Serafina - Satu Blanc - E-Book

Serafina E-Book

Satu Blanc

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Beschreibung

Gerade aus der Bastille entlassen, finden der berühmt-berüchtigte Wunderheiler Graf di Cagliostro und seine Frau Serafina im Juni 1787 Aufnahme im Hause des reichen Seidenherren Sarasin in Basel. Nach Jahren des unsteten Umherziehens quer über den Kontinent, stets auf der Suche nach Reichtum und Einfluss und beständig auf der Flucht vor Verfolgung, ist Serafina entschlossen, ihren Mann, einen der grössten Schwindler seiner Zeit, zu verlassen und ihr Glück nun selbst in die Hand zu nehmen. Denn schliesslich ist es ihre Gabe, der er seine spektakulären Auftritte verdankt. Doch sie hat die Rechnung ohne den unheimlichen Schatten gemacht, der ihr nachstellt, seit sie von ihrer Heimatstadt Rom aus in die Welt aufgebrochen ist. Eine auf historischen Grundlagen basierende Geschichte über eine Frau, deren Leben von der Faszination für Seide bestimmt wird, und ein Roman über das Spiel von Illusion und Wirklichkeit am Vorabend der französischen Revolution.

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Inhalt

Cover

Impressum

Titel

Rom, 1789

Rom, 1763

Rom, 1765

Rom, 1768

Paris, 1785

Paris, 1785/86

1. Akt

Zwischenakt

2. Akt

3. Akt

London, 1787

In der Kutsche, 1787

Basel, 1787

Rom, 1789

Rom, 1789

Nachwort

Über die Autorin

Über das Buch

Satu Blanc

Serafina

Autorin und Verlag danken für die Unterstützung:

Claire Sturzenegger-Jeanfavre Stiftung

Elisabeth Jenny-Stiftung, Riehen

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einemStrukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

© 2022 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, BaselAlle Rechte vorbehaltenUmschlagfoto und -gestaltung: Vinzenz WyserLektorat: Thomas Gierl

Satu Blanc

Serafina

Gräfin di Cagliostro

Roman

«... und das alles im aufgeklärten 18ten Jahrhundert.»

Goethe an Charlotte von Stein, 1780

Rom, 1789

Früher hat sie das Licht gesucht. Jetzt ist sie froh, dass der schwache Schein der Kerze das kurzgeschorene Haar und die in grobes Leinen gehüllte Gestalt nicht erreicht.

Sie wartet.

Endlich öffnet sich die Tür.

Die Helligkeit blendet sie.

Sie lächelt.

Er ist gekommen.

Rom, 1763

Fisch. Es riecht nach Fisch. Stimmen werden laut. Dann erscheint das Bild: Frauen. Viele Frauen. Sie marschieren auf einer staubigen Straße. Sie halten Piken, Hellebarden, Bratspieße und Messer in der Hand. Sie tragen Kopftücher und schmutzige Schürzen über alten Röcken. Sie sind wütend. Sehr wütend. Immer stärker wird das Stampfen auf der langen, geraden Straße, immer zorniger erschallen die Ausrufe. Und dann: ein Schloss. Ein riesiges Schloss. Es glänzt in der Morgensonne.

«Lorenza!»

Schon zwei Mal hatte sie ihren Namen rufen hören, aber erst als der alte Mann seine Hand behutsam auf ihre Schulter legte, löste sie die Augen von dem Spiegel, der in ihrer Hand lag.

«Na Lorenza, hast du wieder zu tief in den Spiegel geguckt?», fragte er fröhlich.

Das Mädchen nickte abwesend.

«Hat dir heute nicht gefallen, was er dir gezeigt hat?», versuchte er es weiter, bekam aber keine Antwort. «Spiegel lügen nicht», stellte er schließlich fest.

Endlich erwachte Lorenza aus ihrer Erstarrung und schaute ihn fragend an. «Aber Piero, Raffi sagt ...», sie verstummte und blickte verlegen zu Boden.

«Was sagt Raffaele?», fragte Piero.

«Dass dies ein Zauberspiegel sei. Der kann viel mehr, als nur zeigen, wie schön ich bin.»

«Ja, wenn Raffaele das sagt, so muss es stimmen», pflichtete er ihr bei. «Er muss es wissen, er hat ihn dir schließlich geschenkt. Und mit solchen Freundschaftsspiegeln, Lorenza», er schaute sie lächelnd an, «hat es eine ganz besondere Bewandtnis.»

«Aber jetzt, Signorina», verkündete er mit feierlich erhobener Stimme, «jetzt verrät Ihnen der alte Piero, was er sieht.»

Über das Gesicht des Mädchens huschte ein freudiger Ausdruck, sofort nahm es Haltung an und gluckste vor Vergnügen.

Der alte Mann hob seinen Zeigefinger, kniff die Augen in dem verrunzelten Gesicht zusammen und fuhr fort: «Ich sehe eine Prinzessin. Eine schöne Prinzessin. Was sage ich da», rief er und riss die Arme in die Höhe, «die schönste Prinzessin überhaupt! Ihr Haar hat die Farbe von polierten Kastanien und ihre Augen leuchten gleich Kohlenstücken aus ihrem hübschen Gesicht. Wenn sie lächelt, geht die Sonne auf, und wenn sie Tränen vergießt, weinen die Engel. Der Name der Prinzessin lautet: Lorenza Feliciani, stolze Tochter meines ehrbaren Nachbarn Mauro, des tüchtigsten Kesselflickers von ganz Rom und seiner schönen Gemahlin Elena, der Frau mit den geschicktesten Händen im Umgang mit Seidenraupen. Ja, Prinzessin Lorenza, Ihr seid wahrlich von königlichem Geblüt.»

Ein Schatten huschte über das strahlende Gesicht des Mädchens.

«Kopf hoch, Carissima! Du weißt: Der alte Piero lügt nicht.»

Sie nickte und schloss die Faust fest um das Kleinod in ihrer Hand. «Und Spiegel auch nicht», murmelte sie und ließ ihren Schatz in der Schürzentasche verschwinden.

Lorenza war wie jeden Morgen in den Garten hinter Pieros Haus geschlichen, um, während sie auf ihn wartete, mit geschlossenen Augen zu lauschen, wie sich die Seidenraupen durch das Laub der Maulbeerbäume fraßen. Es hörte sich an wie Regen, der auf die Gasse fiel.

«Ein wenig Seidenluft schnuppern, Lorenza?», fragte Piero freundlich. Der alte Mann streckte seinen Arm aus und zog einen Zweig aus dem dichten Blätterdach herunter. «Schau, sie sind bald soweit.»

Sie nickte eifrig. So oft sie es schon gesehen hatte, ihre Begeisterung war auch jetzt echt. Sie konnte es nicht fassen, wie man so viel fressen konnte. In der Zeit zwischen zwei vollen Monden wuchsen die Raupen von kaum sichtbaren Winzlingen zu dicken Würmern heran. Würde sie so schnell wachsen, käme ihre Mamma mit dem Verlängern ihrer Säume gar nicht mehr nach.

Den Raupen platze einfach der Kragen, hatte Piero erklärt, dann streiften sie die alte Haut vollständig ab und trügen darunter schon die neue, passende Größe. Dann fange das große Fressen von vorne an, bis die Raupen wieder so dick seien, dass sie sich häuten müssten. Viermal täten sie es, dann hätten sie genug vom Fressen und – «wickeln sich in den Seidenfaden, der hinten aus ihnen herauskommt, ein», hatte Lorenza den Satz zu Ende gebracht.

Piero hatte anerkennend genickt, die Raupen drehten und drehten sich um die eigene Achse, bis sie schließlich ganz in ihren Kokon eingesponnen seien.

Lorenza wunderte sich noch immer, dass ihnen nicht schwindlig wurde dabei. Und wieder versicherte ihr Piero, dass die Raupen den perfekten Dreh heraushätten. Dafür schliefen sie danach so lange, wie es dauerte, bis der volle Mond verschwunden sei, und in dieser Zeit verwandelten sie sich.

«Aber das dürfen sie nicht», unterbrach ihn Lorenza: «Wir wollen ihre Seide!»

Im Haus schlug ihnen warmer Dunst entgegen. Lorenza stieg auf ihren Schemel, vor ihr blubberte Wasser in einem riesigen Kessel über dem Feuer. Piero hatte ihr eingeschärft, sich vor dem aufsteigenden Dampf, der noch heißer war als das kochende Wasser selbst, in Acht zu nehmen. Vorsichtig beugte sie sich näher, als er einen Korb voller Seidenkokons in den Kessel schüttete. Sie bekam einen Spritzer des heißen Wassers ab und wischte ihn achtlos weg. Nur ihre Augen weiteten sich vor Schreck: Die Raupen verbrühten bei lebendigem Leib.

Warum sie sich immer die Ohren zuhalte, fragte Piero. Ob er die Raupen nicht schreien höre, wunderte sie sich. Er strich ihr mit seiner rauen Hand über den Kopf und murmelte, der Preis der Schönheit sei das Leiden anderer. Noch empöre sich ihr Kinderherz. Aber oft genug habe er ihren Mund sich schon grausam verziehen sehen, wenn sie zufrieden lächelnd mit dem Finger über die Seidenfäden gefahren sei. Sie werde es weiter bringen als ihre Mutter, weiter als irgendjemand aus ihrem Viertel sich überhaupt ausmalen könne.

Er hatte die ganze Zeit in den Kessel gestarrt und angenommen, sie habe ihn nicht gehört. Als sie schließlich die Hände von den Ohren nahm, beteuerte er: «Du bist eine Prinzessin. Eines Tages wirst du in Seide gehüllt mit Königinnen speisen und mit Fürsten tanzen.»

Sie hatte diese mit viel Überzeugung gesprochenen Worte schon oft gehört, sie gehörten zu den Ritualen zwischen ihnen beiden wie der morgendliche Spaziergang durch den Garten und das Beobachten der Seidenraupen, und doch durchfuhr sie wie jedes Mal ein freudiger Schauer, als sie sich ausmalte, wie gut ihr die Seidenbänder im Haar stehen würden und wie herrlich sich der glatte Stoff des Kleides auf ihrer Haut anfühlen würde.

Heute aber tat Piero etwas, das er noch nie getan hatte: Er hob ihr Kinn, blickte sie mit seinen freundlichen Augen an und sagte ernst: «Und dann, Lorenza, vergiss nicht, wie viel Mühe und Arbeit es braucht, bis allein nur die Fäden für das Weben eines Seidenbandes hergestellt sind.» Fast unhörbar fügte er hinzu: «Wirst du dich dann noch an uns erinnern, Lorenza?»

Sie hörte die Traurigkeit hinter seinen Worten, wollte etwas erwidern, merkte, wie ihre Stimme zitterte und nickte unsicher. Oder hätte sie den Kopf schütteln sollen? Das Leben war zuweilen kompliziert. Es gab Dinge, nach denen sie nicht einmal ihren alten Freund fragen konnte.

Diese Frauen im Spiegel, sie hatten ihr Angst gemacht. Gleichzeitig hatte sie sich geärgert, dass Piero sie dabei gestört hatte, vielleicht hätte sie sonst das große Schloss noch einmal sehen können.

Das Schreien aus dem Kessel hatte längst aufgehört, doch Piero ließ die Kokons weiter kochen, bis der Leim an ihrem Faden aufgeweicht war. Danach konnte er abgehaspelt und zum Trocknen aufgehängt werden. Anschließend wurden die Seidenfäden von Lorenzas Mutter und den Frauen aus der Nachbarschaft verzwirnt. Wollte man makellos weiße Fäden haben, musste man sie in Seifenwasser kochen wie die große Wäsche in den vornehmen Häusern, in denen sich ihre Mamma ein Zubrot verdiente.

Piero hatte es ihr schon hundertmal erklärt, und sie hatte es ja mit eigenen Augen gesehen, und doch war es jedes Mal ein unfassbares Wunder, wie aus einem winzigen, hässlichen und farblosen Wurm am Ende etwas so Schönes entstehen konnte.

Doch kaum hatte man es gewagt, mit dem Finger über den seidenweichen und dennoch starken Faden zu streichen, standen schon die Händler vor der Tür. Sie brachten ihre Ware in die Städte im Norden des Landes, wo die Fäden gefärbt und zu Bändern und Stoffen gewoben wurden. Bis weit hinauf in ferne Länder verkauften sie Pieros Fäden, dorthin, wo eine andere Sprache gesprochen wurde, wie er behauptete.

Die Hände der Frauen waren rot und rissig, und wenn sie ihren Kindern Ohrfeigen verteilten, spürten diese darin die Härte des Lebens. Doch wenn die Mutter ihr über die Wange streichelte, schloss Lorenza die Augen und versuchte, die Rauheit der seltenen Berührung so lange wie möglich auf ihrer Haut zu fühlen.

Sie dachte dabei an die schmalen Hände mit den langen Fingern, die mal weich und weiß gewesen sein mussten, und so geschickt, dass ihre Mutter Weißnäherin oder Putzmacherin hätte werden können. Aber dann hatte sie Vater geheiratet.

Lorenza wollte nicht enden wie diese früh gealterte Frau, die nie aus ihrem Viertel herausgekommen war und Abend für Abend den vollen Flickkorb vor sich mit den Nachbarinnen auf der Gasse saß.

In der Raupe sei schon der ganze Seidenspinner, wie man den Falter der Seidenraupe nannte, drin, pflegte Piero zu sagen. Er ließ immer ein paar Kokons übrig, die nicht ins kochende Wasser geworfen wurden, sondern so lange ruhen durften, bis aus ihnen eines Tages mehlweiße, bizarr geformte Flügelwesen schlüpften, deren Fühler wie gebogene Kämme vom Kopf abstanden und deren Rumpf und Beine behaart waren. Vielmehr als den zarten Schmetterlingen glichen sie den unheimlichen nächtlichen Mottenvögeln.

«Und einen Mund haben sie auch nicht!», hatte Lorenza beim ersten Mal ausgerufen und sich geschüttelt.

Sie könnten weder fressen noch fliegen, hatte Piero ihr erklärt, ihre einzige Aufgabe sei es, so schnell wie möglich ihre Eier abzulegen, danach würden sie sterben. Aus den Eiern schlüpften wiederum Raupen, und das große Fressen begann von vorne.

Bei Piero gab es auch grüne, gelbe, schwarze, rot gestreifte und dicht behaarte Raupen. Sie fühlten sich wohl in seinem Garten, in dem so viele Blumen wie nirgends sonst wuchsen. In den meisten Innenhöfen standen Palmen und Kakteen und rankten sich Rosen jedes Jahr ein wenig weiter die steinernen Mauern empor. Meist schon im Frühsommer waren die Grasbüschel und Blumen, die aus den Ritzen der gepflasterten Gassen und der Mauern sprossen, gelb und verdorrt. Doch in Pieros Zaubergarten gab es Töpfe mit Blumen in allen Farben und Formen, jeden Tag schleppte er Wasser vom Brunnen, um sie zu gießen. Die Raupen fraßen die Blätter seiner Blumen, doch er hatte so viele, dass er sie gewähren ließ, bis sie sich verpuppten. Diese Kokons landeten nicht im heißen Wasser.

«Piero, die Puppe stirbt!»

Er schüttelte den Kopf, legte den Finger auf die Lippen und flüsterte, sie werde zum Schmetterling. Die gemusterten Flügel des Falters schimmerten bereits durch, noch würde es eine Weile dauern, bis sich der Sommervogel ganz aus seinem Kokon gezwängt habe. Danach müsse Lorenza noch einmal einen Tag warten, bis seine Flügel getrocknet seien und er wild zu flattern beginne, zum ersten Mal seine zarten Flügel ausbreite und endlich davonfliege. Schillernd bunt und wunderschön würde er in den blauen Himmel hineintanzen.

Das musste sie unbedingt Raffi erzählen. Lorenza verabschiedete sich von dem alten Mann und rannte los.

«Raffi, es ist ein Wunder!», sprudelte es aus ihr heraus, etwas so Schönes habe er noch nicht gesehen.

«Schöner als Seide?», wollte Raffi wissen und hob den Blick nur widerwillig von seinem Buch.

Das war eine schwierige Frage. Eigentlich war es dasselbe. Die Sommervögel schenkten den Menschen ihre Schönheit und die Seide sei das Geschenk der Seidenspinner, die hässlich wie die Mottenvögel seien, hatte Piero gesagt.

«Die Sommervögel sind so schön und leicht, ihre Flügel wie aus Seide», flüsterte sie mit glänzenden Augen und packte ihren Freund am Arm. Wenn sie beide sich in Seide hüllten, wären sie so leicht, dass sie in der Luft tanzen könnten.

Er nickte, von ihrer Begeisterung angesteckt, morgen komme er mit zu Piero, danach könne er Monsignore von diesem Wunder Gottes berichten.

Lorenza spürte einen Stich. Sie mochte es nicht, wenn er mit ihren Geheimnissen zu Pater Matteo, bei dem er seit Kurzem lesen und schreiben lernte, rannte, machte aber keine Einwände, zu begierig war sie, von den Erzählungen Monsignores zu hören.

Pater Matteo war ein weltgewandter, weitgereister Geistlicher, von dem es hieß, er sei kurz vor seiner Ernennung zum Kardinal in Ungnade gefallen und in eine unbedeutende Kirche der unzähligen Gotteshäuser Roms verbannt worden. Wofür er vom Papst bestraft worden war, wusste niemand, doch die Leute im Viertel nannten ihn ehrfurchtsvoll Monsignore.

Dank der Reiseerzählungen des Geistlichen waren die beiden schon zusammen in London gewesen, einer großen Stadt auf einer großen Insel. Monsignores Beteuerungen, es gebe dort nur Nebel und Regen, war ungeheuerlich, ganz glauben konnte Lorenza es nicht. Wenn Raffi ihr von Russland erzählte, wo das Volk raue Sitten pflegte und die Damen und Herren des glanzvollen Zarenhofes sich in Bärenfelle hüllten, um mit offenen Kutschen ohne Räder über das vereiste Meer zu fahren, lief ihr ein wohliger Schauer über den Rücken.

Von Prag konnte sie gar nicht genug bekommen. Immer wieder kehrten sie in die goldene Stadt zurück, wo Lorenza mittlerweile von alleine in die Gasse der Goldmacher des Königs fand.

In Wien, wo er lange Jahre verbracht hatte, hatte Monsignore engen Kontakt zum Hof gepflegt. Dort sei sogar eine Frau Kaiser, behauptete Raffi.

Überall redete man eine andere Sprache, Monsignore sprach sie alle, meinte aber, beherrsche man Französisch, genüge dies, denn alle vornehmen Leute auf der ganzen Welt sprächen wie der König in Frankreich. «Und die Königin?», hatte Lorenza sich gefragt.

«Monsignore will es mir beibringen», berichtete Raffi jetzt stolz. Französisch solle dem Italienischen ähnlich und nicht schwer zu lernen sein, aber er wolle trotzdem auch noch alle anderen Sprachen studieren.

Wozu das denn, wenn Französisch die Sprache der Vornehmen war? Doch Lorenza wollte jetzt nicht mit ihm streiten, sie wollte lieber noch einmal von dem großen Schloss hören.

Er hob seinen tintenbefleckten Zeigefinger in die Höhe und wiederholte gedehnt: «Wer-sai», sein «r» schien von weit hinten aus dem Gaumen zu kommen. Doch Lorenza brachte wie schon die Tage zuvor nur einen harten Laut hervor. Immer wieder ließ er sie das Wort wiederholen, bis sie schließlich die Geduld verlor, entweder höre er jetzt endlich auf, sich als Lehrmeister aufzuspielen, und erzähle ihr mehr vom größten Schloss der Welt oder sie ginge nach Hause.

Er schilderte ihr noch einmal die unfassbare Größe, den Prunk und Glanz des französischen Königspalastes. «Und gestern, Lorenza», sagte er mit glühenden Wangen, «hat mir Monsignore von einem Saal im Schloss erzählt, dessen Wände ganz aus Spiegeln sind. Dort gehen Könige und Prinzessinnen, Fürsten und Gräfinnen in Samt und Seide auf und ab und bewundern in hundertfacher Spiegelung sich und die anderen.»

Stumm versanken sie in das Bild von Prinz Raffaele und Prinzessin Lorenza, die in langen Seidenroben, übersät mit leuchtendem Gold und funkelnden Diamanten, die Bewunderung aller vornehmen Herrschaften auf sich zogen. Sie tastete nach seiner Hand, er nahm sie und erwiderte ihren Druck.

Und wenn sie in Paris seien, sagte er und schaute sie dabei mit glänzenden Augen an, kaufe er ihr die schönsten Kleider, denn dort, habe Monsignore gesagt, gebe es die elegantesten Damen und Herren der Welt.

Als Königskinder würden sie mit ihren seidenen Flügeln von Stadt zu Stadt fliegen, überall nur das Beste nehmend wie die Schmetterlinge, die von Blume zu Blume flatternd vom süßen Nektar kosteten.

Aber jetzt wollten sie erst einmal im Park Orangen stibitzen gehen.

Rom, 1765

Fast zwei Jahre waren inzwischen vergangen. Raffi hatte nur noch seine Bücher im Kopf und keine Zeit mehr für sie. Zufällige Begegnungen in dem kleinen Quartier waren nicht zu vermeiden, und doch schien es ihr, als liefe er ihr mehr über den Weg als andere. Wenn sie ihn von Weitem sah, versuchte sie ihm auszuweichen, ertappte sich jedoch dabei, wie sie ständig nach ihm Ausschau hielt. Sie tat es als schlechte Gewohnheit ab, die sich mit der Zeit legen würde.

Freunde gehen, wenn man älter werde, meinte Piero und schaute sie dabei nachdenklich an. Sie zuckte mit den Schultern, neue würden kommen. Sie glaubte aber nicht daran. Sie hatte sich die Namen der Städte gemerkt, sie würde sie finden, auch ohne ihn.

Ja, ohne ihn, den Verräter, der sich jetzt Raffaele nannte und der nicht mehr mit ihr und den anderen Kindern durch die Gassen jagte, der es so ernst nahm mit dem Lesen und Schreiben und dem Studieren der fremden Sprachen, dessen Besuche bei Piero und die stundenlangen Streifzüge mit ihr durch die Welt ihrer glanzvollen Zukunft abrupt aufgehört hatten, nachdem er ihr erklärt hatte, für solche Kindereien keine Zeit mehr zu haben.

Dahinter steckte Monsignore. Was rannte er auch zu seinem Pater und erzählte ihm von ihren Plänen? Und mit so einem hatte sie die Welt erobern wollen.

Lorenza sog den Duft des Weihrauchs ein. Die Knie taten ihr schon weh, aber sie wollte ihre Bitte noch einmal vortragen:

«Heilige Mutter Gottes, bitte hilf mir, eine Prinzessin zu werden, du bekommst dafür das Kostbarste, das ich habe.»

Sie holte ihren Spiegel hervor, hauchte darauf und wischte ihn mit ihrer Schürze ab, doch das Glas vernebelte sich von Neuem. Sie fuhr noch einmal darüber. Das Glas blieb blind.

Sie seufzte, blinzelte und konzentrierte sich auf den Spiegel, bis sich der Nebel darin verflüchtigt hatte.

Es duftet nach Blumen. Eine blühende Wiese. Kinderlachen. Ein kleines Mädchen erscheint, die Zöpfe stehen ihm vom Kopf ab. In der Hand hält es einen Blumenstrauß. Es rennt los, landet in den offenen Armen einer Frau. Zusammen wirbeln sie lachend herum.

Lorenza zitterte vor Freude. Das Mädchen hatte ausgesehen wie sie, als sie klein war. Und die schöne Frau in dem Seidenkleid und mit den langen Locken hatte eindeutig ihre Züge getragen, so würde sie in ein paar Jahren aussehen. Aus der kleinen Lorenza würde eine Prinzessin werden! Sie blickte zur Marienstatue und stammelte ihren Dank.

Schon wollte sie ihr den Spiegel hinlegen, ließ ihn aber nach kurzem Zögern wieder in der Schürzentasche verschwinden, zog stattdessen einen glatten Stein daraus hervor und legte ihn auf den Altar neben die brennenden Wachslichter.

Zuhause verschwand sie unbemerkt in der Schlafkammer, zerrte das Laken vom Bett und begann sich darin einzuwickeln. Dabei verhedderte sie sich im Stoff, stolperte und fiel hin. Als sie endlich ganz in das große Tuch gehüllt aufrecht im Zimmer stand, fehlte nur noch die Schnur, um sich wie eine Puppe aufzuhängen und auf die Verwandlung zu warten.

Die strenge Stimme ihrer Mutter holte sie aus ihren Träumen. Den restlichen Tag schrubbte Lorenza Böden, holte Wasser, pulte Erbsen und tat, was ihr sonst noch aufgetragen wurde.

Beim nächsten Mal würde sie es geschickter anstellen. Sie würde so lange die Abfälle der Seidenfäden sammeln, bis sie genug beisammenhätte, um sich darin einzuwickeln. Dann würde die Verwandlung gelingen.

Gegen Abend schlüpfte sie aus dem Haus, die anderen Kinder erwarteten sie schon auf der Piazzetta.

Gleich würde er rauskommen und stolpern, raunte sie ihnen zu. Sie standen dicht gedrängt hinter der Mauer und starrten gebannt auf das ockerfarbene Haus auf der anderen Seite des Platzes. Endlich öffnete sich die Tür und die schwarze Gestalt Monsignores erschien auf der Schwelle. Er blinzelte in die untergehende Sonne, zog seinen Hut in die Stirn – und schon lag er auf dem Boden. Verwünschungen ausrufend rappelte er sich auf, verhedderte sich in seinem langen Priestergewand und fiel noch einmal hin. Die Kinder lachten laut. Die Jungen nickten Lorenza anerkennend zu, die Mädchen blickten ehrfürchtig zu ihr empor, dann stoben sie davon. Sie warf noch einen Blick zurück und sah gerade noch, wie Raffaele Monsignores Bücher zusammenlas.

Schon an der nächsten Straßenecke warteten ihre Kameraden auf sie. Das sei wirklich gut gewesen, wie sie das bloß gemacht habe, fragte einer der größeren Jungen begeistert.

Nichts habe sie gemacht, wehrte sie beleidigt ab. Sie habe gewusst, dass Monsignore über seine Beine stolpern werde. Dabei fixierte sie den Jungen so lange mit ihrem Blick, bis er verschämt den Kopf senkte.

Einen Augenblick war es ganz still. Dann fragte Massimo, ein Junge, dessen Gesicht aussah wie das einer Spitzmaus: «Hat jemand meine Jacke gesehen? Mein Vater schlägt mich tot, wenn ich ohne sie heimkomme.»

Die Kinder schüttelten die Köpfe, alle schauten erwartungsvoll zu Lorenza. Sie gebot ihnen, einen Schritt zurückzutreten, schloss die Augen, öffnete sie wieder und richtete den Blick starr in die Weite. Mit geheimnisvoll raunender Stimme, die nicht die ihre zu sein schien, sagte sie: «In der Nische hinter dem Heiligen Franziskus», kniff noch einmal die Augen zusammen, schüttelte sich und fragte mit verschlafener Stimme: «Wo?»

Stumm deuteten die Kinder in die angegebene Richtung. Lorenza rannte los, niemand rannte so schnell wie sie. Außer ihm: Er bekam sie immer zu fassen. Aber er war nicht da.

Sie bogen um die Ecke und trauten ihren Augen nicht. Neben der Statue des Heiligen Franziskus stand Raffi und schwenkte grinsend Massimos Jacke in der Luft; dieser wollte sie ihm entreißen, doch Lorenza kam ihm zuvor: «Gib sofort die Jacke her!»

«Nicht bis du zugibst, dass du sie hier versteckt hast», erwiderte Raffi von oben herab. Er war zwei Jahre älter als sie, in letzter Zeit ein gutes Stück gewachsen und überragte sie jetzt um mehr als einen Kopf.

«Habt ihr gehört, was Monsignores Liebling behauptet?», lachte sie in die Runde.

Mit einem schnellen Griff riss sie Raffi die Jacke aus der Hand und warf sie Massimo zu, der sie an sich presste.

«Und nun verschwindet! Ich habe noch ein Wörtchen mit dem da zu reden.» Sie zeigte auf Raffaele.

Die anderen zögerten.

«Haut endlich ab!», schrie sie und verscheuchte sie mit fuchtelnden Armen.

«Nicht so gut wie sonst», hörte sie ihn dicht hinter sich flüstern. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, gleichzeitig brannte die Haut wie Feuer. Langsam drehte sie sich um, sie maßen sich mit stummen Blicken. Sie standen so nahe beieinander, dass sie den Kopf nach hinten neigen musste, um in sein Gesicht blicken zu können. Keiner blinzelte. Er wollte etwas sagen, senkte aber stattdessen die Augen.

«Lass mich los!», rief sie wütend und versuchte ihre Handgelenke aus der plötzlichen Umklammerung zu befreien.

Sie wisse, er kriege sie am Ende immer, erwiderte er siegessicher. Sie würden jetzt auf der Stelle zu Monsignore gehen und sie entschuldige sich bei ihm, übertönte er ihr Toben.

«Wofür?», fragte sie keuchend.

Dafür, dass sie den Seidenfaden vor seine Tür gespannt habe, antwortete er und drückte ihre Hände so weit nach unten, dass ihre Körper sich beinahe berührten.

Abrupt hörte sie auf, sich befreien zu wollen. Das hatte er also auch herausgefunden. Eine Strähne seines Haars hing herab und kitzelte ihre Nase. Sie blickte forschend in die Augen dicht über ihr, diese zitterten leicht, hielten ihr aber stand.

Spionierte er ihr nach?

Er ging nicht auf ihren aggressiven Ton ein und schlug vor, sie könne gleich auch beichten, wie sie alle an der Nase herumführe und sich als Prophetin aufspiele. Sie schnaubte, aber er ließ sich nicht unterbrechen: Und dass sie sich da und dort nehme, was ihr nicht gehöre, ohne dafür zu bezahlen, schloss er ihr Sündenregister.

Lorenzas Augen wurden zu kleinen Schlitzen. Sie als Diebin zu bezichtigen war allerhand von einem, der Wache gestanden hatte, wenn sie sich in der Apotheke nach Kandiszucker umgesehen hatte, und der auch nie gefragt hatte, woher die süßen Erdbeeren, die sie ihm mitgebracht hatte, stammten.

Ihr Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. Er mache ihr keine Angst, blaffte sie ihn an, er habe keine Beweise. Die Kinder des Quartiers ständen alle hinter ihr. Sie würden jedem, der es wissen wollte, sagen, dass sie keine Lügnerin sei, sondern Dinge sehe, die andere nicht sehen könnten.

«Glaubst wohl, du bist eine Heilige?», ätzte er und ließ sie endlich los, ohne jedoch von ihr abzurücken.

Auch sie blieb stehen und blickte in die Richtung, in die die Kinder gelaufen waren. Die anderen bewunderten sie. Da war sie sich sicher. Sie wusste aber nicht genau, ob sie ihr wirklich glaubten, dass sie weissagen konnte, oder ob sie sich nur gerne ein wenig von ihr an der Nase herumführen ließen. Doch darauf kam es gar nicht an. Hauptsache, Lorenza bereitete ihnen allen ein paar vergnügliche Stunden und es wurde nie langweilig mit ihr.

Er habe doch bis vor Kurzem auch seinen Spaß dabei gehabt, sagte sie und ärgerte sich über den trotzigen Ton in ihren Worten.

«Es ist gefährlich, Lorenza», antwortete er und rückte einen Schritt von ihr ab.

Seine Ernsthaftigkeit irritierte sie. Das hatte ihm Monsignore eingeredet. Oder es stand in diesen Büchern, die er jetzt las und deren staubiger Geruch an ihm hing und sich mit dem Weihrauchduft vermischte, der von den vielen Exerzitien in der Kirche nicht mehr aus den Kleidern zu bekommen war. Sie trat vor ihn hin und schaute ihn herausfordernd an; er hielt ihrem Blick nicht stand, drehte sich um und ließ sie stehen.

«He, was ist los?», rief sie ihm hinterher. «Wir wollten doch zu Monsignore, damit du mich bei ihm verpfeifst, du Streber.» Sie rannte ihm nach. «Sag schon, tust du das alles in seinem Auftrag?» Nur weil der Pater ihm umsonst fremde Sprachen beibringe? Raffi sei der, der glaube, ein Heiliger zu sein. Seit er sich ständig in seine Bücher verkrieche, sei er zu nichts mehr zu gebrauchen. Er sei sich wohl zu fein, um sich noch mit ihr abzugeben, und Monsignore helfe ihm, seine Nase noch höher zu tragen. «Wer braucht schon Bücher?», keuchte sie verächtlich. Konnte der nicht mal stehen bleiben? Er konnte es doch auch, das andere. Warum wollte er plötzlich nichts mehr davon wissen und ließ sie alleine damit und lief stattdessen zu Monsignore. Und so was nenne sich Freund. Sie spuckte auf den Boden.

Er werde sie nicht verpfeifen, erwiderte Raffi kleinlaut. Er war so plötzlich stehen geblieben, dass sie beinahe in ihn gerannt wäre.

Sie lachte. Es ging ihm gar nicht darum, sie zu schonen. Er schwärzte sie nicht bei Monsignore an, weil er wusste, dass sie die Wahrheit sagte. Raffi wusste genau, dass sie Dinge sah, die andere nicht sehen konnten. Er war auch der Einzige, dem sie verraten hatte, dass sie vieles davon lieber für sich behielt, weil es die anderen nur unnötig beunruhigen würde. Immer wieder tauchten Bilder vor ihr auf, die sie selbst nicht verstand, die sie erschreckten und die sie so schnell wie möglich zu vergessen versuchte. Deshalb erfand sie lieber Dinge, die niemandem Angst machten, oder dachte sich lustige Streiche aus. Sie wollte ihre Freunde zum Lachen bringen, sie mit ihren Geschichten verblüffen und sie wollte, dass die anderen Kinder sie bewunderten. Doch als er noch dabei gewesen war, war es schöner gewesen.

«Verstehst du», flüsterte sie, «ich kann nicht beeinflussen, wann die Bilder kommen oder ob sie überhaupt kommen. Manchmal erscheinen die Dinge in einem Spiegel, in einem Wasserstrahl am Brunnen oder ich blicke jemanden an und weiß einfach, wie es um ihn steht, und dann wieder will jemand etwas wissen, und ich sehe gar nichts. Es kommt nicht auf Abruf.» Aber wem erzähle sie das, ihm gehe es doch genauso. Wie sonst hätte er Massimos Jacke finden können? Er sei noch nie ein besonders guter Schauspieler gewesen, aber wenn er jetzt glaube, er sehe so aus, als wisse er nicht, wovon sie rede, mache er sich lächerlich.

Er sei ihr nachgegangen, erklärte er zaghaft.

Sie schüttelte den Kopf. Zufällig wusste sie, dass er zu dem Zeitpunkt, als sie die Jacke hinter der Statue versteckt hatte, in Pieros Garten nach ihr gesucht hatte. Die Jacke hatte er gefunden, weil er es einfach wusste. Und weil es zwischen ihnen beiden eine geheime Verbindung gab, die immer da war, auch wenn sie nicht zusammen waren. Das war von Anfang an so gewesen, und sie hatten beide darin nichts Außergewöhnliches gesehen. Ihr konnte er nichts vormachen. Feigling, dachte sie, er glaubte alles, was Monsignore von sich gab, anstatt an das zu glauben, was Gott ihm selber zeigte.

Lorenza breitete ihre Arme zu Flügeln aus und umschwirrte ihn wie ein nervöses Insekt. Dann blieb sie abrupt stehen. «Glaubst du überhaupt an Gott?»

Sie sah Furcht in seinen Augen aufblitzen, aber sogleich hatte er sich wieder gefangen. «Du bist ja nicht ganz gescheit, Lorenza. Flatterst noch immer wie ein Schmetterling herum und kannst doch deine Gestalt nicht ändern.» Es klang verächtlich, aber sie hörte den unsicheren Ton darin.

«Raffaele Monsanto. Du wirst schon sehen, dass ich es kann.»

«Du bist doch bloß ein Mädchen.»

«Ach, Raffi, friss Schnecken!»

Zu ihrer Verwunderung schluckte er die Beleidigung hinunter und bemühte sich um einen versöhnlichen Ton. Sie solle aufhören mit dem Unfug, das sei Kinderkram. Sollte Monsignore dahinterkommen, würde er ihr sagen, dass es Sünde sei.

Lorenza lachte laut auf. Das werde er ohne Zweifel, weil Raffi ja jetzt gleich zu ihm renne.

Ob sie das wirklich glaube, fragte er auf einmal traurig.

Er habe es soeben selbst gesagt.

Er habe sie doch nur ärgern wollen. Weil sie immer von ihren Seidenkleidern rede.

Die sie schon bald tragen werde, erwiderte sie mit tränenerstickter Stimme.

Niemals würde er sie verraten, beteuerte er.

Wozu dann die ganze Aufregung, dachte sie. Und die Seidenkleider, die kaufe sie sich selber, rief sie, aber da war er schon auf und davon.

Rom, 1768

Trotz des schweren Wäschekorbs, den sie auf dem Kopf balancierte, wirkte ihr Gang geschmeidig. Der bunte Rock war an mehreren Stellen geflickt, doch die Bluse leuchtete weiß in der Sonne und unter dem nachlässig um den Kopf geschlungenen Tuch quollen die dunklen Locken hervor.

Das muntere Geplauder der beiden Frauen vor der Bäckerei senkte sich augenblicklich zu einem Flüstern, als Lorenza freundlich grüßend an ihnen vorbeiging. Sie bog um die Ecke, wo ein breiter Karren ihr den Durchgang versperrte, stellte den Korb ab und wartete, bis die beiden Männer ihre Melonen abgeladen hatten.

Als ob sie nicht genau gewusst hätte, was man über sie redete. Die Mütter hatten ihren Jungen verboten, sie auch nur anzuschauen. Sie schnaubte. Nur weil sie nicht bei jedem fröhlichen Gruß züchtig ihre Augen niederschlug, war sie noch lange nicht das, was die Frauen gerne in ihr gesehen hätten.

Sie wusste, was sie wollte, sie würde nicht den Erstbesten nehmen, nicht wie ihre Freundin Graziella, die schon verlobt war, weil ihre Mutter es nicht erwarten konnte, sie unter die Haube zu kriegen.

Lorenzas Zukünftiger müsste schon einiges zu bieten haben. Sie wollte raus aus dem Quartier. Raus aus der Enge der Häuser und dem Gestank der Hinterhöfe, raus aus den geflickten Kleidern und der Schufterei, raus aus dem Leben, in dem die sonntägliche Messe den Höhepunkt der Woche bedeutete.

Sie liebte alle Feierlichkeiten im Kirchenjahr, staunte über den Prunk der Prozessionen und sonnte sich im Licht des goldenen Altars. Doch wenn sie dann in der Kirchenbank zwischen den schwarz gekleideten Frauen und ihren Freundinnen saß, die wie sie sonntäglich herausgeputzt den Segen des Priesters empfingen, machte sie die Kluft zwischen den Leuten in ihren abgetragenen Kleidern und der Farbigkeit, die sie in der Kirche umgab, wütend.

Einmal hatten Graziella und sie sich zur Messe in die Kirche eines noblen Quartiers geschlichen. Die Pracht des herrschaftlich gekleideten Adels war mit dem kühlen Marmor der Kirchenwände verschmolzen, und der Schmuck der Damen, der auf ihrer olivfarbenen Haut schimmerte, hatte mit dem goldenen Altar um die Wette geglänzt. Lorenza war es erschienen, als wären diese Leute näher bei Gott und als wären sie und Graziella geradezu eine Beleidigung für den Herrn.

Das Rattern des Karrens, der die Gasse wieder freigab, rüttelte sie aus ihren Gedanken. Schwungvoll hievte sie den schweren Korb wieder auf den Kopf und schlug, obwohl sie schon spät dran war, den kurzen Umweg zur Putzmacherin ein.

«Ciao, Lorenza!», riefen die Jungen, die vor den Werkstätten ihr Frühstück verzehrten. Mehr als ihr ein paar schmachtende Blicke zuzuwerfen trauten sie sich in der Nähe ihrer Lehrmeister nicht.

Sie ging unbeeindruckt weiter. Nichts an ihr verriet, wie sehr sie die Aufmerksamkeit genoss. Heute Abend würde sie mit Graziella die Gasse auf und ab flanieren und sich noch einmal bewundern lassen, und dann würden sie alle zusammen zur großen Piazza rennen, wo seit gestern ein Zauberer auftrat, der wahre Wunder vollbringen sollte.

Kaum war sie außer Sichtweite ihrer Verehrer, beschleunigte sie ihren Schritt und stand schon bald vor dem Laden der Putzmacherin. Sie musste sich nicht mehr wie früher auf die Zehenspitzen stellen, um die Auslage zu bewundern. Bänder, Stoffblumen, Federn in allen Farben, Formen und Größen lagen in Griffnähe vor ihr hinter der Fensterscheibe. Ihr Blick blieb sehnsüchtig an einem roten Seidenband hängen.

Plötzlich stand Massimo neben ihr, noch immer in seiner alten verschossenen Jacke, aus der die Arme nun lang hervorlugten. «Krieg ich einen Kuss, wenn ich dir das Band kaufe?»

Sie lachte. Bis dieser picklige Junge ihr hier etwas kaufen könnte, wäre sie grau und zahnlos. Sie gab ihm einen freundschaftlichen Knuff in die Rippen und eilte nach Hause. Massimo war ein lieber Kerl und durfte, seit Raffi nicht mehr mitmachte, die mit Wasser gefüllte Karaffe ins Licht halten, wenn sie ihre Weissagungen machte. Nicht mehr so oft wie früher, nur noch samstags, wenn sie sich nach der Abendmesse alle auf der Piazzetta trafen. Sie versteckten sich auch nicht mehr in den Hinterhöfen, jagten nicht mehr durch die Gassen und spielten den Leuten keine Streiche mehr; ihre Freunde wollten alle nur noch wissen, wer ihre Braut oder ihr Bräutigam sein würde.

Einmal war Raffi doch noch überraschend in ihrer Mitte aufgetaucht. Doch kaum hatte er das Gefäß in der Hand gehabt, hatte er es fallen lassen, als hätte er sich verbrannt, und war davongerannt.

Seitdem fragte sich Lorenza, was er darin gesehen hatte, das ihn so entsetzte. Vielleicht seine hässliche Braut, hatten die anderen gelacht, obwohl alle wussten, dass sich Raffaele als angehender Priester keine Gedanken um die Schönheit seiner Braut zu machen brauchte.

Lorenza hatte beschlossen, nicht mehr weiter darüber nachzudenken, er hatte sich von ihr losgesagt und gestern hatte er sie einfach sitzen lassen.

Er hatte ihr von Piero ausrichten lassen, sie solle auf der Brücke, die zum Castel SantʼAngelo führte, auf ihn warten, er habe ihr etwas Wichtiges mitzuteilen. Sie wäre nicht gegangen, wäre Piero ihr nicht ständig damit in den Ohren gelegen, sich mit ihm zu versöhnen.

Von Raffi war zur vereinbarten Zeit noch nichts zu sehen gewesen und so hatte sie Zeit gehabt, die Engelsstatuen, die auf beiden Seiten entlang des Brückengeländers aufgestellt waren, eingehend zu betrachten.

Es waren schöne Engel, jeder sah anders aus. Ihre Gesichter zeigten weiche, weibliche Züge, doch lag auf ihnen auch männliche Entschlossenheit. Einer hatte es ihr besonders angetan. Etwas an ihm kam ihr seltsam bekannt vor, sie wusste nicht, an wen er sie erinnerte und am Ende schalt sie sich für ihre Dummheit. Engel waren himmlische Wesen, sie glichen keinem Menschen auf Erden. Sie war so in ihre Betrachtungen versunken gewesen, dass sie ganz vergessen hatte, warum sie auf der Brücke stand, bis es sie blitzartig durchfuhr, an wen der Engel sie erinnerte. Wütend blickte sie sich um. Die spätnachmittägliche Sonne zeichnete bereits die Schatten der Statuen auf die Brücke, aber Raffi, wie sie ihn immer noch nannte, war nicht gekommen. Als ob sie ihn in den Tiber hätte stoßen wollen, hatte sie sich mit aller Kraft mit dem Rücken gegen den Sockel der steinernen Statue gestemmt und war dann den ganzen Weg nach Hause gerannt.

Erst heute Morgen war ihre Wut verebbt und sie hatte die Enttäuschung gefühlt, die gleich wieder in Zorn umgeschlagen war. Ob gegen Raffi, der nicht gekommen war, gegen Piero, der sie dazu überredet hatte und nicht einsehen wollte, dass die einst unzertrennlichen Freunde geschiedene Leute waren, oder doch am meisten gegen sich selbst, weil sie sich lächerlich gemacht hatte, wusste sie nicht genau.

Zuhause empfing ihre Mutter sie schon ungeduldig. Lorenza rümpfte die Nase: Bohnen, schon wieder! Dicke, weiße Bohnen. Ihre Mutter verstand zwar, sie mit Kräutern und Öl schmackhaft zu machen, aber Lorenza hatte den Geruch nach Bohnen und Kutteln, der im ganzen Quartier hing, satt. Er gehörte zu alldem, was sie bald hinter sich lassen würde. Manchmal allerdings kamen ihr Zweifel, ob man Gerüche, in die man hineingeboren wurde, die einem in jede Pore drangen und wie eine Glocke umhüllten, je wieder los werden könnte.

Doch es gab duftende Wasser. Teure, nach Rosen, Lilien, Veilchen und Maiglöckchen duftende Flüssigkeiten, abgefüllt in kunstvoll gefertigte kleine Flaschen, mit denen sich die vornehmen Damen großzügig parfümierten.

Ohne auf den unfreundlichen Ton der Mutter einzugehen, fragte Lorenza: «Mamma, wann kaufst du mir endlich das versprochene Seidenband?» Oder wenigstens eine Papierblume für ihren Strohhut, das hätten jetzt alle Mädchen, behauptete sie.

Statt einer Antwort begann die Mutter mit der alten Leier, sie solle langsam daran denken, sich für einen ihrer vielen Verehrer zu entscheiden, die Leute redeten schon.

Lorenza verdrehte die Augen. Graziella mochte sich zufriedengeben mit einem gewöhnlichen Handwerker, doch sie würde keinen ihrer alten Spielkameraden heiraten.

Es müsse doch einen geben, der ihr gefiel, insistierte die Mutter, der das ungewohnte Erröten ihrer Tochter entging. Keiner sei ihr gut genug, seufzte sie weiter, Lorenza glaube wohl, sie verdiene einen Palazzo, eine goldene Kutsche, eigene Pferde und jeden Tag ein neues Kleid aus Atlasseide. Wenn sie nicht aufpasse, nehme das kein gutes Ende, schloss sie müde und warf einen strengen Blick auf das Mädchen, das ihn trotzig erwiderte.

Lorenza stapfte in den Hinterhof, riss die einzelnen Wäschestücke aus dem Korb und fing an, sie achtlos über die Leine zu hängen.

Lange würde sie sich das nicht mehr anhören, dass sie überhaupt noch hier hockte, war allein seine Schuld.

«Raffi!»

Er war wie aus dem Nichts hinter einem Leintuch hervorgetreten und stand nun dicht vor ihr. Sie funkelte ihn zornig an. «Was willst du noch?», stieß sie endlich hervor.

«Lorenza, es tut mir leid. Ich wurde aufgehalten, Monsignore ...»

Seine Ausreden interessierten sie nicht, sie wollte, dass er verschwand.

«Lorenza, bitte, hör mich an. Ich will dich warnen», begann er eindringlich. Sie solle aufhören zu glauben, sie könne es mit ihren Spielereien zu etwas bringen. Er fiel bereits wieder in diesen belehrenden Ton, den sie noch nie hatte ausstehen können.

Sie denke nicht daran, zischte sie zornig, sie kriege ihre Seidenkleider!

Indem sie die Leute belüge, erwiderte er.

Sie nutze nur, was Gott ihr geschenkt habe, berichtigte sie und erschrak. Soeben war etwas mit seinem Gesicht passiert. Es zeigte einen Ausdruck, den sie noch nie darauf gesehen hatte.