Selbstverletzung - Christian Schmahl - E-Book

Selbstverletzung E-Book

Christian Schmahl

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Beschreibung

Nichtsuizidales Selbstverletzendes Verhalten (NSSV) tritt vergleichsweise häufig im Jugendalter auf. Es spielt aber auch im Erwachsenenalter im Zusammenhang mit verschiedenen psychischen Störungen eine gewichtige Rolle, z.B. bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung, bei dissoziativen und affektiven Störungen sowie bei der Posttraumatischen Belastungsstörung. Entsprechend wurde NSSV als Forschungsdiagnose in das DSM-5 aufgenommen. Der Band gibt praxisorientierte Hilfestellungen für die effektive Behandlung von NSSV. Der erste Teil des Buches liefert wichtiges Hintergrundwissen: Er informiert über die Häufigkeit sowie über die psychologischen und neurobiologischen Hintergründe dieses Verhaltens und geht auf Begleiterkrankungen ein. Im zweiten Teil wird ein Behandlungsleitfaden vorgestellt, der das konkrete Vorgehen in Diagnostik und Therapie beschreibt. Die therapeutische Herangehensweise orientiert sich an der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT), berücksichtigt jedoch auch neuere therapeutische Ansätze, wie z.B. das Achtsame Selbstmitgefühl. Zudem wird aufgezeigt, wie mit möglichen Problemen bei der Behandlungsdurchführung umgegangen werden kann. Anhand eines Fallbeispiels wird die therapeutische Arbeit greifbar gemacht.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Christian Schmahl

Christian Stiglmayr

Selbstverletzung

Fortschritte der Psychotherapie

Band 77

Selbstverletzung

Prof. Dr. Christian Schmahl, PD Dr. Christian Stiglmayr

Herausgeber der Reihe:

Prof. Dr. Martin Hautzinger, Prof. Dr. Tania Lincoln, Prof. Dr. Jürgen Margraf, Prof. Dr. Winfried Rief, Prof. Dr. Brunna Tuschen-Caffier

Begründer der Reihe:

Dietmar Schulte, Klaus Grawe, Kurt Hahlweg, Dieter Vaitl

Prof. Dr. med. Christian Schmahl, geb. 1968. 1989–1996 Studium der Humanmedizin in Mainz und Gießen. 1996–2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Freiburg. 1996 Promotion. Seit 2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter und seit 2015 Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim. 2006 Habilitation. Seit 2013 Professor für Experimentelle Psychopathologie an der Universität Heidelberg.

PD Dr. Christian Stiglmayr, geb. 1964. 1987–1994 Studium der Psychologie in Eichstätt und Freiburg. 1994–2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Psychiatrischen Universitätsklinik Freiburg. 2002 Promotion. 2001–2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin. 2001 Gründung und Leitung der Arbeitsgemeinschaft für Wissenschaftliche Psychotherapie (AWP) in Berlin. 2002 Approbation zum Psychologischen Psychotherapeuten (Verhaltenstherapie) und seitdem niedergelassen in einer eigenen Praxis in Berlin. 2010 Habilitation und seitdem Privatdozent an der Humboldt Universität zu Berlin.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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Tel. +49 551 999 50 0

Fax +49 551 999 50 111

[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: Matthias Lenke, Weimar

Format: EPUB

1. Auflage 2020

© 2020 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2751-5; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2751-6)

ISBN 978-3-8017-2751-2

http://doi.org/10.1026/02751-000

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Anmerkung:

Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materialien/Arbeitsblätter, die sich darauf befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Beschreibung der Störung

1.1 Definition

1.2 Epidemiologie, Verlauf und Prognose

1.3 Differenzialdiagnose und Komorbidität

1.3.1 NSSV als normales Adoleszenten-Verhalten

1.3.2 NSSV als klinische Diagnose

1.3.3 NSSV als Symptom der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS)

1.3.4 NSSV bei dissoziativen Störungen

1.3.5 NSSV und affektive Störungen

1.3.6 NSSV bei Schizophrenie

2 Störungstheorien und -modelle

2.1 Psychologische Theorien

2.1.1 Lerntheoretische Modelle

2.1.2 Einstellungen und Erwartungen

2.1.3 Selbstverifizierung und Selbstvalidierung

2.1.4 Bindungserfahrung

2.1.5 Benefits und Barrieren

2.2 Neurobiologische Theorien

2.2.1 Befunde zu überdauernden neurobiologischen Veränderungen

2.2.2 Befunde aus der experimentellen Psychopathologie

2.3 Risikofaktoren und integratives Modell

2.3.1 Risikofaktoren

2.3.2 Integratives Modell

3 Diagnostik und Indikation

3.1 Eigen- und Fremdanamnese

3.2 Körperliche Untersuchung

3.3 Psychometrische Instrumente

3.4 Verhaltensanalyse

4 Behandlung und therapeutische Möglichkeiten

4.1 Die therapeutischen Grundhaltungen

4.2 Die Therapiestruktur

4.2.1 Die Vorbereitungsphase

4.2.2 Therapiephase 1

4.2.3 Therapiephase 2

4.2.4 Therapiephase 3

4.3 Die Behandlungsbausteine

4.3.1 Die Einzeltherapie

4.3.2 Das Fertigkeitentraining

4.3.3 Das Telefoncoaching

4.3.4 Die Supervision

4.4 Therapeutische Strategien

4.5 Die therapeutische Beziehungsgestaltung

4.6 Probleme bei der Durchführung

4.7 Pharmakotherapie bei NSSV

5 Evaluation und wissenschaftliche Evidenz

6 Fallbeispiel

7 Weiterführende Literatur

8 Literatur

9 Kompetenzziele und Prüfungsfragen

10 Anhang

Liste möglicher nichtsuizidaler Selbstverletzungen (NSSV)

Deliberate Self-Harm Inventory (DSHI)

Fragebogen zu selbstverletzendem Verhalten (FSVV)

Behandlungsvertrag für die ambulante Einzeltherapie zur Behandlung von NSSV

Wochenprotokoll

Karte

Fragenkatalog zur Erhebung der Anamnese bei Vorliegen von NSSV

|1|Vorwort

Nichtsuizidales Selbstverletzendes Verhalten (NSSV) löst bei vielen Menschen Befremden und Irritation aus. Personen, die nicht in direktem Kontakt zu Menschen mit NSSV stehen, äußern häufig ihr Unverständnis und mitunter auch ihren Ärger wegen dieses „völlig irrationalen Verhaltens“. Personen, die im klinischen Kontext arbeiten, empfinden die Symptomatik als bedrohlich und unkontrollierbar oder fühlen sich manipuliert; Ängste aber auch Wut und Ärger sind die Folge. Angehörige erleben zumeist eine Mischung aus all diesen Empfindungen.

Was fremd und wenig nachvollziehbar erscheint, wird häufig abgelehnt und stigmatisiert. Eine konstruktive Auseinandersetzung findet dann nicht statt. Wir wollen daher mit diesem Buch zur Entstigmatisierung dieses Verhaltens beitragen. Der erste Teil des Buches bietet wichtiges Hintergrundwissen, der im zweiten Teil vorgestellte Behandlungsleitfaden beschreibt konkrete Hilfestellungen zur effektiven Behandlung von NSSV.

NSSV tritt bei einer Vielzahl von psychischen Störungen auf; die Hintergründe sowie die daraus abzuleitenden Behandlungsmöglichkeiten sind entsprechend vielfältig. Zwecks einer übersichtlicheren Darstellung haben wir uns daher auf eine Auswahl an stressassoziierten Störungen geeinigt, für welche das beschriebene Vorgehen angezeigt ist. Es handelt sich hierbei um Störungen, die im psychotherapeutischen Kontext am häufigsten zu beobachten sind, aber auch die meisten Fragestellungen im konkreten Vorgehen aufwerfen, wie z. B. die Borderline-Persönlichkeitsstörung, dissoziative Störungen, affektive Störungen oder die Posttraumatische Belastungsstörung. Für nicht oder nur teilweise geeignet halten wir das hier dargestellte Vorgehen für Erkrankungen aus dem psychotischen Formenkreis, für artifizielle Störungen (heimliches NSSV) sowie für Menschen mit einer geistigen Behinderung, Minderbegabung und Autismus.

Mannheim und Berlin, Herbst 2019

Christian Schmahl und

Christian Stiglmayr

|2|1 Beschreibung der Störung

1.1 Definition

Selbstverletzungen finden sich in verschiedenen Ausprägungsformen und werden mit den unterschiedlichsten Motivationen durchgeführt.

Merke

Das hier im Zentrum stehende Nichtsuizidale Selbstverletzende Verhalten (NSSV) wurde 2005 von Muehlenkamp als eigenständiges Syndrom eingeführt und 2009 von Nock als „direkte, absichtliche Zerstörung des eigenen Körpergewebes ohne suizidale Intention“ (S. 9, Übersetzung durch die Autoren) definiert. Das heißt, dass zum Beispiel ein übermäßiger Alkoholkonsum zwar selbstschädigend sein kann, aber nicht unter die Definition von NSSV fällt.

Abbildung 1: Klassifikation von Selbstverletzungen (in Anlehnung an Nock, 2009)

NSSV lässt sich in einen größeren Kontext von selbstverletzenden Gedanken und Handlungen einordnen (vgl. Abb. 1). Diese werden zunächst in suizidal und nichtsuizidal unterteilt. Suizidale Gedanken und Handlungen sind durch die Intention zu sterben charakterisiert, während dies per definitionem bei |3|NSSV nicht der Fall ist. Hierbei ist jedoch festzuhalten, dass die Motivationslage bzgl. der Absicht zu sterben nicht in jedem Fall völlig eindeutig ist und auch bei derselben Art von Handlung (z. B. beim Schneiden mit Rasierklingen) innerhalb einer Person wechseln kann. Die hier im Vordergrund stehenden Verhaltensweisen umfassen Formen der Gewebeverletzung von leichtem Ritzen bis zu tiefen Schnittverletzungen, Verbrennungen oder Verätzungen oder Mit-dem-Kopf-an-die-Wand-Schlagen. Als alternative Begriffe, die aber nicht die Präzision des NSSV-Begriffes aufweisen, d. h. insbesondere nicht die klare Abgrenzung von suizidalen Handlungen aufweisen, und daher von uns nicht verwendet werden, existieren das „deliberate self-harm syndrome“ sowie der Begriff „parasuicide“.

Beim NSSV werden zunächst stereotype von anderen Formen unterschieden. Stereotypes NSSV wird mit hoher Frequenz durchgeführt und kommt fast ausschließlich bei Entwicklungsstörungen mit geistiger Retardierung oder neuropsychiatrischen Erkrankungen wie dem Tourette- oder dem Lesch-Nyhan-Syndrom vor. Die hier im Vordergrund stehenden Formen des NSSV sind demgegenüber durch eine bewusste Entscheidung und durch gewisse unterscheidbare Intentionen gekennzeichnet, welche auch für die Behandlung eine wesentliche Rolle spielen. Die Motive für NSSV wurden insbesondere bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung genauer untersucht. Dabei steht eine Reduktion der hohen inneren Anspannung durch die Selbstverletzung im Vordergrund.

1.2 Epidemiologie, Verlauf und Prognose

NSSV ist ein häufiges Phänomen. Eine erste Studie an mehr als 5.000 Schülern zeigte eine Prävalenz von 10,9 % gelegentlichem NSSV (ein- bis dreimal/ Jahr) und 4 % repetitivem NSSV (mindestens viermal/Jahr). Eine weitere Studie, die im Schulsetting durchgeführt wurde, ergab, dass ein Viertel aller 14- bis 17-Jährigen sich mindestens einmal selbst verletzt hatten und 9,5 % mindestens viermal. Außerdem berichteten 6,5 % der befragten Jugendlichen, dass sie bereits mindestens einen Suizidversuch verübt hätten. Internationale Vergleichsstudien ergaben weltweit recht ähnliche, mittlere Lebenszeitprävalenzen von 18 % mit gleichbleibenden Werten für die Erhebungszeitpunkte 2005 bis 2011. Eine große, in mehreren europäischen Ländern an mehr als 12.000 ca. 15 Jahre alten Schülern durchgeführte Studie ergab eine mittlere Lebenszeitprävalenz von 27,6 % (wobei Frankreich und Deutschland die höchsten Werte aufwiesen) und eine Häufigkeit von repetitivem NSSV (≥ 5 Ereignisse/Jahr) von 7,83 %. In einer Übersichtsarbeit, in die 32 individuelle Studien eingingen, zeigte sich ein Anstieg der NSSV-Raten im Alter zwischen 12 und 16 Jahren mit einer anschließenden Abnahme bis zum jungen Erwachsenenalter (Plener, Schumacher, Munz & Groschwitz, 2015).

|4|Den natürlichen Verlauf von NSSV untersuchte eine größere australische Studie an fast 2.000 Heranwachsenden über die Altersspanne von knapp 16 bis 29 Jahren. 10 % der Mädchen und 6 % der Jungen zeigten zu Beginn der Studie mit knapp 16 Jahren NSSV; bereits nach einem Jahr war die Frequenz auf ca. 2 % gesunken und pendelte sich dann mit Beginn des Erwachsenenalters auf ca. 1 % ein. Die häufigsten Methoden waren Schneiden und Verbrennen, gefolgt von Sich-selber-Schlagen. Mädchen zeigten eine höhere Kontinuität von NSSV im jungen Erwachsenenalter. Mit NSSV in der Adoleszenz assoziiert waren depressive und ängstliche Symptome, antisoziales Verhalten, Alkohol-, Cannabis- und Nikotin-Missbrauch. Insgesamt zeigt NSSV also über die Altersspanne der Adoleszenz eine deutlich rückläufige Tendenz. Eine weitere große Studie (Whitlock, Eckenrode & Silverman, 2006) erfasste NSSV an knapp 3.000 College-Studierenden in den USA. Hier berichteten 17 % der Teilnehmer, sich bereits mindestens einmal selbst verletzt zu haben. Der Beginn des NSSV wurde von 34 % der Teilnehmer zwischen 17 und 20 Jahren, von 27 % zwischen 15 und 16 Jahren, und von 25 % zwischen 10 und 14 Jahren angegeben. Von denjenigen mit repetitivem NSSV hatten knapp 80 % nach fünf Jahren wieder aufgehört, 40 % bereits nach einem Jahr.

Die häufigsten NSSV-Methoden sind: 61,8 % Schneiden, 42,7 % Kratzen / Kneifen, 29,4 % Beißen, 27,6 % Stechen und 26,5 % Sich-selber-Schlagen. Als Lokalisation von NSSV wurde von den meisten Arm/Handgelenke angegeben, gefolgt von Hand/Fingern und Beinen. Während bei Mädchen das Schneiden die am häufigsten praktizierte Methode ist, zeigen Jungen am häufigsten Sich-selbst-Schlagen (Barrocas, Hankin, Young & Abela, 2012).

Merke

NSSV ist in der Adoleszenz sehr häufig, ca. 20 bis 25 % der Jugendliche haben sich schon einmal selbst verletzt.

Wie erwähnt, hört bei den allermeisten Betroffenen NSSV nach dem 20. Lebensjahr wieder auf. Insbesondere bei der Borderline-Störung (BPS) gehört NSSV jedoch zum zentralen klinischen Erscheinungsbild. Der Langzeitverlauf von NSSV bei der Borderline-Störung wurde von Zanarini und Mitarbeitern untersucht. Sie schlossen 290 BPS-Patientinnen und 72 Patientinnen mit einer anderen Persönlichkeitsstörung während einer stationären Behandlung ein und verfolgten diese beiden Gruppen über einen Zeitraum von zehn Jahren. Zu Beginn wiesen fast 90 % der BPS-Gruppe und ungefähr ein Viertel der Vergleichsgruppe repetitives NSSV mit mehreren Methoden auf. Nach zehn Jahren im natürlichen Verlauf war dieser Prozentsatz auf unter 13 % gesunken, lag jedoch immer noch höher als in der Vergleichsgruppe (2 %).

|5|1.3 Differenzialdiagnose und Komorbidität

1.3.1 NSSV als normales Adoleszenten-Verhalten

Schon aufgrund der hohen Prävalenzzahlen wird deutlich, dass es sich bei NSSV nicht immer um pathologisches Verhalten im engeren Sinn handeln muss; auch die starke Assoziation mit bestimmten Jugend-Subkulturen (z. B. Emo, Goth) geht in diese Richtung. Die wenigen vorhandenen Daten zum Langzeitverlauf sprechen dafür, dass in den meisten Fällen dieses Verhalten spätestens zu Beginn der dritten Lebensdekade von selbst wieder aufhört. Eine bislang noch völlig ungeklärte Frage ist, in welchen Fällen NSSV persistiert und sich in Richtung einer weitergehenden Psychopathologie, z. B. der BPS, entwickelt. Eine Rolle spielt hier sicher die Frequenz des Verhaltens, wobei repetitives Verhalten als Risikofaktor anzusehen ist, sowie schwierige familiäre Konstellationen und andere Verhaltensauffälligkeiten wie z. B. Substanzgebrauch.

1.3.2 NSSV als klinische Diagnose

Im DSM-5 wurde erstmals NSSV als Forschungsdiagnose aufgenommen (vgl. Kasten).

Kriterien für Nichtsuizidale Selbstverletzungen nach DSM-51 (APA/Falkai et al., 2018)

Die Person hat sich im letzten Jahr an fünf oder mehr Tagen absichtlich selbst Schaden an der Körperoberfläche in einer Weise zugefügt, dass dies zu Blutungen, Blutergüssen oder Schmerz (z. B. durch Schneiden, Brennen, Stechen, Hauen, starkes Reiben) geführt hat. Dies ist in der Erwartung geschehen, dass die Verletzung nur zu geringem oder mäßigem körperlichen Schaden führt (d. h. es bestand keine suizidale Absicht).

Beachte: Das Nichtvorhandensein einer Suizidabsicht wurde entweder durch die Person bestätigt oder kann daraus geschlossen werden, dass die Person wiederholt selbstschädigende Verhaltensweisen zeigt, von denen sie weiß oder gelernt hat, dass sie wahrscheinlich nicht zum Tod führen.

B.

|6|Die Person führt das selbstverletzende Verhalten mit mindestens einer der folgenden Erwartungen aus:

1.

Um die Entlastung von negativen Gefühlen oder einem negativen kognitiven Zustand zu erleben.

2.

Um zwischenmenschliche Probleme zu lösen.

3.

Um einen positiven Gefühlszustand herbeizuführen.

Beachte: Die angestrebte Entlastung oder Reaktion wird während oder kurz nach der Selbstverletzung erlebt. Das Verhaltensmuster der Person kann eine Abhängigkeit von der wiederholten Ausführung des selbstverletzenden Verhaltens nahelegen.

C.

Die absichtliche Selbstverletzung wird von mindestens einem der folgenden Merkmale begleitet:

1.

Zwischenmenschliche Probleme oder negative Gefühle oder Gedanken wie Depression, Angst, Anspannung, Ärger, generalisiertes subjektives Leiden oder Selbstkritik unmittelbar vor dem selbstverletzenden Verhalten.

2.

Vor der Einleitung des Verhaltens besteht eine Phase des gedanklichen Verhaftetseins mit dem beabsichtigten Verhalten, welches schwer kontrolliert werden kann.

3.

Häufige Gedanken an Selbstverletzungen, die sich nicht im Verhalten niederschlagen müssen.

D.

Das Verhalten ist nicht sozial sanktioniert (z. B. Body-Piercing, Tattoos, Teil eines religiösen oder kulturellen Rituals) und beschränkt sich nicht auf das Aufkratzen von Schorf oder das Beißen von Nägeln.

E.

Das Verhalten oder dessen Folgen verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, ausbildungsrelevanten oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

F.

Das Verhalten tritt nicht ausschließlich während psychotischer Episoden, eines Delirs, einer Substanzintoxikation oder eines Substanzentzugs auf. Bei Personen mit einer Störung der neuronalen und mentalen Entwicklung tritt das Verhalten nicht als Teil eines Musters repetitiver Stereotypen auf. Das Verhalten kann nicht besser durch eine andere psychische Störung oder einen medizinischen Krankheitsfaktor erklärt werden (z. B. psychotische Störung, Autismus-Spektrum-Störung, Intellektuelle Beeinträchtigung, Lesch-Nyhan-Syndrom, Stereotype Bewegungsstörung mit selbstverletzendem Verhalten, Trichotillomanien [Pathologisches Haareausreißen], Dermatillomanie [Pathologisches Hautzupfen/-quetschen]).

|7|1.3.3 NSSV als Symptom der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS)

NSSV gehört sowohl im DSM-5 als auch in der ICD-10 zu den diagnostischen Kriterien der BPS. Dieses Kriterium wird von 90 % der erwachsenen BPS-Patientinnen erfüllt. Auch bei Jugendlichen mit dieser Diagnose gehört es zu den häufigsten Kriterien (Kaess et al., 2013). Umgekehrt erfüllen Jugendliche mit NSSV nur in ca. 20 bis 52 % (In-Albon, Ruf & Schmid, 2013) die diagnostischen Kriterien der BPS und nur wenige Jugendliche das Vollbild einer BPS.

Merke