Selbstbewusst NEIN sagen - Gisela Ruffer - E-Book

Selbstbewusst NEIN sagen E-Book

Gisela Ruffer

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Beschreibung

Nein sagen - warum fällt das so schwer? Grenzen und Grenzüberschreitungen erlebt jeder Mensch. Oftmals sind es schmerzliche Erfahrungen, die mit einem Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit einhergehen: „Mit mir kann man es ja machen!“ Wie gut wäre es da, wenn man ohne schlechtes Gewissen NEIN sagen könnte? Ziel des Buches ist, dem Leser ein Verständnis für zwischenmenschliche Abgrenzung zu vermitteln. Dazu lernt er Fertigkeiten, mit denen er konkret handeln kann, wenn das nächste Mal seine Grenzen überschritten werden. - Unterhaltsam geschrieben und illustriert. - Typologien erleichtern die Selbsteinordnung und das Identifizieren des richtigen Ansatzpunktes. - Dem Leser wird humorvoll ein Spiegel vorgehalten, was ihn zur Selbstreflexion animiert. - Konkrete Übungen helfen Schritt für Schritt bei der Umsetzung.

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Seitenzahl: 286

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Gisela Ruffer & Herbert RufferSelbstbewusst Nein sagenGrenzen setzen – Grenzen achten

Über dieses Buch

Nein sagen – warum fällt das so schwer?

Grenzen und Grenzüberschreitungen erlebt jeder Mensch. Oftmals sind es schmerzliche Erfahrungen, die mit einem Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit einhergehen: „Mit mir kann man es ja machen!“ Wie gut wäre es da, wenn man ohne schlechtes Gewissen Nein sagen könnte?! 

Ziel des Buches ist, dem Leser ein Verständnis für zwischenmenschliche Abgrenzung zu vermitteln. Dazu lernt er Fertigkeiten, mit denen er konkret handeln kann, wenn das nächste Mal seine Grenzen überschritten werden. 

Eine Typologie grenzverletzenden Verhaltens erleichtert die Einordnung kritischer Situationen und das Identifizieren der effektivsten Lösungsstrategie. Dem Leser wird humorvoll ein Spiegel vorgehalten, was ihn zur Selbstreflexion animiert und deutlich macht, warum er manchmal regelrecht zur Grenzverletzung einlädt. Konkrete Übungen und Fallbeispiele helfen Schritt für Schritt bei der eigenen aktiven Grenzziehung.

Gisela und Herbert Ruffer sind Heilpraktiker für Psychotherapie und betreiben eine gemeinsame Praxis für Psycho- und Paartherapie in Landshut.

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2019

Coverfoto: © Aaron Amat / https://stock.adobe.com

Illustrationen: Jeanine Reble

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2019

ISBN der Printausgabe: ISBN 978-3-95571-878-7

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-879-4 (EPUB), 978-3-95571-881-7 (PDF), 978-3-95571-880-0 (MOBI).

Vorwort

Vor rund fünf Jahren traten Gisela und Herbert Ruffer an mich heran mit der Frage, ob sie einen Artikel für die Zeitschrift Freie Psychotherapie – das Magazin des Verbandes Freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater e. V. – beisteuern könnten. Da wir stets auf der Suche nach interessanten Beiträgen zu unserem Fachgebiet und Fallbeschreibungen aus der Praxis sind, ermutigte ich das Ehepaar Ruffer dazu. Mit dem Thema „Warum Männer mauern“ begann damals eine konstruktive Zusammenarbeit, sodass wir inzwischen schon 14 Artikel in diesem Rahmen veröffentlichen konnten. Sie alle kreisen um das Spezialgebiet der beiden Autoren, dem sie auch in ihrer Landshuter Praxis für Psycho- und Paartherapie nachgehen: Beziehungscoaching. Sie beleuchten auf anschauliche und lebendige Art verschiedene Aspekte, Phasen und Krisen im Leben von Einzelnen und Paaren. Auch das Thema „Beziehungen brauchen Grenzen“ war schon einmal Thema eines solchen Artikels.

Umso mehr freue ich mich, dass Gisela und Herbert Ruffer dieses Thema im vorliegenden Lese- und Arbeitsbuch so schön aufbereitet haben, dass es eine Lust ist, sich in die Lektüre zu vertiefen, die jeweiligen Gedankengänge nachzuvollziehen, eigene Erinnerungen und Lebenserfahrungen aktiv zu durchforsten, sich mit den vorgestellten Klienten, Paaren und Konstellationen zu vergleichen und angeleitet zu werden, gesunde Formen der Selbstbehauptung und Grenzziehung zu erlernen.

Beim Lesen spürt man das fundierte psychologische und therapeutische Wissen der beiden Autoren. Sie präsentieren es jedoch auf eine so lesefreundliche Art, dass man sich faszinieren lässt und nicht belehrt fühlt. Die Typologien, auf die sie zurückgreifen und verweisen, „sperren“ weder die beschriebenen Menschen noch die eigenen Überlegungen und Emotionen in irgendwelche Schubladen. Sie liefern im Gegenteil Verständnismodelle, warum wir alle manchmal nicht anders reagieren und handeln können, als wir es gelernt haben und deshalb für „selbstverständlich“ erachten. Dieses Verstehen, Durchleuchten und Hinterfragen öffnet gleichzeitig liebevoll Wege zur Selbstannahme – wiederum als Voraussetzung für konstruktive Veränderungen in der Zukunft. Diese werden von niemandem gefordert, was ggf. nur Widerstand auslösen würde. Stattdessen machen die Ruffers bewusst: Es gibt nie nur „Opfer“, deren Grenzen ständig verletzt werden, und „Täter“, die die Grenzen anderer missachten und bedenkenlos überschreiten. Jeder von uns kann in den unterschiedlichen Beziehungen mal die eine und mal die andere Rolle spielen. Und manche, die sich durch Grenzverletzungen anderer als ausgelieferte Opfer empfinden, entdecken, wie sie unbewusst ihre Mitmenschen geradezu eingeladen haben, sie nicht zu respektieren. Und umgekehrt wird manch anderem – gespiegelt durch die vorgestellten Typen – bewusst, wie er sich durch Nachgiebigkeit, Ausweichverhalten und Nichteinhalten von klaren Absprachen und Vereinbarungen dazu verleiten lässt, in den Raum seines Gegenübers einzudringen, ihm Entscheidungen abzunehmen und die Führung an sich zu reißen.

Die lebendig erzählten Fallgeschichten erlauben, sich selbst auf die Schliche zu kommen. Sie ermutigen dazu, (wieder) an neue Möglichkeiten und alternatives Verhalten auch in eingefahrenen Beziehungen zu glauben. Bereichert wird das Ganze durch die Vielzahl von praktischen und praktikablen Übungen, die anregen und helfen, das Erkannte auf sich selbst zu beziehen und neue Horizonte zu eröffnen.

Liebe Gisela, lieber Herbert Ruffer, vielen Dank für dieses schöne und lehrreiche Buch, das beweist, dass Lernen auch Spaß machen kann!

Dr. paed. Werner Weishaupt, Dozent für Psychotherapie

Präsident des VFP e.V.

Verband Freier Psychotherapeuten,

Heilpraktiker für Psychotherapie

und Psychologischer Berater

Lister Str. 7, 30163 Hannover

www.vfp.de

E-Mail: [email protected]

Einleitung

„Der wahre Ort der Begegnung ist die Grenze.“

(Paul Tillich)

„Nein, jetzt reicht’s!“, protestierte eine Stimme in mir, als ich die Szenerie beobachtete. Sie hatte es schon wieder getan! Erneut hatte das Nachbarskind unserer Tochter im Sandkasten das Spielzeug aus der Hand gerissen. Und nun saß unsere Kleine zerbrechlich und weinend vor mir und jammerte. „Hol’ es dir zurück“, forderte ich sie auf. Aber sie schluchzte nur herzzerreißend und stammelte leise: „Ich trau mich nicht.“

Vielleicht erkennen Sie sich ja in dieser Szene wieder, als die1, der man unerlaubt etwas nimmt, als die, die sich nicht traut, für sich selbst einzutreten, oder aber als die, deren innere Stimme wie die eines Freundes sagt: „Nein! Das geht jetzt zu weit!“

Unser Sohn reagierte in vergleichbaren Situationen ganz anders. Er schaute sich sein Gegenüber kurz an, griff dann nach seinem Spielzeug, nahm es dem anderen Kind ruhig, aber beherzt aus der Hand und machte einfach weiter mit seinem Spiel. Kein Protest, kein Geschrei. Frieden. Wünschen Sie sich in Ihrem Alltag auch des Öfteren, so selbstbewusst und zielgerichtet vorgehen zu können?

Wie unterschiedlich wir gerade in alltäglichen Situationen doch reagieren! „Knicken“ wir ein oder bleiben wir souverän? In einer gelungenen Selbstbehauptung liegt offensichtlich das Geheimnis von innerem und äußerem Frieden. Und das muss auch für Sie kein Wunschtraum bleiben. Wir haben dieses Buch geschrieben, um Sie darin zu unterstützen, gesunde Selbstbehauptung zu kultivieren und Ihr Verhalten sowie Ihre innere Haltung entsprechend auszurichten. Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen gehören zu den alltäglichen menschlichen Erfahrungen. Die Notwendigkeit, Grenzen zu definieren und aufrechtzuhalten, begleitet uns von Kindheit an. Für diese lange Reise sollten Sie einen Freund als Begleiter dabeihaben, eine innere Stimme, die Ihnen signalisiert, wann Zeit für ein klares Nein ist. Womöglich hat aus diesem Grund das vorliegende Buch den Weg zu Ihnen gefunden: Weil Sie feststellen mussten, dass Sie (noch) nicht zu den glücklichen Menschen gehören, die keine oder kaum Probleme damit haben, Nein zu sagen. Oder aber Sie haben dabei schon mal Schiffbruch erlitten und fragen sich nun, wie Sie eine weitere „Seenot“ verhindern können.

In unserer Arbeit als Heilpraktiker für Psycho- und Paartherapie bekommen wir Aussagen wie die folgenden fast täglich zu hören:

„Mit mir kann man es ja machen!“„Alle quatschen mich voll und wenn ich mal jemanden brauche, ist niemand da.“„Ich will doch nur geliebt werden.“„Immer bin ich schuld.“„Wenn ich mich wehre, wird es nur noch schlimmer.“

Für Menschen, die sich mit diesen und ähnlichen Gedanken martern und die zugrunde liegenden inneren und äußeren Konflikte angehen möchten, haben wir dieses Buch geschrieben. Für solche, die an ihren belastenden Gefühlserfahrungen grundlegend etwas ändern wollen, die den Wunsch hegen, ihr Auftreten anderen Menschen gegenüber anders, vielleicht durchsetzungsstärker oder selbstbewusster, zu gestalten. Denn das ist möglich! Sie werden während der Lektüre Personen (mit realem Hintergrund) kennenlernen, die dies geschafft haben.

Durch die vielen Geschichten in diesem Buch werden Ihnen womöglich aber auch die Augen für Ihr eigenes grenzverletzendes Verhalten geöffnet und Sie beginnen zu verstehen, warum es in Ihrem Leben immer wieder zu Grenzüberschreitungen, Verletzungen und Meinungsverschiedenheiten kommt, und in der Folge aus Hilflosigkeit auch wiederholt zu Beziehungsabbrüchen. Vielleicht überrascht Sie diese Sichtweise? Immerhin haben Sie sich dieses Buch gekauft, weil doch Sie das Opfer sind und sich endlich wehren möchten – nicht umgekehrt. Ja und Nein.

Ja, denn ihr Gefühl, wegen des anderen verletzt, wütend oder traurig zu sein, ist völlig legitim. Negative Emotionen signalisieren uns, dass etwas nicht stimmt, dass Gefahr droht. Sie haben das Recht (und die Pflicht!), sich gegen solche Gefahren zu schützen.

Nein, weil es bei dysfunktionalen zwischenmenschlichen Dynamiken nicht um Täter und Opfer geht (diese Einteilung führt selten zur Lösung), sondern um das fehlende Verständnis füreinander und die zugrunde liegenden Motive für das (grenzverletzende) Verhalten. Wenn es Ihnen gelingt, die jeweiligen Anteile – Ihre und die des anderen – zu erkennen, die zu den Grenzsituationen geführt haben, sinkt das Eskalationsrisiko. Es wird Ihnen wesentlich leichter fallen, innerlich ruhig und souverän zu bleiben und Ihren Standpunkt selbstbewusst zu vertreten.

In den vielen Jahren der Begleitung und Beratung von Menschen hat das Thema Abgrenzung im inneren und äußeren Bereich immer mehr an Bedeutung gewonnen. Bei den meisten unserer Klienten entpuppte sich die Fähigkeit, selbstbewusst Grenzen setzen zu können, als grundlegende Voraussetzung für eine neue Lebensqualität. Wie auch sonst kann ein seelisch angegriffener oder verletzter Mensch dauerhaft stabil werden, wenn er nicht die Fähigkeit erlangt, sich vor neuen Übergriffen und Anschlägen auf seine Person zu schützen? Oft genug erleben Menschen „Grenzenlosigkeit“ im Sinne eines Übermannt- oder Benutztwerdens. Das ist zum Beispiel angesichts des übergriffigen Verhaltens eines Kollegen, der Schwiegermutter oder gar einer Freundin der Fall, aber auch, wenn wir von eigenen Gefühlen überflutet werden, wenn wir hilflos wie Ertrinkende keinen (inneren) Halt mehr finden. Oder wir erleben uns selbst, beabsichtigt oder aus einer Unfähigkeit und Hilflosigkeit heraus, als Grenzverletzer im eigenen wie im zwischenmenschlichen Bereich. Denn wie oben bereits beschrieben: Eine Grenzverletzung zieht oftmals weitere Grenzüberschreitungen nach sich. Gewalt erzeugt Gegengewalt. Eine klare Täter-Opfer-Trennung ist daher meist weder möglich noch förderlich.

Um all diese hier kurz angerissenen Fälle der „Grenzenlosigkeit“ soll es in diesem Buch gehen. Während des Lesens werden Sie wahrscheinlich immer wieder eigenes Verhalten und eigene Probleme wiedererkennen. Durch das Spiegeln der eigenen Muster haben Sie die Chance, sich selbst wahrhaftiger zu begegnen, sich selbst wieder näher zu kommen und Lebenszusammenhänge besser zu verstehen.

Es erscheint uns ratsam, dass Sie beim Lesen Stift und Papier zur Hand haben, weil das Wichtige durch die folgenden Zeilen nur angestoßen werden kann und dann in Gänze in Ihren Gedanken und Ihren Gefühlen auftauchen wird. Machen Sie sich also bitte Notizen. Die Wahrheiten, die Sie erkennen, bilden den Nährboden, auf dem Sie in Ihrer Persönlichkeit wachsen und sich weiterentwickeln können.

Wir werden Ihnen neun unterschiedliche Typen und das entsprechende Grenzverhalten aufführen, die uns in unserer Praxis immer wieder begegnet sind. Bestimmt gibt es mehr als nur diese und in jedem Fall gibt es zahlreiche Überschneidungen und Mischformen. Diese neun Typen sind jedoch jene, mit denen wir ausreichend vertraut sind, sodass wir die jeweiligen Neigungen und Verhaltensstile fundiert skizzieren konnten. Sie bilden ein breites Spektrum ab und schaffen somit die Grundlage für eigene Schlussfolgerungen und Übertragung auf Ihre individuelle Situation.

Wenn Sie sich selbst in einer der Darstellungen wiedererkennen, dann finden Sie wahrscheinlich genügend Anregungen zur Selbstreflexion und konkrete Schritte zum Verändern Ihrer problematischen Verhaltensweise. Ebenso für den Fall, dass Sie mit jemandem zu tun haben, der einem der Typen entspricht.

Fallbeispiele aus unserem Therapeutenalltag veranschaulichen das Dargelegte und machen Veränderungshilfen greifbarer. An dieser Stelle danken wir all unseren Klienten für ihr entgegengebrachtes Vertrauen. Nur durch ihre Offenheit konnten wir von ihnen lernen. Lediglich die Namen, Orte und Situationen wurden zum Schutz der Personen verändert, jedoch ohne die wesentlichen Sachverhalte zu verfälschen. Im Film würde es heißen: „Nach einer wahren Begebenheit.“

Das Buch ist sowohl an all jene gerichtet, die sich Tipps für ihren persönlichen Alltag holen wollen, als auch an jene, die sich in den unterschiedlichen Situationen ihres Berufslebens besser abgrenzen lernen möchten bzw. müssen. Als Therapeuten können wir Ihnen vorab eines sagen: Wenn Sie sich (noch) nicht besonders gut abgrenzen können gegen die Anforderungen, Bedürfnisse und Meinungen anderer, dann geht es Ihnen wie sehr vielen anderen Menschen. Sie sind damit nicht allein. Aber etliche haben sich trotz der Krisen, in die sie aufgrund ihrer „Grenzerfahrungen“ geraten sind, erfolgreich gemausert und fanden zu einem neuen Lebenskonzept. Das können Sie auch!

Zu unserer Qualifikation als Heilpraktiker für Psychotherapie gehört, dass wir mit unterschiedlichen Therapieformen und -methoden arbeiten. Darüber hinaus haben wir im Laufe unserer täglichen Praxis die Vorstellung gewonnen, dass jeder Mensch – Sie und wir inbegriffen – nicht nur über ein eigenes Leben mit Werten, Sprache, Kultur und Chancen verfügt, sondern auch über ganz eigene Verteidigungs- und Vermeidungsstrategien. Vielleicht haben Sie sich ja etwas angeeignet, das funktioniert. Glückwunsch! Wenn Sie bisher aber gescheitert sind, bedeutet das lediglich, dass die verwendete Technik nicht geholfen hat. Beim Lesen des Buches werden Sie sehen, dass noch viele weitere Optionen zur Verfügung stehen, um endlich ein zufriedenstellendes Ergebnis in Ihrem Leben und Ihren Beziehungen zu erzielen und dadurch mehr Freude, Friede, Freiheit und Fülle zu erfahren.

Ob wir Menschen uns dazu aufmachen und Stellung beziehen, das steht und fällt mit dem Wert, den wir uns selbst und unserem Leben beimessen. Selbstwert spielt für das Setzen von angemessenen Grenzen die entscheidende Rolle. Wenn Sie in den Spiegel schauen: Wie wichtig und bedeutsam ist die Person, die Sie da sehen? Und lieben Sie sie? Sind Sie ihr Freund und stehen Sie für diesen Menschen ein, wann immer und wo immer er das braucht? Haben Sie diese innere Freundesstimme, mit der Sie sich selbst vertreten und sagen: „Passen Sie auf, wie Sie reden! Sie sprechen mit einer Person, die mir etwas bedeutet!“?

Unser Elternhaus mit seiner individuellen Konstellation und den entsprechenden Vorbildern hat uns ganz sicher darin beeinflusst und geprägt, wie wir uns heute mit uns selbst fühlen. Vielleicht waren die Erlebnisse in Ihrer Kindheit eher dramatisch oder gar traumatisch. Das kann die verbitterte innere Haltung bewirken, dass eine Veränderung nicht oder nicht mehr möglich sei. Aber wir versichern Ihnen: Das stimmt nicht! Veränderungen sind sehr wohl möglich!

Ziel des Buches ist, den Leser in seinem Verstehensprozess zu unterstützen, bevor wir ihm ein Werkzeug-Set an die Hand geben. Es geht uns nicht um Rezepte, die es zu kopieren gilt. Uns geht es ums Kapieren und Mitdenken, das heißt: Wir wollen, dass Sie zunächst ein klares Verständnis für die zwischenmenschliche Abgrenzungsproblematik gewinnen, und erst danach werden Sie mit Fertigkeiten vertraut gemacht, mit denen Sie Ihre neu gewonnenen Erkenntnisse in konkrete Handlungsmöglichkeiten umsetzen können. Am Ende dieses Buches sollten Sie einen inneren Freund haben, der ohne schlechtes Gewissen sagen kann „Nein, es reicht jetzt!“, wo und wann auch immer Ihnen das angebracht erscheint.

Alles beginnt mit dem ganz unscheinbaren Wunsch und der tiefen Hoffnung, dass etwas neu werden kann. Das ist die Sehnsucht in unseren Herzen, die uns Antrieb verleiht. Manchmal genügt ein kleiner Funke und wir wagen den ersten Schritt. Und dann können wundervolle Dinge geschehen. Was es braucht, ist ein wenig Neugierde. Denn Veränderung kann nur erfolgen, wenn man sich auf etwas Neues einlässt. Packen wir es also an!

Ihre Gisela Ruffer & Ihr Herbert Ruffer

1Der besseren Lesbarkeit halber verwenden wir im gesamten Text das generische Maskulinum, es sei denn, im beschriebenen Kontext geht es speziell um eine weibliche Person. Die sonst verwendete männliche Form schließt Frauen, Männer und transgeschlechtliche Menschen mit ein. Wir danken für Ihr Verständnis.

TEIL I: ZWISCHEN VERBUNDENHEIT UND AUTONOMIE: DIE KUNST DER GESUNDEN ABGRENZUNG

Eine Volksweisheit besagt, dass man sich, bevor man eine Leiter besteigt, vergewissern sollte, ob sie an der richtigen Wand lehnt. Oft haben wir in unserer Praxis mit Menschen zu tun, die sich fragen: Wo gehöre ich hin und wo ist mein Platz in dieser Welt? Zu diesem „Platz in dieser Welt“ gehört in erster Linie ein Gefühl der Zugehörigkeit. Wir haben Sehnsucht danach, uns mit anderen zu etwas Größerem zu verbinden. Ist der Begriff der Individualität dann nicht überstrapaziert? Schließlich wollen wir ja alle dazugehören und nicht ausgeschlossen sein. In der Tat! Wir brauchen Nähe und Anerkennung, Zustimmung und Bestätigung, damit wir das Gefühl haben, dass wir nicht „verkehrt“ sind. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe verspricht uns Stabilität, und so sind wir bereit, eigene Interessen hintanzustellen. Es liegt in der Natur des Menschen, dass er bereit ist, seine eigenen Überzeugungen und inneren wie äußeren Grenzen für das Gemeinwohl der Gruppe zu opfern, aus der Sehnsucht heraus zu verschmelzen. Denn dieses Glücksgefühl wollen wir bewusst oder unbewusst ständig herbeiführen.

In diesem ersten Buchteil geht es darum, dieser Sehnsucht weiter nachzuspüren und herauszufinden, wie wir beides erreichen: Zugehörigkeit bei gleichzeitigem Wahren unserer eigenen Grenzen, jener Grenzen, die uns als Individuen ausmachen und unsere Einzigartigkeit sichern. Denn auch das ist ein Grundbedürfnis und eine Sehnsucht des Menschen: man selbst sein zu dürfen.

1. Meine Grenzen, deine Grenzen: der nicht ganz einfache Versuch einer Definition

1.1 Was ist eigentlich eine persönliche Grenze und wie entsteht sie?

„Takt besteht darin, dass man weiß, wie weit man zu weit gehen darf.“

(Jean Cocteau)

Persönliche Grenzen können sehr vielfältig sein. Sie basieren vor allem auf unseren individuellen Werten, Überzeugungen und Einstellungen. In gewisser Weise sind sie also das Ergebnis unserer Prägungen, Erfahrungen und Erlebnisse. Dies wiederum macht deutlich, warum es oft ganz unbeabsichtigt zu Grenzverletzungen kommt: Das, was den einen stört, macht dem anderen gar nichts aus. Sie mögen es vielleicht nicht, wenn Menschen, denen Sie nicht ganz so nahestehen, Sie berühren. Für andere ist es einfach ein normaler Bestandteil der Konversation, jemanden freundschaftlich auf die Schulter zu klopfen o. Ä.

Um Ihre eigenen persönlichen Grenzen besser erkennen und verstehen zu können, hilft es, einen Blick auf Ihre Kindheit und Jugend zu werfen.

1.1.1 Unsere Grenzen werden von Kindesbeinen an geprägt

Schon als Kinder lernen wir die Grenze zwischen „mein“ und „dein“ zu unterscheiden. Interessant ist, dass diese Unterscheidung mit der Wahrung unserer eigenen Grenzen und Bedürfnisse beginnt:

„In den ersten Lebensmonaten eines Kindes ist es fundamental wichtig, die Bedürfnisse nach Schutz, Nahrung und Zuneigung eines Kindes bedingungslos zu befriedigen. Nicht nur, damit Kleinkinder überhaupt überleben können, sondern auch, damit sie sich sicher fühlen und ein (Ur)Vertrauen in die anderen Menschen aufbauen können. (…)

Erst nach und nach können Kleinkinder lernen, dass andere Menschen auch Bedürfnisse haben oder Dinge gefährlich sein können und es (daher) Grenzen gibt.

Das heißt: Kinder müssen lernen, ihre Bedürfnisse aufzuschieben, die Bedürfnisse anderer wahrzunehmen und die Grenzen anderer und auch eigene Grenzen zu respektieren. Dies ist ein langer Weg!“

(Michalik, https://eltern-raten-eltern-forum.de/grenzen-setzen/)

Vielleicht konnten Sie als Kleinkind mit Ihrer lauten Stimme und Ihrem ungebeugten Willen mühelos Ihre Interessen durchsetzen – unterstützt und gefördert von Ihren Eltern und anderen Bezugspersonen, die zugleich aber auch Stopp sagen konnten, wenn Sie in Ihrer kindlichen Impulsivität übers Ziel hinausgeschossen sind.

Vielleicht war aber auch genau das Gegenteil der Fall: Sie erlebten sich machtlos. Ihre Bedürfnisse wurden ignoriert oder missachtet. In einer Zeit, in der sich das Ur-Vertrauen entwickeln sollte, entstand bei Ihnen ein Gefühl von Ohnmacht, Misstrauen und Angst. In einem Lebensalter, in dem man Sie noch lange hätte schützen müssen, mussten Sie erleben, dass Sie ganz auf sich allein gestellt sind. Gezielt (weil es der damaligen Erziehungspraxis entsprach) oder unbeabsichtigt vermittelte man Ihnen, dass Sie keinen Einfluss nehmen können und es normal sei, dass Sie zurückstecken müssen.

Es soll in diesem Buch auch darum gehen, die Grenzen Ihrer Kindheit in Augenschein zu nehmen und neue „Landvermessungen“ vorzunehmen. Menschen sind – wie alle anderen Lebewesen – wachstumsbereit, doch nur die wenigsten von uns nehmen den Raum ein, den sie ausfüllen könnten. Geschuldet ist dies ebenjenen familiären und gesellschaftlichen Prägungen.

Wenn Sie selbst Kinder haben und sich evtl. durch die Lektüre verschiedenster Bücher versucht haben, auf Ihre Elternschaft vorzubereiten, dann wissen Sie, dass sich Erziehungsratgeber mit immer neuen Tipps hervortun, wie wir einerseits unserem Nachwuchs gute und gesunde Grenzen setzen können und ihnen andererseits mutig und vertrauensvoll die Freiheit für Kreativität und Selbstbestimmung überlassen sollen.

Noch bis weit über die Hälfte des letzten Jahrhunderts (und bei manchen bis heute) war es für die Erziehung unerlässlich, den Kindern unter Androhung oder Durchführung von Schlägen Disziplin, Fleiß, Respekt und Ordnung beizubringen. Es wurde viel Wert auf Anpassung und Gehorsam gelegt. Parallel dazu machte aber eine neue Bewegung von sich reden. 1921 gründete Alexander Sutherland Neill das Internat Summerhill. Sein erzieherisches Prinzip sah vor, den Kindern die größtmögliche Freiheit zu lassen. In dem Bestseller Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung: Das Beispiel Summerhill (Neill, 1994) heißt es: „Ein schwieriges Kind ist ein unglückliches Kind. Es ist im Widerstreit mit sich selbst; daher liegt es auch mit der Welt im Kampf“ (S. 19). Dieses Internat gibt es bis heute und wird mittlerweile von der Tochter des Gründers geführt.

Etwa zeitgleich entwickelten sich also Erziehungsstile, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Aus heutiger Sicht weiß man: Beide Richtungen beinhalteten Vor-, aber auch Nachteile, Chancen, aber auch besondere Herausforderungen. Es braucht das Aufzeigen von Grenzen ebenso wie Freiheit zum Entfalten, damit wir gesundes Abgrenzen verinnerlichen. Um diese Dynamik nachvollziehen und verstehen zu können, wie sich Grenzen entwickeln, ist es sinnvoll, kurz in die Entwicklungspsychologie einzutauchen.

1.1.2 Gesunde Entwicklung braucht Grenzen

Alles beginnt mit einem Schrei! Nachdem wir mit viel Anstrengung die Begrenzung im zu eng gewordenen Mutterleib hinter uns gelassen haben, geht es nun um die Sicherstellung unsers Überlebens. Und dafür haben wir nur ein einziges Mittel: unsere Stimme. Sie hilft uns auszudrücken, dass wir Hunger haben, uns alleine fühlen, frieren oder an Schmerzen leiden.

„Ich bin, was man mir gibt“

Sie werden sich vermutlich nicht mehr daran erinnern, wie fürsorglich und eifrig Ihre Mutter im Erkennen Ihrer Notlage war und wie schnell sie auf Ihren Alarm reagiert hat. Aber fest steht: Wenn Ihre Mutter das richtig gut gemacht hat, stehen nach dem deutsch-amerikanischen Psychoanalytiker Erik H. Erickson Ihre Chancen gut, dass aus Ihnen ein Mensch geworden ist, der mit einem stabilen Grundvertrauen (Urvertrauen) zu sich selbst und anderen ausgestattet ist. Erickson wurde vor allem durch das von ihm entwickelte Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung bekannt. Jede der darin enthaltenen acht Stufen beinhaltet eine Krise, mit der der kleine Mensch aktiv umgehen muss. Zwar wird ein Konflikt nach Ansicht Ericksons nie vollständig gelöst und bleibt ein Leben lang unterschwellig bestehen. Doch wenn er ausreichend bearbeitet ist, gilt dies als Bewältigung und sichert die (gesunde) Entwicklung (Scheck, 2007).

Das erste Lebensjahr des Menschen bezeichnet Erikson als „Ur-Vertrauen vs. Ur-Misstrauen“. Leider haben nicht alle Kinder das Glück, in ein sorgenfreies und friedliches Umfeld hineingeboren zu werden. Und nicht jede Mutter hat die Fähigkeit oder Motivation, ihren Kindern die nötige Aufmerksamkeit zu schenken, die sie bräuchten. Wenn Sie zum Beispiel als Baby vor Hunger geschrien haben, aber niemand ihren Mangel gestillt hat, dann machte sich bald ein Gefühl der inneren Leere und des äußeren Verlassenseins breit. Solche Lebensumstände prägen schon früh ein Ur-Misstrauen, das im weiteren Leben dazu führt, dass dauerhaft ein Gefühl der Leere und Depression zu unserer Grundstimmung gehört. Genauso kann sich eine ungestillte Gier in uns auftun, die danach lechzt, all den Verzicht wieder auszugleichen. Besonders oft quälen sich Menschen aber mit der beständigen Angst davor, abgelehnt zu werden.

Was bedeutet das in Bezug auf unsere Grenzen: Wenn Sie schon in den ersten Monaten erfahren durften, dass Sie in der Lage sind, mit einem Schrei Ihr Umfeld zu mobilisieren, sorgt das für die entsprechende Grundausstattung für weitere Herausforderungen.

Wenn Sie allerdings zu den Babys gehörten, bei denen sich schon früh ein Ur-Misstrauen geprägt hat, dann starten Sie mit einem grundlegenden Zweifel daran, geliebt zu sein und beschützt zu werden, ins Leben. Unsicherheit macht sich breit. Die damit verbundenen Ängste und / oder die tief sitzende Wut können einerseits zu Problemen in der Selbstwahrnehmung und andererseits zu aggressiven Grenzverletzungen gegenüber anderen führen. (Wohlgemerkt: können!)

Was uns trotz unseres Erwachsenendaseins aus dieser Zeit geblieben ist, ist der innere Schrei des einstigen kleinen Kindes in uns, geliebt, gesehen und gehört zu werden. Der US-amerikanische Psychologe John Elliot Bradshaw hat in den 70er- und 80er-Jahren ein therapeutisches Konzept populär gemacht, das es Ihnen ermöglichen soll, sich nun persönlich um dieses verlorene Kind zu kümmern: die Arbeit mit dem Inneren Kind (vgl. Bradshaw, 2000). Das Konzept des Inneren Kindes geht auf C. G. Jung zurück und ist heute in vielen therapeutischen Methoden weitverbreitet.

Das innere Kind

„Das Innere Kind ist eine Metapher dafür, dass jede Psyche stark von der eigenen Kindheit geprägt ist. Es repräsentiert die frühen inneren seelischen Wirklichkeiten, die das Erwachsenendasein stark beeinflussen. (…) Neben dem inneren Kind haben wir einen weiteren wesentlichen Persönlichkeitsanteil in uns: den inneren Erwachsenen. Wenn wir diese beiden Teile miteinander in Kontakt bringen, wenn unser innerer Erwachsener lernt, sich liebevoll und fürsorglich um die Bedürfnisse des inneren Kindes zu kümmern, kann Heilung geschehen. Wir fühlen uns wieder ganz und überwinden die innere Isolation.“

(Schneider, 2017)

Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, wenn wir hier detailliert auf alle Aspekte eingehen, die mit der Inneres-Kind-Arbeit verbunden sind. Mitgeben möchten wir Ihnen daher an dieser Stelle hilfreiche „Basics“ – sozusagen als Vorbereitung für eine tiefere Auseinandersetzung. Zum Konzept des Inneren Kindes gibt es umfangreiche Literatur, die wir Ihnen ans Herz legen wollen. Ein Klassiker neben Bradshaw ist zum Beispiel das Buch von Erika J. Chopich und Margaret Paul: Aussöhnung mit dem inneren Kind (2009). Aber es gibt auch viele jüngere Bucherscheinungen. Lassen Sie sich inspirieren.

 ÜBUNG

Was braucht Ihr Inneres Kind von Ihnen?

Zunächst einmal geht es darum, ihm aufmerksam zuzuhören. Wenn es Ihnen seltsam erscheint, sich mit einem imaginären Kind zu unterhalten, denken Sie daran: Das Innere Kind ist nur ein Modell. Es steht für all die gespeicherten Gefühle, Erinnerungen und Erfahrungen aus der eigenen Kindheit. Zugleich repräsentiert es das Unbeschwerte, Leichte, Spielerische, das Ihnen eventuell im Laufe Ihres Erwachsenwerdens abhandengekommen ist.

Vielleicht nehmen Sie ein Foto von sich als Kind zur Hilfe, um sich besser einfühlen zu können. Oder Sie erinnern sich an einen Ort aus Ihrer Kindheit – die Schule, ein geheimes Versteck, der Spielplatz etc. Stellen Sie sich vor, Sie sehen sich selbst als Kind. Treten Sie in Ihrer Vorstellung zu diesem Kind und fragen Sie es, ob es Ihnen etwas sagen möchte. Erzwingen Sie keine Antworten. Warten Sie einfach ab und nehmen Sie neugierig wahr, welche Gefühle sich zeigen und welche Gedanken Ihnen in den Sinn kommen. Was bedeutet das für Sie in der Gegenwart? Schreiben Sie Ihre Erkenntnisse auf oder nutzen Sie Farben und andere Materialien, um das für Sie Wichtige festzuhalten.

Sie finden im Internet auch Meditationsanleitungen, um diesen Prozess anzustoßen. Probieren Sie es einfach aus.

Die ersten Grenzen

Im Laufe unserer Entwicklung lernen wir, zunächst unsere Mutter von anderen Menschen zu unterscheiden. Nach dem Motto: „Wenn du nicht meine Mama bist, dann schreie ich!“ verfügen wir über eine tolle Methode, um uns Menschen vom Hals zu halten, die womöglich nicht gewillt oder in der Lage sind, unsere Grundversorgung zu sichern. So schaffen wir eine erste Abgrenzung und einen Ausdruck unserer Bedürfnisse.

Eine weitere Abgrenzung vollzieht sich, indem wir uns selbst im Spiegel erkennen lernen. Unsere Katzen kämpfen gerne mit ihrem eigenen Spiegelbild und bemühen sich verdutzt herauszufinden, wie denn die vermeintlich andere Katze plötzlich in ihr Terrain kommen konnte. Auch kleine Kinder reagieren zunächst noch etwas verwirrt, wenn sie zwar das Spiegelbild der Mutter zuordnen können, nicht aber das Kind auf ihrem Arm. Erst nach und nach, etwa im Alter zwischen sechs und 18 Monaten, geschieht es, dass das Baby plötzlich erkennt „Huch, das bin ja ich!“. Dieser Schritt ist ein ganz entscheidender in der Persönlichkeitsentwicklung, die Kinder nehmen sich selbst als Person wahr – und etwa zeitgleich entwickeln sie die Fähigkeit, andere als Individuen zu erkennen und mit diesen mitzufühlen.

„Ich bin, was ich will“

In den folgenden Monaten überschlagen sich die Ereignisse. Die Welt will mit eigenen Füßen und Händen erkundet werden. Jetzt wird gerannt, geklettert, getanzt und gerangelt. Endlich ist man in der Lage, die bisherigen äußeren Begrenzungen und Hindernisse zu überwinden. Spaziergänge werden zur Verfolgungsjagd, weil die Kleinen sich sogar von der Hand losreißen, um zu zeigen, wie schnell sie schon laufen und sich für eine kurze Zeit von der sicheren Umgebung entfernen können. Jede neue Errungenschaft wird dem wohlwollenden Publikum vorgeführt und mit dem entsprechenden Applaus belohnt. Der Selbstwert steigt enorm. Mit der ständigen Frage nach dem Warum will die Neugierde auf all das Neue gestillt werden.

Mit dem erfolgreichen Erobern neuer Lebensräume steigt auch der Drang nach mehr Autonomie. Wenn dies gelingt und zugelassen wird, stärkt dies unsere Willenskraft. Immer öfter hören die Eltern dann von ihren Kindern die Worte „Ich will aber!“ und das neu entdeckte „Nein!“, denn auch sprachlich haben sich die Kleinen enorm entwickelt. Dies eröffnet die Möglichkeit, sich nicht nur durch Gesten und Geschrei abzugrenzen, sondern mit einem klaren Nein den eigenen Willen zu bekunden. Wieder eine Grenze erobert!

Für Eltern und Kinder ist es ein Ringen um das, „was geht und was nicht“. Da können die Nerven schon mal blank liegen und das erklärte „Nein“ wird womöglich entnervt niedergebrüllt oder mit Liebesentzug quittiert. Häufig ist es Unwissenheit über diese wichtige Phase, die Eltern zu falschen Reaktionen oder Überreaktionen verleiten. Wenn dies eine Ausnahme bleibt, kann das Kind ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln. Gehört Bevormundung und Unterdrückung des kindlichen Erkundungsimpulses und anderer Bedürfnisse jedoch zum Erziehungsalltag, kann das weitreichende Folgen haben, denn dann entwickelt das Kind Scham und Selbstzweifel. Daher betitelt Erikson diese Jahre zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr auch mit „Autonomie vs. Scham und Zweifel“.

Vielleicht wurden Sie selbst sehr streng, einengend und bevormundend erzogen. Ihr Bewegungsdrang wurde vielleicht streng unterbunden und bei allem, was Sie tun wollten, erhielten Sie harsche Kritik, mussten Beleidigungen über sich ergehen lassen oder Kommandos befolgen wie: „Lass die Finger weg, ich mach das!“ oder „Was machst du denn jetzt schon wieder, du spinnst wohl!“ Solche Rückmeldungen hindern ein Kind daran, ein gesundes Selbstbewusstsein (das Wissen darum, was es kann) zu entwickeln. Was bleibt, sind nicht nur Zweifel am eigenen Können, sondern eventuell auch noch ein ausgeprägtes Schamgefühl.

Wenn Sie sich in dieser Beschreibung wiedererkennen, müssen Sie sich nicht wundern, dass es Ihnen bis heute schwerfällt, Ihre persönlichen Grenzen aufzuzeigen, zu verteidigen und ggf. zu erweitern. Manche von uns funktionieren immer noch gemäß den Kommandos der Eltern, die sich tief eingeprägt haben. Wenn Ihnen das bewusst geworden ist, dürfen Sie sich davon lösen, denn nun tragen Sie selbst die Verantwortung für sich. Das heißt, Sie müssen nicht in Ihrer Starre und Begrenzung bleiben. Sie sind erwachsen und dürfen sich selbst die Erlaubnis zum Wachsen und Gedeihen erteilen. Was das genau für Sie bedeutet, kann sehr unterschiedlich sein: vielleicht ein Studium, ein neues Hobby, eine Reise, ein gutes Essen oder interessante Freunde. In erster Linie aber: Sie dürfen Ihre Grenzen „ausleben“!

Lassen Sie uns dazu eine kleine Übung machen:

 ÜBUNG

Nehmen Sie sich ein Blatt Papier und einen Stift und suchen Sie sich einen ruhigen und geschützten Ort zum Reflektieren. Wählen Sie nun das Thema, das Ihnen am meisten auf den Nägeln brennt. Wichtig ist, dass Sie die folgende Frage mit einer ehrlichen und liebevoll gnädigen Haltung sich selbst gegenüber betrachten: Schließen Sie dazu die Augen und stellen Sie sich vor, Sie sind Ihr bester Freund / Ihre beste Freundin, die Sie Folgendes laut fragt: „Was willst du?“

Schreiben Sie nun den ersten Gedanken auf, der Ihnen in den Sinn kommt. Wiederholen Sie immer wieder die gleiche Frage und notieren Sie immer wieder den nächsten Gedanken.

Schließen Sie nun wieder die Augen und fragen Sie sich in einer Variante: „Was willst du!?“ Wiederholen Sie die Frage einige Male mit der klaren Betonung auf dem Du und schreiben Sie alles auf, was Ihnen dazu einfällt.

Und im letzten Schritt fragen Sie sich: „Was willst du wirklich?“ Wiederholen Sie auch diesen Satz immer wieder laut, um die innere Begrenztheit Ihrer Vorstellung zu reduzieren, und halten Sie Ihre Gedanken auf Papier fest.

Sie werden nun einige Aussagen von sich entdecken, die für Sie ungewohnt und neu sind. Daher gönnen Sie sich ein wenig Zeit, um sich mit diesem neuen Wissen anzufreunden, es zu bejahen und ihm Raum in Ihrem inneren und äußeren Leben zu geben. Denn: „Sie dürfen sich etwas gönnen!“

Absolute Freiheit als Lösung?

Es gibt natürlich auch Eltern, die in der oben beschriebenen Entwicklungsphase sehr entspannt reagieren. Ob Strategie oder vielleicht auch Unsicherheit oder Unvermögen dahinterstecken, wissen wir nicht. Fakt ist, dass das Kind bei solchen Eltern, ganz gleich, welche Grenze auch ausgetestet wird, seinen Willen bekommt. Man könnte meinen, dass solche Kinder vollkommen glücklich sind, sind ihrer Entfaltung doch keine Grenzen gesetzt. Doch das Gegenteil ist der Fall! Schließlich geht es um Grenzerkundung und Grenzerweiterung und nicht um Grenzenlosigkeit. Vielleicht träumen wir alle ab und zu von der großen Freiheit. Doch wenn wir uns auf Dauer über alle Grenzen hinwegsetzen können, macht sich ein Gefühl von Verlorenheit und Einsamkeit breit. Nach dem Motto: „Bin ich dir so wenig wert, dass du nicht bereit bist, dich mit mir auseinanderzusetzen?“

Wenn Sie selbst diese Erfahrung machen mussten, dann kennen Sie vermutlich bis heute den Drang, die Grenzen anderer (z. B. des Partners oder Vorgesetzten) zu testen, um ein entschiedenes Nein zu hören und damit ein interessiertes Gegenüber zu erleben. Im richtigen Maß wäre das für Sie wie eine Erlösung, denn dann könnte sich ein Gefühl von Geborgenheit in Ihnen breitmachen. In der Regel kommt solch ein Nein jedoch – aufgrund ungünstiger Dynamiken – zum falschen Zeitpunkt und in Form heftiger Rebellion Ihres Umfeldes. Widerstand, Angriff und Wut bedeuten für Sie: Ihre Grenzen werden nicht aufgezeigt, um daran im Miteinander zu wachsen, sondern sie werden gerammt und niedergerissen.

Wichtig ist: Ganz gleich ob man Ihre Grenzen zu eng oder zu weit gesteckt hat, es gibt auch jetzt noch die Möglichkeit zur Veränderung. Söhnen Sie sich mit Ihrer Kindheit und der empfundenen Einengung oder Grenzenlosigkeit aus. Bei näherer Betrachtung erkennen Sie vermutlich sogar die Problematik, die bei Ihren Eltern zum jeweiligen Verhalten geführt hat. Auch sie waren ja nicht unbelastet von Erziehungsstilen und (mitunter unfähigen) Bezugspersonen. Wenn Sie bereit sind, dies zu akzeptieren, werden Sie erleben, wie sich innerer und äußerer Frieden ausbreiten. Und auch hier kann die Auseinandersetzung mit dem inneren Kind ein Weg zur Nachreifung und Gesundung sein.

„Ich bin, was ich mir vorstellen kann zu werden“