Selbstliebe als Lebenskunst - Siegfried Essen - E-Book

Selbstliebe als Lebenskunst E-Book

Siegfried Essen

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Beschreibung

Die Liebe zu sich selbst ist die beste Voraussetzung für ein erfülltes Leben. Sie entsteht, wenn das Ich und das Selbst in Balance kommen, wenn ein Gleichgewicht besteht zwischen dem Individuum und seiner Umwelt, zwischen dem sichtbar Körperlichen und dem immateriell Seelischen, zwischen Menschlichem und Spirituellem. Ein Weg, zu dieser heilenden Balance zu finden, stellt die autopoietische Aufstellung dar, die Siegfried Essen in diesem Buch vorstellt. Zu ihren Grundlagen gehört neben systemischen Erkenntnissen und den Regeln der Aufstellungsarbeit der Aspekt der Spiritualität aus einem urchristlichen und buddhistischen Verständnis heraus. In den zahlreichen Fallbeispielen und Übungsanleitungen geht es um unser Wünschen, Wollen, Bitten und Beten, um die Kultivierung von Selbstgesprächen, um den heilenden und stärkenden Umgang mit Ahnenreihen und Stammbäumen, mit Medizinrädern und Chakren zur Entfaltung von Intuition, Kreativität, Herzenskraft, Selbstmächtigkeit, Erotik und Erdung. Weitere Themen sind der Umgang mit Schuld und Schuldgefühlen, Täter-Opfer-Verstrickung sowie die ressourcenorientierte Traumabehandlung im Einzelschicksal und im Kollektiv. Am Ende ist der Leser in der Lage, mithilfe der Anleitungen zu Alltagsritualen, Übungen und Meditationen eigenständig, d. h. ohne Therapeut:in oder Gruppe, Ich-Selbst-Verkörperungen durchführen. Kurzum: Ein Praxisbuch zum Einüben von Selbstliebe mit ihren vielen Facetten der Selbstwahrnehmung, Selbstrespekt, Selbstvergebung und Selbstermächtigung.

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Siegfried Essen

Selbstliebe als Lebenskunst

Ein systemisch-spiritueller Übungsweg

Fünfte Auflage, 2023

Umschlaggestaltung: Uwe Göbel

Umschlagmotiv: Siegfried Essen

Bearbeitung: Fabienne Seithel

Satz u. Grafik: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Fünfte Auflage, 2023

ISBN 978-3-89670-887-8 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8445-4 (ePUB)

© 2011, 2023 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Vorwort von Matthias Varga von Kibéd

Eine kurze Gebrauchsanleitung

Einleitung

Verkörperung als spiritueller Weg

Spiritualität ist Bewusstwerdung

1. Systemische Weltsicht und Spiritualität

Verbundenheit

Selbst-Bewusstsein

Wir können das Land betreten

2. »Ich« und »Selbst« – eine Unterscheidung, die Verbundenheit schafft

Selbstliebe: Du kannst andere nicht mehr lieben als dich selbst

Die Ich-Selbst-Verkörperung (eine grundlegende Übung)

»Metanoia« – die Änderung der Sichtweise

Eine Herzöffnungs-Übung

Ein Mann im Stress wendet sich an sein Selbst

Das Prinzip der Resonanz

Vom Selbstmitleid (Sabine und die Kirchenglocken)

Die Ich-Selbst-Unterscheidung ist paradigmatisch und universell

Die sinnlose Angst der Männer vor dem Ertrinken

Das Selbst: Verbundenheit und Liebe

Das Ich: Unterscheidung und Entscheidung

Das Zusammenspiel von Ich und Selbst

Ich und Selbst in verschiedenen Formulierungen und Traditionen

Die Einheit von begrifflichem und nicht begrifflichem Geist

Die Unterscheidung von Selbst und Über-Ich

Die Unterscheidung von Ich und Ego

3. Eine Ich-Selbst-Aufstellung

Ich halte dich nicht aus … aber ich muss hin

Der Furcht ins Auge blicken, aber der Sehnsucht folgen

Freisein ist Geführtsein, Geführtsein ist Freisein

Eine Erfahrung ins Licht halten, bis sie leuchtet

Transpersonale Fähigkeiten lassen sich üben

Das Selbst ohne Absicht

Wir brauchen nichts von außen, um glücklich zu sein

Die Ausdehnung der Seele ist ohne Ende

4. Die Deprogrammierung des Ich

Das Ich annehmen heißt, die Sterblichkeit annehmen

Gib dem, was dich stört, seinen Platz, aber nicht mehr deine Energie

Prinzipien des Übungsweges

Wie unser Charakter entsteht

Und wie wir uns wieder lösen werden

Eine Panikattacke zum Beispiel

Der Prozess der Erleuchtung: Kreativität

Es fehlt nichts: Die Erneuerung einer Ehe durch Selbstliebe

5. Vergebung – das Aufgeben des Opferdaseins

Exkurs über den Nicht-Opfer-Tod Jesu Christi

Ein einfaches Modell psychischer Verletzung

Ein Vergebens-Ritual

Selbstbestrafung und Selbstvergebung

Selbstvergebungs-Übung

Dein verletztes Kind zu deinem Verbündeten machen

Mit Selbstkraft auf eine traumatische Erfahrung schauen

Von der Seele und wie sie mit Schuld umgeht

Selbstbestrafung bewirkt keinen Frieden

Wenn unsere Vorfahren ein schlimmes Schicksal erlitten haben

Persönliche und politische Verantwortung

6. Alle Heilung ist Selbstheilung

Raum-Meditation des unendlichen Selbst

Das Zusammenspiel von Gut und Böse

Vom Wünschen, Wollen, Bitten, Beten

Die triadische oder Herzenswunsch-Aufstellung

Deine persönliche Herzenswunschaufstellung

7. Anfängergeist und Spiel

Die göttliche Erfindung des Rollenspiels

Gib einfach die Idee auf, dass sich irgendetwas wiederholt

Selbstmächtigkeit und Hingabe

Kultivieren Sie Ihre Selbstgespräche!

Das Ganze dankt dem Einzelnen (ein Ritual)

8. Segnen und Segen empfangen

Segensorientiert statt lösungsorientiert (Beispiel Sieglinde)

Du musst deine Verletzungen nicht noch einmal erleben

Eine Mutter in Sorge um ihre Tochter

9. Chakren-Spiegel und Medizinrad

Der Chakren-Spiegel

Das doppelte Medizinrad

So innen wie außen

Wie eine Ich-Selbst-Beziehung wieder ins Fließen kommt (eine doppelte Medizinradaufstellung)

Abschluss

Literatur

Dank

Über den Autor

Vorwort von Matthias Varga von Kibéd

Lieber Siegfried!

Es ist mir eine große Freude, ein paar einleitende Worte zu deinem Buch zu schreiben, da es eine natürliche innere Verbindung von zwei scheinbar getrennten Gebieten herstellt, die auch mir sehr am Herzen liegen, nämlich die Verbindung von systemischer Arbeit und Spiritualität.

Die Art und Weise, wie wir – du, lieber Siegfried, und ich – den Begriff des Systemischen auffassen, ist zunächst negativ gekennzeichnet durch einen fortlaufenden Verzicht. Dieser beinhaltet Urteilsenthaltung, hat ethische Konsequenzen und erfordert langjähriges Bemühen um Haltungsänderung. Zu Letzterem gehört der Verzicht auf Deutungen, der nicht einfach durch einen Beschluss geschieht, sondern eher wie das allmähliche Abschleifen von etwas Überflüssigem. Ich nenne die Fähigkeit, auf Deutungen zu verzichten, »Syntaktisierung«. Sie ist etwas, das bei aufrichtigem Bemühen darum im Laufe eines Lebens allmählich stärker werden kann und dadurch immer mehr eine Grundlage der eigenen Arbeit bildet.

Indem wir also insbesondere darauf verzichten, einer Person Eigenschaften zuzuschreiben und sie positiv oder negativ zu beurteilen, gehen wir über zu einer Betrachtung von Beziehungssituationen. Dies wiederum kann zu der nächsten Form der Beurteilung führen, indem Beziehungen als Beziehungen einer bestimmten Art beurteilt werden, sodass wir weitergehen können zur Betrachtung der Kontexte von Beziehungen. Und später betrachten wir dann Veränderungen von Kontexten und schließlich Choreografien der Veränderungen von Kontexten. Das Gemeinsame aller dieser Schritte des Darüberhinausgehens in der Wahrnehmung, im Lernen und in der Erfahrung menschlicher Zusammenhänge ist ein fortlaufender Verzicht auf die Zuschreibung von Eigenschaften. Diese zunächst rein negativ erscheinende Grundform hat eine eminent tief greifende, den Menschen umwandelnde und neue Möglichkeitsräume öffnende Qualität.

Ich sehe diese Qualität in enger Übereinstimmung mit Heinz von Foersters (1993) berühmtem kybern-ethischem Imperativ »Handle stets so, dass die Zahl der Wahlmöglichkeiten wächst!«, den ich als »Increase the options!« lese. Optionen sind dabei nicht bloße »possibilities«, bloße Alternativen, sondern Möglichkeiten, die ernsthaft zur Verfügung stehen und die jemand wirklich ergreifen kann. Erweiterung in diesem konkreten Sinne ist durchaus verwandt mit dem, was in verschiedenen religiösen und spirituellen Traditionen unter »Befreiung« verstanden wird.

Ein weiterer Aspekt des Systemischen, den ich in deiner Arbeit, lieber Siegfried, sehe und von dem ich viel für meine eigene Auffassung von systemischer Arbeit gewonnen habe, ist die Verbindung zu dem etwas altertümlichen Begriff der »Sünde«. Sieht man den Wortstamm der Absonderung als Abspaltung oder Abtrennung in dem Wort Sünde, so erkennt man die Idee, dass manche Handlungen uns von etwas trennen, was für uns essenziell ist. Das, was diesen Prozess aufhebt, ist ein der systemischen Arbeit und der Aufstellungsmethodik verwandter Vorgang, nämlich Umkehr. (Auf den Begriff der »metanoia« wird in diesem Buch ja umfassend eingegangen.) Umkehr heißt dabei etwas wie »den Blick in entschiedener Weise in eine andere Richtung lenken« und, wie Frithjof Schuon das in einem Kommentar über das Verhältnis des christlichen Begriffs der »metanoia« zum islamischen Begriff der »tawba« – üblicherweise beide mit Reue übersetzt – betont, eine Blickwendung in einer Form, in der die Folgen vergangener Handlungen uns in der Zukunft nicht mehr erreichen können durch eine grundlegende Änderung unserer Haltung. Schuon bringt das mit einem taoistischen Prinzip in Verbindung, das in der Übersetzung mancher taoistischer Texte etwa ausgedrückt wird als: »Denen, die dem Weg des Tao folgen, denen sind ihre künftigen Fehler vergeben.« – ein sehr altes und unglaublich revolutionäres Konzept! In diesem Sinne können wir sagen, dass spirituell-systemische Arbeit ganz zentral auf dem Begriff der Urteilsenthaltung aufbaut. Und die Urteilsenthaltung in der christlichen Version des Nichtrichtens ist in diesem Sinn mit der eher erkenntnistheoretischen Form der Aufgabe von Be- und Verurteilungen sowie mit dem buddhistischen Begriff des Nichtanhaftens verwandt.

Für deine Arbeit, lieber Siegfried, scheint mir deine Differenzierung der Begriffe Ich, Selbst, Ego und Über-Ich als von besonderer Bedeutung. Ich möchte hier den sorgfältigen Darstellungen dieser Begriffe im Buch nicht vorgreifen und nur darauf hinweisen, dass das Über-Ich hier im Sinne einer normierenden und einschränkenden, gesellschaftlich geprägten Instanz verstanden wird, während das Selbst im Sinne einer grundsätzlich zugewandten, dem Menschen und der Welt gegenüber freundlichen und umfassenden, weisen Instanz gesehen wird.

Wenn wir nun in einer konstruktivistisch aufgefassten systemischen Aufstellungsarbeit überpersönliche Aspekte hinzunehmen wie zum Beispiel die Werte von Liebe, Erkenntnis, Ordnung und, sie umfassend, die Weisheit oder in deiner Darstellung – Pars pro Toto – das »Selbst«, dann wirkt das von außen betrachtet so, als ob etwas Höheres evoziert und herbeigerufen würde. Das entspricht aber, wenn ich dich recht verstehe, nicht deiner (noch meiner) Auffassung. Wir würden beide wohl eher sagen, dass etwas implizit sowieso Vorhandenes verdeutlicht und sichtbar gemacht wird, ohne das alle anderen Begriffe und alle anderen Inhalte keinen Sinn ergeben. Es findet keine Hinzufügung statt, man könnte höchstens sagen, dass eine Form des Vergessens aufgehoben wurde. Wenn wir also bei einem Bild, bei dem es um das Verhältnis von verschiedenen Personen in einer Familie oder in einem Team zueinander geht, grundlegende menschliche Ressourcen wie das Mitgefühl, das Wissen oder die Verantwortung hinzustellen, so haben wir nichts hinzugefügt, das nicht sowieso schon vorhanden gewesen wäre. Denn wie könnte irgendeine Form menschlichen Lebens längere Zeit bestehen, wenn es keinerlei Form von Zuwendung und Mitgefühl, keine Form von Wissen und Lernen und keine Form von Verantwortung und Eigenständigkeit auf diesem Lebensweg gegeben hätte? Die Elemente, die in deiner spirituell-systemischen Aufstellungsarbeit verwendet werden, sind in ähnlicher Weise implizit immer anwesend. Und menschliches Leben und menschliche Entwicklungsprozesse können verstanden werden als eine Auseinandersetzung und Reifung an diesen implizit immer anwesenden, umfassenden Aspekten.

Ich möchte eine weitere Ähnlichkeit und Verwandtschaft hervorheben, in der ich mich mit der Ausrichtung und Entwicklung der spirituell-systemischen Aufstellungsarbeit sehr verbunden fühle. In der Strukturaufstellungsarbeit betonen wir etwas, was ich in den Arbeitsweisen von dir, lieber Siegfried, und dem, was du über die eigene Arbeit schreibst, in wunderbarer Weise wiederfinde: dass wir, wenn wir die beiden dualen Grundprinzipien von Verbindung und Trennung betrachten, jeweils der pathogenen Form der einen Seite durch die heilsame Form der anderen Seite begegnen. Die pathogene Form der Verbindung bezeichnen wir häufig als Vermengung und ihre heilsame Form als Einbeziehung. Die pathogene Form der Trennung bezeichnen wir oft als Ausschluss und ihre heilsame Form als Unterscheidung. Wenn wir diese vier Formen betrachten, Vermengung (auch Konfusion, Verwirrung, Vorurteilsbildung …), Ausschluss (auch Verstoßung, Tabuisierung, Leugnung …), Einbeziehung (auch Wertschätzung, Würdigung, Anerkennung …) und Unterscheidung (auch Klärung, Sortierung, Präzisierung …), so könnten wir sagen, dass die beiden grundlegenden Interventionsformen, die in einem sich gegenseitig erzeugenden Rhythmus miteinander verflochten sein sollten, als »Einbeziehung des Ausgeschlossenen« und »Unterscheidung des Vermengten« bezeichnet werden können. Eine zu einseitig überwiegende Betonung einer dieser beiden Seiten würden wir immer als einen Hinweis auf eine Unbalanciertheit des Vorgehens innerhalb einer Methode sehen.

Was mich in deiner Darstellung von konstruktivistischer Aufstellungsarbeit besonders anspricht, ist deine Betonung des großen, auch spirituellen Wertes der Erfahrung des Repräsentanten-Seins. Wer immer für sich wesentliche Erfahrungen mit Aufstellungsarbeit gemacht hat, und das sind inzwischen ja sehr, sehr viele, wird nicht bezweifeln, dass Teil einer Aufstellung zu sein – gerade auch in Nebenrollen – eine eindrückliche und bereichernde Erfahrung ist.

Daher erleben viele, die sich häufig für Aufstellungen zur Verfügung stellen, für sich sehr wichtige Lerneffekte nicht nur in Bezug auf ihre eigene Lebensgeschichte, sondern auch als eine prinzipielle Lebenserfahrung, die die Auffassung, wer wir sind, was unsere Gefühle sind und was unsere Handlungen ausmacht, verändert.

Aus meiner Sicht sehen wir Menschen uns dadurch immer weniger als Träger von Eigenschaften denn als Orte der Manifestation von Eigenschaften, nicht als Erschaffer der eigenen Handlungen, sondern als Gastgeber, der geeignete oder ungeeignete Handlungen bei sich eingeladen hat.

Dies vermindert die logischen Möglichkeiten der Verurteilung anderer Personen ebenso wie die logischen Möglichkeiten der Selbstverurteilung und des Stolzes. An deren Stelle tritt etwas wie Mitgefühl für andere und sich selbst und – wenn es uns gelungen ist, erwünschtere Handlungen einzuladen, sich in uns zu manifestieren – Freude und Dankbarkeit über die gelungene Einladung.

Die Fallbeispiele, mit denen in diesem Buch deine Arbeit erläutert wird, werden den Leserinnen und Lesern eine Vorstellung darüber vermitteln, wie eine solche Einladung aussehen kann.

In diesem Sinne wünsche ich diesem Buch viele berührte und begeisterte Leserinnen und Leser, die sich in ihrem Leben, in ihrer Praxis und ihrer Berufstätigkeit durch diese Lektüre erfreuen und bereichern lassen, und freue mich schon auf die weiteren Entwicklungen deiner Arbeit und unserer Zusammenarbeit!

Dein Matthias

Eine kurze Gebrauchsanleitung

Wenn Sie am Konzept dieses Buches interessiert sind oder den darin vorgeschlagenen Paradigmenwechsel nachvollziehen wollen, dann lesen Sie es von vorn und so weit, wie Sie Lust dazu haben; am besten in kürzeren Abschnitten.

Wenn Sie hauptsächlich am Üben der Selbstliebe und konkreten Beispielen dazu interessiert sind, dann konzentrieren Sie sich vor allem auf die vier Hauptübungen: die Ich-Selbst-Verkörperung in Kapitel 2, die Rituale zur Vergebung und Selbstvergebung in Kapitel 5 und die Raum-Meditation des unendlichen Selbst in Kapitel 6. Sie können sich die von mir gesprochenen Übungsanleitungen im MP3-Format von meiner Website (www.siegfriedessen.com) herunterladen. Wenn Sie diese Übungen mit sich selbst durchführen und dazu noch Ihre Selbstgespräche kultivieren (Kapitel 7), sind Sie bezüglich Selbstliebe, Selbsterkenntnis und Selbstmächtigkeit bestens versorgt.

Einleitung

Wenn man es mit Menschen zu tun hat,sagte er, sollte man sich nur bemühen,ihrem Körper etwas zu vermitteln.

Don Juan

Verkörperung als spiritueller Weg

Ist es möglich, sich im Körper wohlzufühlen, sich in der materiellen Begrenztheit und Sterblichkeit zu lieben? Ich stelle mir vor, wie wir im Moment unserer Geburt mit voller Wucht aus der Verbundenheit gerissen, von der Mutter getrennt und in die Einzelexistenz geworfen werden. Dokumentiert nicht der Schrei des Babys das Entsetzen und die bodenlose Angst der Seele? Wo ist die Verbundenheit geblieben? Oder dokumentiert dieser Schrei die Überraschung darüber, dass alles so anders ist als bisher, so neu? Oder deutet unser erster Umgang mit der Luft und der Stimme (manche Babys schreien nicht) schon eine erste Entscheidung an, wie wir die Welt sehen? Werden wir unser Leben dafür nutzen, in die Verbundenheit zurückzukehren, oder dafür, das Überraschende des Lebens auf der Erde anzunehmen und gleichzeitig zu erkennen, dass wir die Verbundenheit nie verloren haben. In Verbundenheit getrennt sein und in Getrenntheit verbunden sein, das ist Selbstliebe, Selbstachtung, Selbstmächtigkeit.

Dieses Buch ist als Praxisbuch zum Einüben von Selbstliebe mit ihren vielen Facetten gedacht: Selbstwahrnehmung und Selbstvergebung, Selbstrespekt und Selbstermächtigung, um nur einige zu nennen. Es entstand aus der universalen Sehnsucht nach Lebensfreude, nach Liebe, Selbstbewusstsein und Macht. Die Grundhaltung meiner Arbeit ist die Liebe zur Erde. Das heißt die Anerkennung und Würdigung der Dualität. Das ist vielleicht für manche überraschend, die sich unter Spiritualität die Liebe zum Himmel und die Aufhebung der Dualität vorgestellt haben. In dieser anderen Auffassung von Spiritualität wird aber die Nichteinheit nicht als Sündenfall oder als böse betrachtet, sondern als Geschöpflichkeit, Materialität und Kraft der Unterscheidung. Dualität wird als wesentlich zur Einheit gehörend betrachtet. Das Erscheinende, die Form, entspringt aus dem Einen, Leeren, Nichterscheinenden, und umgekehrt! Das Größere, die Leerheit und Einheit, entsteht aus der Bewusstwerdung der Teile. Indem sich das Lebendige seiner selbst bewusst wird, entsteht es erst als Leben, das immerfort sich selbst überschreitet. Das Göttliche ist nur denkbar als in Ausdehnung begriffen, in ständiger Erneuerung und Ausdehnung seiner selbst. Durch und in uns erneuert sich Gott. Deshalb wird er im Judentum und Christentum immer wieder als lebendig bezeichnet, für alle Überraschungen gut, doch gleichzeitig treu, und darum wird er hier wie eine Person betrachtet, das heißt in Lebendigkeit und autopoietischen Identität. Die buddhistische Erkenntnistheorie hat mir geholfen, die Lebendigkeit und das umfassende Schöpfertum »Gottes« zu begreifen. Ich werde das immer wieder zu beschreiben und zu erzählen versuchen. Wo sonst als in uns Menschen können sich die beiden Seiten des Universums, Dualität und Nondualität, Materie und Geist, Getrenntheit und Verbundenheit begegnen?! Und wer sonst als der Mensch entscheidet darüber, ob diese Begegnung in Liebe geschieht oder in Hass?! In jedem Moment unseres Lebens, in jedem Atemzug realisieren wir beide Seiten unserer Natur, das Unterscheiden und das Verbinden. Dieses Buch soll dazu anleiten, dass Sie in beiden Fähigkeiten zu exzellenten Könnern werden und so Selbstliebe, Selbstmächtigkeit und Selbstachtung erlangen.

Dabei ist es mir wichtig, Wege der Selbstliebe aufzuzeigen, die keine neue Abhängigkeit von außen schaffen, weder von Therapeuten noch von Lehrern1, Gurus oder anderen Experten. Keine Korruption, keine Bestechung, keine Ersatzbefriedigungen, kein Vertuschen, Verschleiern, Verdrängen. Unsere Freiheit, die Frucht unserer Trennung von Gott oder der Mutter, erscheint mir als das höchste spirituelle Gut, und sich selbst anzunehmen als die Lebenskunst schlechthin.

Meine Lieblingsmethode als Therapeut ist die der Inkarnation oder Verkörperung. Sie kennen sie auch als »Skulpturarbeit«, »systemische Aufstellungsarbeit«, »Familienstellen« oder »Familienrekonstruktion«, »Strukturaufstellung« und so weiter. Unter diesen Namen hat sie den Ruf, Expertenwissen zu sein. Aber ich bin skeptisch gegenüber jedem Expertenwissen, besonders wenn es sich auf psychische oder seelische Themen bezieht. Auch im Wirtschaftsleben und in sozialen Belangen wird Expertentum ununterbrochen missbraucht und schafft Abhängigkeit und Suchtverhalten. Marianne Gronemeyer hat das in ihren Büchern (2002 u. 2008) wunderbar beschrieben. In diesem Buch versuche ich, unserer Unfreiheit zu begegnen, indem ich Sie auf unsere universale Verbundenheit als unser innerstes Wesen hinweise. Der Einfachheit halber benenne ich diese Qualität von Verbundenheit, Liebe oder Eins sein mit dem Namen »Selbst«. Wieder und wieder werde ich Ihnen vorschlagen, es zu spielen, zu verkörpern, zu üben, zu praktizieren. All diese Begriffe sind für mich Synonyme für das Realisieren des Selbst. Auch andere Formen, es ins Spiel zu bringen, wie zum Beispiel im Reden, Schreiben, Malen, Tanzen, Visualisieren, Singen, Denken oder Musizieren werde ich Ihnen vorschlagen. Mein Favorit ist jedoch das Verkörpern oder Aufstellen.

Und nun kommt das Wörtchen »System« ins Spiel. Nur sich selbst zu spielen würde wenig Neues bringen. Erst Unterscheidungen schaffen neue Erkenntnisse, neues Bewusstsein, neue Materie, wie wir schon aus dem biblischen Schöpfungsbericht erfahren. Interessant wird es, wenn wir die Ur-Unterscheidung treffen, die Eins und die Zwei, die Einheit und die Vielheit, das Verbinden und das Unterscheiden. Beide Prozesse laufen ständig in uns ab, beide Fähigkeiten haben wir in uns. Ich nenne die Verbundenheit das »Selbst« und die Getrenntheit das »Ich«. Wenn wir dieses Ur-System verkörpern (oder auf andere Art realisieren), kommen wir auf ganz leichte Weise zu Selbstliebe und Freiheit.

Wir tun dies mithilfe von drei wesentlichen Aktivitäten:

Zunächst durch das Repräsentieren aller wichtigen Aspekte eines Systems, einer Geschichte oder eines Bildes entweder durch Rollenspieler oder andere Symbole.

Dabei realisieren wir die wechselseitige Verbundenheit aller Teile zu einem lebendigen Ganzen, in dem nichts überflüssig und nichts ausgeschlossen ist, in Spiel und Experiment. Kinder tun das ganz von selbst und entwickeln so Lebensfreude und Lebenskunst.

Darauf gilt es, diese Erfahrung von Verbundenheit und Selbstliebe und gleichzeitiger schöpferischer Freiheit im Alltag zu verankern. Dies geschieht durch Übung, durch kleine positive Rituale und durch viele Formen schöpferischen Ausdrucks, wie Singen, Schreiben, Tanzen, Fantasieren usw. Solche Übungen und Rituale stellen einen wesentlichen Teil dieses Buches dar.

Die Spiritualität dieses heilsamen Prozesses besteht beim ersten Schritt in Externalisierung und Zerstückelung. Einheit zerfällt in Dualität. Ein Prozess unendlicher Differenzierung und Desidentifikation beginnt. Dieser Schritt ist schmerzhaft und verstörend, zeigt die existenzielle Tiefe und Allgemeinheit unserer menschlichen Getrenntheit auf und macht die Unmöglichkeit einer linearen Lösung deutlich. Abwertung unserer Getrenntheit ist keine Lösung. Vielmehr ist Verkörperung (das lateinische Wort dafür ist Inkarnation) schon ein Ebenenwechsel, eine Lösung zweiter Ordnung.

In der christlichen Theologie bezeichnet Inkarnation einen Ebenenwechsel des Gottesbegriffs. Gott wird Mensch. Das Wort wird Fleisch (Joh 1)2. Der erste Schritt »Gottes« aus seiner unendlichen und nicht erkennbaren Einheit heraus ist das »Wort«. Das All-Eine geht in Kommunikation. Zur Kommunikation braucht man zwei, die Dualität. Der zweite Schritt ist die Verkörperung.

Im Grunde können wir nicht sagen, was zuerst war, die Kommunikation oder die Dualität, Verbundenheit oder Trennung. In der symbolischen Ausdrucksweise der jüdischen Tradition geht alles Hand in Hand: das Sprechen und Schaffen und Sehen und Unterscheiden.

Und Gott sprach, es werde Licht, und es wurde Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da wurde aus Abend und Morgen der erste Tag (Gen 1).

Aufstellungen verkörpern Kommunikation, das macht ihre Spiritualität aus. Aufstellen ist Wechseln vom Sprechen ins Verkörpern und zurück. Die Betonung liegt aber auf dem Verkörpern, denn das Sprechen verändert üblicherweise nicht so wie das Verkörpern oder Handeln. Sie können das bei therapeutischen Methoden überprüfen oder bei sich zu Hause in den Übungen, die ich Ihnen anbieten werde. Es gibt natürlich auch ein Sprechen, das Handeln ist und nicht in reiner Theorie stecken bleibt. Es hat Wirkung. Sie können es bei anderen leicht unterscheiden, bei sich selbst ist der Unterschied manchmal schwerer festzustellen. Meist erkennen Sie die Unterschiede zwischen Theorie und Praxis erst, wenn Sie eine Handlung, Praxis oder Verkörperung experimentell ausprobiert haben. Auf dieser Unterscheidung basiert meine gesamte Arbeit. Ich fordere nicht dazu auf, an die Verbundenheit und Liebe, Bewusstheit und Entscheidungsfähigkeit zu glauben (Theorie), sondern sie experimentell zu erproben. Damit stehe ich in dieser Beziehung dem wissenschaftlichen Vorgehen näher, als den religiös-fundamentalistischen und manchen esoterischen Strömungen, für die es auf den rechten Glauben oder das positive Denken ankommt.

Gleichzeitig geschieht mit der Verkörperung auch Externalisierung. Vermischtes wird unterschieden, und unsere Getrenntheit wird (oft schmerzhaft) anerkannt. Aber Liebe setzt nun einmal Zweiheit voraus. Sinn und Zweck der Dualität ist die Liebe. Erst durch und in Verkörperung (Inkarnation) können sich Liebe und Freiheit gemeinsam realisieren, unvermischt und ungetrennt.

Die Realisierung der Verbundenheit und Einheit des Systems zu einem lebendigen Ganzen, in dem alle Teile ihren eigenen Platz haben, sieht oft wie ein anstrengender und mühseliger Prozess aus, ist aber im Grunde ein Erkennen und Anerkennen unserer wesenhaften Verbundenheit in aller Getrenntheit, ein Bewusstwerdungsprozess. Die Illusion, dass die Trennung aufzuheben ist, um Verbundenheit zu erlangen, ist der grundlegende Irrtum des Menschen, der alles Leid und alle Anstrengung verursacht. Darin sind sich Buddhismus und Christentum in ihren Urformen einig. Diese weitreichende Behauptung werde ich in diesem Buch wieder und wieder erläutern und begründen. Sie enthält sozusagen das Grund-Paradigma meines Denkens. Vor allen Dingen aber: Glauben Sie es nicht! Überprüfen sie es anhand Ihrer eigenen Erfahrung.

Die erstmalige Realisierung dieser Erfahrung wird meist als überwältigend, bewusstseinserweiternd und ästhetisch schön erlebt. Man kann sie durchaus als Erlösungs- oder Erleuchtungserfahrung bezeichnen. Notwendigerweise bedarf sie dann der Verankerung im Alltag durch Praxis, Übung und Meditation.

Die eigentliche spirituelle Erfahrung besteht also in zunehmender Bewusstheit. Zunächst werden wir uns bewusst, wie sehr wir uns nach Zusammenhang und Sinn sehnen und wie sehr wir unter den vergeblichen Versuchen leiden, Liebe und Sinn herzustellen. Liebe und Sinn können jedoch nicht von uns erschaffen, sondern nur entdeckt werden.

Wenn wir dann unsere Getrenntheit, Begrenztheit und Ohnmacht erkannt und ihr zugestimmt haben, leuchtet es uns plötzlich ein, dass genau diese Zustimmung zu unserem Teil-Sein die »Erkenntnis Gottes«, das heißt die universale Verbundenheit und Liebe ist. Was wir hier Erkenntnis Gottes nennen, ist kein Wissen im theoretischen Sinne, sondern dank der Inkarnation ein leibliches Verstehen mit Körper, Seele und Geist, eine Erfahrung, die nur durch Praxis von Verkörperung und Externalisierung erlangt werden kann. Das raum- und zeitlose Göttliche erfährt sich in der Materie, und der körperliche Mensch berührt das Raum- und Zeitlose. Spiritualität ist die Realisierung der wechselseitigen Verbundenheit unserer göttlichen und unserer menschlichen Natur. In mir sind Gott und Mensch eins. Die Welle ist nicht weniger Ozean, als der Ozean Welle ist. »Form ist nicht verschieden von Leere, Leere ist nicht verschieden von Form.«3

Spiritualität ist Bewusstwerdung

Der Sinn all unserer Selbsterfahrung und aller Selbstliebe-Übungen ist zu allererst, gesund zu werden im Sinne von Beseitigung psychischer oder körperlicher Störungen, genauer gesagt, Heilung an Körper, Seele und Geist. Da es aber das Plateau dauernder Gesundheit und unbegrenzten Lebens nicht gibt – Krankheit und Tod gehören zum Leben dazu –, müssen wir unsere Vorstellungen von Heilung und Leben erweitern. Wir stellen sie uns besser nicht als Zustände, sondern als Geschehen, als Prozesse vor. Und sie sollen unserer Sterblichkeit Rechnung tragen, also den Tod mit einbeziehen. Der Prozess des Bewusstwerdens verleiht unserem Leben mehr Sinn als der Prozess des Gesundwerdens allein, weil er über Krankheit, Tod und Individualität hinausreicht.

Bewusstsein entsteht durch Unterscheidung, durch Trennung. Wenn alles eins ist und keine Unterscheidung existiert, kann es kein Bewusstsein geben. Gott schuf die Schöpfung und speziell den Menschen als sein Ebenbild. In dem Einen entstand Bewusstheit. Im Menschen, wie auch in der gesamten Schöpfung wird sich das Göttliche seiner selbst bewusst.

Der Bewusstwerdung des Ganzen dient auch das sogenannte Böse. Wir neigen dazu, das Fallen aus der Einheit als Sündenfall zu verstehen. Aber wir können es auch weniger negativ sehen, nämlich als das Überschreiten einer Grenze und das Essen vom Baum der Erkenntnis als das Bewusstwerden von Gut und Böse, von Nacktheit und Geschlecht und all den damit verbundenen und wechselnden Gefühlen. Es ist, als bestünde die Entwicklung des Göttlichen in der Erfindung von mehr und mehr Schattenseiten und deren Integration. Wie macht es das? Einfach, indem sein Licht immer heller und strahlender wird. Dabei nimmt natürlicherweise auch der Schatten zu, vorausgesetzt, es gibt Materie, die Schatten wirft. Oder war es umgekehrt: erst die Zwei, dann die Eins? Wir werden allerdings die Frage der Kausalität nicht mit Vernunft, nur mit unserem Bewusstsein lösen können. Der Sinn und Zweck der Dualität ist Bewusstsein.

»Sündige kräftig«, sagte Martin Luther (1990), als er noch jung und mutig war. Wir müssen entschieden vorgegebene Grenzen überschreiten, das ist das Göttliche im Prozess des Lebens. Nur so machen wir Erfahrungen, erweitern wir unser Bewusstsein. Gottes Sein ist im Werden lautet ein Buchtitel des evangelischen Theologen Eberhard Jüngel (1986). Spiritualität ist das Überschreiten der Grenzen des Bewussten. Wenn das der Sinn des Lebens ist, so hat auch der Tod seinen Schrecken verloren und gehört als das Überschreiten der Gesamtheit unserer geistigen und körperlichen Konstruktionen zum Leben selbst dazu. »Ich bin, aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst«, formuliert Ernst Bloch in seiner Tübinger Einleitung in die Philosophie (1963, S. 11), ein Philosoph, der besonders durch sein »Prinzip Hoffnung« für meine persönliche Entwicklung wichtig wurde. Das Durchbrechen und Überschreiten von inneren Grenzen ist die Befreiung oder Erlösung, was meines Erachtens auch die meisten Religionen meinen. Ich beziehe mich hier vor allen Dingen auf das Christentum und den Buddhismus in ihren Ur-Formen. Beide durfte ich ausführlich kennenlernen und praktizieren. Bald erkannte ich sie nicht als zwei verschiedene Wege, sondern als zwei Sichtweisen mit vielen verschiedenen und ähnlichen Praxisanleitungen für den einen Weg der Befreiung.

Spiritualität ist also eine Lebenspraxis. Und die Verkörperungen und Aufstellungen, von denen hier die Rede sein soll, stellen für jeden Teilnehmer, ob er nun ein eigenes Problem angeht, ein fremdes repräsentiert, dabei zuschaut oder sie anleitet, eine spirituelle Praxis im Sinne einer Bewusstseinserweiterung dar. Was dabei vor allen Dingen wieder bewusst wird, ist unsere ursprüngliche Verbundenheit und Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen, wie immer wir es nennen. Die Erfahrung der Zugehörigkeit, die wir alle im Mutterleib gemacht haben, ja, von der wir alle schon davor wussten, ist aus unserer Erinnerung entschwunden. Und das ist gut so! Denn sie soll aus dem Unbewussten in unser Bewusstsein treten unter Einbeziehung und Integration unserer Getrenntheit und Einzigartigkeit. Das Leben ist kein Umweg zurück in die Einheit, sondern ein Weg in ein neues Einssein, das Vielheit und Unterscheidung einbezieht. Schon Platon erzählt in mythologischer Form (2000, S. 459 ff.), wie die Seelen, noch bevor sie ins Leben treten, durch den Fluss des Vergessens gehen müssen. (Nachdem sie vorher ihr Schicksal als »Los« selbst gewählt haben.) So ist es die Aufgabe der Seele, in ihrem Leben die vergessene eigene Wahl erneut anzunehmen, das heißt, sich selbst zuzustimmen. Ein schönes Bild für unsere Aufgabe der Selbstliebe.

Es ist also viel einfacher, als gedacht, wir müssen nichts mühevoll erzeugen oder erfinden, keine Liebesgefühle oder positiven Gedanken produzieren, wir brauchen uns nur zu erinnern, uns bewusst machen, was uns schon ewig gegeben ist. Das ist die ganze Übung. Denken Sie daran, wenn Ihnen irgendjemand anstrengende Vorschläge macht oder wunderbare Ziele für die Zukunft verspricht. Es gibt nichts zu tun, alles ist da, und je mehr wir uns dessen bewusst werden, desto besser geht es uns.

Eigentlich beruht die heilsame Wirkung der Aufstellungsarbeit vor allem auf dem Prinzip der Zugehörigkeit. Es wird nichts ausgeschlossen. Jeder und alles gehört dazu! Die Anerkennung, Erinnerung und Repräsentation der Verbundenheit ist das Urprinzip der selbstschöpferischen Aufstellungsarbeit, wie ich sie vertrete. Aber eigentlich geht jede heilende Arbeit davon aus, dass jeder Versuch, etwas oder jemanden auszuschließen, illusionär ist und Leiden schafft. Krankheit ist in vielen Fällen ein Signal der Körper-Seele-Einheit, wenn der Verstand versucht, mit irgendetwas nicht in Resonanz zu treten und unsere All-Verbundenheit zu leugnen. Das Grundprinzip des Lebens lautet also: Es wird nichts ausgeschlossen, nichts und niemals. Alles gehört dazu. Und alles ist mit allem verbunden, ob wir dem zustimmen oder nicht! Es lebt sich allerdings viel leichter, wenn auch die Vernunft dem zustimmt. Verbundenheit ist unsere Natur, unsere letzte Wirklichkeit und unsere Bestimmung, und sie schließt Getrenntheit nicht aus, sondern ein. Deshalb ist die Ich-Selbst-Aufstellung die zentralste aller Verkörperungsformen. (Das Ich steht für unsere Getrenntheit, das Selbst für unsere Verbundenheit.)

Das Schöne und Spannende am Leben ist, dass es sich in Unterschiedenheit entfaltet. Das Leben ist wesentlich schöpferisch. Die Verbundenheit ist keine unterschiedslose Masse, sondern ein differenziertes, sich entwickelndes Spiel von Einheit und Vielfalt. Verbundenheit und Einzigartigkeit sind die beiden Seiten unserer Natur, die beiden wesentlichen Lebensbewegungen in uns und um uns. Für das Realisieren von Verbundenheit, Liebe und Kommunikation, brauchen wir, wie gesagt, mindestens zwei, die Dualität. Verbundenheit braucht die Differenzierung. Ja, Differenzierung und Unterscheidung (schöpferische Tätigkeit) sind geradezu der Vollzug der Verbundenheit, das Selbst verwirklicht sich durch das Ich. In einer Ich-Selbst-Aufstellung verkörpern wir diese beiden Wirklichkeiten. Vielleicht nicht in der gedanklichen Betrachtung, aber in der Verkörperung beider Seiten kommt unweigerlich zutage, wie die beiden ganz konkret im Hier und Jetzt zueinander stehen, ob sie sich lieben oder hassen, wahrnehmen oder verleugnen, respektieren oder abwerten. Wenn uns dies bewusst wird, ist es relativ leicht, die differenzierte Ebenbürtigkeit wiederherzustellen, in der wir uns wohl und lebendig fühlen. Wir tun das in jeder Aufstellung: Wir trennen das Zusammengehörige. Wir verkörpern eine Ganzheit (das jeweilige System) in unterschiedlichen Teilen, das heißt, wir thematisieren Verbundenheit und Ganzheit zusammen mit Unterschiedlichkeit und Getrenntheit.

Das Thema aller Spiritualität ist, dass wir uns nach beidem sehnen, nach Einheit und nach Begegnung, nach Bezogenheit und nach Individuation, nach Kontakt und nach Freiheit. Und vor allem nach Versöhnung beider Tendenzen. Im Verkörperungsgeschehen gelingt das konkret und be-greifbar, realisiert es sich tatsächlich. Alle Teile werden einbezogen, bekommen ihren Platz, ohne zum Weichen oder Verschwinden gebracht zu werden. Allenfalls werden sie transformiert, bekommen einen neuen Platz und einen Namen, der ihre eigentliche Funktion für das ganze System besser ausdrückt als der alte Platz und Name. »Das ist der Himmel auf Erden«, wie eine Teilnehmerin einmal gesagt hat.

Dieses Spiel des Lebens können wir eigentlich fast nur durch Verkörperung, z. B. in Aufstellungsarbeit, im tieferen Sinne verstehen und nachvollziehen. Mit anderen Worten: Verbundenheit und Liebe werden durch Praxis verkörperter Unterscheidung realisiert. Das, so könnten wir sagen, ist das grundlegende Geheimnis der Aufstellungsarbeit. Ich nenne diese Praxis Spiritualität.

Ein Buch kann eine solche Praxis nicht ersetzen, es kann aber erinnern und zur Sprache bringen, was von jedem Menschen von Anfang an erlebt und erfahren wird, auch wenn es später ins Unbewusste verschoben wurde. Schon gar nicht kann es die Spiritualität unserer Erfahrungen einfangen. Deshalb kann man über das Spirituelle eigentlich nur poetisch oder in Geschichten, Paradoxien und Gleichnissen reden. Und meine Leserinnen und Leser mögen mir verzeihen, wenn ich in manchen Passagen im Buch sehr logisch und theologisch vorgehen werde. Genießen Sie diese Art von Vereinfachungen entweder lächelnd wie eine süße Nachspeise oder erkennen Sie zwischen den Zeilen das Lächeln Gottes über die Bequemlichkeit unseres linearen Denkens.

»Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen«, sagt Ludwig Wittgenstein mit Recht und beendet mit diesem Satz seinen berühmten Tractatus logico-philosophicus (1990, S. 84). Hat er nun damit über Spiritualität gesprochen oder nicht? Die Bibel wiederum sagt: »Wes das Herz voll ist, dem geht der Mund über« (Mt 12,34). Wenn ich im Zazen sitze und meditiere, halte ich mich an Wittgenstein, wenn ich ein Buch schreibe, an die Bibel.

1 Aus Gründen der Vereinfachung und besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch die männliche oder die weibliche Form verwendet. Darin ist das jeweils andere Geschlecht mit einbezogen.

2 Ich beziehe mich bei den Bibelzitaten vor allem auf die folgende Ausgabe: Die Heilige Schrift. Einheitsübersetzung. Stuttgart 1981 (Kath. Bibelwerk)

3 So heißt es im Herzsutra, einem buddhistischen Grundtext (Suzuki 1990, S. 10).

1. Systemische Weltsicht und Spiritualität

Ich bin, aber ich habe mich nicht.

Darum werden wir erst.

Ernst Bloch

Verbundenheit

Systemische Theorie und Therapie, wie sie in den fünfziger Jahren von der Palo-Alto-Gruppe4 eingeführt wurde, trat nicht an, um den vielen Therapiemethoden, die sich alle auf den einzelnen Menschen bezogen, eine weitere hinzuzufügen, sondern um allen mit Menschen befassten Methoden eine neue Sichtweise nahezulegen, nämlich die fundamentale Wahrnehmung der Vernetzung, der Verbundenheit der Individuen. Leiden aller Art werden im systemischen Denken nicht mehr als Mangelerscheinung am Individuum gesehen, sondern »Leiden« wird zum Beziehungsbegriff. Dabei ist zwischen Leiden und Schmerzen zu unterscheiden. Leiden beruht immer auf Identifizierung und auf Fixierung auf unser Getrenntsein, wodurch wir die Seite des Selbst, unsere Verbundenheit, nicht mehr wahrnehmen.

Systemisches Denken bezeichnet genau diese (erkenntnistheoretische) Wende.5 Wir leiden also im Grunde nicht an der Getrenntheit – diese Aussage setzt Trennung als eigentliche Wirklichkeit voraus –, sondern wir leiden an der Nicht-Wahrnehmung der Einheit, der Verbundenheit unserer Existenz. Unser Leiden ist ein Wahrnehmungsproblem, oder, um es theologisch auszudrücken, eine Frage des Glaubens. Nicht die Sünde/Sonderung wäre dann das Problem, sondern der Glaube an sie. Nicht irgendwelche Handlungen verursachen unser Leiden, sondern die Sichtweise, mit der wir die Welt und uns selbst mitsamt unseren Handlungen und Gefühlen wahrnehmen. Paul Watzlawick und seine Kollegen aus dem berühmten Mental Research Institut in Palo Alto, an dem auch Virginia Satir mitarbeitete, würden es vielleicht so formulieren: Der Kampf gegen Trennung (oder Sünde) ist eine Lösung erster Ordnung, die erst eigentlich das erschafft, was sie zu heilen vorgibt (vgl. z. B. Watzlawick, Weakland u. Fisch 1974). Lösungen erster Ordnung sind zum Beispiel: einen Sündenbock schaffen und ihn in die Wüste schicken; einen psychischen Inhalt (Emotion, Bild, Gedanke) verdammen und ihn ins Unterbewusstsein verdrängen; einen inneren oder äußeren Feind erzeugen und ihn dann bekämpfen. Dies geschieht auf individueller, sozialer und politischer Ebene. Und dazu gehören zwei Vorgänge: erstens die Bezeichnung von etwas als gefährlich, böse, unwert oder krank, kurz gesagt Furcht, und zweitens das Bekämpfen, Ausschließen oder Abwehren des so Bezeichneten, kurz gesagt Gewalt. Furcht und Gewalt gehören zusammen, Gewalt gegen sich selbst oder gegen andere. In der Liebe ist keine Furcht (1 Joh 4,18).

Was wir brauchen, ist eine Lösung zweiter Ordnung, eine Lösung von dieser Art der Lösung. Sie geschieht, wenn wir Furcht und Gewalt aufgeben und Alles-was-ist anerkennend wahrnehmen. Dann erkennen wir diesen fließenden Zustand »Leben« als unseren natürlichen Zustand, von dem wir Teil sind, und entdecken das Böse, die Krankheit und das Leid als die selbst gemachte und illusionäre Unterbrechung dieses Flusses. Therapie, Seelsorge oder Heilung wären dann nichts anderes als die Unterbrechung dieser Unterbrechung, die Enttäuschung dieser Täuschung, die Stornierung dieser falschen Rechnung und die Entlarvung aller Überheblichkeit und Abwertung als illusionär. Das klingt komplizierter, als es ist. Wir brauchen dazu nur unsere Verbundenheit wieder wahrzunehmen und anzuerkennen, dass wir und jede einzelne Handlung von uns Teil eines Ganzen sind und in wechselseitiger Verbundenheit existieren.

Das systemische Paradigma ist revolutionär, aber nicht neu. Viele Denker, vor allem Buddha und Jesus, haben sich gegen das herrschende Subjekt-Objekt-spaltende Wirklichkeitsverständnis gewandt. Jesus hat es Unglaube, Buddha Unwissenheit genannt. Beide haben vehement die Relativierung solchen Denkens und Wahrnehmens als selbst gemachte Konstruktion und Illusion gepredigt. Und beide haben auf die Möglichkeit der Berührung mit der anderen, nicht dualen Wirklichkeit hingewiesen, deren Wahrnehmung nicht mehr Wahrnehmung von etwas, sondern Gewahrsein in Verbundenheit oder Einssein ist, und in der Glaube nicht das Für-wahr-halten von etwas außerhalb unserer Selbst ist, sondern das Wahrnehmen des Lebens und der Liebe in uns selbst.

Unser Denken und Wahrnehmen ist also veränderbar, ist nicht eins zu eins mit der äußeren Wirklichkeit verbunden. Wir sind in dem, was wir wahrnehmen, weit mehr von der inneren Struktur unseres Nervensystems als von außen determiniert. Hier schließe ich mich wie die meisten systemischen Therapeuten dem radikalen Konstruktivismus an, den ich wegen seiner grundlegenden Bedeutung für die systemische Inszenierungs- und Verkörperungsarbeit hier anhand einer kleinen Geschichte verdeutlichen will.6

Ein Mensch kam zu einem Bauwerk, an dem viele Arbeiter beschäftigt waren. Er fragte einen von ihnen, was er da tue, und bekam zur Antwort: »Ich behaue Steine.« Er fragte einen anderen, und der sagte: »Ich verdiene hier mein Geld.« Der dritte antwortete ihm: »Ich ernähre meine Familie.« Und der vierte sagte: »Ich baue mit an einem Dom zur Ehre Gottes.«

Diese kleine Parabel zeigt sehr schön, in welch unterschiedlichen Bewusstseinszuständen man Arbeit verrichten kann, mit der implizierten Anregung, diese Bewusstseinszustände hierarchisch zu bewerten und eine Entwicklung des Bewusstseins anzustreben, z. B. von einer individuellen zu einer universellen Perspektive. Konstruktivisten würden mit dieser Geschichte eher sagen wollen: »Schau, in welch unterschiedlichen Kontexten du dein eigenes (oder auch fremdes) Verhalten sehen kannst. Du kannst wählen. Deine Identifikationen sind Perspektiven deines Geistes, und dein Geist ist frei, dich selbst, dein Denken, Fühlen und Handeln in diesen oder jenen Zusammenhang zu stellen, es so oder anders zu beschreiben, zu erklären und zu bewerten. Neunzig Prozent unserer Wahrnehmungen sind selbst erfundene Geschichten.« Wir haben damit entdeckt, dass die Ich-Funktion des Sich-Identifizierens eine freie, d. h. innengesteuerte kreative Möglichkeit des Menschen ist.

Ob ich sage, ich behaue Steine, oder ob ich sage, ich arbeite zur Ehre Gottes, ist in diesem Sinne gleichgültig. Wir betrachten diese Beobachtungsperspektiven als Lösungen erster Ordnung. Was wir eigentlich anstreben, ist eine Lösung zweiter Ordnung, eine Lösung von der Lösung, d. h. das Erlangen der Fähigkeit, Identifikationen jederzeit (oder zumindest leicht) aufgeben zu können, sie als Perspektiven zu erkennen, um frei zu sein, sie wechseln zu können. Es muss also bei den verschiedenen Antworten kein Ebenenwechsel vom personalen zum transpersonalen Bereich vorliegen. Ich kann mich mit jeder dieser Vorstellungen voll identifizieren und damit andere Möglichkeiten ausschließen oder abwerten (zur Ehre und Bestätigung des Egos und nicht Gottes). Ich kann mir aber auch bewusst machen, dass alle diese Vorstellungen von mir selbst gemachte Bilder sind und mich dabei als Konstrukteur dieser Bilder identifizieren und selbst frei und leer sein von allen Bildern, Gedanken und Gefühlen. In der Zen-Meditation wird dies Zeugenbewusstsein genannt. Sie werden in diesem Buch immer wieder Vorschläge finden, den Perspektivenwechsel (zwischen Ich und Selbst) zu üben. Die Ich-Energie ist die Kraft des Wählens, die Selbst-Energie die des Zeugenbewusstseins.

Selbst-Bewusstsein

Wenn ich auf diese Weise Ich und Selbst differenziere, entsteht unausweichlich das Bewusstsein meiner Selbstbezogenheit. Ich kann nicht anders, als mich auf mich selbst beziehen. Das Medium, mit dem ich das tue, ist mein Bewusstsein. Ich bringe mir also, wenn ich mich von mir selbst unterscheide, mein Bewusstsein zu Bewusstsein. Die Ich-Selbst-Differenzierung ist also ein Bewusstmachen des Bewusstseins, Bewusstsein zweiter Ordnung.

Gehe ich dann zu einer Ich-Selbst-Aufstellung mit fremden Repräsentanten über, so erzeuge ich sozusagen Bewusstsein dritter Ordnung, indem ich diesen Prozess von außen als Zeuge beobachte und gleichwohl mich selbst in der Aufstellung wiedererkenne, nämlich als das identifizierte Ich und das nicht identifizierte Selbst. Ich erkunde mich selbst, ohne mich zu identifizieren.

Der radikale Konstruktivismus macht uns darauf aufmerksam, dass der Mensch die Wirklichkeit, in der er oder sie denkt, fühlt und handelt, d. h. »seine oder ihre Welt«, selbst konstruiert hat. Und die neuere Hirnforschung bestätigt das (z. B. Roth 1997). Wir können die äußere Wirklichkeit nicht über unsere Sinne und unser begriffliches Denken erfassen oder eins zu eins abbilden. Dies ernst zu nehmen bedeutet ein radikales Umdenken. In Bezug auf meinen Umgang mit mir selbst bedeutet das nicht nur, immer mehr wohltuende Perspektiven auf mich selbst und meine Umgebung einzunehmen, sondern, indem ich dies tue, das Verändern meiner Wahrnehmung und meine Begriffsbildung zu üben; das heißt, ich übernehme Verantwortung für mein Denken und meine Anschauung der gesamten Wirklichkeit einschließlich meiner eigenen Person. Ich erkenne alles als schöpferische Aktivität, was zugleich das radikale Ende meines Opferdaseins bedeutet. Dieser Gedanke wird in einem eigenen Kapitel über Täter-Opfer-Beziehung und die Vergebung näher ausgeführt (Kapitel 5).

Ziel von Meditation und überhaupt aller religiöser oder therapeutischer Befreiungsarbeit ist dann nicht zu allererst das Erreichen neuer, besserer Wahrnehmungen der Wirklichkeit (oder immer zutreffenderer Gottes- und Weltbilder), sondern vielmehr ein Gewahrsein der jeweils auftretenden Bewusstseinsinhalte; also eher ein Prozess, der zwischen der Schau und dem Loslassen der Schau oszilliert, ein Prozess, in dem ich bereit bin, jede Ebene, die ich gerade erreicht habe, wieder zu überschreiten und zu transzendieren. Das systemisch-konstruktivistische Denken stellt uns eine nicht-mythologische Sprache und Methodologie für diesen Prozess zur Verfügung.

Die Entlarvung unserer sogenannten Wirklichkeit als von uns selbst konstruierter Bewusstseinsinhalt erinnert an das, was im Buddhismus und Hinduismus als der höchste Bewusstseinszustand beschrieben wird: »Im höchsten Zustand treten Objekte und Bilder wieder in Erscheinung, werden jedoch augenblicklich als Ausdruck, Projektionen oder Modifikationen des Bewusstseins erkannt« (Walsh 1995, S. 11). Systemisches Denken ist Metatheorie, eine Art Zeugenbewusstsein, das nicht nur unser Handeln, sondern auch unser Denken und Wahrnehmen als von uns gewählt versteht. »Das Bewusstsein des Bewusstseins ist Selbstbewusstsein«, schreibt Heinz von Foerster. Er beschreibt das Selbst als das immer neue Geschehen der Beziehung eines Ich zu sich selbst, als ein zirkuläres Geschehen, eine lebendige, »augenblicksgebundene Erscheinungsform, als das Ergebnis sich beständig wandelnder Interaktionen und Begegnungen. Das Selbst erscheint nicht als etwas Statisches oder Festes, sondern wird permanent und immer wieder erzeugt. Die einzige Konstante ist die Veränderung« (von Foerster und Pörksen 1998, S. 94 f.).

Die letzte Selbstdefinition Gottes in der Bibel lautet: »Seht her, ich mache alles neu« (Offb 21,5). Konstruktivistische Spiritualität bezeichnet das Göttliche als »Mehr« (Sölle 1995), als das Unbegrenzte, das Darüberhinaus, als Horizont, der immer zurückweicht; eher eine Richtung und etwas Dynamisches als etwas Feststehendes und eher eine Person als ein Ding. Nicht wir begreifen es, sondern es ergreift uns. Die umfassende Dynamik, mit der sich das größere Ganze seiner selbst bewusst wird, indem es sich immer neu erschafft. »Ich bin, aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.«, sagt der große Atheist Ernst Bloch (1963).

Die Praxis systemisch-konstruktivistischer Inszenierungsarbeit (Psychodrama, Aufstellungen, Verkörperung, Bibliodrama und therapeutisches Theater) ist also Bewusstseinsarbeit. Jesus nannte das »metanoia«, was meistens mit Umkehr oder Buße übersetzt wird. Gemeint ist eine Art Schubumkehr im Denken-Wahrnehmen, auf die später noch näher eingegangen wird. Bei Buddha gehören rechte Anschauung, rechtes Denken und rechtes Handeln zum edlen achtfachen Pfad.

Eine sehr spannende Beschreibung des Vorgangs der »metanoia« und seiner Konsequenzen bietet Platon in seinem Höhlengleichnis an.7 Dabei beschreibt er die Schwierigkeiten, die diejenigen erwarten, die selbst diese Wahrnehmungsumkehr vollzogen haben, wenn sie versuchen, diese ihren Gefährten nahezubringen. Sie riskieren dabei Kopf und Kragen, wie sich das bei Jesus, Giordano Bruno und einigen anderen Frauen und Männern bewahrheitet hat.

Wir können das Land betreten

Der radikale Konstruktivismus besagt: Wir haben durch unsere Wahrnehmungsorgane keinen direkten Zugang zur äußeren Wirklichkeit. Was wir in uns erzeugen (Bilder, Begriffe usw.), ist eine Landkarte. Die Landkarte ist nicht das Land. Der Hinweis auf diese einfache, aber ungeheuer wichtige Unterscheidung stammt von Alfred Korzybski (1941).8 Man wandert nicht auf einer Landkarte, sondern mit ihr. Sie nützt uns durch eine genau festgelegte Beziehung zum Land. Die Regeln der Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit sind im Laufe der Menschheitsgeschichte entstanden und werden uns im Laufe unserer ersten Lebensjahre beigebracht. Später werden wir sie in gewissem Maße durchschauen und relativieren, damit wir die Landkarte nicht unter die Füße legen und das Bild eines Kuchens nicht aufessen. Seit Beginn der Quantenphysik und Relativitätstheorie erforschen unsere Physiker, Biologen, Psychologen und Philosophen, ja eigentlich alle Wissenschaftszweige an der Grenze zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, die Beziehung des Menschen zur Welt, die Beziehung unserer inneren Wahrnehmungen zur äußeren Wirklichkeit.