Selenskyj - Sergii Rudenko - E-Book

Selenskyj E-Book

Sergii Rudenko

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Beschreibung

Die große politische Biografie des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj – ein notwendiger Blick in die jüngere Geschichte der Ukraine

„Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“. Im Februar 2022 geht dieser Satz um die Welt. Über Nacht wird Wolodymyr Selenskyj vom angeschlagenen Präsidenten der gefühlt fernen Ukraine zur zentralen Figur im Kampf für ein freies Europa. So wenig sich der Westen trotz des Kriegs im Donbass für die Ukraine interessierte, so wenig war bekannt über den Mann, der vom Juristen zum Komiker zum Staatsmann geworden war und nach den Maidan-Protesten gegen Korruption und für eine Annäherung an Europa antrat. Sergii Rudenko, seit vielen Jahren Journalist in Kyjiw, hat Selenskyjs erste Biografie geschrieben. Sein Buch ist die ausgewogene Geschichte eines ungewöhnlichen Politikers, das lebendige Porträt eines Helden, der keiner sein wollte – und eine unverzichtbare Quelle für alle, die den Mann verstehen wollen, der Putin die Stirn bietet und mit seinem Land längst zum Verteidiger der freien Welt geworden ist.

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Über das Buch

Die große politische Biografie des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj — ein notwendiger Blick in die jüngere Geschichte der Ukraine »Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit«. Im Februar 2022 geht dieser Satz um die Welt. Über Nacht wird Wolodymyr Selenskyj vom angeschlagenen Präsidenten der gefühlt fernen Ukraine zur zentralen Figur im Kampf für ein freies Europa. So wenig sich der Westen trotz des Kriegs im Donbass für die Ukraine interessierte, so wenig war bekannt über den Mann, der vom Juristen zum Komiker zum Staatsmann geworden war und nach den Maidan-Protesten gegen Korruption und für eine Annäherung an Europa antrat. Sergii Rudenko, seit vielen Jahren Journalist in Kyjiw, hat Selenskyjs erste Biografie geschrieben. Sein Buch ist die ausgewogene Geschichte eines ungewöhnlichen Politikers, das lebendige Porträt eines Helden, der keiner sein wollte — und eine unverzichtbare Quelle für alle, die den Mann verstehen wollen, der Putin die Stirn bietet und mit seinem Land längst zum Verteidiger der freien Welt geworden ist.

Sergii Rudenko

Selenskyj

Eine politische Biografie

Aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten und Jutta Lindekugel

Hanser

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Über Sergii Rudenko

Impressum

Inhalt

Vorwort — Selenskyjs Polit-Oscar

Episode 1 — Zehn Anschläge auf das Leben von Präsident Selenskyj

Episode 2 — Die Präsidentschaftskampagne

Episode 3 — »Dann eben im Stadion!«

Episode 4 — Selenskyj und 42 Millionen Präsidenten und Präsidentinnen

Episode 5 — Die Ent-Virtualisierung von Diener des Volkes

Episode 6 — Der Präsident und der wild gewordene Drucker

Episode 7 — Das Impeachment von Donald Trump

Episode 8 — Vizepräsident Bohdan

Episode 9 — Das kosmische Jahr 1978

Episode 10 — Die unvergleichliche Julija Mendel

Episode 11 — Wladimir Putin in die Augen schauen und …

Episode 12 — Der Laie auf dem Roller

Episode 13 — Eine Glocke für Masljakow

Episode 14 — Rodnjanskyj, der Taufpate

Episode 15 — Der Skandal von Jurmala

Episode 16 — Der CLAN »Kwartal 95«

Episode 17 — Von Kadyrow auf die Probe gestellt

Episode 18 — Die Gummiknüppel

Episode 19 — Selenskyjs Double

Episode 20 — Ein Frühstücksdirektor für Selenskyj

Episode 21 — Selenskyj und die Schefir-Brüder

Episode 22 — Kolomojskyjs Messer

Episode 23 — Poroschenko auf den Knien

Episode 24 — Der kollektive Selenskyj

Episode 25 — Das Idol Sywocho

Episode 26 — Ein Wahrheitsdetektor für DIE »Diener des Volkes«

Episode 27 — Wer Selenskyj zum Junkie machte

Episode 28 — Selenskyj unter Jermak

Episode 29 — Selenskyjs Dream Team

Episode 30 — Die Architektin Selenskyjs

Episode 31 — Die magische Zahl 95

Episode 32 — Er hat Selenskyjs Präsidentschaft vorhergesehen

Episode 33 — Haharin für Selenskyj

Episode 34 — Black Mirror für den Helden

Episode 35 — Swirobij, Fedyna und das Opfer

Episode 36 — Wagnergate — Eine Geschichte mit vielen Unbekannten

Episode 37 — Wie der Oligarch Achmetow einen »Staatsstreich« für Selenskyj vorbereitete

Episode 38 — Das Massaker von Butscha

Epilog — Kriegspräsident

Vorwort

Selenskyjs Polit-Oscar

Zu den Klängen des Titelsongs »Ich liebe mein Land …« aus dem Soundtrack von Diener des Volkes traten am 21. April 2019 um acht Uhr abends Wolodymyr Selenskyj und sein Team vor die Presse.

Es war, als würde dieses dümmliche Liedchen in jenem Augenblick nicht nur den siegreichen Kandidaten besingen, sondern auch die 73% der Wählerschaft, die ihm ihre Stimme gegeben hatten.

Ukrainische wie ausländische Journalisten und Journalistinnen, die das Park-Kongresszentrum in der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw füllten, erwarteten voller Ungeduld die Triumphrede des frisch gewählten Präsidenten. Selenskyj strahlte. Und mit ihm alle, die ihn zum Sieg begleitet hatten: Andrij Bohdan, Dmytro Rasumkow, Kyrylo Tymoschenko, Andrij Jermak, Oleksandr Danyljuk und Wolodymyrs Frau Olena. Es regnete Konfetti, der Saal kochte, und es fehlte nicht viel und der präsidentielle Stab hätte begonnen zu tanzen.

»Das haben wir gemeinsam geschafft …« — in dem ihm eigenen Duktus begann Selenskyj seine Rede. Ganz, wie es einem Schauspieler bei der Oscarverleihung gebührt, dankte er zuerst seinem Team, der Familie, Freunden, seiner Frau Olena und sogar zwei Reinigungskräften namens Oksana und Ljuba, die in den Büros seines Stabes für Ordnung gesorgt hätten. Er erinnerte auch an den symbolträchtigen 73. Block im Olympiastadion, vor dem er gemeinsam mit seinem Team den berühmt-berüchtigten Wahlkampfspot »Dann eben im Stadion« gedreht hatte.

Noch nicht aus dem Schatten seines TV-Alter-Egos Wasyl Holoborodko herausgetreten, riss Wolodymyr Witze, stichelte gegen den ukrainischen Inlandsgeheimdienst, der ihn, so seine Formulierung, »in Form gehalten habe«, und gab sich demonstrativ optimistisch. Nach seinem Abschied von der Konzertkarriere rechnete Selenskyj ganz offensichtlich mit ähnlich begeisterter Zustimmung auf der politischen Bühne. Ganz selbstverständlich verließ er sich darauf, beim Publikum gut anzukommen, zu hören, wie man applaudierte, »Bravo!« und »Zugabe!« rief. Das verwundert nicht. Man hatte ihn in den großen Konzertsälen von Moskau, Kyjiw, Odessa, Jurmala, Minsk und anderswo in der ehemaligen Sowjetunion bejubelt, überall hatte der Stern des Wolodymyr Selenskyj hell gestrahlt. Gleich nach seinem Sieg in Aleksandr Masljakows beliebter Gameshow Klub der Witzigen und Schlagfertigen1997 war der damals 19-Jährige zu Fernsehruhm gelangt und für viele Ukrainerinnen und Ukrainer bis zur Übernahme des Präsidentenamts ein bekannter und beliebter Schauspieler gewesen.

Und wie hätte er an diesem Abend des 21. April 2019, nach seinem erdrutschartigen Wahlsieg, auch ahnen sollen, dass ihm nach nur einem knappen halben Jahr die Rufe »Schande!« und »Selja — Verschwinde!« entgegenschallen würden? Und zwar nicht nur von der Anhängerschaft seines größten Konkurrenten Petro Poroschenko, sondern auch aus dem Mund von Freiwilligen, von Militärangehörigen, von Kollegen und Kolleginnen aus der Politik?

Einige Monate nach der Amtseinführung würde er damit beginnen, sich seiner Mitstreiter auf dem Weg zum Sieg zu entledigen. Als Ersten würde es Oleksandr Danyljuk treffen, Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, der angeblich über Selenskyj verärgert war, weil der ihn nicht zum Ministerpräsidenten gemacht hatte. Dann flog der Leiter des Büros des Präsidenten Andrij Bohdan aus dem Team, der seit Selenskyjs ersten Schritten auf der großen politischen Bühne an seiner Seite gestanden hatte. Weiterhin verloren auch Ministerpräsident Oleksij Hontscharuk und Generalstaatsanwalt Ruslan Rjaboschapka ihre Posten.

Alle Genannten waren wesentliche Bestandteile des »kollektiven Selenskyj« gewesen, den das Land am 21. April 2019 ins Amt gewählt hatte. Bis ins Finale der Präsidentschaftskampagne hinein hatte Selenskyj als individuelle politische Persönlichkeit ja nicht existiert. Überhaupt nicht, in keiner Weise. Er war ein begabter Komiker und als Manager beim Fernsehsender Inter und der Produktionsfirma Studio Kwartal 95 tätig. Und er war Schauspieler, der in der Rolle des Serienhelden Wasyl Holoborodko vom Geschichtslehrer zum Staatsoberhaupt aufsteigt. Sein präsidentielles Image verpasste ihm seine Entourage.

Vor drei Jahren verkündete der sechste Präsident der Ukraine: »Ich verspreche, euch niemals zu enttäuschen.« Mittlerweile haben wir Wolodymyr Selenskyj in vielen Lebenslagen erlebt. Er und sein Team mussten sich als unprofessionell kritisieren und der Korruption, der Arroganz und sogar des Hochverrats beschuldigen lassen. Seit dem 24. Februar 2022, dem Beginn des flächendeckenden russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, konnten wir allerdings einen ganz anderen Selenskyj entdecken. Einen Menschen, der keine Angst hat, Putins Herausforderung anzunehmen und sich vor Ort in der Ukraine an die Spitze des Widerstands gegen die russische Aggression zu stellen. Einen Präsidenten, dem es gelingt, Anhänger wie Gegner in diesem Widerstand zu vereinen, Nutznießer der Korruption mit Anti-Korruptionsaktivisten, Alte mit Jungen, Menschen verschiedener Nationalitäten und Glaubensrichtungen. Ein Staatsoberhaupt, dem man im US-amerikanischen Kongress und den Parlamenten Europas Beifall klatscht.

Jede der in diesem Buch geschilderten Episoden aus dem Leben des sechsten Präsidenten der Ukraine ist ein Mosaiksteinchen. Zusammengesetzt ergeben sie ein Porträt des Wolodymyr Selenskyj. Eines Menschen, der ohne jegliche politische Erfahrung oder entsprechende Kompetenzen den Ukrainerinnen und Ukrainern versprach, ihren Staat umzukrempeln. Eines Menschen, dem 13,5 Millionen Wähler und Wählerinnen ihre Stimme anvertrauten.

Das Buch will weder moralisieren noch Vorurteile bedienen oder gar manipulieren. Hier soll es um Fakten gehen, allein um Fakten. Mir war es schlicht darum zu tun, den sechsten Präsidenten der Ukraine ungeschminkt zu porträtieren.

Inwieweit mir dies gelungen ist, mögen meine Leserinnen und Leser selbst beurteilen.

Sergii Rudenko, April 2022

Episode 1

Zehn Anschläge auf das Leben von Präsident Selenskyj

Am 24. Februar 2022 um 4 Uhr 50 morgens startete Moskau seine Raketenangriffe auf ukrainisches Territorium. Während das Staatsfernsehen der Russischen Föderation Wladimir Putins Ansprache an sein Volk übertrug, gingen gleichzeitig die ersten ballistischen Raketen auf Ukrainer und Ukrainerinnen in der Hauptstadt Kyjiw nieder, in Charkiw, Odessa, Mariupol, Dnipro und anderen Städten des Landes. Wenige Kilometer von meinem Zuhause in Kyjiw entfernt, in den Kyjiwer Vororten Browary und Boryspil, zitterte die Erde unter den Detonationen. Die verschlafenen Städte verwanden den ersten Schock. Sirenen von Ambulanzen, Feuerwehren und Ersthelfern zerschnitten scharf die winterliche Luft. Noch wollte das Bewusstsein die Tatsache nicht wahrhaben, dass Russland einen freien und unabhängigen Staat mitten in Europa bombardieren ließ. Alles gemahnte an einen irren Traum, der sich mit den ersten Sonnenstrahlen verflüchtigen würde.

Doch es war kein Traum. Es war die neue Wirklichkeit, in die hinein Ukrainer und Ukrainerinnen erwachten.

Eine halbe Stunde nach den ersten Einschlägen trat Wolodymyr Selenskyj an die Öffentlichkeit und bestätigte, dass zwischen Russland und der Ukraine Krieg herrschte. Von ihm erfuhr die Ukraine im Morgengrauen auch von den ersten Opfern des Überfalls durch den Kreml. Es waren Militärangehörige, die sich in Stützpunkten befunden hatten, auf die Moskau seine Geschosse hatte regnen lassen. So begann der flächendeckende Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine, an den bis dato niemand hatte glauben wollen. Auch Wolodymyr Selenskyj nicht. Einen Monat vor Kriegsausbruch hatte der Präsident trotz vielfacher Warnungen der amerikanischen und britischen Geheimdienste vor einem bevorstehenden Angriff noch beharrlich behauptet, alles unter Kontrolle zu haben. Das Ausland verbreite nur Panik, zu der überhaupt kein Anlass bestehe.

In der Nacht auf den 24. Februar, buchstäblich wenige Stunden vor Ausbruch der Kampfhandlungen, hatte sich der ukrainische Präsident öffentlich an die Bevölkerung in Russland gewandt. Er hatte ernsthaft gehofft, er sei in der Lage, Putin zu stoppen. Obwohl seit der Annexion der Krym und der Besetzung von Teilen des Donbas 2014 wohl nur noch die bedingungslose Kapitulation der Ukraine oder alternativ eine Kugel in den Kopf den Kremlherren hätten stoppen können. Putin war nicht müde geworden zu behaupten, die ukrainische Staatlichkeit ginge auf Wladimir Lenin zurück, und die Ukrainer als Volk seien der Einbildung des Grafen Potocki entsprungen. Wie er es ja auch unmittelbar vor dem Überfall auf die Ukraine noch gebetsmühlenartig wiederholt hatte. Dabei wurde die ukrainische Hauptstadt Kyjiw gegründet, als das Gebiet des heutigen Moskau noch Sumpfland war. Die öffentliche Bekundung Putins, die sogenannte »Unabhängigkeit« der Pseudostaaten »Donezker« und »Luhansker Volksrepublik« sicherstellen zu wollen, war nur der Vorwand, unter dem er zur Vernichtung des ukrainischen Staates blies.

Präsident Selenskyj nahm Putins Fehdehandschuh würdig auf. Trotz zahlreicher Angebote seitens der USA und zehn Anschlägen auf sein Leben (die Zahl wurde im März von Mychajlo Podoljak aus dem Büro des Präsidenten genannt), die er allesamt überlebte, verließ er Kyjiw nicht. Putin wollte seinen Tod — wenn nicht physisch, so ganz sicher politisch. Dass es so weit nicht kam, bezeugt die Schwäche des Machthabers im Kreml. Das Büro des Präsidenten im Herzen Kyjiws wurde zu einem wichtigen Symbol für die Unbeugsamkeit des ukrainischen Volks. Der Mut, mit dem Wolodymyr als Oberkommandierender der Streitkräfte dem russischen Angriff die Stirn bietet, hat die Ukrainer und Ukrainerinnen schlicht beeindruckt, unter ihnen zuallererst auch die Gegner des sechsten Präsidenten. In den Parlamenten überall in Europa applaudiert man ihm stehend, auf ihm als Mensch ruht die Aufmerksamkeit der ganzen Welt. Die Popularität, die Wolodymyr Selenskyj gegenwärtig im Westen genießt, lässt sich nur mit der des Präsidenten der Sowjetunion Michail Gorbatschow vergleichen.

Der Blitzkrieg, auf den Wladimir Putin in der Ukraine spekuliert hatte, ist gescheitert. Russland traf auf den erbitterten Widerstand des ukrainischen Volks mit seinem Präsidenten Selenskyj an der Spitze. Auch war der Kreml anscheinend nicht davon ausgegangen, dass der vom Zaun gebrochene Krieg von den Ukrainern als Krieg des ganzen Volks geführt werden würde. Die russischen Invasoren wurden mit Feuer empfangen — nicht nur von den Streitkräften, sondern auch von ganz normalen Bürgerinnen und Bürgern. Und zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte des Landes können wir beobachten, wie sich alle Ukrainer geeint einem äußeren Feind entgegenstellen.

Über Selenskyjs Rolle und Selenskyjs Sieg in diesem Krieg werden zweifellos künftig die Historiker zu befinden haben. Über ihn werden Filme gedreht und Bücher geschrieben werden, man wird Straßen, Plätze und Universitäten nach ihm benennen. Selenskyj persönlich wird für immer mit der Epoche der ukrainischen Geschichte verbunden bleiben, die unter der Überschrift »Der endgültige Bruch mit Russland« verhandelt werden wird.

Jahrhundertelang haben die Ukrainer mit Moskau um das Recht auf Freiheit und Unabhängigkeit gekämpft. Millionen Menschen haben in diesem blutigen Ringen ihr Leben gelassen, ohne dass der ukrainisch-russische Kampf je ein Ende zu nehmen schien. Der Kreml hoffte noch bis vor Kurzem, es würde gelingen, die Ukraine auch weiterhin in seiner Einflusszone zu halten. Doch er hat sich verrechnet. Jener Wladimir Putin hat sich verrechnet, der stets herablassend über Wolodymyr Selenskyj sprach. Es ist dann wohl eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet der, dem der russische Präsident bis zuletzt nicht auf Augenhöhe begegnen mochte, zum Totengräber des gegenwärtigen russischen Regimes werden dürfte.

Episode 2

Die Präsidentschaftskampagne

31. Dezember 2018. Fünf Minuten vor Mitternacht.

Mit dem Champagnerglas in der Hand erwarten Ukrainer und Ukrainerinnen das neue Jahr. Der Countdown läuft, der Auftritt des Präsidenten steht an. Für Petro Poroschenko ist es das letzte Neujahrsgrußwort in seiner Funktion als Staatsoberhaupt.

Die Umfragen sind mitleidlos. Nur 11,6% beabsichtigen den Daten des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie zufolge für den amtierenden Präsidenten zu stimmen. Mit 21,2% zeichnet sich Poroschenkos langjährige Gegnerin Julija Tymoschenko als Favoritin ab. Auf Platz drei des Rankings liegt mit 14,6% Wolodymyr Selenskyj, Artdirector bei Studio Kwartal 95, der sich bisher noch mit keinem Wort dazu geäußert hat, ob er tatsächlich die Absicht hat, für das höchste Staatsamt zu kandidieren.

Da wird die traditionelle Silvestershow von Studio Kwartal 95 auf dem Sender 1+1 auch schon unterbrochen — für das Grußwort des Präsidenten. Doch statt Petro Poroschenko erscheint auf den Bildschirmen Wolodymyr Selenskyj. In weißem Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, so tritt er aus den Kulissen. »Guten Abend, Freunde …«, beginnt er auf Russisch und wechselt erst nach 15 Sekunden ins Ukrainische. Er spricht über drei Einstellungen, die Ukrainerinnen und Ukrainern typischerweise eigen seien:

Erstens: so vor sich hin leben.

Zweitens: Sachen packen und ab ins Ausland.

Und drittens: anpacken und vielleicht was in der Ukraine verändern.

Und er sagt: »Ich habe mich für die dritte Möglichkeit entschieden. Schon lange wollen ja alle von mir wissen: Machst du’s jetzt oder machst du’s nicht? Wisst ihr, im Gegensatz zu den hohen Tieren in der Politik wollte ich euch keine leeren Versprechungen machen. Jetzt aber, wo in wenigen Minuten das neue Jahr beginnt, da verspreche ich euch etwas und setze es auch unverzüglich in die Tat um. Liebe Ukrainerinnen und Ukrainer, ich verspreche euch, dass ich für das Präsidentenamt kandidieren werde. Und ich erfülle mein Versprechen: Ich kandidiere.«

Ich bin mir ziemlich sicher, dass unter den Gästen an ihren Tischchen nicht alle gleich begriffen, was da soeben vorgefallen war. Das Ganze hätte auch als Programmpunkt der Show durchgehen können. Die Showbühne. Das gedimmte Licht. Der lächelnde Selenskyj. Die Zeichentrick-Synchronstimme von Paddington, dem Bären. Wie jetzt, Präsidentschaftskandidat? Wo ist die Krawatte? Wo der Anzug? Wo sind die üblichen pathetischen Aussagen? Wo ist das alles? Und wo ist eigentlich Petro Poroschenko geblieben?

Die Anhängerschaft des fünften Präsidenten entfesselte in den sozialen Netzwerken beim Anblick Wolodymyrs anstelle Petros einen Shitstorm, wie er im Buche steht: »Wer? Dieser Clown?« »Von wegen Präsidentschaftskandidat, was glaubt er denn, wer er ist?« »Unverschämtheit!« In den Posts geizte man nicht mit unschmeichelhaften Zuschreibungen an Selenskyj. Und auch der Oligarch Ihor Kolomojskyj, Mehrheitseigner von 1+1, und der Generaldirektor des Senders Oleksandr Tkatschenko, der später für die Partei »Diener des Volkes« ins Parlament einziehen und ukrainischer Kulturminister werden sollte, wurden weidlich mit Kritik bedacht.

Auch in den Wahlkampfzentralen der anderen Kandidaten wurde die Ansage des Artdirectors von Studio Kwartal 95 offensichtlich eher wie ein missglückter Scherz aufgenommen.

Dabei war es Selenskyj in dieser Silvesternacht so ernst wie nie.

Den Auftritt des Schauspielers als eine seiner üblichen komödiantischen Einlagen verbuchen konnte nur, wer nicht mitbekommen hatte, dass Selenskyj die Entscheidung, sich in den Präsidentschaftswahlkampf einzuschalten, schon seit geraumer Zeit mit sich herumgetragen hatte. Schon vor Langem hatte sein Team damit begonnen, auf die Wahlen hinzuarbeiten. Im Sommer 2018 hatte Wolodymyr bereits versteckte Hinweise gestreut, als er den beliebten Aktivisten und Frontmann der Band »Okean Elzy« Swjatoslaw Wakartschuk triezte: »Slawo, machst du’s oder machst du’s nicht? Wenn du’s machst, mach ich’s auch. Wenn du jetzt hier felsenfest Ja sagst oder beinhart Nein, dann mach ich’s dir nach. Mich fragen nämlich alle, was denn nun sei. Mit mir? Na was wohl. Aber was ist mit dir? Nämlich, wenn du und ich, dann eben wir. Und wenn wir beide — dann alle.«

Der Politiker Roman Bessmertnyj erinnert sich, dass er Swjatoslaw Wakartschuk schon lange vor Beginn des Wahlkampfs aufgesucht und ihn darum gebeten hatte, nicht anzutreten — und nach Möglichkeit auch Wolodymyr Selenskyj zu überzeugen, davon Abstand zu nehmen: »Ich sagte ihm: ›Slawo, ich respektiere dich als Künstler, aber bitte geh zu Selenskyj und sprich dich mit ihm ab, dass keiner von euch beiden sich zur Wahl stellt. Sollte einer von euch das Rennen machen, dann zersprengt ihr die Ukraine in tausend Stücke, und es wird dann sehr schwierig werden, noch über irgendwas zu reden.‹ Ich weiß nicht, ob er auf mich oder andere gehört hat, jedenfalls tat Wakartschuk das einzig Vernünftige und kandidierte nicht. Stattdessen machte er sich fit für den Parlamentswahlkampf. Das konnte ich auch total nachvollziehen, war mir doch nur allzu klar, dass weder der eine noch der andere fähig waren, die Probleme zu schultern, vor denen die Ukraine steht. Deren entscheidendstes ist der Krieg«, so erzählt es mir Bessmertnyj.

Ungeachtet dessen formierte sich im Herbst 2018 der Wahlkampfstab des künftigen Präsidenten, dem sich auch der Spindoktor Dmytro Rasumkow anschloss, damals (nimmt man den Frontmann von Studio Kwartal 95 einmal aus) der einzige Medienprofi im Team.

Zur Vorbereitung auf die Wahlen schaltete Selenskyjs Team im Winter 2018/2019 Radiospots und Billboardwerbung mit dem Slogan: »Ich scherze nicht.« Zur gleichen Zeit wurde die dritte Staffel der Serie Diener des Volkes ausgestrahlt, nun nicht mehr nur mit dem Schauspieler Selenskyj, sondern mit dem ukrainischen Präsidenten in spe in der Rolle des Lehrers Wasyl Holoborodko, der für sich selbst völlig unerwartet zum Staatsoberhaupt wird.

Mit einem Sieg rechnete zu diesem Zeitpunkt in Selenskyjs Team allerdings kaum jemand. Laut Andrij Bohdan, dem ehemaligen Leiter des Büros des Präsidenten, entschied sich Wolodymyr tatsächlich auch endgültig erst am 31. Dezember 2018.

Für Selenskyj und seine Truppe war die Kampagne selbstverständlich auch eine wunderbare Gelegenheit, vor den anstehenden Parlamentswahlen die eigene, erst im Mai 2016 gegründete Partei »Diener des Volkes« bekannter zu machen.

Für Ihor Kolomojskyj mit seinem angespannten Verhältnis zu Petro Poroschenko war Selenskyj ein Faustpfand, sowohl dem fünften Präsidenten als auch seiner Erzrivalin Julija Tymoschenko gegenüber. Selenskyjs Team hingegen, so behauptet es zumindest Politikberater Serhij Hajdaj, sah die Wahlkampagne eher als eine Art Spiel: »Ich unterhielt mich mal mit Leuten, die geschäftlich mit den Schefir-Brüdern zu tun hatten. Die beiden — und da lief die Kampagne schon — glaubten null an Selenskyjs Sieg, sie hielten ihn für ausgeschlossen. Nach dem Motto, wieder so ein Einfall vom guten Wolodymyr, lassen wir ihn halt seinen Spaß haben. Als er dann siegte, waren sie vollkommen von der Rolle, wussten überhaupt nicht, wie sie damit klarkommen sollten, denn sie begriffen, was das für eine Verantwortung bedeutete und dass ihr altes Leben vorbei war. Dass es Studio Kwartal 95 von da an nicht mehr geben würde wie gehabt, ebenso ihre anderen Produktionsfirmen … Ihnen wurde klar, dass sie von nun an in einer komplett anderen Wirklichkeit lebten und ganz andere Menschen sein mussten. Das verwirrte sie, und sie hätten sich dazu gern mit jemandem beraten. Allerdings ging es nur den beiden so. Für Selenskyj selbst war es ganz anders. Er hatte, so glaube ich, bereits Bohdan an seiner Seite, der ihm sagte: ›So, jetzt mach dir keinen Kopf, ich weiß, was zu tun ist und wie wir das angehen, wir müssen jetzt nach vorne schauen.‹ Damals konnte keiner Bohdan leiden, denn er stach neben dem Präsidenten hervor, und es war spürbar, dass er die treibende Kraft in dem Ganzen war«, so erzählte es mir Hajdaj.

Wie es auch gewesen sein mag, der Schritt, den Wolodymyr Selenskyj in der Silvesternacht auf 2019 tat, warf nicht nur seine vorgezeichnete Karriere als Unterhaltungskünstler über den Haufen. Dieser Schritt sollte auch die Regeln aus den Angeln heben, nach denen die ukrainische Politik bisher funktioniert hatte.

Nicht unerwähnt soll bleiben, dass der Politiker Roman Bessmertnyj, seinerseits als Präsidentschaftskandidat bei den Vorwahlen im Rennen, den Versuch unternahm, Selenskyj noch am 22. März 2019 zu stoppen. Er forderte ihn öffentlich dazu auf, seine Kandidatur niederzulegen: »Holen Sie Ihre Unterlagen bei der Zentralen Wahlkommission wieder ab, das Ganze ist doch eine Schande und eine Demütigung für die Nation«, so drückte er sich aus.

Allerdings stieß sein Aufruf auf taube Ohren.

Und das Ergebnis?

Petro Poroschenko erhält von den Wählern und Wählerinnen eine schallende Ohrfeige.

Julija Tymoschenkos Zeit ist immer noch nicht gekommen — auch sie wird nicht Präsidentin.

Oleh Ljaschko bekommt auf der politischen Bühne einen mächtigen Konkurrenten und erleidet wenige Monate später mit seiner »Radikalen Partei von Oleh Ljaschko« bei den Parlamentswahlen herbe Verluste.

Oberst Anatolij Hryzenko verabschiedet sich ins Politrentnerdasein.

Und die Ukraine bekommt, was sie will — Wolodymyr Selenskyj.

Einer von Selenskyjs damaligen Mitstreitern, Ruslan Rjaboschapka, wird später sagen, das Land habe für einen Kandidaten gestimmt und einen ganz anderen Präsidenten bekommen. Als hätte man im Wahlkampf den einen Menschen vor sich gehabt und danach — einen völlig anderen.

Episode 3

»Dann eben im Stadion!«

19. April 2019. Das größte Stadion der Ukraine, der Nationale Sportkomplex Olympia in Kyjiw tobt.

20.000 Zuschauer warten auf die Debatte zwischen Petro Poroschenko und Wolodymyr Selenskyj. Zum ersten Mal in der Geschichte der Präsidentschaftswahlen in der Ukraine versuchen zwei Kandidaten, einander unter dem Gebrüll von den Rängen in Bedrängnis zu bringen. »Dann eben im Stadion!« — die saloppe Aussage, mit der Poroschenko die Herausforderung Selenskyis angenommen hatte, sich dem Duell in einem größeren Rahmen zu stellen, sollte in der Folge sprichwörtlich und zu einem regelrechten Meme der Selenskyi-Kampagne werden.

150 Fernsehsender zeichnen das Spektakel auf und übertragen live.

Im Verlauf der Kampagne hatte Petro Poroschenkos Team sich wiederholt abfällige Äußerungen über Wolodymyr Selenskyj erlaubt. »Hologramm«, »Clown«, »Kolomojskyj-Marionette« und »Handlanger des Kreml« sind eine bei Weitem nicht erschöpfende Zusammenstellung der verbalen Ergüsse, die Petro so gut wie täglich auf seinen Gegner herabregnen ließ.

Er und seine Spindoktoren waren felsenfest davon überzeugt, dass ein Kandidat Selenskyj schlicht ein Fehlgriff war.

Um dies auch der Öffentlichkeit klarzumachen, dazu würde, nach Meinung von Poroschenkos Team, die öffentliche Debatte zwischen den Kandidaten dann schon genügen. Eine Spielart der typischen Überheblichkeit des Politikbetriebes, die der damalige Präsident augenscheinlich mit Löffeln gefressen hatte. Und Selenskyj? Was war von einem Komiker schon zu erwarten? Auswendig gelernte Reden? Einflüsterungen von Beratern? »Den demontiere ich, bis nichts mehr übrig ist«, so mag Petro sich gedacht haben. Er irrte gewaltig. Denn auf die Debatte hatte Selenskyj sich eine ganze Woche vorbereitet. So behauptet es zumindest Andrij Bohdan.

Man muss dazu wissen, dass Poroschenkos Team schon vor der ersten Wahlrunde auf einer Debatte der Kandidaten bestanden hatte. Damals war bereits klar, dass es im Wesentlichen drei Anwärter auf den Sessel des Staatsoberhaupts geben würde — Petro Poroschenko, Wolodymyr Selenskyj und Julija Tymoschenko. Der Artdirector von Studio Kwartal 95 allerdings hatte Einladungen zu solchen Veranstaltungen konsequent ignoriert. In der Phase zwischen der ersten und der zweiten Wahlrunde wurde das Verlangen, den verbliebenen Gegner aus der virtuellen in die wirkliche Welt zu zerren und damit als politischen Flop zu enttarnen, in Poroschenkos Stab dann zu einer fixen Idee.

Nach zweiwöchigem Hin und Her war es schließlich aber Selenskyj, der Poroschenko zu einem Schlagabtausch einlud. Dieser sollte zwei Tage vor der zweiten Wahlrunde stattfinden — am 19. April um 19 Uhr, im besagten Olympiastadion. Vor Publikum, Presse und landesweit im Fernsehen übertragen — so lauteten Wolodymyrs Bedingungen. Seine Videobotschaft an Poroschenko ließ Selenskyj kinoreif inszenieren: Er läuft durch die Stadionkatakomben, betritt mit dem 73. Block im Rücken das Spielfeld und fordert, ganz der edle Streiter, seinen Gegner zum Kampf.

Natürlich hatte der Schauspieler ein ihm gemäßes Setting gewählt — Bühne, Publikum, Blitzlichtgewitter, Scheinwerfer, Fernsehkameras. Nach kurzer Diskussion sah sich Poroschenko gezwungen, sich auf sämtliche Bedingungen einzulassen, so groß war sein Wunsch, die Unfähigkeit seines Opponenten zu entlarven.

Zwei Support-Teams freiwilliger Wahlkampfhelfer im Stadion. Zwei Bühnen. Zwei Konzerte gleichzeitig. Fankurven für Poroschenko- und für Selenskyj-Anhänger. Als Moderatoren die beiden bekannten Fernsehjournalisten Olena Froljak und Andrij Kulykow. Die Teams der beiden Kandidaten. Fehlte nur noch, dass die Rivalen in Glitzergürteln wie Boxchampions die Bühne betreten, und dazu der Sound des Ringsprechers: »Ladies and Gentlemen …«

Das Publikum erwartete ein Spektakel. Und es kam auf seine Kosten.

Poroschenko verließ seine Bühne und begab sich auf die von Selenskyjs Leuten gestaltete. Petro und Wolodymyr schüttelten sich die Hände, und die Debatte begann.

Wolodymyr Selenskyj war keinesfalls so hilflos, wie Petro Poroschenko es sich vorgestellt hatte. Was am 19. April auf der Bühne im Olympiastadion geschah, kann man kaum unter dem Begriff »politische Debatte« fassen. Es gemahnte eher an eine Folge des Klubs der Witzigen und Schlagfertigen, genauer gesagt an einen Battle zweier Comedy-Stars.

Wolodymyr war in seinem Element. Ja, seine Ausführungen enthielten einiges an hausgemachten Ideen. Ja, er bezeichnete die Kämpfer der sogenannten »Donezker Volksrepublik« als »Aufständische«. Und ja, er versprach seinem Opponenten auf ziemlich kindische Art »echt harte Zeiten« nach Ende des Präsidentschaftswahlkampfs. Aber Selenskyj kam rüber als einer, dem es ernst ist. Diesem Eindruck der Ernsthaftigkeit zuwider lief allein der Auftritt seines Freundes und Kollegen von Studio Kwartal 95 Jewhen Koschowyj, der in einem Hoodie mit dem Aufdruck »POHUY«, zu Deutsch in etwa »Ihr könnt mich mal«, auf die Bühne kam.

Zu einem Austausch über die Zukunft des Landes kam es zwischen Poroschenko und Selenskyj allerdings nicht. Das Verbalduell der beiden erschöpfte sich in gegenseitigen Anschuldigungen, lautstarken Vorwürfen, politischem Trolling und dergleichen. Der Entertainer warf dem fünften Präsidenten eine korrupte Cliquenwirtschaft, blutige Geschäfte, die Verschleppung der Untersuchung der Todesfälle auf dem Majdan sowie den ungelösten Krieg im Donbas vor. Jener beschuldigte seinerseits Selenskyj, sich seiner Einberufung zum Wehrdienst entzogen zu haben und kein unabhängiger Politiker zu sein, wofür er dessen Beziehungen zu Kolomojskyj ins Feld führte und auch die damals schwelenden Gerüchte wiederholte, nach denen die ehemalige »Partei der Regionen« und damit der nach dem Majdan abgesetzte Wiktor Janukowytsch bei ihm mithöre.

Den Sieg über Poroschenko errang Selenskyj mit einem schauspielerischen Glanzstück, indem er ihn nämlich zu einem Kniefall vor den Familien der Gefallenen nötigte.

»Ich bin nicht Ihr Gegner, ich bin Ihr Urteil« — Selenskyjs ebenso theatralische wie pathetische Phrase an die Adresse Poroschenkos setzte den Schlusspunkt hinter die Debatte im Olympiastadion. Und bei näherem Hinsehen auch hinter die fünfjährige Amtszeit von Petro Poroschenko. Gleichzeitig läutete sie seine eigene politische Karriere ein.

Die im Grunde mit den gleichen Mängeln behaftet war wie die seines Gegners. Die ihm und seinem Team Korruptionsvorwürfe eintrug. Und die Freundschaften und Seilschaften mit politischer Macht verwob.

Völlig unbestritten ist aber auch, dass Wolodymyr Selenskyj es sich niemals hätte träumen lassen, welche Prüfung ihn und sein Land im Februar 2022 erwarten würde — ebenso wie das Land es sich wohl nicht hätte träumen lassen, welchen Präsidenten es mit dem Beginn des Krieges würde erleben können.

Episode 4

Selenskyj und 42 Millionen Präsidenten und Präsidentinnen

Am 30. April 2019 gab die Staatliche Wahlkommission das Endergebnis der Präsidentschaftswahlen bekannt: 73,22% der Stimmen für Wolodymyr Selenskyj zu 24,45% für Petro Poroschenko.

Wolodymyrs überzeugender Sieg ließ es als Gewissheit erscheinen, dass er in nur wenigen Wochen an die Spitze des Staates treten würde. Allerdings lief es dann doch nicht ganz so glatt, denn das Parlament, das Sitzungspause hatte und sich in den Maiferien befand, konnte sich geschlagene zwei Wochen nicht auf ein Datum für Selenskyjs Amtseinführung einigen.

Dann machte sein Team auch noch öffentlich Stimmung gegen den unterlegenen Vorgänger, nach dem Motto, »Leute, packt endlich euren Kram und macht Platz für uns in der Bankowa« — dem Präsidentensitz in der Bankowa-Straße im Zentrum von Kyjiw. Man konnte den Eindruck gewinnen, als verlören die Gewinner die Geduld und würden die Kisten der Besiegten am liebsten ganz ohne pompöse Zeremonie eigenhändig aus den Büros der Präsidialverwaltung schleppen.

Selenskyj wusste nur zu gut, dass man in der ukrainischen Politik, gelinde gesagt, nicht gerade glücklich mit ihm war. Auch sein überwältigendes Wahlergebnis katapultierte ihn nicht als Ebenbürtigen in die Riege und die Amtsstuben derjenigen, die über ein Jahrzehnt lang in den Regierungsgebäuden auf dem Petschersker Hügel in der Hauptstadt geschaltet und gewaltet hatten. Wolodymyr war das völlig klar. Auf diesem Grund stellte er der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, auch unverzüglich ein Ultimatum: »Datum der Amtseinführung soll der 19. Mai sein.« Verschiedentlich erzählt man sich, Selenskyj habe diesen Tag auf astrologischen Rat hin festgelegt. Angeblich sei es »ein guter Tag für den Beginn einer neuen Unternehmung« gewesen …

Doch das Parlament wies Selenskyjs Ansinnen zurück. Am Sonntag, dem 19. Mai, gedachte man planmäßig der Opfer politischer Verfolgung, weswegen die Abgeordneten beschlossen, den neuen Präsidenten am folgenden Tag, Montag, den 20. Mai, in sein Amt einzuführen. Wolodymyr verbarg seinen Ärger darüber nicht.

Am Tag von Selenskyjs Amtseinführung glich der Platz der Verfassung vor dem Parlamentsgebäude und dem Marienpalast, der Residenz des ukrainischen Präsidenten, dem Roten Teppich bei den Filmfestspielen von Cannes. Kameradrohnen surrten, ein Meer von Fans wogte, allesamt in gespannter Erwartung ihres Stars. Bekannte, Freunde und Unterstützer Selenskyjs standen Schlange vor der am Marienpalast errichteten Zuschauertribüne.

Um 9 Uhr 55