Selbstpsychologie - Wolfgang Milch - E-Book

Selbstpsychologie E-Book

Wolfgang Milch

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Beschreibung

Heinz Kohut, Begründer der Selbstpsychologie, erkundete die innere Welt von Menschen aus ihrem eigenen Selbsterleben heraus mittels Introspektion und Empathie. Die von den Mitmenschen ausgehenden Selbstobjekterfahrungen sind für das strukturell vollständige, kräftige, ausgewogene und sich ständig verändernde Selbst zeitlebens notwendig. Menschen sind als Teil eines gesellschaftlichen Prozesses weniger von Trieben »getrieben« als geleitet von Idealen, Ambitionen und Talenten. Diese sind Ausdruck der individuellen Struktur eines Selbst mit speziellen Selbstobjektbedürfnissen. Die psychotherapeutische Arbeit mit Deutungen, die sich auf Konflikte beschränkt, ist bei der Behandlung früher Störungen wenig aussichtsreich, wenn nicht gleichermaßen Entwicklungsdefizite mittels neuer Selbstobjekterfahrung behoben werden. Wesentliche Erweiterung erfuhr die Selbstpsychologie durch die intersubjektive Theorie, die die Entfaltung, Erklärung und Entwicklung der subjektiven Welt eines Patienten in einem Wechselspiel mit einem Anderen fokussiert.

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Herausgegeben vonFranz Resch und Inge Seiffge-Krenke

Wolfgang Milch

Selbstpsychologie

Mit einer Abbildung

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Paul Klee, Around the Fish, 1926/INTERFOTO/SuperStock/Fine Art Images

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2566-641X

ISBN 978-3-647-99899-2

Inhalt

Vorwort zur Reihe

Vorwort zum Band

1Geschichte der Selbstpsychologie

2Der Begriff des Selbst

2.1Zur Begriffsgeschichte

2.2Das Selbst in der Psychoanalyse vor Kohut

2.3Das Selbst bei Kohut

3Die Entwicklung des Selbst in verschiedenen Lebensaltern

4Selbststörungen

5Das Selbstobjekt

6Das Konzept des Selbstobjekts in der klinischen Anwendung

6.1Selbstobjektübertragungen

6.1.1Drei grundlegende Formen der Selbstobjektübertragung

6.1.2Unterformen der Selbstobjektübertragungen

6.2Pathologische Akkommodation

6.3Kohärenz und Fragmentierung

7Motivationssysteme

8Der Unterbrechungs-Wiederherstellungs-Prozess

9Behandlungsziele und kurative Faktoren

9.1Was heilt nach der psychoanalytischen Selbstpsychologie?

9.2Die Entwicklung und Stärkung des Selbst

10Intersubjektivität und Selbstpsychologie

10.1 Geschichte der Intersubjektivität

10.2 Die intersubjektive Theorie als Systemtheorie

10.3 Kritik an den Vorstellungen Kohuts

10.4 Grundlegende Prinzipien der intersubjektiven Theorie und Behandlung

11Patientengeschichte eines psychosomatisch schwer gestörten Mannes

Literatur

Vorwort zur Reihe

Zielsetzung von PSYCHODYNAMIK KOMPAKT ist es, alle psychotherapeutisch Interessierten, die in verschiedenen Settings mit unterschiedlichen Klientengruppen arbeiten, zu aktuellen und wichtigen Fragestellungen anzusprechen. Die Reihe soll Diskussionsgrundlagen liefern, den Forschungsstand aufarbeiten, Therapieerfahrungen vermitteln und neue Konzepte vorstellen: theoretisch fundiert, kurz, bündig und praxistauglich.

Die Psychoanalyse hat nicht nur historisch beeindruckende Modellvorstellungen für das Verständnis und die psychotherapeutische Behandlung von Patienten hervorgebracht. In den letzten Jahren sind neue Entwicklungen hinzugekommen, die klassische Konzepte erweitern, ergänzen und für den therapeutischen Alltag fruchtbar machen. Psychodynamisch denken und handeln ist mehr und mehr in verschiedensten Berufsfeldern gefordert, nicht nur in den klassischen psychotherapeutischen Angeboten. Mit einer schlanken Handreichung von 70 bis 80 Seiten je Band kann sich die Leserin, der Leser schnell und kompetent zu den unterschiedlichen Themen auf den Stand bringen.

Themenschwerpunkte sind unter anderem:

–Kernbegriffe und Konzepte wie zum Beispiel therapeutische Haltung und therapeutische Beziehung, Widerstand und Abwehr, Interventionsformen, Arbeitsbündnis, Übertragung und Gegenübertragung, Trauma, Mitgefühl und Achtsamkeit, Autonomie und Selbstbestimmung, Bindung.

–Neuere und integrative Konzepte und Behandlungsansätze wie zum Beispiel Übertragungsfokussierte Psychotherapie, Schematherapie, Mentalisierungsbasierte Therapie, Traumatherapie, internetbasierte Therapie, Psychotherapie und Pharmakotherapie, Verhaltenstherapie und psychodynamische Ansätze.

–Störungsbezogene Behandlungsansätze wie zum Beispiel Dissoziation und Traumatisierung, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, Borderline-Störungen bei Männern, autistische Störungen, ADHS bei Frauen.

–Lösungen für Problemsituationen in Behandlungen wie zum Beispiel bei Beginn und Ende der Therapie, suizidalen Gefährdungen, Schweigen, Verweigern, Agieren, Therapieabbrüchen; Kunst als therapeutisches Medium, Symbolisierung und Kreativität, Umgang mit Grenzen.

–Arbeitsfelder jenseits klassischer Settings wie zum Beispiel Supervision, psychodynamische Beratung, Soziale Arbeit, Arbeit mit Geflüchteten und Migranten, Psychotherapie im Alter, die Arbeit mit Angehörigen, Eltern, Familien, Gruppen, Eltern-Säuglings-Kleinkind-Psychotherapie.

–Berufsbild, Effektivität, Evaluation wie zum Beispiel zentrale Wirkprinzipien psychodynamischer Therapie, psychotherapeutische Identität, Psychotherapieforschung.

Alle Themen werden von ausgewiesenen Expertinnen und Experten bearbeitet. Die Bände enthalten Fallbeispiele und konkrete Umsetzungen für psychodynamisches Arbeiten. Ziel ist es, auch jenseits des therapeutischen Schulendenkens psychodynamische Konzepte verstehbar zu machen, deren Wirkprinzipien und Praxisfelder aufzuzeigen und damit für alle Therapeutinnen und Therapeuten eine gemeinsame Verständnisgrundlage zu schaffen, die den Dialog befördern kann.

Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

Vorwort zum Band

Die psychoanalytische Selbstpsychologie wurde von Heinz Kohut begründet. Der in Wien geborene und nach Chicago emigrierte Psychoanalytiker entfernte sich – aus der klinischen Erfahrung mit seinen Patienten schöpfend – zunehmend von den klassischen Ich-psychologischen Theorien und vertraute mehr auf die Erkenntnisquellen der Empathie und Introspektion, um etwas über die Selbstzustände seiner Patienten zu erfahren. Er prägte den Begriff der Selbstobjekte, als selbststützende Erfahrungen, die von »Objekten« ausgehen und auf das Selbst einwirken. Durch diese Selbstobjekte wird die Selbstkohärenz aufrechterhalten. Der neue Fokus auf das Selbst erlaubte es, auch Patienten und Patientinnen zu behandeln, die zuvor – wie zum Beispiel bei narzisstischen Persönlichkeitsstörungen – als unbehandelbar galten.

Der Autor dieses Buches, Wolfgang Milch, setzt sich zu Beginn sehr kenntnisreich mit dem Begriff des Selbst im Allgemeinen und bei Kohut im Speziellen auseinander. Der Entwicklung des Selbst in verschiedenen Lebensaltern folgt eine Übersicht über Störungen des Selbst. Der Definition des Begriffs »Selbstobjekt« wird hohes Augenmerk geschenkt. Die Selbstobjekt-Übertragungen werden in ihren verschiedenen Unterformen deutlich gemacht. Pathologische Akkommodationsprozesse lassen das Problem erkennbar werden, dass Therapeuten sich auch unbewusst an einer Ko-Konstruktion pathologischer Gegenwartszustände bei Patienten beteiligen können. Daraus erwächst eine Haltung beim Therapeuten, bei der Therapeutin, sich auch als fehlbar wahrzunehmen und danach zu handeln. Es gibt im intersubjektiven Feld keine Deutungshoheit des Therapeuten, denn nur der Patient hat die »entscheidende Autorität«, wenn es um die Wahrnehmung seiner Subjektivität geht.

Die traditionelle Triebtheorie wurde anhand von aktuellen Forschungsergebnissen der Neuro-, Säuglings- und Kleinkindforschung im Sinne einer multidimensionalen Systemtheorie erweitert. Diese beschreibt fünf Motivationssysteme, die in ihren Beziehungen zum Selbst im Detail vorgestellt werden: Die psychische Regulierung physiologischer Bedürfnisse, Bindung und Zugehörigkeit, Exploration und Selbstbehauptung, Gegenwehr in Gefahrensituationen sowie sinnliches Vergnügen und Sexualität entwickeln sich allesamt in Wechselwirkung mit der versorgenden Umwelt weiter.

Behandlungsziele und kurative Faktoren stehen unter dem Motto »Was hilft in der Selbstpsychologie«? Sie leiten über zu den neuen Entwicklungen der »Intersubjektivität«. Sie werden historisch hergeleitet und sind mit dem Namen Stolorow explizit verbunden. Dieser Psychoanalytiker hielt und pflegte eine freundschaftliche Beziehung zu Kohut, die über einen sachlichen Austausch weit hinausging. Die intersubjektive Theorie als Feld- und Systemtheorie wurde von Stolorow, Brandchaft, Atwood und Orange in die Psychoanalyse eingeführt. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen in Theoriebildung, Übertragungsverständnis und Selbstreflexion des Analytikers, der Analytikerin werden sachkundig dargestellt und diskutiert. Grundlegende Prinzipien zur Behandlung von Patienten und Patientinnen werden aus dieser Sichtweise abgeleitet. Schließlich illustriert eine markante Fallgeschichte Wege und Möglichkeiten des zwischenmenschlichen Zugangs und der Veränderung von subjektivem Erleben. Eine stringente Einführung in die Selbstpsychologie, gut lesbar und von hoher klinischer Relevanz.

Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

1Geschichte der Selbstpsychologie

Heinz Kohut (1913–1981) begründete die psychoanalytische Selbstpsychologie. Er wurde in Wien geboren, musste später nach Chicago emigrieren und wurde dort klassisch psychoanalytisch ausgebildet und lehrte am dortigen Institut. Aus seiner praktischen Arbeit mit Patienten lernte er zunehmend, sich von seinen Ich-psychologischen Theorien kritisch zu distanzieren und vor allem auf das zu achten, was konkret von den Patientinnen und Patienten über ihre inneren Zustände beschrieben wurde. Er war ständig und zeitlebens bemüht, von seinen Patienten zu lernen, wie in einem Interview mit Susan Quinn deutlich wurde (Peters, 2014).

Er stellte zunehmend fest, dass die psychologische Welt eines Anderen nur mit Empathie und Introspektion untersucht werden kann. Verhaltensbeobachtung und auch objektivierende Verfahren (wie heute z. B. das CT oder MRT) sammeln Daten über Menschen von außen und sagen nichts darüber aus, wie sich die Person subjektiv fühlt. Empathie und Introspektion waren Kohuts Instrumente, um mehr über Selbstzustände zu erfahren. Das Selbst organisiert dabei alle Erfahrungen und ist Zentrum des persönlichen Universums.

In seiner analytischen Arbeit legte er deshalb den Fokus auf das Erleben seiner Patienten und deren Beschreibung ihrer Selbstzustände. Dabei ließ er sich von seinen Patienten leiten und nahm auch deren Kritik auf, wenn er theoriegeleitete Deutungen gab. Er verstand zunehmend, wie Patienten ihren Selbstzustand regulieren konnten mithilfe von Erfahrungen mit wichtigen anderen Menschen, und nannte diese Erfahrungen »Selbstobjekte«. Dies sind Erfahrungen, die von »Objekten« ausgehen und auf das Selbst einwirken. Der Begriff schreibt sich ohne Bindestrich, da es sich dabei um eine Erfahrung handelt, die zwar von »Objekten« ausgeht, aber unmittelbar den Selbstzustand betrifft. »Selbst-Objekt« mit Bindestrich beinhaltet dagegen die Beziehung zwischen Selbst und Objekt. Kohut machte die Erfahrung, dass Patienten regelmäßig Selbstobjekterfahrungen in systematischer Form suchten; die daraus resultierenden Übertragungen verstand er als »Selbstobjektübertragungen«. Mit diesen neuen Ideen konnten Patienten und Patientinnen behandelt werden, die vorher als unbehandelbar galten, wie solche mit narzisstischen Persönlichkeitsstörungen oder manchen psychosomatischen Krankheiten.

Schnell bildete sich um Heinz Kohut ein Kreis von Kollegen und Kolleginnen (wie Paul und Anna Ornstein, Arnold Goldberg, Ernest Wolf, Michael Basch, um nur einige zu nennen). In enger Kooperation und mit gemeinsamen Tagungen entwickelte sich die Gruppe der Intersubjektivisten um Bob Stolorow, John Atwood, Donna Orange und anderen. Die internationale Gemeinschaft ist in der IAPSP (International Association for Psychoanalytic Self Psychology) organisiert und hält weltweit Jahrestagungen ab. In den deutschsprachigen Ländern finden regelmäßig Tagungen in Wien, München und Hannover statt.

2Der Begriff des Selbst

2.1Zur Begriffsgeschichte

Nach dem Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm (1984, Bd. 16, S. 422 u. 455) ist das Selbst eine erstarrte Reflexionsform und kann als Superlativ des Begriffs »selb« aufgefasst werden, das aus dem Germanischen stammt und das »in sich Verharrende« bedeutet. Das deutet darauf hin, dass das Selbst unserem Leben Kontinuität verleiht. Wird das Wort »selb« mit Artikel gebraucht, dann steht es für die Identität.

William James machte bereits 1890 eine wesentliche Unterscheidung, indem er das Selbst als Agent (»I«) und das empirische Selbst (»me«) unterschied. Damit wurden zwei wesentliche Anteile des Selbst deutlich, die mit der eigenen Aktivität und Selbstwirksamkeit auf der einen Seite und mit dem Erleben und Beobachten des eigenen Selbst und dessen Eigenschaften auf der anderen Seite das Selbst charakterisieren.

2.2Das Selbst in der Psychoanalyse vor Kohut

Während Freud die Begriffe »Ich« und »Selbst« nicht deutlich unterschied, benutzten seine Nachfolger den Begriff unterschiedlich. Erst nach der Entwicklung der Strukturtheorie durch Freud (1923) wurden »Ich« und »Selbst« unterschiedlich benutzt, wobei das »Ich« zu einer von mehreren psychologischen Strukturen und Instanzen avancierte, während das »Selbst« mehr in seiner reflexiven Bedeutung verwandt wurde. Hartmann (1964) definierte dann innerhalb der Ich-psychologischen