebnis

III. Beurteilung aktueller Reformvorschläge zur Kriminalisierung der organisierten Freitodhilfe

1. Kriminalisierung der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (BR-Drucks. 230/06)

a. Strafrechtsdogmatische Bewertung

b. Verfassungsrechtliche Bewertung

2. Kriminalisierung der gewerblichen und organisierten Suizidbeihilfe (BR-Drucks. 436/08)

a. Strafrechtsdogmatische Bewertung

b. Verfassungsrechtliche Bewertung

3. Kriminalisierung der Werbung für Suizidbeihilfe (BR-Drucks. 149/10)

a. Strafrechtsdogmatische Bewertung

b. Verfassungsrechtliche Bewertung

4. Kriminalisierung der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung (BT-Drucks. 17/11126)

a. Strafrechtsdogmatische Bewertung

b. Verfassungsrechtliche Bewertung

5. Grundsätzliche Kriminalisierung der Suizidbeihilfe mit Ausnahmen (Gesetzesvorschlag

Borasio

u.a.)

a. Strafrechtsdogmatische Bewertung

aa. Dogmatische Einordnung

bb. Dogmatische Kritik

b. Verfassungsrechtliche Bewertung

6. Kriminalisierung der gewinnsüchtigen oder ausbeutenden Freitodbeihilfe

a. Strafrechtsdogmatische Bewertung

b. Verfassungsrechtliche Bewertung

7. Ergebnis

D. Alternativen zum Strafrecht

I. Verwaltungsrecht

II. Zivilrecht

E. Gesamtergebnis

Anhang 1:

Stellungnahme von 147 deutschen Strafrechtslehrerinnen und Strafrechtslehrern zur geplanten Ausweitung der Strafbarkeit der Sterbehilfe (15. April 2015)

Anhang 2:

Gesetzentwurf Sensburg/Dörflinger Bundestags-Drucksache 18/5376

Anhang 3:

Gesetzentwurf Brand/Griese Bundestags-Drucksache 18/5373

Anhang 4:

Gesetzentwurf Künast/Sitte Bundestags-Drucksache 18/5375

Anhang 5:

Gesetzentwurf Hintze/Lauterbach Bundestags-Drucksache 18/5374

Literaturverzeichnis

A. Anlass und Gang der Untersuchung

Sterbehilfe steht in Deutschland wieder einmal auf der rechtspolitischen Tagesordnung.1 Am 13. November 2014 hat der Deutsche Bundestag nahezu 5 Stunden lang über Sterbehilfe und Sterbebegleitung debattiert. Im Laufe des Jahres 2015 sollen aus der Mitte des Parlaments Gesetzentwürfe erarbeitet und zur Diskussion gestellt werden.2 Ende 2015 ist die Abstimmung über diese Gesetzentwürfe geplant.

Hintergrund der Debatte sind die mit der Gründung einer Niederlassung der Schweizer Sterbehilfeorganisation DIGNITAS in Hannover im September 2005 einsetzenden Bemühungen von Politik und Gesetzgebung, die organisierte Suizidbeihilfe zu kriminalisieren.3 Beschränkten sich diese Versuche bis zur letzten Legislaturperiode aber darauf, nur die geschäftsmäßige, gewerbsmäßige oder organisierte Förderung der Selbsttötung bzw. die Werbung dazu zu pönalisieren, so hat sich die Debatte in der aktuellen Legislaturperiode ausgeweitet. Rechtspolitisch diskutiert werden in Politik und Wissenschaft nunmehr sowohl die grundsätzliche Strafbarkeit der Suizidteilnahme4 als auch der ärztlich assistierte Suizid.5Außerdem ist in den Fokus der Debatte zunehmend die Tätigkeit des Vereins Sterbehilfe Deutschland e.V. geraten (im Folgenden StHD genannt), weil dieser Verein als einzige Sterbehilfeorganisation eine Suizidbegleitung in Deutschland anbietet.6

Gleichwohl verlaufen die Streitstände in Wissenschaft und Politik nicht parallel. Während sich die ganz überwiegende Strafrechtswissenschaft nach wie vor gegen eine Kriminalisierung der bloß organisierten Suizidbegleitung ausspricht,7 will eine offenkundig breite Meinungsströmung unter den Bundestagsabgeordneten im Ergebnis zumindest die geschäftsmäßige, gewerbsmäßige und organisierte Freitodhilfe durch Sterbehilfevereine und Einzelpersonen unter Strafe stellen.8

In der Politik möchte derzeit wohl nur eine Minderheit an der geltenden Rechtslage festhalten, wonach jede Form der Freitodbeihilfe – also auch die organisierte durch Sterbehilfevereine und der ärztlich assistierte Suizid – straflos ist.9 Selbst die nur von einer Mindermeinung in der Wissenschaft vertretene Auffassung, schon grundsätzlich jede Suizidteilnahme zu kriminalisieren,10 fand Widerhall in der Politik.11

Das Vorhaben des Gesetzgebers betrift die Tätigkeit der Sterbehilfevereine in Deutschland unmittelbar. Für StHD würde eine Kriminalisierung der organisierten Suizidhilfe das Ende seiner Freitodbegleitungen in Deutschland bedeuten. Derart massive Eingriffe in Rechtspositionen der beteiligten Organisationen, der für sie als Suizidhelfer tätigen Personen und nicht zuletzt der um Hilfe suchenden Freitodwilligen sind in hohem Maße rechtfertigungsbedürftig. Die vorliegende Untersuchung geht deshalb der Frage nach, ob und inwieweit die Kriminalisierung organisierter Freitodhilfe zulässig sein kann. Dazu klärt sie insbesondere die menschenrechtlichen, verfassungsrechtlichen, strafrechtsdogmatischen, strafrechtsgeschichtlichen und strafrechtstheoretischen Aspekte der Fragestellung. Darüber hinaus sollen die bis April 2015 vorgelegten Gesetzentwürfe auf ihre rechtliche Tragfähigkeit hin überprüft werden. Der rechtstatsächliche Fokus wird dabei auf die Tätigkeit von StHD gelegt.

Aus dieser Zielsetzung der Untersuchung ergibt sich mit Blick auf die Schwerpunkte der aktuellen Debatte folgende Prüfungsreihenfolge:

Zunächst erfolgt eine kurze Darstellung der Tätigkeit von StHD, insbesondere der Voraussetzungen und des Ablaufs der Suizidbegleitung, um eine Referenzpraxis für die Untersuchung festzulegen (unten B.).

Sodann werden in zwei Teilen die Rahmendaten einer Kriminalisierung der organisierten Suizidbeihilfe abgesteckt. Im ersten und grundlegenden Rahmenteil wird der menschen- und verfassungsrechtliche Ausgangspunkt für eine Pönalisierung bestimmt (unten C. I.). Das erfordert sowohl eine genaue Rekonstruktion der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR (unten C. I. 1. a.) als auch eine eingehende Analyse der von einer Kriminalisierung betroffenen Grundrechte des Suizidwilligen (unten C. I. 1. b) sowie der Freitodhelfer und Sterbehilfevereine selbst (unten C. I. 2.). Diese Analyse erlaubt es, Grund und Grenzen einer Kriminalisierung organisierter Freitodhilfe abzustecken (unten C. I. 3.).

In Ergänzung zum ersten Grundlagenteil wird im zweiten Rahmenteil der strafrechtsdogmatische Ausgangspunkt entfaltet (unten C. II.). Der Versuch einer Kriminalisierung organisierter Suizidbegleitung wird hier eingeordnet in das Recht der täterschaftlichen Sterbehilfe (unten C. II. 1.), die geltende Straflosigkeit von Suizid, Suizidversuch und Suizidteilnahme (unten C. II. 2.-3.) sowie die bereits bestehenden Strafbarkeitsrisiken für Suizidteilnehmer (unten C. II. 4.).

Auf Basis der beiden Rahmenteile erfolgt im dritten Teil eine kritische Beurteilung der aktuellen Reformvorschläge zur Kriminalisierung der organisierten Suizidbegleitung (unten C. III.). Dabei werden die Reformvorschläge einer strafrechtsdogmatischen und einer verfassungsrechtlichen Bewertung unterzogen.

Im vierten Teil werden kursorisch Alternativen zum Strafrecht zur Lösung möglicher Probleme im Zusammenhang mit organisierter Freitodbegleitung erörtert (unten D.). Eine Zusammenfassung der Ergebnisse beschließt die Untersuchung (unten E.).

Für wertvolle Mitarbeit bei der Erstellung des Buches danke ich meiner akademischen Mitarbeiterin Frau Tamara Tolj.

1 Siehe zum Folgenden bereits Saliger medstra 3/2015, 1.

2 Der erste Gesetzentwurf wurde am 20. Mai 2015 von den CDU-Abgeordneten Thomas Dörflinger und Patrick Sensburg vorgestellt – siehe Anhang 2, unten Seite 225. Ihm sind gefolgt Anfang Juni der Gesetzesentwurf der Bundestagsabgeordneten Michael Brand (CDU), Kerstin Griese (SPD) – siehe Anhang 3, unten S. 234 ff. – und Mitte Juni die Gesetzesentwürfe von Renate Künast (Grüne) und Petra Sitte (Die Linke) – siehe Anhang 4, unten S. 267 ff. – sowie von Peter Hintze (CDU) und Karl Lauterbach (SPD) – siehe Anhang 5, S. 290 ff.

3 Siehe als erste Reaktionen etwa BR-Drucks. 230/06 betreffend den Entwurf eines Gesetzes zum Verbot der geschäftsmäßigen Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttötung der Länder Saarland, Thüringen, Hessen vom 27. März 2006 (dazu unten C. III. 1., Seite 156 ff.) sowie Heister-Neumann, Die Welt vom 22. Oktober 2005; Birkner ZRP 2006, 52; Schliemann ZRP 2006, 193.

4 Gesetzentwurf Dörflinger/Sensburg – siehe Anhang 2, unten Seite 225 ff.

5 Pars pro toto für die Politik das Positionspapier von Hintze/Lauterbach u.a. vom 16. Oktober 2014 sowie die Orientierungsdebatte im Bundestag zur Sterbebegleitung vom 13. November 2014, Stenografisches Protokoll 18/66, 6116 ff.; für die Wissenschaft die Stellungnahme von 147 Strafrechtslehrerinnen und Strafrechtslehrern (Anhang 1, Seite 216 ff.); Roxin GA 2013, 313 (320 ff.) und Borasio/Jox/Taupitz/Wiesing, Selbstbestimmung im Sterben – Fürsorge zum Leben. Ein Gesetzesvorschlag zur Regelung des assistierten Suizids, 2014, S. 21 ff., 74 ff.

6 Siehe exemplarisch das Positionspapier von Högl/Griese vom 8. Oktober 2014, S. 3 f.; ferner Bauer ZfL 2012, 113 (116 f.).

7 Duttge ZfL 2012, 51 (53 f.); Rosenau/Sorge NK 2013, 108 (118); Schöch FS Kühl 2014, 585 (600 f.); Hilgendorf JZ 2014, 545; U. Neumann medstra 2015, 16 (18); F. Neumann, Die Mitwirkung am Suizid als Straftat, 2015, S. 311 ff.; kritisch auch Verrel JA 7/2012, Editorial; vgl. ferner Roxin GA 2013, 313 (320 ff.).

8 Vgl. etwa Gröhe, Rheinische Post vom 6. Januar 2014; Positionspapier Högl/Griese vom 8. Oktober 2014, S. 3 f.; Positionspapier Scharfenberg/Terpe vom 10. Oktober 2014, S. 2; Positionspapier Lücking/Michel/Brand/Friesing, 2014, S. 3.

9 Siehe den Gesetzentwurf von Hintze/Lauterbach, Anhang 5, S. 290 ff.; ferner das Positionspapier von Künast/Sitte/Gehring, abrufbar unter http://www.renate-kuenast.de/w/files/papiere/mehr-fuersorge-statt-mehr-strafrecht_positionspapier-sterbehilfe_.pdf. Im Gesetzesentwurf von Künast/Sitte u.a. – siehe Anhang 4, S. 267 ff.– soll aber die gewerbsmäßige Hilfe und die gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung kriminalisiert werden.

10 So – mit Unterschieden im Einzelnen – Borasio/Jox/Taupitz/Wiesing, Selbstbestimmung im Sterben usw., S. 21 ff., 74 ff.; Feldmann GA 2012, 498 (516 f.); Engländer FS Schünemann, 2014, 583 (587 ff, 594 ff.).

11 Gesetzentwurf Dörflinger/Sensburg – Anhang 2, Seite 225 ff.

B. Die Tätigkeit von Sterbehilfe Deutschland

I. Zweck, Mitgliedschaft und Ethische Grundsätze

StHD ist Anfang 2010 gegründet worden und in der Rechtsform des eingetragenen Vereins organisiert (§ 1 der Satzung vom 12. Januar 2014, im Folgenden nur noch Satzung genannt).12 StHD verfolgt den Zweck, das Recht aller Menschen auf Selbstbestimmung bis zum letzten Atemzug in Deutschland nach Schweizer Vorbild zu verankern (§ 2 Abs. 1 S. 1, 2 Satzung). StHD unterstützt seine Mitglieder bei der Durchsetzung dieses Rechts und hat sich hierzu Ethische Grundsätze13 (im Folgenden: EG) gegeben, die für alle im und für den Verein tätigen Personen verbindlich sind (§ 2 Abs. 1 S. 3, 4 Satzung). StHD fördert alle Bemühungen zur Etablierung einer bestmöglichen und flächendeckenden Palliativmedizin in Deutschland und der Schweiz (vgl. § 2 Abs. 5 Satzung).

StHD hat erklärtermaßen keine wirtschaftliche oder gewerbliche Zielsetzung (§ 2 Abs. 7 Satzung). Entsprechend üben die Vorstandsmitglieder ihre Tätigkeit ehrenamtlich aus, erhalten insbesondere keine Vergütung und keine Aufwendungs- oder Auslagenpauschale (Abschnitt VII. Nr. 38 EG). Auch die Suizidbegleitungen erfolgen stets ehrenamtlich (Abschnitt VII. Nr. 39 S. 1 EG). Soweit Geschäftsführern oder angestellten oder freien Mitarbeitern von StHD eine Vergütung gezahlt wird, bezieht sich diese ausschließlich auf die übrigen Tätigkeiten für StHD und nicht auf Suizidbegleitungen (Abschnitt VII. Nr. 39 S. 2, 3 EG).

StHD ist die einzige Organisation, die Suizidbegleitung in Deutschland anbietet.14 Von den 1067 bis zum 31. Dezember 2014 beigetretenen Mitgliedern sind insgesamt aus unterschiedlichen Gründen 454 ausgeschieden, 151 aufgrund natürlichen Todes, 162 infolge begleiteten Suizids.15

Um die Suizidbegleitung von StHD in Anspruch nehmen zu können, ist es zunächst notwendig, Mitglied im Verein StHD zu werden. Gem. § 3 der Satzung ist es jedem volljährigen Deutschen oder Schweizer, jedem Ausländer mit Wohnsitz in Deutschland oder der Schweiz sowie jeder juristischen Person des Privatrechts mit Sitz in Deutschland oder der Schweiz möglich, Mitglied im Verein StHD zu werden.

Dabei gibt es vier Formen der Mitgliedschaft (§ 5 Abs. 1 Satzung), wobei ein Wechsel zwischen den einzelnen Formen jederzeit möglich ist (vgl. § 5 Abs. 2 Satzung). Für die Vollmitgliedschaft („Mitgliedschaft V“) werden jedes Jahr am 1. Januar 200 Euro fällig (§ 5 Abs. 1 Punkt 1 Satzung). Bei der Lebensmitgliedschaft („Mitgliedschaft L“) sind einmalig 2000 Euro zu entrichten (§ 5 Abs. 1 Punkt 2 Satzung). Die Lebensmitgliedschaft mit Sonderbeitrag („Mitgliedschaft S“) kann mit Zahlung von 7000 Euro beantragt werden (§ 5 Abs. 1 Punkt 3 Satzung). Zuletzt gibt es die einfache (Vereins-)Mitgliedschaft („Mitgliedschaft M“), für die jedes Jahr zum 1. Januar ein Mitgliederbeitrag in Höhe von 50 Euro anfällt (§ 5 Abs. 1 Punkt 4 Satzung). Bei dieser Mitgliedschaft ist eine Suizidbegleitung nicht möglich (§ 5 Abs. 4 S. 1 Satzung).

Ist man Vollmitglied, so kann eine Suizidbegleitung erst mit Ablauf von drei Jahren seit Vereinseintritt beantragt werden (§ 5 Abs. 4 S. 2 Satzung). Diese Wartezeit verkürzt sich auf ein Jahr, wenn man die Mitgliedschaft L hat (§ 5 Abs. 4 S. 3 Satzung). Bei der Mitgliedschaft S entfällt die Wartefrist gänzlich (§ 5 Abs. 4 S. 4 HS. 1 Satzung); in diesen Fällen bemüht sich StHD, die Voraussetzungen der Ethischen Grundsätze besonders zügig zu klären (§ 5 Abs. 4 S. 4 HS. 2 Satzung). Weitere Kosten entstehen nicht. Außerdem hilft StHD auch Mitgliedern, die sich in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen befinden, denn ein Antrag auf Ermäßigung des Mitgliederbeitrags ist möglich.16 Entsprechend kann der Vorstand im Einzelfall oder für Fallgruppen den Beitrag gemäß § 5 Abs. 1 Satzung reduzieren (§ 5 Abs. 3 Satzung). Auf der Website www. sthd.ch wird mitgeteilt: Sterbehilfe durch StHD scheitert nie am Geld.

Die Ethischen Grundsätze (vgl. § 2 Abs. 1 S. 4 Satzung), vom StHD-Vorstand am 12. Dezember 2014 in dieser Form beschlossen, regeln vor allem die Voraussetzungen für eine Suizidbegleitung (Abschnitt IV. Nrn. 14 bis 21 EG), die Vorbereitung der Suizidbegleitung (Abschnitt V. Nrn. 22 bis 28 EG) und die Durchführung der Suizidbegleitung (Abschnitt VI. Nrn. 29 bis 36 EG). Darüber hinaus enthalten die EG auch Bestimmungen zur Patientenverfügung (Abschnitt III. EG), welche die satzungsmäßig verankerte Leistung von StHD zur Erstellung einer individuellen Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung für jedes Mitglied (§ 2 Abs. 3 Satzung) konkretisieren.

II. Voraussetzungen und Ablauf der Suizidbegleitung

Die konkrete Suizidbegleitung durch StHD erfolgt in vier Schritten.17 Stellt das Mitglied einen Antrag auf Suizidbegleitung, so prüft StHD in einem ersten Schritt die rechtliche und ethische Vertretbarkeit des Antrags. Dazu erhält das sterbewillige Mitglied von StHD einen Fragebogen, den es sorgfältig ausgefüllt und unterschrieben zusammen mit der Patientenverfügung und gegebenenfalls vorhandenen Ärztebriefen zurückschicken muss (Abschnitt IV. Nr. 14 S. 1 EG).18 Dabei handelt es sich um konstitutive Voraussetzungen der Suizidbegleitung, weil StHD die Voraussetzung der Suizidbegleitung erst prüft, wenn der vollständig ausgefüllte Fragebogen und die endgültige Patientenverfügung bei StHD vorliegen (Abschnitt IV. Nr. 15 EG). Der Fragebogen wird je nach Mitgliedschaft sechs Monate vor Ablauf der Wartefrist (bei Mitgliedschaft M und L) bzw. direkt mit dem Bestätigungsschreiben der Mitgliedschaft S wieder an den Sterbewilligen übersandt (Abschnitt IV. Nr. 14 EG). Grundsätzlich dauert die Prüfung zwischen zwei und vier Monaten, im Einzelfall auch kürzer.19

In einem zweiten Schritt erfolgt ein Gespräch in der Wohnung des Sterbewilligen, das auf Video aufgezeichnet wird (vgl. Abschnitt V. Nr. 22 EG).20 In diese vorbereitenden Gespräche sind Angehörige und nahestehende Personen miteinzubeziehen (Abschnitt V. Nr. 23 S. 1 EG). Lehnen die Angehörigen dies ab, so kommt eine Suizidbegleitung nur in Betracht, wenn sichergestellt werden kann, dass die Angehörigen während der Vorbereitung und Durchführung des Suizids nicht störend einwirken (Abschnitt V. Nr. 23 S. 2 EG). Gleiches gilt, wenn andere Störungen aus dem räumlichen und persönlichen Umfeld des Sterbewilligen zu befürchten sind (Abschnitt V. Nr. 24 EG).

Im dritten Schritt prüft ein Arzt die Einsichts- und Willensfähigkeit des Suizidwilligen.21 Der Sterbewillige muss ein ärztliches Gutachten vorlegen, welches ihm die Einsichts- und Willensfähigkeit ohne Einschränkungen bescheinigt (Abschnitt IV. Nr. 16 S. 2 EG). Ohne dieses Gutachten wird keine Suizidbegleitung durch StHD durchgeführt (Abschnitt IV. Nr. 16 S. 1 EG).22 Sollte ein Mitglied keinen Arzt finden, der bereit ist, das entsprechende Gutachten zu erstellen, so vermittelt StHD einen Arzt (Abschnitt IV. Nr. 16 S. 4 EG). Dabei wird großer Wert darauf gelegt und als Indiz für das Vorliegen der Einsichts- und Willensfähigkeit aufgefasst, dass ein krankheitsbedingt Sterbewilliger sich mit den Möglichkeiten therapeutischer Besserung befasst hat, wozu es in der Regel der Einholung ärztlichen Rates bedarf (Abschnitt IV. Nr. 17 EG). StHD prüft gründlich eventuelle Hinweise darauf, dass andere Personen den Sterbewilligen beeinflusst haben könnten. Sollten sich diese Hinweise bewahrheiten, ist eine Sterbebegleitung ausgeschlossen (Abschnitt IV. Nr. 18 EG).

Weitere notwendige Voraussetzung für eine Suizidbegleitung ist, dass der Sterbewunsch unumstößlich (Abschnitt IV. Nr. 19 S. 1 EG) sowie durchdacht und nachvollziehbar ist (Abschnitt IV Nr. 20 S. 1 EG). Diese Erkenntnis wird aus lebensbejahenden Gesprächen über Alternativen sowie der Feststellung der Einsichts- und Willensfähigkeit gewonnen. Bei Zweifeln an der Unumstößlichkeit des Sterbewunsches behält es sich StHD vor, zusätzlich zu den in § 5 Abs. 4 Satzung festgelegten Fristen eine individuelle Wartefrist festzulegen, insbesondere bei nicht eindeutigen Angaben und jungen Mitgliedern (Abschnitt IV. Nr. 19 S. 2 EG). Verbleiben Zweifel, dass der Sterbewunsch durchdacht und nachvollziehbar ist, wird eine Suizidbegleitung abgelehnt (Abschnitt IV. Nr. 20 S. 2 EG). Sofern der Sterbewillige wesentliche Umstände verschweigt oder falsch darstellt, wird eine Suizidbegleitung ebenfalls negativ beschieden (Abschnitt IV. Nr. 21 S. 2 EG).

Suizidbegleitung durch StHD setzt nicht voraus, dass der Sterbewillige an einer unheilbaren Krankheit leidet, die alsbald zum Tode führt. Grundsätzlich ist also nur ausschlaggebend, dass das Mitglied seinen Sterbewillen durchdacht und nachvollziehbar unter Vollbesitz seiner Einsichts- und Willensfähigkeit vorgetragen hat. Nach § 2 Abs. 1 Satzung und der Präambel der Ethischen Grundsätze akzeptiert StHD jedes Begehren, ohne von vorneherein eine Begründung auszuschließen.23 Daher hilft StHD auch Personen, die an psychischen Krankheiten leiden, oder Personen, die aufgrund des Verlusts ihres Partners nicht weiterleben wollen.24

Sobald StHD die definitive Entscheidung gefällt hat, beim Suizid zu assistieren, wird dieses „grüne Licht“ dem Sterbewilligen mitgeteilt (Abschnitt V. Nr. 27 EG). Danach wird an den Sterbewilligen von Seiten StHD nicht mehr herangetreten (Abschnitt V. Nr. 28 S. 1 EG). Entscheidet sich der Sterbewillige, die Hilfe in Anspruch zu nehmen, werden mit ihm nochmals alle Möglichkeiten des Weiterlebens erörtert (Abschnitt V. Nr. 28 S. 2 EG). Bleibt der Sterbewillige bei seinem Wunsch, so findet im vierten Schritt die Suizidassistenz statt (Abschnitt V. Nr. 28 S. 3 EG).

Die Suizidbegleitung erfolgt ausschließlich in Deutschland (Abschnitt VI. Nr. 29 EG). Der Sterbewillige wird zuvor über das allgemeine Risiko des Scheiterns eines Suizids informiert, insbesondere darüber, dass beim Trinken der tödlichen Flüssigkeit nach bisheriger Erfahrung von StHD in 1,4 % der Fälle die Flüssigkeit erbrochen wurde. Wegen der – weitaus größeren – Gefahr, dass der Suizident Fehler bei der Durchführung machen kann, werden von StHD ausschließlich begleitete Suizide unterstützt (Abschnitt VI. Nr. 30 EG).

Dabei kommen entweder Angehörige oder StHD-Mitarbeiter als Suizidbegleiter in Betracht (Abschnitt VI. Nr. 31 EG). Sind Angehörige zur Suizidbegleitung bereit, so informiert StHD sie ausführlich über die medizinischen und organisatorischen Aspekte (Abschnitt VI. Nr. 32 S. 1 EG). Es wird erwartet, dass Angehörige die Ethischen Grundsätze von StHD akzeptieren und dies durch ihre Unterschrift bestätigen (Abschnitt VI. Nr. 32 S. 2 EG). Zudem werden die Angehörigen über die aktuelle Rechtslage und rechtliche Risiken für den Fall aufgeklärt, dass sie beim Sterbewilligen über den Eintritt der Bewusstlosigkeit hinaus verbleiben wollen (Abschnitt VI. Nr. 32 S. 3 EG).

Erfolgt die Suizidbegleitung durch einen StHD-Mitarbeiter, so erscheint er zu einem vereinbarten Termin in der Wohnung des Suizidwilligen, in der sich dann keine andere Person aufhalten darf (Abschnitt VI. Nr. 33 EG). Die StHD-Mitarbeiter arbeiten ehrenamtlich (Abschnitt VII. Nr. 39 S. 2 EG) und sind schriftlich verpflichtet worden, die Ethischen Grundsätze einzuhalten (Abschnitt VII. Nr. 41 EG).

Bei der Durchführung der Suizidbegleitung ist die Anwesenheit eines Arztes in der Regel nicht erforderlich. Ausnahmen sind nur vorgesehen, wenn der Zustand des Sterbewilligen oder die beabsichtigte Suizidmethode ärztliches Handeln erfordern. Dabei soll der Arzt, der zuvor das medizinische Gutachten erstellt hat, keine Sterbehilfe leisten, es sei denn, kein geeigneter anderer Arzt steht zur Verfügung (Abschnitt VI. Nr. 34 EG).

StHD berät den Sterbewilligen und dessen Angehörige auch bezüglich der zu erwartenden Ereignisse nach Eintritt des Todes. Eine Beteiligung an den organisatorischen Vorbereitungen durch StHD findet jedoch nicht statt (Abschnitt VI. Nr. 35 EG). Dabei wird dem Wunsch der Angehörigen und der Sterbewilligen auf Diskretion durch StHD Rechnung getragen. Es wird aber darauf hingewiesen, dass bei einer Obduktion der Suizid ofenkundig wird. Deswegen strebt StHD langfristig an, die Ermittlungsbehörden nach dem Vorbild der Schweiz miteinzubeziehen (Abschnitt VI. Nr. 36 EG).

Im Jahre 2014 hat StHD auf die geschilderte Weise 44 Suizide begleitet. Das Durchschnittsalter der Sterbewilligen betrug dabei 69 Jahre, wobei der Frauenanteil bei 61 Prozent lag.25

12 In Kraft getreten am 26. Januar 2014.

13 Zu finden unter http://www.sterbehilfedeutschland.de/sbgl/files/PDF/2015-01 %20 Eth.Grds.pdf und bei Benzin, Der Ausklang, Edition 2015, S. 191 ff.

14 Benzin, Der Ausklang, Edition 2015, S. 7.

15 Benzin, Der Ausklang, Edition 2015, S. 9.

16 http://www.sterbehilfedeutschland.de/cgi-bin/sbgl.pl?id=1671&lang=.

17 Vgl. Benzin, Der Ausklang, Edition 2015, S. 11 ff.

18 Spittler in: Benzin, der Ausklang, Edition 2015, S. 44.

19 http://www.sterbehilfedeutschland.de/cgi-bin/sbgl.pl?id=1671&lang=.

20 Benzin, Der Ausklang, Edition 2015, S. 11; ebenda auch Spittler, S. 44.

21 Benzin, Der Ausklang, Edition 2015, S. 11.

22 Siehe auch Benzin, Der Ausklang, Edition 2015, S. 11; Spittler in: Benzin, der Ausklang, Edition 2015, S. 42.

23 Vgl. Präambel EG, in Benzin, Der Ausklang, Edition 2015, S. 191; ferner Spittler in: Benzin, der Ausklang, Edition 2015, S. 42 f.

24 Siehe dazu auch Spittler in: Benzin, der Ausklang, Edition 2015, S. 50, wonach 26,9 % der untersuchten Personen eine „sehr konkret begründete, sehr angemessene traurige Gestimmtheit“ als Grund für den Sterbewunsch angaben; ferner S. 69 f.

25 Benzin, Der Ausklang, Edition 2015, S. 9 ff.

C. Zur Zulässigkeit der Kriminalisierung organisierter Freitodhilfe

Die Klärung der Frage, ob und inwieweit es zulässig sein kann, organisierte Freitodhilfe zu kriminalisieren, setzt zunächst voraus, dass der menschen- und verfassungsrechtliche Ausgangspunkt der Fragestellung zutreffend bestimmt wird (unten I.).26 Denn der Strafgesetzgeber kann Kriminalisierungen nur insoweit vornehmen, als sie menschen- und verfassungsrechtlich zulässig sind.27

Diese Feststellung ist für unsere Frage alles andere als selbstverständlich. So befasst sich die Verfassungsrechtswissenschaft erst seit gut 20 Jahren intensiver mit Selbsttötung und Sterbehilfe.28 Zudem wird die Bedeutung von Verfassung und Völkerrecht bei der aktuellen rechtspolitischen Debatte von Teilen der Strafrechtswissenschaft nach wie vor gering veranschlagt bzw. vernachlässigt.29 Das mag mit der verbreiteten – und wie wir sehen werden revisionsbedürftigen – Annahme zusammenhängen, dass Verfassung und Völkerrecht keine zwingenden Vorgaben für die Behandlung der Suizidbeihilfe enthalten und daher dem Gesetzgeber einen weiten Regelungsspielraum belassen.30

Methodisch ist dabei zweierlei zu beachten. Zum einen ist die verfassungsrechtliche Prüfung der Kriminalisierung organisierter Freitodhilfe nicht auf die Prüfung des Grundgesetzes beschränkt. Vielmehr ist die EMRK mitsamt der Rechtsprechung des EGMR zu einem Menschenrecht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung zu berücksichtigen, weil die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR nach ständiger Judikatur des BVerfG auf der Ebene des Verfassungsrechts gem. Art. 2 Abs. 2, 59 Abs. 2 GG als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten dienen.31 Die Rücksicht auf die Rechtsprechung des EGMR ist umso mehr geboten, als diese Rechtsprechung nicht selten verkürzt oder missverständlich rezipiert wird32 und ein Recht auf freiverantwortliche Selbsttötung weder durch das Grundgesetz explizit verbürgt, noch in der Rechtsprechung des BVerfG bislang ausdrücklich anerkannt ist.

Zum anderen betrifft die menschen- und verfassungsrechtliche Prüfung der Kriminalisierung organisierter Freitodhilfe eine mehrpolige Grundrechtskonstellation. Primär – und nicht nur mittelbar – tangiert sind die Freitodwilligen in ihrem – im Folgenden näher zu entfaltenden – Grundrecht auf Selbsttötung. Denn vor allem sie sind es, welche die Lasten einer Kriminalisierung organisierter Freitodhilfe zu tragen hätten, weil sie mit der Untersagung einer derartigen Hilfe auf weniger schmerzlose, weniger würdevolle und weniger sichere Selbsttötungsalternativen verwiesen würden.

Darüber hinaus beeinträchtigt die Kriminalisierung organisierter Freitodhilfe unmittelbar die Tätigkeit von StHD selbst sowie die dort als Sterbehelfer tätigen Vereinsmitarbeiter und Ärzte. Neben der gegebenenfalls als Auffanggrundrecht einschlägigen allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) könnte die Pönalisierung insoweit die Vereinsmitarbeiter und Ärzte in ihren Individualgrundrechten auf Berufs- (Art. 12 GG) und Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) sowie StHD als juristische Person in seinen Grundrechten auf Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG, Art. 11 Abs. 1 EMRK) und Berufsfreiheit verletzen.

I. Menschen- und verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt des Rechts auf selbstbestimmte Lebensbeendigung

Auf dieser Basis ergibt sich folgende Reihenfolge der menschen- und verfassungsrechtlichen Prüfung einer Kriminalisierung organisierter Freitodhilfe: Zunächst und im Schwerpunkt ist das Recht der Freitodwilligen auf eine selbstbestimmte Lebensbeendigung sowohl in seinem Inhalt als auch in seinen Schranken zu rekonstruieren (unten I. 1.). Da bisher nur der EGMR ein solches Recht ausdrücklich anerkannt hat, beginnt die Rekonstruktion mit der Rechtsprechung des EGMR (unten I. 1. a.). Anschließend wird die Rechtslage nach deutschem Verfassungsrecht dargestellt, das – wie zu zeigen sein wird – im Ergebnis noch autonomiefreundlicher ist als die EMRK (unten I. 1. b.).

Darauf aufbauend und abgeleitet ist die Grundrechtslage der für StHD als Freitodhelfer tätigen Mitarbeiter und Ärzte sowie von StHD als juristischer Person selbst zu untersuchen (unten I. 2.). Aus beiden Prüfungen können Schlussfolgerungen zu Grund und Grenzen einer Kriminalisierung organisierter Freitodhilfe gezogen werden (unten I. 3.).

1. Das Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung in Gestalt der Selbsttötung

Der EGMR hat in den letzten 13 Jahren in mehreren Entscheidungen ein Recht der Person auf selbstbestimmte Lebensbeendigung anerkannt, konturiert und weiterentwickelt.

a. Das Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung als Teil der Achtung des Privatlebens gem. Art. 8 EMRK

Hinsichtlich dieses Rechts ist zwischen Begründung und Inhalt auf der eine Seite sowie den Schranken auf der anderen Seite zu differenzieren.

aa. Begründung und Inhalt des Rechts auf selbstbestimmte Lebensbeendigung

Das Recht auf autonome Lebensbeendigung nimmt seinen Ausgang von dem Grundsatzurteil Pretty/Vereinigtes Königreich, wo der EGMR bei der Prüfung der Strafbarkeit der Beihilfe zum Suizid zum ersten Mal aus dem Recht auf Achtung des Privatlebens gem. Art. 8 Abs. 1 EMRK ein Recht auf Selbstbestimmung abgeleitet hat.33

(1) Grundsatzurteil Pretty/Vereinigtes Königreich: Art. 8 EMRK als sedes materiae eines Rechts auf Selbstbestimmung

In dem entschiedenen Fall ging es um eine 43-jährige Britin, die an einer fortschreitenden unheilbaren neuro-degenerativen Krankheit litt, vom Hals abwärts gelähmt war und in der Aussicht auf ein qualvolles und entwürdigendes Ende eine Lebenserwartung von nur einigen Wochen oder Monaten besaß. Die Beschwerdeführerin hatte Angst vor diesem Ende und den Wunsch, es zu vermeiden. Zu einer Selbsttötung war sie ohne Hilfe anderer jedoch nicht in der Lage. Sie hatte sich deshalb in England, wo die Beihilfe zum Suizid strafbar ist, erfolglos an den Generalstaatsanwalt gewandt mit der Bitte, dieser möge erklären, dass er den Ehemann der Beschwerdeführerin nicht strafrechtlich verfolgen werde, wenn er ihr Sterbehilfe leiste. Auch eine entsprechende, auf die EMRK gestützte Klage der Beschwerdeführerin war vom House of Lords in letzter Instanz zurückgewiesen worden.34

Der EGMR prüft in materiellrechtlicher Hinsicht zunächst, welches Konventionsrecht der Beschwerdeführerin durch die Weigerung der britischen Justiz betroffen sein könnte. Mit Recht verwirft das Gericht die Ansicht, Art. 2 EMRK sei insofern einschlägig, als dieser Artikel nicht nur das Recht auf Leben, sondern auch das Recht umfasse, darüber zu entscheiden, ob man weiterleben wolle oder nicht.35 Der EGMR erkennt, dass das Grundrecht auf Leben anders als etwa Art. 11 EMRK nicht die Struktur eines Freiheitsrechts aufweist. So hat das Recht auf Leben nichts mit Fragen der Lebensqualität und der Entscheidung einer Person über ihre Lebensführung zu tun. Insoweit schließt das Lebensgrundrecht keinen Selbstbestimmungsgehalt und auch keine negative Seite in Gestalt eines Rechtes auf den eigenen Tod ein.36 Denn „ohne Verdrehung seines Wortlauts“, so das Gericht, „kann Art. 2 EMRK nicht so ausgelegt werden, dass er das diametral entgegengesetzte Recht“ zu sterben enthält.37 Im Ergebnis stellt der EGMR fest, dass aus Art. 2 EMRK kein Recht abgeleitet werden kann, mit Hilfe einer dritten Person oder einer Behörde zu sterben.38

Ebenfalls für die vorliegende Konstellation als nicht einschlägig erachtet wird vom Gerichtshof das Recht gem. Art. 3 EMRK, nicht der Folter und keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden. Die Beschwerdeführerin hatte gerügt, dass ihr Leiden eine erniedrigende Behandlung i.S. von Art. 3 EMRK darstelle und dass die Regierung, obwohl nicht direkt verantwortlich, verpflichtet sei, sie vor einer solchen Behandlung zu schützen.39

Der EGMR betont, dass Art. 3 EMRK zwar eine positive Verpflichtung des Staates enthält, die Bürger vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu schützen. Indes zielt Art. 3 EMRK primär auf die negative Verpflichtung des Staates, seinen Bürgern keinen schweren Schaden zuzufügen.40 Insoweit arbeitet das Gericht die besondere Struktur der von der Beschwerdeführerin behaupteten positiven Verpflichtung des Staates heraus. Diese geht nicht auf die Beseitigung oder Milderung von Schäden durch Verhinderung von Misshandlungen seitens öffentlicher Institutionen oder Privater. Vielmehr verlangt die Beschwerdeführerin die staatliche Billigung von Handlungen, die eine Lebensbeendigung bezwecken. Dieser neuen ausdehnenden Auslegung tritt der EGMR mit Fug entgegen, weil sie über die gewöhnliche Wortbedeutung des Begriffs der Behandlung hinausgeht und daher nicht aus Art. 3 EMRK hergeleitet werden kann.41

Neu und bahnbrechend ist die Erkenntnis des EGMR, dass das Recht auf Achtung des Privatlebens gem. Art. 8 EMRK ein Recht auf Selbstbestimmung beinhaltet. Ausgangspunkt ist das umfassende und einer abschließenden Definition nicht zugängliche Verständnis des Gerichts vom Begriff des Privatlebens.42 Über die bisher anerkannten Bedeutungen des Schutzes der körperlichen und geistigen Integrität der Person, der körperlichen und sozialen Identität der Person sowie des Rechts auf Persönlichkeitsentwicklung und Rechts auf Sozialität hinaus betont der EGMR erstmals, dass

„die Vorstellung von der Autonomie einer Person ein wichtiger Grundsatz ist, der der Auslegung der Garantien von Art. 8 EMRK zu Grunde liegt.“43

Der Gerichtshof nimmt in diesem Zusammenhang Bezug auf seine Rechtsprechung, wonach das Selbstbestimmungsrecht auch die Möglichkeit einschließt, für die Person selbst gefährliche oder schädliche Dinge zu tun. Deshalb greift der Staat auch dann in rechtfertigungsbedürftiger Weise in das Privatleben seiner Bürger ein, wenn er mit Zwangsmitteln oder gar Strafrecht den Bürger vor selbstgefährdenden Handlungen bewahren will. Dass der Tod im Fall Pretty anders als in den bisher entschiedenen Fällen beabsichtigt ist, macht für den EGMR mit Recht keinen Unterschied. Denn auch bei einer ärztlichen Behandlung wird akzeptiert, dass die Verweigerung der Zustimmung zu einer lebensverlängernden Behandlung durch einen voll einsichtsfähigen Patienten unvermeidlich zu dessen Tod führen kann, und dass die Durchführung der lebensverlängernden Behandlung ohne Einverständnis dieses Patienten in seine von Art. 8 EMRK geschützte körperliche Integrität eingreift.44

Der EGMR nimmt zustimmend Bezug auf eine Feststellung von Lord Hope – einem Richter im britischen House of Lords – , derzufolge der Wille der Beschwerdeführerin zur Gestaltung des Lebensendes Teil ihrer Lebensführung ist, und sie das Recht hat, dass dies auch respektiert wird. Insoweit erklärt das Gericht die Achtung der Menschenwürde und die Achtung der menschlichen Freiheit zu Essentialia der Konvention. Unter gleichzeitigem Respekt vor dem Konventionsgrundsatz der Unverletzlichkeit des Lebens sieht der EGMR in Art. 8 EMRK daher auch den Ort für eine Berücksichtigung des Begriffs der Lebensqualität. Denn

„in einer Zeit fortschreitender Entwicklung der Medizin in Verbindung mit einer längeren Lebenserwartung ist es für viele Personen ein Anliegen, im hohen Alter oder bei fortschreitendem körperlichen oder geistigen Abbau nicht dazu gezwungen zu werden, weiterzuleben, weil das nicht mit für wesentlich gehaltenen Vorstellungen von eigener und persönlicher Freiheit im Einklang stehen würde.“45

Soweit also die Beschwerdeführerin durch (britisches) Gesetz daran gehindert wird, das subjektiv als unwürdig und qualvoll empfundene Ende ihres Lebens zu vermeiden, kann der Gerichtshof im Ergebnis „nicht ausschließen“, dass in das Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Privatlebens eingegriffen wird.46

Weitere behauptete Eingriffe in Konventionsrechte werden vom EGMR zurückgewiesen. So ist die von Art. 9 EMRK garantierte Gedankenfreiheit nicht betroffen, weil nicht alle festen und ernsthaften Meinungen über Sterbehilfe schon Glauben i.S. von Art. 9 EMRK darstellen. Insbesondere enthält die Beschwerde keine Form des Religions- oder Glaubensbekenntnisses durch Gottesdienst oder Praktizieren von Riten i.S. von Art. 9 Abs. 1 EMRK.47

Auch einen Eingriff in das Diskriminierungsverbot aus Art. 14 EMRK verneint das Gericht. Die Beschwerdeführerin behauptet, sie werde dadurch diskriminiert, dass das staatliche Recht nicht behinderten Personen die Begehung einer Selbsttötung erlaube, behinderte Personen aber daran hindere, dafür Hilfe zu erhalten. Der EGMR sieht demgegenüber eine sachliche und vernünftige Rechtfertigung, nicht grundsätzlich zwischen Personen zu unterscheiden, die physisch zu einer Selbsttötung in der Lage sind, und solchen, die das nicht sind. Denn zum einen ist die Abgrenzung zwischen beiden Personengruppen häufig schwierig. Zum anderen würde eine Ausnahme für Personen, die physisch nicht zur Selbsttötung in der Lage sind, den vom britischen Suicide Act von 1961 angestrebten Lebensschutz untergraben und die Missbrauchsgefahr erheblich erhöhen.48

(2) Fall Haas/Schweiz: Explizite Anerkennung eines Rechts auf selbstbestimmte Lebensbeendigung

Im Urteil zum Fall Haas aus dem Jahre 2011 entwickelt der EGMR die Rechtsprechung zum Fall Pretty insofern weiter, als er das in Art. 8 EMRK verankerte Recht auf Selbstbestimmung auch am Lebensende ausdrücklich zu einem Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung ausprägt.

Im entschiedenen Fall war der Beschwerdeführer ein 58-jähriger Schweizer, der seit 20 Jahren an einer schweren manisch-depressiven Störung litt, zwei Suizidversuche unternommen hatte und mehrfach stationär in einer psychiatrischen Klinik behandelt wurde. Nachdem er 2004 Mitglied von DIGNITAS geworden war, bat er die Vereinigung, ihm bei der geplanten Selbsttötung zu helfen. Da die dafür notwendige Substanz (Natrium-Pentobarbital) verschreibungspflichtig ist, wandte er sich mit der Bitte um Verschreibung vergebens an mehrere Psychiater. Danach beantragte er ebenfalls erfolglos bei verschiedenen Schweizer Behörden die Genehmigung, die Substanz in einer Apotheke rezeptfrei unter Vermittlung von DIGNITAS zu erwerben. Schließlich fragte er 2007 bei 170 Psychiatern an, ob sie ihm das für die Verschreibung der Substanz erforderliche psychiatrische Gutachten erstellen können. Keiner hat positiv geantwortet.49

Im Fall Pretty hat die Vierte Sektion des EGMR lediglich „nicht ausschließen“ können, dass der Anwendungsbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK betrofen ist.50 Im Fall Haas interpretiert die Erste Sektion des EGMR die Entscheidung zum Fall Pretty dahin, dass der Gerichtshof positiv entschieden habe, dass der Wille der Beschwerdeführerin zur Vermeidung eines unwürdigen und qualvollen Lebensendes in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK fällt.51 Entsprechend formuliert der EGMR im Fall Haas zum ersten Male positiv ein Recht der Person auf selbstbestimmte Lebensbeendigung. Wörtlich heißt es:

„Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung ist das Recht einer Person zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt ihr Leben beendet werden soll – vorausgesetzt, sie kann ihren Willen frei bilden und entsprechend handeln – Teil des Rechts auf Achtung ihres Privatlebens i.S. von Art. 8 EMRK.“52

Dieses Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung bezieht sich ausdrücklich auf die Freiheit der Wahl von Art und Zeitpunkt des Todes. Da die Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der Art des Todes nicht eingeschränkt ist, ergibt sich aus den Sachverhalten der Fälle Pretty und Haas, dass das Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung auch vorbereitende Maßnahmen unter Einschluss der Unterstützung Dritter umfasst. 53 Denn im Fall Pretty wurde die straflose Sterbehilfe durch den Ehemann und im Fall Haas die Unterstützung bei der Beschaffung des Suizidmittels begehrt, und in beiden Fällen bejaht der EGMR den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK.

Der EGMR verkennt dabei nicht die Unterschiede zwischen den Fällen Pretty und Haas. Anders als im Fall Pretty geht es für den EGMR im Fall Haas zum einen nicht um das Recht zu sterben und die mögliche Straflosigkeit des bei der Selbsttötung Helfenden. Gegenstand ist vielmehr die Entscheidung, ob der Staat unter Abweichung von der Verschreibungspflicht für eine Versorgung des Beschwerdeführers mit Natrium-Pentobarbital sorgen muss, damit dieser schmerzlos und ohne hohe Gefahr eines Fehlschlags sterben kann. Betraf der Fall Pretty also die alleinige Behauptung der Beschwerdeführerin, ihr Leben sei beschwerlich und schmerzhaft, so geht es im Fall Haas auch um die Behauptung einer qualvollen Selbsttötung, falls der Beschwerdeführer die erforderliche Substanz nicht erhält.

Der EGMR weist darauf hin, dass sich im Fall Haas der Beschwerdeführer nicht im Endstadium einer unheilbaren tödlichen Krankheit befindet, die ihn daran hindert, sich selbst zu töten.54

Trotzdem sieht der Gerichtshof in beiden Fällen zutreffend das Recht der Person auf eine selbstbestimmte Lebensbeendigung betroffen. Deshalb prüft der Gerichtshof konsequent den Wunsch des Beschwerdeführers nach einem rezeptfreien Erhalt von Natrium-Pentobarbital unter dem Gesichtspunkt einer positiven Pflicht des Staates, die notwendigen Maßnahmen zur Ermöglichung einer würdigen Selbsttötung zu schaffen.55

(3) Fälle Koch und Gross: Bestätigung und Konkretisierung des Rechts auf selbstbestimmte Lebensbeendigung

Diese positive staatliche Pflicht zur Gewährleistung von Bedingungen für eine selbstbestimmte Lebensbeendigung bestätigt und konkretisiert der EGMR erweiternd in den Fällen Koch und Gross.

Im Fall Koch war der Beschwerdeführer Deutscher und Ehemann einer Frau, die seit 2002 an einer sensomotorischen Querschnittslähmung litt. Die Frau war fast vollständig gelähmt, musste künstlich beatmet werden und bedurfte ständiger Aufsicht und medizinischer Betreuung. Obwohl die Frau nach ärztlicher Einschätzung noch eine Lebenserwartung von mindestens 15 Jahren hatte, äußerte sie den Wunsch, ihrem als unwürdig empfundenen Leben ein Ende zu setzen. Ende 2004 hatte sie vergeblich beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte einen Antrag auf Erlaubnis zum Erwerb einer tödlichen Dosis Natrium-Pentobarbital gestellt, um sich damit zu Hause selbst töten zu können. Auch der noch zu Lebzeiten der Frau eingelegte Widerspruch blieb erfolglos. Im Februar 2005 beging die Ehefrau des Beschwerdeführers mit Unterstützung von DIGNITAS Suizid in der Schweiz. Die vom Beschwerdeführer gegen die ablehnende Entscheidung des Bundesinstituts eingelegten verwaltungsgerichtlichen Rechtsmittel wurden allesamt als unzulässig verworfen.56 Zuletzt hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerde des Ehemanns wegen Unzulässigkeit nicht zur Entscheidung angenommen.57

Die Fünfte Sektion des EGMR bejaht anders als die deutschen Gerichte die Betroffenheit des Beschwerdeführers auch in seinem eigenen Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK. Denn wegen der außergewöhnlich engen Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und seiner verstorbenen Ehefrau sowie seiner unmittelbaren Einbindung in ihr Vorhaben, ihrem Leben ein Ende zu setzen, kann der Beschwerdeführer behaupten, durch die staatliche Verweigerung der Erlaubnis zum Erwerb von Natrium-Pentobarbital unmittelbar selbst betroffen zu sein.58

Bei der Begründung akzentuiert der Gerichtshof, dass es im vorliegenden Fall um Grundsatzfragen hinsichtlich des Wunsches eines Patienten geht, selbstbestimmt sein Leben zu beenden. Diese Fragen, die über die persönliche Betroffenheit der Beteiligten hinaus von allgemeinem Interesse sind, sind wiederholt vor dem Gerichtshof aufgeworfen worden.59 Zudem betont der EGMR, dass Art. 8 EMRK auch einen Anspruch auf gerichtliche Prüfung einschließt.60 Im Ergebnis haben daher für den Gerichtshof sowohl die ablehnenden Entscheidungen des Bundesinstituts als auch die Weigerung der deutschen Verwaltungsgerichte, die Begründetheit der Klage des Beschwerdeführers zu prüfen, in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens gem. Art. 8 EMRK eingegrifen.61

Erweitert der EGMR im Fall Koch die Beachtlichkeit des Rechts auf ein selbstbestimmtes Sterben auf die Angehörigen von schwer kranken Suizidwilligen, so dehnt er im Fall Gross die Reichweite des Rechts auf eine selbstbestimmte Lebensbeendigung auf Freitodwillige aus, die weder physisch noch psychisch schwer krank sind.

Im Fall Gross war die Beschwerdeführerin eine 1931 geborene Schweizerin, die zwar an keiner ernsthaften Erkrankung litt, aber angesichts ihres beginnenden körperlichen und geistigen Verfalls seit Jahren den Wunsch geäußert hatte, ihr Leben zu beenden.62 Nach einem Suizidversuch im Jahre 2005 mit anschließender psychiatrischer Behandlung fürchtete sie die möglichen Folgen eines weiteren Suizidversuchs und nahm Kontakt zur Sterbehilfeorganisation EXIT auf, die sie beim Freitod mittels Einnahme von Natrium-Pentobarbital unterstützen sollte. Ein Psychiater attestierte der Beschwerdeführerin Ende 2008 einen begründeten und wohlüberlegten, nicht auf einer psychischen Erkrankung basierenden Sterbewunsch.

In der Folgezeit richtete die Beschwerdeführerin vergebens mehrere Schreiben an verschiedene Ärzte mit der Bitte, ihr ein Rezept für Natrium-Pentobarbital auszustellen. Die Ärzte sahen sich zur Ausstellung des Rezepts u.a. aus standesrechtlichen Gründen gehindert. Der Versuch der Beschwerdeführerin, bei der Gesundheitsdirektion Natrium-Pentobarbital zu erhalten, blieb ebenfalls erfolglos. Schließlich halfen auch Schweizer Verwaltungsgerichte bis hin zum Bundesgericht der Beschwerde von Frau Gross nicht ab, u.a. deshalb, weil sie an keiner tödlich verlaufenden Krankheit litt und demnach die Voraussetzungen der medizinischethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften zur Zulässigkeit einer Beihilfe zum Suizid nicht erfüllte.

Bei der Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK knüpft die Zweite Sektion des EGMR an die bisherige Judikatur zu einem Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung an und stellt fest, dass der Wunsch der Beschwerdeführerin, Natrium-Pentobarital für eine Selbsttötung zu erhalten, auch in dieser Konstellation in den Anwendungsbereich ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK fällt.63 Dabei akzentuiert der Gerichtshof die diesem Recht inhärenten positiven Pflichten des Staates.

So sollen diese Pflichten auch die Bereitstellung eines Regelungsrahmens und die Ausführung spezifischer Maßnahmen umfassen, welche die Achtung des Privatlebens in Beziehungen zwischen Einzelpersonen sichern.64

Den Unterschied zwischen den Fällen Haas und Gross sieht der Gerichtshof in Folgendem: Im Fall Haas hat der EGMR im Hinblick auf eine positive staatliche Pflicht zur Ermöglichung eines würdevollen Suizids die Prüfung des Ersuchens des Beschwerdeführers, ihm Zugang zu Natrium-Pentobarbital zu verschaffen, als angemessen gewürdigt. Der Fall Gross hingegen wirft nach Ansicht des EGMR in erster Linie die Frage auf,

„ob der Staat es versäumt hat, ausreichende Richtlinien zur Verfügung zu stellen, in denen festgelegt ist, ob und – wenn ja – unter welchen Umständen Ärzte ermächtigt sind, ärztliche Verschreibungen an Personen wie die Beschwerdeführerin auszustellen.“65

Der Fall Gross stellt das bislang letzte Judikat des EGMR zum Anwendungsbereich des Rechts auf eine selbstbestimmte Lebensbeendigung dar.

bb. Schranken des Rechts auf selbstbestimmte Lebensbeendigung

Eingriffe in Konventionsrechte führen nur dann zu einer Verletzung, wenn sie nicht gerechtfertigt sind.66 Da der EGMR das Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung allein in Art. 8 Abs. 1 EMRK verankert, kommen die Schranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK als Rechtfertigungsgründe in Betracht. Danach darf in die Ausübung der Rechte nach Art. 8 Abs. 1 EMRK nur eingegriffen werden, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.67

(1) Grundsatzurteil Pretty/Vereinigtes Königreich

Im Fall Pretty konzentriert sich der EGMR bei der Prüfung, ob die Strafbarkeit der Suizidbeihilfe nach britischem Recht gerechtfertigt ist, auf die streitige Notwendigkeit des Eingriffs. Denn mit § 2 des Suicide Act von 1961 liegt eine gesetzliche Grundlage für den Eingriff vor, die nach Ansicht des Gerichtshofs zudem das berechtigte Ziel des Lebensschutzes und damit des Schutzes der Rechte anderer verfolgt.68

„Notwendig“ bedeutet nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass der Eingriff einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und dass er das legitime Ziel verhältnismäßig verfolgt.69 Bei der Notwendigkeit „in einer demokratischen Gesellschaft“ billigt der EGMR den staatlichen Behörden einen freilich überprüfbaren Beurteilungsspielraum zu, der je nach Sachlage und betroffenen Interessen unterschiedlich weit ist. Der EGMR sieht diesen Beurteilungsspielraum im Fall Pretty nicht als besonders eng an, wie er es für Eingriffe in den intimen Bereich des Sexuallebens einer Person angenommen hat. Obwohl die Parallele bei der Ausübung des in hohem Maße privaten Rechts auf selbstbestimmte Lebensbeendigung für eine körperlich völlig hilflose Person naheliegt, lehnt der EGMR eine Gleichartigkeit der Sachlage ohne Begründung ab.70

Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs stellt der Gerichtshof zunächst einerseits fest, dass die Beschwerdeführerin nicht zu den verletzbaren Personen gehört, die der Suicide Act schützen will. Andererseits sind die Konventionsstaaten berechtigt, Handlungen zu kriminalisieren, die für Leben und Sicherheit einer Person schädlich sind. Dabei gilt die Maßgabe, dass Überlegungen der öffentlichen Gesundheit und der Sicherheit gegen das entgegenstehende Recht auf Selbstbestimmung umso gewichtiger werden, je schwerwiegender der drohende Schaden ist.71 In dieser Lage liegt es nach Auffassung des Gerichts im Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten, die Wahrscheinlichkeit der Gefahr von Missbräuchen bei einer Lockerung des allgemeinen Verbots von Suizidbeihilfe einzuschätzen. Dass eine solche Missbrauchsgefahr selbst bei Berücksichtigung möglicher Sicherungen und Schutzmaßnahmen bestehen soll, erscheint dem EGMR klar.72

Gegen die behauptete Unverhältnismäßigkeit eines unbedingten Verbots der Suizidbeihilfe nach dem britischen Suicide Act verweist der Gerichtshof auf die Flexibilität der britischen Rechtsanwendung im Einzelfall. So bedarf die Strafverfolgung der Zustimmung des Generalstaatsanwalts und ist eine Höchststrafe vorgesehen, welche die Verhängung geringerer Strafen zulässt. Zudem sind in den 22 Fällen einer „Tötung aus Mitleid“ zwischen 1981 und 1992 zumeist Bewährungsstrafen ausgesprochen worden. Deshalb ist es nach Ansicht des EGMR

„nicht willkürlich, wenn ein Gesetz der Bedeutung des Rechts auf Leben Rechnung trägt, indem es Beihilfe zum Selbstmord verbietet und ein System zur Durchsetzung und Aburteilung vorsieht, das es erlaubt, in jedem Einzelfall dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung Rechnung zu tragen …“73

Im Übrigen sieht der Gerichtshof auch keine Unverhältnismäßigkeit in der Weigerung des Generalstaatsanwalts, dem Ehemann der Beschwerdeführerin vor der Tat eine strafrechtliche Nichtverfolgung zuzusichern. Denn das Gewicht der Tat erscheint ihm so groß, dass die Ablehnung einer vorherigen Zusicherung nicht willkürlich oder unangemessen ist. Der EGMR gelangt deshalb im Fall Pretty zu dem Ergebnis, dass Art. 8 EMRK nicht verletzt ist, weil der Eingriff als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft gerechtfertigt war.74

(2) Fall Haas/Schweiz

Im Fall Haas knüpft der EGMR an die im Fall Pretty dargelegten Grundsätze zur Rechtfertigung von Eingriffen in das Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung an, insbesondere den staatlichen Beurteilungsspielraum und die Missbrauchsgefahren, konkretisiert beide aber in signifikanter Weise.

Hinsichtlich des staatlichen Beurteilungsspielraums – der EGMR spricht nun vom Ermessensspielraum – hebt das Gericht zunächst hervor, dass bei der Prüfung der Verletzung von Art. 8 EMRK wegen der Notwendigkeit einer Gesamtbetrachtung der Konvention auch Art. 2 EMRK zu berücksichtigen ist, der den Staat zum Schutz verwundbaren Lebens auch dann verpflichtet, wenn die Person ihr eigenes Leben bedroht. Deshalb muss der Staat jene Personen an einer Selbsttötung hindern, die ihre Entscheidung nicht frei und in Kenntnis aller Umstände getroffen haben.75 Des Weiteren stellt der EGMR fest, dass die Mitgliedstaaten des Europarats nicht nur von einem Konsens über das Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung weit entfernt sind, sondern die große Mehrheit der Staaten mehr Gewicht auf den Lebensschutz als den Schutz des Selbstbestimmungsrechts legt. Der EGMR bejaht daher einen erheblichen Ermessensspielraum der Staaten auf diesem Gebiet.76

Bei der konkreten Verhältnismäßigkeitsprüfung anerkennt der Gerichtshof einerseits die angesichts zahlreicher fehlgeschlagener Suizidversuche belegte Entschlossenheit des Beschwerdeführers, sich würdig, schmerzlos und ohne unnötige Leiden zu töten. Andererseits unterstreicht das Gericht die erhebliche Bedeutung der Missbrauchsgefahr in Systemen, die Hilfe zur Selbsttötung erleichtern. So verfolgt das rechtliche Erfordernis einer ärztlichen Verschreibungspflicht für Natrium-Pentobarbital das berechtigte Ziel, vor voreiligen Entscheidungen zu schützen sowie Missbräuche und Nutzungen durch nicht urteilsfähige Patienten zu verhindern. Dies gilt umso mehr in einem Land wie der Schweiz, das die Selbsttötungsbeihilfe relativ liberal regelt. Denn gerade Konventionsstaaten mit einer liberalen Gesetzgebung und Praxis zur Selbsttötungsbeihilfe sind nach Ansicht des EGMR gehalten, geeignete Maßnahmen zur Verhinderung von Missbrauch insbesondere durch illegal tätige Organisationen zu treffen.77

Insoweit stimmt der Gerichtshof der Schweizer Regierung darin zu, dass die Beschränkung des Zugangs zu Natrium-Pentobarbital dem Schutz von Gesundheit und öffentlicher Sicherheit sowie der Verhütung von Straftaten dient. Er teilt auch die Ansicht des Schweizer Bundesgerichts, dass Art. 2 EMRK die Konventionsstaaten verpflichtet, durch angemessene Verfahren die Übereinstimmung des Entschlusses zur Lebensbeendigung mit dem tatsächlichen freien Willen des Suizidwilligen sicherzustellen. Das Erfordernis eines psychiatrischen Gutachtens sieht das Gericht hier als geeignetes Mittel.78

Auf der anderen Seite stärkt der EGMR auch das Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung, indem er bei der abwägenden Beurteilung von Gesetzgebung und Praxis der Suizidbeihilfe eines Konventionsstaates berücksichtigt, dass

„das Recht des Beschwerdeführers, den Zeitpunkt und die Art zu sterben, selbst zu wählen, nicht nur theoretisch und scheinbar [sein darf ].“79

So kann der Gerichtshof bezüglich der streitigen Frage, ob der Beschwerdeführer tatsächlich die Möglichkeit zum Erhalt eines positiven ärztlichen Gutachtens zum Erwerb von Natrium-Pentobarbital hatte, zugunsten des Beschwerdeführers nicht ausschließen, dass Psychiater bei der Verschreibung tödlicher Medikamente zögern. Auch bezeichnet das Gericht die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung von Ärzten, die ein Gutachten zur Erleichterung einer Selbsttötung erstatten, als real.80

Gleichwohl ist der EGMR im Fall Haas nicht überzeugt, dass dem Beschwerdeführer die Erlangung eines hilfsbereiten Psychiaters unmöglich war. Denn die Briefe, die der Beschwerdeführer an die Psychiater geschrieben hat, haben diese schon deshalb nicht zu einer positiven Antwort ermutigt, weil der Beschwerdeführer darin jede Therapie abgelehnt und damit jede vertiefte Prüfung über Alternativen zur Selbsttötung ausgeschlossen hat. Im Ergebnis haben die Schweizer Behörden daher auch mit Blick auf ihren Beurteilungsspielraum nicht gegen die mögliche staatliche Pflicht aus Art. 8 EMRK, Maßnahmen zur Gewährleistung einer würdevollen Lebensbeendigung zu treffen, verstoßen.81

(3) Fälle Koch und Gross

Anders als in den Fällen Pretty und Haas bejaht der EGMR in den Fällen Koch und Gross eine Verletzung von Art. 8 EMRK.

Im Fall Koch ist der Grund dafür, dass die deutsche Regierung für die Weigerung der deutschen Gerichte, die Begründetheit der Klage des Beschwerdeführers zu prüfen, kein berechtigtes Ziel nach Art. 8 Abs. 2 EMRK angegeben hat. Damit ist das aus dem Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK fließende Recht des Beschwerdeführers auf Prüfung der Begründetheit der Klage verletzt worden.82 Bei dieser Prüfung ist der EGMR auf den verfahrensrechtlichen Aspekt des Art. 8 EMRK beschränkt gewesen. Wegen des Grundsatzes der Subsidiarität war es primär Aufgabe der deutschen Gerichte, die Klage des Beschwerdeführers in der Sache zu prüfen. Das Subsidiaritätsprinzip ist hier sogar von noch größerer Bedeutung, weil die Beschwerde eine Frage betrifft, bei der zwischen den Konventionsstaaten kein Konsens besteht und jeder Staat folglich einen erheblichen Ermessensspielraum hat.83

Im Fall Gross bejaht der EGMR eine Verletzung von Art. 8 EMRK, weil in der Schweiz klare und umfassende gesetzliche Richtlinien hinsichtlich der Abgabe von Natrium-Pentobarbital an Suizidwillige fehlten. Die insoweit einschlägigen medizinisch-ethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften taugen als Grundlage nicht, weil sie keine formale Gesetzesqualität haben. Die Schweizer Regierung hat kein anderes Material vorgelegt, aus dem sich Grundsätze oder Standards für die ärztliche Verschreibung von Natrium-Pentobarbital an Patienten ergeben, die wie die Beschwerdeführerin nicht an einer tödlichen Krankheit leiden. Von diesem Fehlen klarer gesetzlicher Richtlinien geht nach Ansicht des Gerichtshofs ein abschreckender Effekt für Ärzte aus, die ansonsten dazu neigen würden, Personen wie der Beschwerdeführerin das gewünschte Rezept auszustellen. Das Gericht sieht diese Annahme belegt durch Schreiben einzelner Ärzte, die ihre Ablehnung mit standesrechtlichen Gründen oder der Angst vor langwierigen juristischen Verfahren gerechtfertigt haben.84

Im Hinblick auf diese Rechtslage ist der EGMR der Auffassung, dass der Beschwerdeführerin durch die Ungewissheit ihres Ersuchens über einen besonders wichtigen Aspekt ihres Lebens erhebliches Leid zugefügt worden ist. Dieses Leid wäre vermieden worden, wenn klare staatliche Richtlinien vorhanden gewesen wären.85 Wegen des Grundsatzes der Subsidiarität ist es allerdings primär Aufgabe der Schweizer Behörden, die entsprechenden klaren gesetzlichen Richtlinien zu erstellen. Der Gerichtshof beschränkt sich daher auf die Feststellung der Verletzung von Art. 8 EMRK mangels hinreichender Richtlinien über den genauen Umfang des Rechts auf selbstbestimmte Lebensbeendigung, ohne bezüglich des Inhalts solcher Richtlinien eine spezifische Position einzunehmen.86

cc. Schlussfolgerungen zur Rechtsprechung des EGMR und ihre Beachtlichkeit für die Auslegung des Grundgesetzes

Der Rechtsprechung des EGMR können für die anstehende Prüfung des deutschen Verfassungsrechts folgende Maßgaben entnommen werden:

Der EGMR anerkennt in ständiger Rechtsprechung ein aus dem Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK abgeleitetes Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung. Dieses Recht betrifft die Freiheit, über Art und Zeitpunkt der Lebensbeendigung selbst zu entscheiden, erfasst also auch vorbereitende Maßnahmen einschließlich der Hilfe Dritter. Voraussetzung ist, dass die Person ihren Willen frei bilden und entsprechend handeln kann.