Sewastopol im Mai 1855 - Leo N. Tolstoi - E-Book

Sewastopol im Mai 1855 E-Book

Leo N. Tolstoi

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Beschreibung

Das große Drama bei Sewastopol erschütterte gewaltig den jungen Dichter-Offizier, zeigte ihm die nackte, abschreckende Häßlichkeit des Krieges und ließ ihn erkennen, wie winzig klein das Leben des Einzelnen ist gegenüber dem Sterben der Massen. Noch viel mehr als im Kaukasus lernte er hier den einfachen, ungebildeten Soldaten kennen und lieben, dessen Tapferkeit und einfache Größe ihn zur Bewunderung hinrissen. Die Liebe und Verehrung für das einfache Volk befestigte sich immer mehr und mehr in seinem Herzen. — In drei ergreifenden Schilderungen, die ihm viel Ruhm eingetragen, beschreibt er dieses lebendige Drama. Es sind: Sewastopol im Dezember 1854; Sewastopol im Mai; Sewastopol im August 1855. Nach der Übergabe Sewastopols wurde Tolstoi vom Kommandeur Kryschanowsky als Kurier nach Petersburg geschickt. Bald darauf legte er das Schwert für immer aus der Hand, um von nun an eine andere Waffe zu führen — die Feder.

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Sewastopol im Mai 1855

Leo Tolstoi

Inhalt:

Sewastopol im Mai 1855

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

XIV.

XV.

XVI.

XVII.

Sewastopol im Mai 1855, L. Tolstoi

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN: 9783849646189

www.jazzybee– verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

admin@jazzybee– verlag.de

Sewastopol im Mai 1855

I.

Schon sind sechs Monate vergangen seit der Zeit, da die erste Kanonenkugel von den Bastionen Sewastopols pfiff und die Erde in den feindlichen Werken aufriss, und seit der Zeit sind unaufhörlich Tausende von Bomben, Kanonen und Gewehrkugeln von den Bastionen in die Laufgräben und aus den Laufgräben nach den Bastionen geflogen, und unaufhörlich hat der Engel des Todes über ihnen geschwebt.

Tausendfach ist hier menschliche Eigenliebe gekränkt, tausendfach befriedigt und genährt, tausendfach in den Umarmungen des Todes zum Schweigen gebracht worden. Wie viel blumengeschmückte Särge, wie viele Leichentücher aus Leinen! Und noch immer erschallen dieselben Töne von den Bastionen, noch immer sehen, mit unwillkürlichem Schrecken und Zittern, die Franzosen an einem klaren Abend aus ihrem Lager auf die gelbliche, aufgerissene Erde der Bastionen Sewastopols und die schwarzen, auf ihnen umher wogenden Gestalten unserer Matrosen und zählen die Schießscharten, aus welchem gusseiserne Kanonen trotzig hervorragen; noch immer beobachtet ein Unteroffizier vom Telegrafenhügel aus durch ein Fernrohr die bunten Gestalten der Franzosen, ihre Batterien, ihre Zelte, die Truppenmassen, die sich auf der grünen Höhe bewegen, und die in den Laufgräben aufsteigenden Rauchwölkchen, –  und immer noch streben von allen Enden der Welt verschiedene Menschenscharen mit der selben Glut und mit noch verschiedenartigeren Wünschen nach dieser schicksalsreichen Stätte. Und immer noch ist die Frage, die die Diplomaten nicht gelöst haben, nicht gelöst durch Pulver und Blut.

II.

In der belagerten Stadt Sewastopol spielte auf dem Boulevard bei einem Pavillon eine Regimentskapelle und Scharen von Soldaten und Frauen bewegten sich müßig in den Gängen. Die helle Frühlingssonne, die am Morgen über den englischen Verschanzungen aufgegangen war, hatte ihren Weg über die Bastionen, dann über die Stadt, über die Nikolaikaserne zurückgelegt und allen mit gleicher Freude geleuchtet; jetzt senkte sie sich zu dem fernen, blauen Meer hinab, dessen gleichmäßig wogende Wellen im Silberglanz funkelten.

Ein hoch gewachsener, etwas gebückter Infanterieoffizier, der einen nicht ganz weißen, aber sauberen Handschuh über die Hand zog, trat aus dem Pförtchen eines der kleinen Matrosenhäuschen heraus, die auf der linken Seite der Seestraße standen, und ging, nachdenklich seine Füße besehend, über eine Anhöhe zum Boulevard. Der Ausdruck des unschönen Gesichts dieses Offiziers verrät nicht gerade große Geistesanlagen, wohl aber Geradheit, Besonnenheit, Ehrenhaftigkeit und Ordnungsliebe. Er war nicht schön gebaut, ein wenig linkisch, gewissermaßen verschämt in seinen Bewegungen. Er trug eine noch wenig gebrauchte Mütze, einen dünnen Mantel von etwas eigentümlicher, veilchenblauer Farbe, unter dem eine goldene Uhrkette, Hosen mit Strippen und reine, glänzende Kalblederstiefeln sichtbar waren. Man hätte ihn für einen Deutschen halten können, wenn seine Gesichtszüge nicht seine rein russische Abkunft verraten hätten, oder für einen Adjutanten oder Regimentsquartiermeister (aber dann hätte er Sporen tragen müssen), oder für einen Offizier, der für die Zeit des Feldzugs von der Kavallerie, vielleicht auch von der Garde übergetreten war. Es war wirklich ein Offizier, der aus der Kavallerie übergetreten war, und in diesem Augenblick, wo er zum Boulevard hinauf schritt, dachte er an einen Brief, den er eben von einem ehemaligen Kameraden, der jetzt außer Dienst war, einem Gutsbesitzer und seiner Gattin, der blassen, blauäugigen Natascha, seiner Busenfreundin, erhalten hatte. Ihm war eine Stelle des Briefes eingefallen, in dem der Kamerad schreibt:

"Wenn der Invalide bei uns eintrifft, stürzt Pupka (so pflegte der frühere Ulan seine Gattin zu nennen) kopfüber in das Vorzimmer, greift nach der Zeitung und rennt damit nach der Plauderecke, in das Empfangszimmer (indem wir so schön die Winterabende zusammen verlebt haben, weißt du noch, als das Regiment bei uns in der Stadt lag) und liest mit solchem Feuereifer eure Heldentaten, dass du es dir kaum vorstellen kannst. Sie spricht oft von dir. 'Nicht wahr, Michailow' – sagt sie – 'ist doch eine Seele von Mensch. Ich könnte ihn abküssen, wenn ich ihn so sehe. Er kämpft auf den Bastionen und bekommt gewiss das Georgskreuz und die Zeitungen werden über ihn schreiben ...' usw., usw., so dass ich entschieden anfange, auf dich eifersüchtig zu werden." An einer anderen Stelle schreibt er: "Die Zeitungen bekommen wir schrecklich spät und wenn es auch viele mündlichen Nachrichten gibt, so kann man doch nicht allen Glauben schenken. Gestern, zum Beispiel, haben die dir bekannten jungen Damen mit der Musik erzählt, Napoleon sei schon von unseren Kosaken gefangen genommen und nach Petersburg transportiert worden; aber Du kannst dir denken, wie wenig ich das glaube. Ein Fremder aus Petersburg hat uns erzählt (er ist im Ministerium für besondere Aufträge, ein reizender Mensch, und jetzt, wo niemand in der Stadt ist, eine solche Ressource für uns, dass du es dir kaum vorstellen kannst ...), er sagt bestimmt, die unsrigen hätten Eupatoria genommen, so dass die Franzosen von Balaklava abgeschnitten sind, und wir hätten dabei 200 Mann, die Franzosen aber 15.000 Mann verloren. Meine Frau war so entzückt davon, dass sie die ganze Nacht gezecht hat, sie meint, du bist sicher bei diesem Treffen gewesen, sie ahne das, und hättest dich ausgezeichnet."

Trotz der Worte und Ausdrücke, die ich absichtlich durch die Schrift ausgezeichnet habe, und trotz des ganzen Tons dieses Briefes dachte der Stabskapitän Michailow mit unsagbar trauriger Wonne an seine blasse Freundin in der Provinz, und wie er mit ihr die Abende in dem Erker gesessen und über "das Gefühl" gesprochen hatte, er dachte an den guten Kameraden, den Ulan, wie er böse war und brummte, wenn sie in seinem Arbeitszimmer um eine Kopeke spielten, wie seine Gattin über ihn lachte – dachte an die Freundschaft, die diese Menschen für ihn hatten (vielleicht glaubte er auch, es sei etwas mehr von Seiten der blassen Freundin); alle diese Personen mit ihrer Umgebung huschten durch seine Fantasie in einem wunderbar süßen, beseligend-rosigen Licht und, lächelnd bei seinen Erinnerungen, legte er die Hand an die Tasche, in der dieser ihm so liebe Brief steckte.

Von Erinnerungen ging der Stabskapitän Michailow unwillkürlich zu Träumen und Hoffnungen über. "Wie groß wird Nataschas Bewunderung und Freude sein – dachte er, während er durch das schmale Gässchen dahin schritt –, wenn sie auf einmal im Invaliden die Schilderung lesen wird, wie ich zuerst die Kanone erklettert und das Georgskreuz bekommen habe! Kapitän muss ich nach altem Brauch werden. Dann kann ich vielleicht noch in demselben Jahr Major in der Linie werden, denn es sind viele von unseren Leuten gefallen und werden gewiss noch viele in diesem Feldzug fallen. Und dann wird es wieder eine Schlacht geben und ich als berühmter Mann bekomme ein Regiment ... Oberstleutnant ... den Annenorden um den Hals ... Oberst ..." und er war schon General und würdig, Natascha zu besuchen, die Witwe des Kameraden, der, wie er es sich ausmalte, bis dahin gestorben war – als die Töne der Boulevard-Musik deutlicher an sein Ohr schlugen, das drängende Volk ihm in die Augen fiel und er auf dem Boulevard erwachte – als der alte Stabskapitän von der Infanterie.

III.

Er ging zuerst zu dem Pavillon, neben dem die Musikanten standen, denen statt der Pulte andere Soldaten desselben Regiments die Noten hielten und umblätterten und um die, mehr als Zuschauer, denn als Zuhörer, Schreiber, Junker und Wärterinnen mit Kindern einen Kreis gebildet hatten. Rings um den Pavillon standen, saßen und gingen meistenteils Seeleute, Adjutanten und Offiziere in weißen Handschuhen. In der großen Allee des Boulevards spazierten Offiziere aller Art und Frauen aller Art, hin und wieder in Hüten, meist aber in Kopftüchern (es gab auch welche ohne Bücher und ohne Goethe), aber nicht eine von ihnen war alt, ja, merkwürdig, alle waren jung. Unten in den schattigen, duftenden Alleen weißer Akazien gingen und saßen abgesonderte Gruppen.