Kapitel 1
Mein Herz hämmerte wild gegen meine Rippen und eine Extraladung Adrenalin schoss durch mein Blut. Ich rannte, als ob der hinkende Teufel und ein paar Dutzend stinkender Höllenhunde hinter mir her wären, doch es würde nichts nützen. Ich würde zu spät kommen. Dabei riss unsere Chefredakteurin einem üblicherweise den Kopf ab, wenn das irgendwer wagte. Für mich ein guter Grund zu versuchen, immer pünktlich zu sein, was mir allerdings seltsamerweise mehrmals die Woche nicht gelang. Ich lebte daher in der ständigen Angst, demnächst einen Kopf kürzer gemacht zu werden, was bei einer Größe von einsfünfundsechzig kein angenehmes Gefühl war. Ich hatte da nun wirklich keinen Zentimeter zu verschenken.
Panisch starrte ich auf mein Handy: noch zwei Minuten. Ich hastete weiter, meine Tasche fest an mich gepresst. Um eine Minute vor neun stand ich endlich vor der gläsernen Eingangstür unseres Senders, riss das knarrende Ding mit Schwung auf und sprintete in olympiareifem Tempo weiter zum Konferenzraum, der ärgerlicherweise am anderen Ende des mit rutschigen Fliesen ausgelegten Ganges lag. Obwohl ich mich gerne leise wie Häuptling Nackte Sohle hineingeschlichen hätte, hörte man mich schon von Weitem laut mit meinen Absätzen klappern. Um Punkt zwei Minuten nach neun war ich da.
Die alltägliche Morgensitzung hatte natürlich schon begonnen. Chefredakteurin Dora warf mir mit hochgezogenen Augenbrauen einen dermaßen vernichtenden Blick zu, dass sensiblere Gemüter auf der Stelle einen veritablen Heulanfall bekommen hätten. Hastig senkte ich den Kopf und ließ dabei unauffällig einen Haarschleier vor meine Augen fallen, um ihrem alles versteinernden Medusa-Blick zu entgehen. Es genügte völlig, mir ihre Missbilligung vorzustellen, während ich mich an den feixenden Kollegen vorbei zum letzten freien Sessel durchkämpfte, mich ziemlich unelegant darauf fallen ließ und dabei versuchte, nicht wie ein Marathonläufer auf seinen letzten zehn Metern zu keuchen.
Georg, unser Nachrichtenredakteur, hatte einen Stapel an Zetteln vor sich liegen und las eben vor, was die Nachrichtenlage heute so zu bieten hatte. Nichts Dramatisches, was eigentlich für die gesamte Menschheit gut war, aber nicht für Nachrichtenleute, bei denen ein Tag ohne Mord und Totschlag als öd und leer galt. Georg schloss seinen kurzen Vortrag mit der Meldung, dass er ab morgen auf Urlaub gehe und ihm so und so alles egal sei, womit er sich prompt einen giftigen Blick von Dora einhandelte.
„Die eine kommt zu spät, den anderen interessiert seine Arbeit nicht. Tut euch das trübe Wetter nicht gut, oder was ist mit euch los?“, knurrte sie und sortierte kopfschüttelnd die vor
ihr liegenden Pressemitteilungen. „Also gut, wen schicke ich heute wohin?“ Sie sammelte sich kurz und begann dann damit, die Reporterjobs zu verteilen.
Kerstin musste zu Greenpeace, die gaben eine Pressekonferenz, weil in der Karibik Tanker unterwegs waren, die Tonnen von Öl zu verlieren drohten. Marvin bekam den Auftrag, zu einer Firma zu fahren, die eine neue Studie über Katzenhaarallergien in Auftrag gegeben hatte, was er mit einem Murren quittierte, weil er mit diesem Thema den Pulitzer-Preis aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ergattern würde. So ging es weiter, bis alle einen Auftrag hatten und nur noch ich übrig war.
„Und du, Helena, gehst in ein Buchgeschäft und machst eine Reportage über die Neuerscheinungen in diesem Frühjahr.“
Bücher, toll! Der Job war ja supereasy; entspannt lehnte ich mich zurück. Als wahrer Bücherfreak kannte ich mich gut aus und schaute auch regelmäßig, was denn Neues am Markt erschien.
Dora sah mich eindringlich an und hatte dabei wieder ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen hochgezogen, zum Zeichen dass sie keineswegs vergessen hatte, dass ich zu spät gekommen war und ich damit fix einen schwarzen Punkt in ihrer imaginären Minusliste hatte. „Beeile dich aber, ich brauche dich um elf Uhr wieder hier im Sender!“
Mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen, doch der Himmel zeigte sich immer noch in einem bedrohlichen Schwarz; die Regenpause würde nicht sehr lange anhalten. Sofort als ich vor die Tür trat, war mir klar, wie falsch ich für diesen Regentag angezogen war: mein kirschrotes Jäckchen war zu dünn, der schwarz-weiß karierte Rock zu kurz und meine Schuhe zwar topmodisch, aber zu hoch und mächtig unbequem, und um die Sache perfekt abzurunden, hatte ich natürlich auch keinen Schirm dabei. Ich würde also beim nächsten Regenguss bis auf die Unterwäsche nass werden. Eigentlich brauchte ich ja nur unsere Wetterfrösche im Sender zu fragen, wie es denn werden würde, oder auch einfach nur unserem Programm zuzuhören – wir brachten immerhin halbstündlich das Wetter. Aber nein, ich hatte selbstverständlich nicht zugehört. Verärgert über meine eigene Dummheit zog ich den Schlüssel aus den Untiefen meiner Handtasche und lief zum Auto.
Ich wusste sofort, zu welcher Buchhandlung ich fahren wollte. Sie lag nicht weit von unserem Radiosender entfernt in der Wiener Innenstadt und ich ging häufig dorthin, um die neuesten Bücher zu kaufen oder auch einfach nur zu stöbern. Bereits nach wenigen Minuten suchte ich einen Parkplatz, was sich allerdings als nicht so einfach herausstellte, da auch jede noch so winzige Lücke zugeparkt war. Erst nachdem ich gut ein Dutzend Mal um den Block gefahren war und meine Nerven bereits vor lauter Frust vibrierten, konnte ich meinen Mini in
eine Lücke in der Größe einer Cupcakes-Schachtel zwängen, aus der ich ohne Hilfe eines Krans nie wieder herauskommen würde. Als ich ausstieg, klatschten mir bereits die ersten fetten Regentropfen auf die Nase.
So schnell ich konnte, flitzte ich in Richtung Buchhandlung, nur um abrupt davor stehen zu bleiben. Was war das denn? An der Tür hing ein mit schwarzem Filzstift handgeschriebenes Schild mit der etwas schief geratenen Aufschrift „Wegen Renovierung geschlossen. Wir freuen uns ab Mitte Juni auf ihren werten Besuch!“
So ein Mist! Auf meinen werten Besuch mussten sie wohl verzichten, Dora würde wohl kaum einen Monat auf meine Reportage warten. Unentschlossen drehte ich mich um mich selbst. Was nun? Ich brauchte dringend eine andere Buchhandlung, möglichst in der Nähe. Es regnete mittlerweile heftig und ich hatte weder Lust, nass wie ein Goldfisch im Gurkenglas zu werden, noch abermals ewig Parkplatz zu suchen. Zudem wurden meine mühsam geglätteten Haare immer nasser und damit lockiger, was meine Stimmung definitiv nicht verbesserte. Hektisch suchte ich die Häuserreihe vor mir nach einer Lösung ab. Nichts, kein Buchgeschäft.
Missmutig hielt ich mir meine heiß geliebte Furla-Tasche über den Kopf, um ein Lockenhaar-Fiasko vielleicht doch noch irgendwie abzuwenden, und begann in Richtung Parkplatz zu laufen. Auf dem halben Weg zurück, während ich darauf achtete, jeden noch so kleinen Dachvorsprung zu nutzen, der ein bisschen Schutz vor dem strömenden Regen bot, fiel mein Blick in eine Auslage. Jäh bremste ich meinen rasanten Lauf ab. Bücher! Ich warf den Kopf in den Nacken, um das Schild lesen zu können. „Mertenburg und Sohn“ stand dort in goldenen, verschlungenen Lettern zu lesen. Eigenartig, nie zuvor war mir diese Buchhandlung aufgefallen, wo ich doch schon so oft diese Straße entlang gegangen war. Ich stutzte kurz, doch schließlich war es mir egal, Hauptsache ich konnte dem Regen entfliehen und endlich mit meiner Reportage beginnen.
Ich öffnete die schwere, mit Messingbeschlägen umrahmte Glastür und stand in einem nicht sehr großen, hohen Raum. Plötzlich kam es mir vor, als wäre ich in eine andere Welt eingetreten. Alle Außengeräusche waren verschwunden, es war absolut still. Ich sah mich um. Der düstere Raum war voll mit massiven Regalen aus dunklem Holz, die bis zur Decke ragten, alle vollgestellt mit Büchern. Am Ende des Raumes war eine Treppe, die zu einer Galerie führte, und auch auf dieser waren Dutzende Regale gefüllt mit Büchern. Vor mir standen einige mit Büchern beladene Tische. Schließlich entdeckte ich am Ende des Raumes einen Schreibtisch, der mit einer kleinen Lampe beleuchtet war. Über ein dickes Buch gebeugt saß ein Mann und sah mich an.
„Kann ich Ihnen helfen?“
Er hatte eine sehr angenehme Stimme. Seit ich beim Radio arbeitete, achtete ich ganz besonders darauf, wie jemand klang.
„Hallo, ich bin Helena Herz. Ich bin von Radio FM Sunshine und ich würde gerne mit Ihnen über die Neuerscheinungen plaudern. Ich hätte da gerne eine Reportage gemacht.“
„Wir führen keine neuen Bücher.“
Erst da sah ich mich etwas genauer um. Die Bücher sahen alt und gebraucht aus, was nicht einmal den Hauch eines Zweifels daran ließ, dass ich in einem Antiquariat gelandet war. Verzagt warf ich einen Blick nach draußen, wo es immer noch in Strömen goss. Ich war bereits pudelnass und meine schwarzen Pumps gaben bei jedem Schritt eigenartig schmatzende Geräusche von sich. Meine Lust, wieder rauszugehen, um erneut eine Buchhandlung zu suchen, tendierte gegen Null.
„Bitte! Sie kennen sich doch garantiert auch bei Neuerscheinungen aus!“ Ich versuchte es mit meinem charmantesten Lächeln. „Ich möchte nicht wieder in den Regen hinaus, Sie müssen mich retten.“
Er legte bedächtig seinen Stift zur Seite, stand auf und kam auf mich zu.
In diesem Moment blieb mir der Mund offen stehen. Noch nie, niemals in meinem bisherigen Leben, hatte ich einen so gut aussehenden Mann gesehen. Er war mittelgroß, schlank und hatte dunkles, kurzes Haar, das so gewissenhaft frisiert aussah, als würde er geradewegs vom Friseur kommen. Dazu trug er einen Anzug, der nach Armani oder einem anderen Superdesigner aussah, so perfekt passte er. Als er knapp vor mir stand, erinnerte ich mich daran, dass es vielleicht nicht so gut aussah, wenn ich den Mund offen hatte. Ich schloss ihn rasch.
„Also, ich brauche das Interview und ich habe keine Zeit mehr, um irgendwo anders hin zu fahren. Außerdem regnet es und ich habe keinen Schirm. Sie sind meine letzte Hoffnung!“. Das war zwar vielleicht eine Idee zu dick aufgetragen, aber ich wollte dieses Interview, ich brauchte dieses Interview geradezu. „Sie kennen sich doch garantiert auch mit neuen Büchern aus. Sie müssen auch gar nicht zu sehr ins Detail gehen, nur in groben Zügen das Buch vorstellen.“
Aufmerksam sah er mich an. Seine Augen waren tiefdunkel und seine Haut auffällig blass, was einen interessanten Kontrast ergab. Ich musste mich daran erinnern, nicht wieder mit offenem Mund dazustehen.
„Da ist wohl jemand besonders hartnäckig“, sagte er mit dem Anflug eines Lächelns, „aber ich kenne mich mit neuen Büchern wirklich nicht besonders gut aus.“
Jetzt blieb mir nur noch Trick Nummer eins: Ich klimperte mit meinen langen dunklen Wimpern, nur gerade so viel, dass es eine Winzigkeit verzweifelt aussah, was beinahe immer wirkte.
Er blickte mich vielsagend an. „Sie versuchen es wohl mit allen Mitteln.“
Wie ärgerlich, ich war durchschaut! Eine stechende Woge aus alles durchdringender Peinlichkeit durchfuhr mich. Allerdings brauchte ich das Interview tatsächlich.
„Ich verliere sonst meinen Job!“, stieß ich hervor.
Er legte den Kopf schief. „Könnte es sein, dass Sie ein wenig übertreiben?“
„Nein, sicher nicht“, murmelte ich etwas beschämt. Vielleicht hatte ich ja tatsächlich zu dick aufgetragen. Normalerweise war ich eine verflucht emanzipierte Frau, die es nicht nötig hatte, zu solch billigen Tricks zu greifen. Aber ich wollte dieses Interview, und was ich unerklärlicherweise noch viel mehr wollte – und das war mir nach diesen wenigen Sekunden so klar wie nur weniges in meinem Leben – war, ihn unbedingt länger ansehen, und dafür war mir unangenehmerweise jedes Mittel recht.
Mit einem leisen Seufzen sah er auf die Uhr.
„Okay, ich sperre hier um 17 Uhr zu. Wir könnten uns vis-à-vis im Café Max treffen. Vielleicht kann ich Ihnen ja das eine oder andere zu neuen Büchern sagen.“
Irgendwie hatte ich das äußerst unerfreuliche Gefühl, er wollte mich einfach nur draußen haben. Nun hätte ich darauf sagen sollen: Hallo, ich bin vom Radio und nicht von einem Monatsmagazin! Das heißt, ich brauche die Aufnahme sofort, jetzt, sonst geht die Welt unter! Aber in diesem Moment war mir das komplett egal. Ich wusste, unsere Chefredakteurin würde mich für völlig blöde halten, so ein Miniinterview auf den Abend zu verschieben, aber es war mir gleichgültig. Ich musste diesen Mann wiedersehen.
Wie erwartet gab es ziemlichen Ärger im Sender.
„Sag mal, geht es dir noch gut?“ Dora hatte ihre schmale Goldrandbrille auf der Nasenspitze sitzen und sah mich zornig an. Sie war die meiste Zeit eine ausgesprochen freundliche Person, nur wenn es darum ging, dass Aufgaben nicht bestmöglich erledigt wurden, verstand sie überhaupt keinen Spaß, und das war jetzt gerade so ein Fall. Diese Reportage hätte für mich ein Klacks sein sollen, und ich kam daher und stammelte etwas von wegen ich hätte einen sensationellen Interviewpartner gefunden, der halt bedauerlicherweise erst am Abend für das Gespräch Zeit hatte.
Sie schüttelte missmutig ihren roten Pagenkopf. „Okay, mach’ wie du glaubst. Aber wenn die Reportage morgen nicht wirklich ausgezeichnet ist, gibt es Ärger. Eigentlich wollte ich die Geschichte heute schon On-Air laufen lassen.“
Hoch und heilig versprach ich ihr, ich würde morgen die beste Arbeit aller Zeiten abliefern, was sie mit einem düsteren Brummen zur Kenntnis nahm, das alles andere als begeistert klang.
Der Tag zog sich unendlich. Unerträglich langsam tropften die Stunden dahin. Warum war ich eigentlich so nervös? Nur wegen dieses Mannes, nur weil er der mit Abstand coolste Mann war, dem ich je begegnet war? Aufgeregt wie ein Huhn vor ihrem morgendlichen Ei wuselte ich ziellos durch die Redaktion und brachte nichts zustande, außer meinen Kollegen dermaßen auf die Nerven zu gehen, dass ich mich schließlich freiwillig meldete, um vom Kaffeehaus gegenüber eine Ladung Espresso für alle zu holen.
Endlich war es knapp vor Dienstschluss. Eilig lief ich in unsere winzige Sendertoilette, um mein Aussehen einer generalstabsmäßigen Kontrolle zu unterziehen. Ich starrte kritisch in den winzigen, an den Ecken schon blinden Spiegel. Meine Haut war vielleicht ein wenig blass, aber viel Farbe hatte ich nie. Ich zog den dunklen Kajalstrich nach, gab ein paar Tupfer Gloss auf die Lippen und fuhr mir durch das Haar. Meine blauen Augen sahen groß aus, meine Lippen glänzend und meine Haare waren – nun ja – lockig. Jeden Morgen stand ich stundenlang vor dem Badezimmerspiegel, um meine widerspenstigen dunkelbraunen Haare zu glätten. Es war mir völlig schleierhaft, warum ich mir das antat, wo sie sich so sicher wie das Amen im Gebet doch spätestens nach ein paar Stunden wieder zu kringeln begannen. Ich zupfte daran herum und gab es schließlich missmutig auf, da war leider nichts mehr zu retten. Auch meine Bluse hatte nach dem überstandenen Regenguss gelitten und sah so knautschig und knittrig aus, als hätte ich mich wochenlang damit schlaflos im Bett gewälzt. Sehnsüchtig dachte ich an die türkisfarbene Bluse mit zarten Silberfäden, die ich mir letzte Woche gekauft hatte. Wie gerne wäre ich einen Rutsch nach Hause gefahren, um mich dort umzuziehen und mich vielleicht ein klein wenig aufzutakeln, aber daran war überhaupt nicht zu denken, dafür reichte die Zeit nie und nimmer.
Mit nervösem Flattern im Magen machte ich mich auf in Richtung Café Max und fand zu meiner Überraschung sofort einen Parkplatz direkt vor dem Lokal. Um nicht zu früh da zu sein, blieb ich noch einen Augenblick im Auto sitzen. Mit einer mir sonst unbekannten Nervosität trommelte ich mit den Fingern auf das Lenkrad und starrte gebannt auf den Minutenzeiger meiner Uhr. Schließlich atmete ich ein paar Mal ordentlich aus und ein, packte das Aufnahmegerät und meine Handtasche und stieg aus.
Sofort als ich in das alte Café eintrat, wurde ich von diesem so typischen Wiener Kaffeehausgeruch eingehüllt, einer Mischung aus geröstetem Kaffee, Rauch und abgestandener Luft. Ach, wie ich diesen Geruch liebte, ich war geradezu süchtig danach! Ich
inhalierte ein paar kräftige Züge, bevor ich mich umschaute. Es war gesteckt voll, beinahe an allen Kaffeehaustischchen saßen quatschende Menschen und dementsprechend laut war das Stimmengewirr, das ringsum herrschte.
Schließlich entdeckte ich ihn. Er saß an einem Tisch am Ende des Raumes, in einer schmalen Nische versteckt. Sofort setzte ich die coolste Miene auf, die ich im Repertoire hatte – wozu sonst, außer für diesen Moment, hatte ich die ewig im Spiegel trainiert? –, und schlenderte möglichst lässig in seine Richtung.
Er sah sogar noch besser aus, als ich ihn in Erinnerung hatte! Bitte wer hat so einen schönen Mann erschaffen? Unzählige Gedanken schossen mir durch den Kopf: Bitte mach, dass ich ihm gefalle. Bitte mach, dass er nicht dämlich ist oder eigenartig lacht oder irgendeinen ausgefallenen Tick hat. Und vor allem, bitte mach, dass seine Stimme wirklich so gut klingt, wie ich sie in Erinnerung habe.
„Oh, wie pünktlich“, sagte er und seine Stimme erzeugte in der Sekunde Gänsehaut bei mir. Als er mir die Hand gab, stand er auf.
Ich ertappte mich dabei, wie ich ihn schon wieder mit aufgeklapptem Mund anstarrte. Passierte diesem Mann das eigentlich immer, dass ihn alle Frauen mit offenem Mund anglotzten? Konnte doch nicht schön sein! Wer sieht schon gut aus mit offenem Mund?
Gelblich diffuses Licht einer Kaffeehauslampe beleuchtete sein Gesicht. Seine dunklen Haare waren jetzt nicht mehr ganz so ordentlich, sondern ein wenig zerzaust, was ihn umso anziehender machte. Langsam schloss ich den Mund.
Helena, so geht das nicht weiter! Ich hatte hier eine wichtige Aufgabe zu erledigen und musste mich auf die Arbeit konzentrieren. Schließlich war ich nicht zu meinem Vergnügen hier, nicht ausschließlich zumindest.
„Danke, dass Sie sich die Zeit für mein Interview genommen haben“, setzte ich an. „Bevor wir anfangen, darf ich Sie um Ihren Namen fragen?“ Ich setzte mich auf die mit abgewetztem bordeauxrotem Samt gepolsterte Bank ihm gegenüber.
„Marius Mertenburg. Meinem Vater gehört das Antiquariat.“
„Aha, daher Mertenburg und Sohn. Sie sind der Sohn.“
Er nickte. „Darf ich Sie auch nochmals nach Ihrem Namen fragen? Ich habe ihn leider bei Ihrer ersten Vorstellung nicht richtig verstanden“.
„Ich heiße Helena Herz, Sie können aber gerne Helena sagen.“
„Also gut, Helena. Was muss ich denn jetzt tun?“
Mich küssen, mich ausziehen, und danach wälzen wir uns hier ein bisschen auf dem Boden, war das Erste, was mir einfiel. Wieder rief ich mich innerlich zur Ordnung. Was war denn los mit mir? Ich war schließlich hier, um eine Topreportage zu machen, und nicht um
mich sinnlosen Tagträumen hinzugeben, auch wenn sie noch so verlockend waren. Kurz sah ich mich wieder wälzend am Boden. Schluss jetzt! Ich gab mir einen Ruck und sah ihn nun etwas geschäftsmäßiger an.
„Also“, begann ich, „ganz einfach, Sie erzählen mir etwas über die aktuellen Neuerscheinungen, ich nehme es auf, stelle ein paar Zwischenfragen und fertig.“
Ich nahm mein Aufnahmegerät, kontrollierte kurz, ob der Hintergrundlärm nicht zu laut war, drückte die Record-Taste und begann mit dem Interview. Er gab auf all meine Fragen kurze, ordentliche Antworten, die ich gut für meine Reportage verwenden konnte. Mit seiner klaren Sprache und seiner Gänsehautstimme war es perfekt fürs Radio.
Ich hörte ihm gerade mit bemüht professioneller Reportermiene zu, als mir jemand auf die Schulter tippte. „Hallo Helena, Darling! Wie lange habe ich dich denn nicht gesehen?“
Es war ein entfernter Bekannter, der ein klein wenig prominent in Wien war. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, würden ihn nicht wohlmeinende Menschen wahrscheinlich bestenfalls in die Kategorie Schuhgeschäfteröffnungspromi einreihen. Aber mir kam er in diesem Moment wie gerufen: Ich begrüßte ihn überschwänglich, hauchte ihm übertrieben gut gelaunt zwei angedeutete Küsschen auf die Wangen und wir ratschten wie auf Kommando los, auf welch unfassbar angesagten Partys wir in letzter Zeit eingeladen gewesen waren. Vorsichtig schielte ich in Marius’ Richtung. Wenn das nicht die perfekte Gelegenheit war, um bei meinem gut aussehenden Interviewpartner mächtig Eindruck zu schinden, dann wusste ich auch nicht. Vielleicht war ihm ja bisher noch nicht klar, mit welch wichtiger Persönlichkeit er eben ein Interview führte! Doch irgendwie merkte ich selbst, dass ich eine Spur zu laut war und mein Lachen aufgesetzt und unecht klang. Plötzlich war mir die Sache furchtbar peinlich. Was hatte ich mir eigentlich bei meinem peinlichen Tussi-Getue gedacht? Unter dem Vorwand, ich wäre gerade mitten in einem überaus wichtigen Interview – ich deutete vielsagend auf Marius – würgte ich das Gespräch ab.
Als ich mich wieder an den Tisch setzte, lächelte mich Marius amüsiert an. War ich so leicht zu durchschauen? Wie peinlich war das denn?
Ich straffte die Schultern und bemühte mich um Kontenance. „Also, die Aufnahme ist fertig, das läuft dann morgen Vormittag bei uns auf Sendung, falls Sie sich selbst hören wollen“, sagte ich schließlich.
„Oh, nein danke. Das muss nicht sein.“ Ruhig schaute er mich an.
Meine Melange war ausgetrunken, das Interview aufgenommen, unser Termin damit definitiv zu Ende. Blitzschnell durchforstete ich mein Gehirn nach einem halbwegs originellen Einfall, warum wir noch länger hier bleiben konnten, doch mir fiel überhaupt nichts ein. Nichts. Nada. So viel zu meiner unvergleichlichen Schlagfertigkeit, auf die ich mir
noch dazu etwas einbildete! Nur weil ich mir sicher war, meine Haare würden sich danach noch mehr locken, unterließ ich es, mir an Ort und Stelle ausgiebig die Haare zu raufen.
Langsam stand er auf und legte das Geld zum Bezahlen auf den Tisch.
„Hat Spaß gemacht!“, sagte er und sah mich dabei mit einem Blick an, den ich überhaupt nicht zuordnen konnte, der mir bis in die winzigste Zelle schoss – und der mir einfach keine Wahl ließ. In diesem Moment wusste ich, dass ich ihn wiedersehen musste.
Beim Hinausgehen hielt er mir die Tür auf. „Auf Wiedersehen, Helena. Ich hoffe, die Aufnahme ist zu verwenden.“ Er schaute mich an, bedachte mich mit einem kurzen Lächeln, drehte sich um und ging davon.
Ganz gegen jede Regel aus dem Handbuch „Was coole Frauen tunlichst zu unterlassen haben“ blieb ich stehen und starrte ihm nach – der lieben Tradition wegen natürlich mit offenem Mund –, und zwar so lange, bis er hinter der nächsten Ecke verschwunden war.
Kapitel 2
Marius war das erste Wort, das mir einfiel, als ich am nächsten Morgen aufwachte, mich mühsam aus dem Bett quälte und schlaftrunken in die Küche schlurfte. Weil meine Augen noch verklebt waren und ich blind wie eine altersschwache Blindschleiche vor mich hin tapste, blieb ich mit meiner kleinen Zehe an einem Bein des Küchentisches hängen.
„Verflucht!“, schrie ich auf, zog hastig einen meiner beiden weißen Küchensessel unter dem Tisch hervor und ließ mich drauf plumpsen. Verdammt, tat das weh! Am liebsten hätte ich mich auf den Boden geworfen und laut aufgeheult, doch in Ermangelung eines Publikums schien mir diese melodramatische Einlage doch etwas übertrieben, und so blieb ich auf dem Sessel sitzen und wippte mit meinem Oberkörper vor und zurück, um mich von meinem Schmerz etwas abzulenken. Es tat unglaublich weh, und das hatte nun absolut nichts damit zu tun, dass ich vielleicht ein bisschen wehleidig war. Erst nach einiger Zeit war ich in der Lage, mit pochender Zehe zu meiner Kaffeemaschine zu humpeln und auf die Power-Taste zu drücken. Während mir göttlicher Kaffeegeruch in die Nase stieg, drehte ich das kleine Küchenradio auf, um zu lauschen, was meine werten Kollegen denn so verzapften, und blätterte dabei in der gestrigen Zeitung, die noch ungelesen auf dem Tisch lag. Plötzlich hielt ich inne, und zwar genau auf der Seite, die ich üblicherweise zügig überblätterte. Vor mir lag das Horoskop. Seit wann interessierte ich mich denn für diesen Hokuspokus? Gierig begann ich zu lesen, was denn den Löwen in dieser Woche in Sachen Liebe erwartete: Sie erleben ein interessantes Treffen, das ihr Herz völlig aus dem Takt bringen wird. Aber Vorsicht: Lassen Sie sich nicht zu schnell darauf ein, die Person spielt nicht mit offenen Karten!
So ein Blödsinn! Das mit dem Herz mochte ja stimmen – mein Herz zog sich augenblicklich bei dem Gedanken an Marius sehnsuchtsvoll zusammen –, aber warum sollte er nicht mit offenen Karten spielen? Wir spielten ja eigentlich noch gar nicht. Leider, wie ich zugeben musste. Ich klappte die Zeitung wieder zu, goss mir den frischen Kaffee ein und wollte mich gerade setzen, als mir die Tasse aus der Hand flutschte, scheppernd zu Boden fiel und der siedend heiße Inhalt auf meinem schönen Holzfußboden einen unschönen Fleck hinterließ. Was war denn heute nur los mit mir? Zuerst die Zehe und nun der Kaffee. Es konnte doch nicht sein, dass mich ein Mann derart verwirrte! Ärgerlich über mich selbst rannte ich um ein Tuch und wischte dann sorgfältig die heiße Flüssigkeit auf, damit sich mein geliebter Holzboden nicht verzog. Mein Papa hatte mir geholfen, das prächtige alte Parkett abzuschleifen und wieder neu zu versiegeln, und nun war ich ganz verschossen in meine Wohnung, so wie sie jetzt aussah! Nicht sehr groß, aber hell, und mit all den bunten Bildern war sie mindestens so fröhlich wie ein frisch geschlüpftes Gänseblümchen. Meine Eltern
waren zwar zunächst alles andere als begeistert, als ich auszog, und hatten gemeint, ich wäre mit Anfang zwanzig noch zu jung für eine eigene Wohnung, aber wie das bei mir so war: Sobald ich mir etwas einbildete, setzte ich es auch durch.
Ich hatte mir eben vorsichtig frischen Kaffee eingeschenkt, als mein Handy läutete. „Kann man hier nicht einmal in Ruhe seinen Kaffee trinken?“, grummelte ich und hob ab.
„Na, kann man schon mit dir reden oder hast du noch keinen Kaffee getrunken?“, rief jemand ins Telefon, dessen Stimme meine Laune schlagartig in weitaus bessere Dimensionen katapultierte. Am Telefon war meine Busenfreundin Ina, die seit rund einem halben Jahr in München wohnte.
„Mit mir kann man auch ohne Kaffee reden“, sagte ich gespielt ärgerlich. „Was ist los bei dir? Was gibt’s Neues?“
Ina überlegte kurz, bevor sie antwortete. „Eigentlich nicht viel. Nur, dass Christoph und ich momentan permanent lernen müssen und kaum Zeit für etwas anderes haben, aber sonst passt alles!“
Ina und ich waren gemeinsam aufgewachsen, gemeinsam in die Schule gegangen und hatten eigentlich auch vor gehabt, gemeinsam eine Wohnung zu mieten und zu studieren. Dieser Plan wurde allerdings gründlich von Christoph aus München durchkreuzt. Ina hatte ihn im Skiurlaub kennengelernt und die beiden hatten sich augenblicklich unsterblich ineinander verliebt, sodass Ina nach nur wenigen Wochen zu ihm nach München zog. Was hatte ich mit ihr diskutiert, dass sie nicht gleich ihr ganzes Leben ändern solle, dass es noch viel zu früh sei, um gemeinsam zu wohnen, viel zu früh, um sagen zu können, ob das hält. Alles, was ich sagte, war ihr egal. Sie wollte ihn, er wollte sie. Ich blieb draußen. Seit gestern verstand ich sie besser.
„Marius“, flüsterte ich.
„Was?“ Ina kannte sich offenbar nicht aus.
Ich überlegte kurz, ob ich ihr von Marius erzählen sollte. Eigentlich gab es da ja noch gar nicht viel zu sagen, außer dass ich mich unsterblich in ihn verliebt hatte und er unglücklicherweise noch gar nichts davon wusste. Aber ich wollte unbedingt über ihn reden.
„Er heißt Marius, ich bin in ihn verliebt und er weiß es nicht!“, platzte es aus mir heraus, und es war nur Inas Cleverness zu verdanken, dass sie so einigermaßen verstand, wovon ich sprach.
„Soll das heißen, meine immer coole Freundin Helena hat ihre Vernunft über Bord geworfen und sich einfach so mir nichts dir nichts verliebt? Soll ich das tatsächlich glauben?“
„Ja“, wisperte ich leicht verlegen in den Hörer.
Was danach folgte, war ein ungefähr zehnminütiger Lachanfall. Ina lachte und lachte, bis auch ich mich nicht mehr halten konnte und einfach mit ihr lachte. Es war ja auch wirklich zu komisch: Fräulein Helena Herz hatte sich auf den ersten Blick verliebt. Wirklich sehr witzig!
Als wir uns wieder so einigermaßen eingekriegt hatten, erzählte ich ein bisschen von ihm, wie gut er aussah und wie toll seine Stimme klang und wie cool sein Gang war und dass er so gut aussah – hatte ich das vielleicht schon erwähnt? –, bis mir schließlich selbst auffiel, dass ich mich anhörte wie Ina, als sie mir damals von Christoph erzählte und ich nur geätzt hatte.
Schließlich verabschiedeten wir uns überschwänglich, allerdings nicht ohne uns vorher zu versprechen, uns so bald wie möglich wiederzuhören.
„Ich will ja mitbekommen, wie das mit Marius und dir weitergeht“, kicherte Ina und war knapp davor, abermals einen Lachanfall zu bekommen.
Diesmal kam ich nicht zu spät in den Sender, pünktlich zur Redaktionssitzung war ich da. Der Nachrichtenredakteur vom Dienst verlas die News und unsere Chefredakteurin verteilte wieder die Aufgaben, die gleiche Prozedur wie jeden Tag.
Ich musste am Vormittag in der Redaktion bleiben, um meine Bücherreportage fertig zu stellen. Nach der Sitzung holte ich mir schnell eine weitere Portion überlebenswichtigen Kaffee und setzte mich dann an den Computer. Ich steckte das Aufnahmegerät an, um das Interview zu überspielen, und wartete einige Sekunden, denn das ging normalerweise sehr schnell; das Gerät überspielte und der Computer zeigte in geschwungenen Wellen an, dass die Stimme aufgenommen war. Doch diesmal sah ich nur eine gerade Linie. Nichts drauf. Hastig steckte ich alles nochmals ab und begann mit dem Prozedere von vorne. Wieder nichts. Vielleicht hatte ich das Gerät während der Aufnahme nicht aufgedreht? Das konnte nicht sein, ich hatte immer wieder auf die Aussteuerung geachtet. Vielleicht funktioniert der Computer nicht? Ich drehte das Mikro auf und sprach ein paar Sätze. Alles aufgenommen, funktionierte tadellos. Ich merkte, wie bittere Verzweiflung in mir aufstieg. Verzweiflung, weil Dora einen Anfall bekommen würde, und auch deshalb, weil ich unbedingt Marius’ Stimme wiederhören wollte. Wie hatte mir das nur passieren können?
Ich atmete tief durch, raffte meinen ganzen Mut zusammen und ging zur Chefredakteurin.
„Dora? Hast du kurz Zeit für mich?“, fragte ich und spielte dabei mit meinen mühsam geglätteten Haaren.
„Was gibt es?“ Fragend sah sie zu mir.
„Also“, stammelte ich, „ich war doch gestern Abend bei dem Interviewtermin, und es hat auch alles toll geklappt und das Gespräch war super. Doch jetzt ist nichts auf dem Gerät drauf.“ Die letzten Worte waren nur noch geflüstert.
Ich merkte ihr an, dass sie mich am liebsten angeschrien hätte, aber sie beherrschte sich, indem sie ein paar Mal laut schnaufte. „Helena, soll ich dir das Gerät vielleicht nochmals erklären? Du musst vor dem Gespräch immer auf Aufnahme drücken.“
Mein Gott, war das peinlich! Jeder neue Praktikant konnte das nach einem Tag.
„Ich verstehe es ja auch nicht. Es muss am Gerät liegen“, versuchte ich eine vage Ausrede.
Genervt sah sie mich an. „Ich werde es einer Praktikantin geben, vielleicht kann die das ja besser als du“, sagte sie spitz und schüttelte dabei fortwährend ihren roten Pagenkopf, was ein bisschen so aussah, als würde sie damit einen Schwarm Fliegen verscheuchen.
Nun war ich zornig. Ich hatte gleich nach dem Abschluss der Schule hier als Praktikantin begonnen, und da ich mich so geschickt angestellt hatte, wurde mir nach ein paar Monaten eine fixe Anstellung als Reporterin angeboten. Was meinen ursprünglichen Plan, mein Studium zügig durchzuziehen, doch arg ins Wanken brachte, da ich neben meinem Job nur noch selten dazu kam, die eine oder andere Prüfung abzulegen. Jedenfalls war ich hier im Sender immer sehr bemüht, das Beste aus meinen Aufgaben zu machen, und viele meinten, ich hätte großes Talent, Menschen zu interviewen. Wahrscheinlich war ich einfach neugierig genug, um die richtigen Fragen zu stellen. Und jetzt sollte eine Praktikantin meine verunglückte Aufgabe übernehmen? Ich war peinlich berührt und gleichzeitig zornig auf mich selbst.
Den restlichen Arbeitstag über konnte ich mich kaum mehr auf etwas konzentrieren, lustlos erledigte ich meine Aufgaben, bis er endlich zu Ende war.
Als ich zu meinem Auto lief, schüttete es wie aus Eimern. Da ich wunderbarerweise offenbar zu den Frauen gehörte, die nichts aus ihren Fehlern lernten, hatte ich natürlich wieder keinen Regenschirm mit. Entsetzt über das Ausmaß meiner Dummheit hielt ich meine Handtasche über den Kopf, um nicht wieder komplett nass zu werden. Ich wollte nur noch nach Hause, mir eine heiße, fette Schokolade machen und mich unter der Decke verkriechen. Irgendwie war heute alles nicht so gelaufen, wie ich es gerne gehabt hätte. Aus meiner Reportage war nichts geworden und insgeheim hatte ich den ganzen Tag darauf gehofft, dass Marius mich anrufen würde. Es wäre nicht so schwer gewesen, mich zu erreichen, ich hatte ihm immerhin den ganzen Abend lang unser Mikro mit dem unübersehbaren Senderlogo drauf unter die Nase gehalten. Er hätte leicht die Telefonnummer dazu finden können, und meinen Namen wusste er auch. Aber nichts, er hatte nicht angerufen. Warum traf mich das so? Hatte ich mir wirklich in meiner naiven, romantischen Klein-Fräulein-Fantasie vorgestellt, er würde genauso empfinden wie ich? Ich wusste, wie sehr ich es gehofft hatte.
Ich startete meinen Mini, setzte den Blinker und fädelte mich in den dichten Abendverkehr ein. Es regnete unaufhörlich und meine Windschutzscheibe lief permanent an, sodass ich die Straße vor mir nur noch wie mit einem Weichzeichner unterlegt erkennen konnte. Plötzlich begann der Motor zu stottern.
„Oh, nein. Bitte nicht, nicht bei diesem Wetter“, murmelte ich. Konnte dieser Tag denn noch schlimmer werden?
Panisch sah ich mich nach einer Haltemöglichkeit um. Zu meinem großen Glück war genau vor mir auf der rechten Seite eine große Parklücke, dort hinein ließ ich mein Auto rollen, dann starb der Motor mit einem finalen Blubbern endgültig ab.
Wieso? Wieso heute? Wieso mir? Was sollte ich denn nun tun? Ich wischte mit meiner Handfläche über die angelaufenen Fenster und sah nach draußen. Mein Blick blieb an einem Schild mit verschlungenen Lettern hängen.
„Das kann nicht sein, das kann einfach nicht sein“, flüsterte ich.
Ich stand vor dem Antiquariat „Mertenburg und Sohn“. Wieso war ich hier? Mein Heimweg führte hier überhaupt nicht vorbei. Hatte mein Unterbewusstsein mir einen Streich gespielt? Was sollte ich nun tun?
Ich saß eine Weile im Auto, ohne mich entscheiden zu können. War es nicht zu aufdringlich, einfach reinzugehen? Womöglich würde er mich für eine Klette halten und mit mir dann gar nichts mehr zu tun haben wollen. Mitten in meinen Überlegungen wurde mir klar, dass ich nichts lieber tun würde, als Marius wiederzusehen. Also gut, das Schicksal hat es offenbar so gewollt! Was konnte ich dafür? Rein gar nichts, eben.
Ich nahm meine Handtasche – die mittlerweile schon etwas mitgenommen aussah von all den missbräuchlichen Verwendungen als Regenschirm; das Leder kräuselte sich an den Rändern, als wäre es Petersilie –, hielt sie mir in altbewährter Manier über den Kopf und lief so schnell ich konnte zur Eingangstür. Mit einem lauten Knall schleuderte ich sie auf und warf mich buchstäblich in das Geschäft hinein.
Drinnen herrschte wieder absolute Ruhe, von draußen fiel nur dämmriges Licht herein. Die einzige Lichtquelle war die kleine Lampe am Schreibtisch an der hinteren Wand. Und dort saß er wieder. Erstaunt blickte er mich an.
Wieso sah er nur so übermäßig gut aus? Ich sah verstohlen an mir herab. Von meinen Haaren bis zu meinen Sohlen war ich nass, was garantiert einen tollen Anblick bot. Warum schaffte ich es eigentlich nie, einigermaßen gestylt vor ihm zu stehen? Es konnte doch zur Abwechslung vielleicht auch einmal ihm die Luft weg bleiben. Aber wie mir schien, waren wir weit davon entfernt.
„Hallo Helena! Könnte es sein, dass du direkt aus der Dusche kommst?“, fragte er mit unüberhörbar belustigtem Unterton.
„Nun, äh, ja“, begann ich zu stammeln, „es ist nur so, dass ich … und ich weiß, das klingt jetzt etwas unglaubwürdig … nach Hause unterwegs war, und genau vor eurem Antiquariat hat mein Mini seinen Geist aufgegeben. Also wirklich genau vis-à-vis. So ein Zufall, oder? Jedenfalls dachte ich, du bist meine einzige Rettung!“ Ich versuchte ein zaghaftes Lächeln.
„Leider muss ich dir sagen, dass ich nicht unbedingt der geborene Mechaniker bin. Oder was hattest du dir unter Rettung vorgestellt?“
„Also, nein. Ich dachte nicht, dass du dich jetzt unter mein Auto werfen sollst, um es zu reparieren. Sondern eher daran, dass du mir vielleicht einen Regenschirm leihen könntest. Ich würde mir auch gerne ein Taxi rufen und hier im Trockenen warten, wenn es keine Umstände macht.“
Nachdenklich sah er mich an und schüttelte dann ein wenig den Kopf. Irgendwie schien er sich über etwas nicht im Klaren zu sein. Schließlich stand er auf und kam auf mich zu. Ungefähr zeitgleich wurde mein Pulsschlag dramatisch schneller. Wieder Anzug, wieder perfekt, wieder umwerfend.
„Also, Helena, ich wollte gerade schließen. Wenn es dir recht ist, kann ich dich auch nach Hause bringen.“ Fragend sah er mich an.
Seine dunklen Augen hatten eine eigentümliche Wirkung auf meine Knie. Irgendwie wurden die weich, wenn er mich so ansah. Warum konnte ich das nicht? Ich würde bei ihm auch gerne weiche Knie erzeugen können, aber wie es aussah, hatte ich da keine Chance. Wie es schien, hatte er sich komplett unter Kontrolle. Kein Anzeichen, dass auch er irgendwie nervös war.
„Das wäre ganz entzückend, danke!“, hauchte ich. Warum redete ich eigentlich solchen Blödsinn in seiner Gegenwart? Wer verwendete schon so Ausdrücke wie „entzückend“? Offensichtlich tat er meinem Gehirn ganz und gar nicht gut.
Er nickte und blickte in Richtung Tür. „Ich muss nur noch abschließen und alles abdrehen, dann können wir fahren.“
Schnell hatte er alles erledigt, nahm seine Jacke und wir gingen durch eine kleine Seitentür in einen hell erleuchteten Gang.
„Wir nehmen den Lift nach unten, das Auto steht in der Tiefgarage“, sagte er.
Irgendwie stand er viel zu dicht neben mir; ich konnte ihn riechen. Ich tat so, als müsste ich dringend meinen linken Schuh kontrollieren – klebte da nicht ein lästiger Grashalm? – und lehnte mich dabei ein Stück auf seine Seite, um besser an ihm schnuppern zu können. Wie ein
Kaninchen wackelte ich mit meiner Nase und war ganz fasziniert davon, was ich da roch. Was war das bloß, wonach Marius da so betörend duftete?
In der Tiefgarage gingen wir direkt zu seinem Auto.
„Wow“, entfuhr es mir, als ich es sah; vor mir stand ein schwarzer Alfa Romeo, der garantiert mein Jahresgehalt gekostet hatte. Interessanterweise schien ihm meine Reaktion peinlich zu sein.
„Hab ich von meinem Vater bekommen, wollte ich eigentlich gar nicht“, murmelte er.
Na, so ein Auto würde ich mir doch auch gerne schenken lassen! Mir schenkte keiner Autos. Für meinen Mini hatte ich einen kleinen Kredit aufgenommen und mir dafür einen Rüffel meiner Eltern eingehandelt, die von so etwas gar nichts hielten. Für Autos nahm man keine Kredite auf, und mit Anfang 20 kaufte man sich gefälligst auch kein funkelnagelneues Auto, sondern, wenn es ging, ein gutes, praktisches, gebrauchtes. Aber ein bisschen dickköpfig war ich immer schon und daher hatte ich darauf bestanden und mir das Auto einfach gekauft. Seither fuhr ich stolz damit herum, auch wenn meine Eltern nach wie vor die Augen verdrehten, wenn ich damit zu ihnen düste. Jedenfalls hätte ich diesen Alfa mit Handkuss geschenkt genommen.
Wir stiegen ein, Marius ließ den Motor an und wir fuhren aus der Garage.