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Ein verwunschenes altes Anwesen, vier Milliardärsbrüder und ihre dunklen Geheimnisse: Band 2 der Midnight Manor-Reihe Es war einmal eine Zeit, da dachte ich, ich hätte mein Glück gefunden. Bis sie alles ruinierte. Vier lange Jahre war ich auf der Jagd, und endlich fand ich sie. Ich plante die perfekte Rache. Ich entführte Rapsody an dem Tag, an dem sie einen anderen Mann heiraten sollte, und zwang sie, sich meinem Zorn zu stellen, gefangen auf dem Anwesen meiner Familie. Doch obwohl ich sie bestrafen will, gibt es immer noch eine unbestreitbare Anziehungskraft zwischen uns. Aber können wir einander vertrauen, oder wird meine dunkle Vergangenheit uns beide verschlingen? SHATTERED VOWS ist ein düsterer zeitgenössischer Liebesroman und eine Neuinterpretation von Rapunzel.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Aus dem Amerikanischen von Anne Morgenrau
© Piper Rayne Incorporated 2024
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Shattered Vows«, 2024
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2025
Übersetzung aus dem Amerikanischen: Anne Morgenrau
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Covergestaltung: Giessel Design
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt
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Cover & Impressum
Triggerwarnung
Kapitel 1
Rapsody
Kapitel 2
Kol
Zwei Wochen zuvor …
Kapitel 3
Rapsody
Heute
Kapitel 4
Rapsody
Kapitel 5
Kol
Kapitel 6
Rapsody
Kapitel 7
Kol
Kapitel 8
Rapsody
Kapitel 9
Rapsody
Kapitel 10
Kol
Kapitel 11
Rapsody
Kapitel 12
Rapsody
Kapitel 13
Rapsody
Kapitel 14
Rapsody
Kapitel 15
Kol
Kapitel 16
Rapsody
Kapitel 17
Rapsody
Kapitel 18
Rapsody
Kapitel 19
Kol
Kapitel 20
Rapsody
Kapitel 21
Rapsody
Kapitel 22
Kol
Kapitel 23
Rapsody
Kapitel 24
Rapsody
Kapitel 25
Kol
Kapitel 26
Rapsody
Kapitel 27
Kol
Kapitel 28
Rapsody
Kapitel 29
Rapsody
Kapitel 30
Rapsody
Kapitel 31
Kol
Kapitel 32
Rapsody
Kapitel 33
Kol
Drei Stunden früher
Kapitel 34
Rapsody
Kapitel 35
Kol
Kapitel 36
Rapsody
Epilog
Kol
Vier Monate später …
Dank
Triggerwarnung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
In diesem Buch sind Themen enthalten, die triggernd wirken können. Am Ende des Textes findet sich eine Aufzählung, die jedoch den Verlauf der Geschichte spoilern kann.
Wir wünschen ein bestmögliches Leseerlebnis.
So hatte ich mir meine Hochzeit nicht vorgestellt.
Ich dachte, ich würde einen Mann heiraten, den ich liebe. Ich würde in den Spiegel schauen und feuchte Augen bekommen, während ich den Schleier aufsetze, weil es der glücklichste Tag meines Lebens ist. Ich würde nicht meine angespannten Nerven beruhigen müssen, denn ich würde mir meiner Wahl sicher und bereit sein, den Sprung ins Ungewisse zu wagen und an das Happy End zu glauben.
Stattdessen sitze ich allein in einem schäbigen Raum in der Kirche, starre in den Spiegel und kämpfe mit meinem Schleier. Es hat lange genug gedauert, meine langen blonden Haare zu einer Hochsteckfrisur zu bändigen. Ich werde all die harte Arbeit auf keinen Fall zunichte machen.
Alistair mag nicht mein Seelenverwandter sein, aber ich liebe ihn als Mensch und als Freund. Auch wenn ich nicht bis über beide Ohren in ihn verliebt bin, steht er für etwas, das mir wichtiger ist als Liebe – Freiheit.
Als er mich fragte, ob ich ihn heiraten wolle, sagte ich ihm ganz offen, dass ich nicht in ihn verliebt sei, und er versicherte mir, das wäre für ihn in Ordnung. Mit der Zeit würde ich ihn lieben lernen, meinte er, und ich besäße bereits die Eigenschaften, die er sich von einer Ehefrau wünsche. Ich sei respektvoll, unterstützend und hingebungsvoll.
Wenn er die Wahrheit wüsste – dass ich in die Kirche eingetreten bin, damit meine Mutter mich aus dem Haus lässt und ich so etwas wie ein Leben führen kann –, würde er vielleicht anders darüber denken. Und wenn er außerdem wüsste, was mir spät nachts durch den Kopf geht, wenn ich allein im Bett liege, würde er die Sache definitiv anders sehen.
Und genau deshalb könnte ich mich gerade auf dieses gewöhnliche weiße Kleid übergeben. Was, wenn er nach der Hochzeit von mir enttäuscht ist? Wenn der Versuch, seinen Wünschen zu entsprechen, erdrückender ist als das Leben unter der Herrschaft meiner Mutter?
Ich schließe fest die Augen. Was bin ich für eine schreckliche Tochter, wenn ich solche Gedanken habe nach allem, was sie für mich aufgegeben hat. Ich atme tief ein und schlage die Lider wieder auf.
Nein. So darf ich nicht denken. Es ist normal, an seinem Hochzeitstag Angst zu haben. Alle reden davon, dass man doch noch kalte Füße bekommt. So geht es anderen Menschen, kurz bevor sie sich für den Rest ihres Lebens an jemanden binden.
Warum hatte ich dann keine Angst …
Auch daran darf ich nicht denken. Nicht, wenn ich den heutigen Tag überstehen will.
Heute werde ich einen ehrlichen, rechtschaffenen Mann heiraten, der mich niemals verletzen wird. Der mich nie anlügen wird. Das Leben, das er mir ermöglichen wird, ist mehr, als ich mir jemals erhofft hätte, und dafür sollte ich dankbar sein.
»Lass mich das machen.«
Ich zucke zusammen, hebe den Kopf und sehe im Spiegel meine Mutter, die in der Tür steht.
Ich drehe mich zu ihr um. Sofort quält mich wieder das Schuldgefühl, das ich häufig verspüre, seit ich Alistairs Antrag angenommen habe.
Ihre dunkelbraunen Augen mustern mich vorwurfsvoll und mit einer Spur Verachtung.
»Danke«, flüstere ich und reiche ihr den Schleier. Ich kehre ihr den Rücken und beobachte im Spiegel, wie sie ihn an meinen Haaren feststeckt.
»Du kannst es dir immer noch anders überlegen«, sagt sie. Ich lasse die Schultern hängen. Nicht schon wieder.
»Mom …« Ich drehe mich zu ihr um und nehme ihre Hände in meine. Tränen steigen ihr in die Augen, als sie mich verzweifelt ansieht. »Alistair wird gut zu mir sein. Er ist ein guter Mann.«
Ihre Traurigkeit verwandelt sich in Verärgerung, und sie verdreht die Augen. »Du hast ja keine Ahnung, wozu Männer fähig sind. Sieh dir nur an, was …«
»Ich möchte nicht darüber sprechen. Nicht heute«, falle ich ihr rasch ins Wort, was ich nur selten tue.
»Natürlich nicht. Denn dann müsstest du dir eingestehen, dass du nicht allwissend bist und dich schon einmal in Gefahr gebracht hast.«
»Alistair ist anders. Er ist …«
Meine Mutter zieht eine Augenbraue hoch. »… ein gottesfürchtiger Mann? Weißt du denn nicht, dass sich hinter der religiösen Fassade die schlimmsten Raubtiere verstecken? Die Welt ist ein gefährlicher Ort, Rap… Lillian. Auf eine Weise, die du dir nicht vorstellen kannst. Ich wollte nie etwas anderes, als dich vor der grausamen Realität zu beschützen. Und was ist der Lohn für all meine Mühen?«
In meiner Brust zieht sich etwas zusammen, meine Kehle ist wie zugeschnürt. Nein, nein, nein. Nicht jetzt.
Ich atme tief ein und halte ein paar Sekunden lang die Luft an, ehe ich langsam wieder ausatme. Dann wiederhole ich den Vorgang noch einige Male.
»Sieh dich doch an, mein Schatz. Der Stress dieser Hochzeit ist dir deutlich anzumerken. Wie willst du dann mit einer Ehe umgehen? Selbst in den glücklichsten Beziehungen gibt es Schwierigkeiten und Stress.« Sie drückt meine Hände und legt eine kühle Hand an meine Wange.
»Mir geht’s gut, ich komme schon zurecht.«
»Ich würde alles für dich tun, das weißt du doch, oder?«
Ich nicke. Meine Mutter hat im Lauf der Jahre vieles für mich aufgegeben. Bereits mit meiner Geburt hat sie ein emotionales Opfer gebracht, für das ich ihr immer dankbar sein werde.
Ich werde nie vergessen, wie ich als Kind unsere Fotoalben durchblätterte. Ich fragte sie, warum es keine Bilder von ihr während der Schwangerschaft gab. Und sie erklärte mir, dass ich das Ergebnis eines sexuellen Übergriffs war. Der Mann, der sie vergewaltigt hatte, wurde nie gefasst, und als sie herausfand, dass sie schwanger war, wusste sie nicht, was sie tun sollte. Etwas in ihrem Inneren habe ihr gesagt, dass ich etwas Besonderes sei, deshalb habe sie die Schwangerschaft nicht abgebrochen.
Sie beteuert immer wieder, sie habe sich auf den ersten Blick in mich verliebt, ungeachtet der Umstände meiner Entstehung. Aber ein kleiner Teil von mir versteckt sich noch immer in einer dunklen Ecke meines Geistes in einer Kiste, die ich nur ab und zu öffne, wenn ich mich frage, ob ihre Worte tatsächlich der Wahrheit entsprechen. Sobald ich den Deckel anhebe, springen mir Scham, Schuld und Ekel förmlich ins Gesicht, und es gelingt mir kaum, ihn wieder zuzudrücken … und sei es nur, um weitermachen zu können.
Also ja, ich weiß, welche Opfer meine Mutter im Lauf der Jahre für mich gebracht hat, einschließlich des Umzugs quer durchs Land wegen meines Fehltritts vor vier Jahren, der ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt hat. Sie mag etwas überfürsorglich sein, aber wie kann ich ihr das verübeln, nach allem, was ihr passiert ist? Ich komme mir immer undankbar und egoistisch vor, wenn ich schlecht von ihr denke, also verdränge ich diese Gedanken, so gut ich kann.
»Ich weiß, Mom.« Ich lege meine Hand auf ihre, die an meiner Wange ruht.
Sie zieht ihre Hand weg. »Du wirst Alistair heiraten und mich einfach vergessen«, sagt sie. Ihr kommen die Tränen, und sie wendet sich ab.
»Das würde ich niemals tun«, erwidere ich stirnrunzelnd. Wie soll ich ihr nur klarmachen, dass diese Hochzeit nicht bedeutet, dass ich sie im Stich lasse? »Alistair will nicht, dass ich arbeiten gehe, also werde ich die ganze Zeit zu Hause sein, genau wie jetzt. Du kannst vorbeikommen, wann immer du willst, und ich komme dich besuchen.«
Allerdings muss ich erst noch meinen Führerschein machen, sonst bin ich auf das Bussystem in Seattle angewiesen. Da ich es noch nie benutzt habe, macht mich die Vorstellung ein wenig nervös.
Schniefend senkte sie den Kopf. »Das ist nicht dasselbe.«
Schluchzer schütteln ihre kleine Gestalt, und ich wende mich rasch um und lege ihr die Hände auf die Schultern. Es bricht mir fast das Herz. »Mom … was kann ich tun?« Ich wusste, dass dieser Tag aus vielerlei Gründen schwer werden würde, aber zu sehen, wie die Frau zusammenbricht, die mich beschützt und immer für mich gesorgt hat, zerreißt mir fast das Herz.
Sie hebt den Kopf, und ihr tränenüberströmter Blick begegnet meinem. In ihren dunkelbraunen Augen glimmt ein Hoffnungsschimmer. »Vielleicht könntest du mit Alistair darüber sprechen, dass ich bei euch einziehe. Auf diese Art kann ich auf dich aufpassen, wenn er bei der Arbeit ist, und wenn ihr Kinder habt, kann ich euch helfen.«
Bei ihrem Vorschlag verdorrt etwas in mir … wahrscheinlich die Hoffnung, jemals ein eigenes, von ihr getrenntes Leben zu führen. Aber wenn ich sie dann anschaue und mir vorstelle, wie hart sie arbeiten musste, um mich allein großzuziehen, wenn ich mir in Erinnerung rufe, dass sie immer nur das Beste für mich wollte, dann komme ich mir wie ein sehr schlechter Mensch vor und bringe es nicht fertig, sie abzuweisen.
Ich nicke. »Natürlich«, erwidere ich mit heiserer Stimme. »Ich werde heute Abend nach der Hochzeit mit ihm darüber sprechen.«
Ein zufriedener Ausdruck huscht über ihr Gesicht, und die Tränen versiegen. »Wunderbar. Du wirst ihn davon überzeugen, dass es für alle das Beste ist, das weiß ich.« Sie drückt mir einen Kuss auf die Wange. »Ich gehe mich kurz frisch machen. Nachdem du mich so zum Weinen gebracht hast, ist mein Gesicht wahrscheinlich ganz aufgedunsen.«
Sie schiebt sich an mir vorbei zur Tür und schließt sie hinter sich.
Ich seufze und drehe mich zurück zum Spiegel. Meine Nervosität hat sich in Enttäuschung verwandelt.
Nein. Ich werde meinen Hochzeitstag nicht ruinieren.
Ich streiche die Vorderseite meines Kleides glatt, recke das Kinn und schiebe alle Negativität beiseite. Selbst wenn meine Mutter bei uns einzieht, werde ich mehr Freiheiten, mehr vom Leben haben als in der Zeit, in der ich mit ihr allein gelebt habe. Es ist immer noch eine Verbesserung. Außerdem kann ich den Rest meines Lebens mit Alistair verbringen, einem ehrlichen, zuverlässigen und berechenbaren Mann. Alles wird gut. Es wird funktionieren.
Knarrend öffnet sich die Tür ein weiteres Mal. Ich schaue in den Spiegel, erwarte meine Mutter, aber das vorbereitete Lächeln erstirbt mir auf den Lippen. Sie ist es nicht.
Er steht in der Tür.
Der Mann, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht, egal, was ich tue.
Der Mann, der so gefährlich wirkt wie das Löwentattoo auf seinem linken Arm, das sich unter dem teuren Anzug verbirgt.
Der Mann, der mich ansieht, als wäre er bereit, mich umbringen.
Ich öffne die Lippen, aber bevor ich schreien kann, ist er auch schon bei mir. Seine warme, glatte Handfläche legt sich über meinen Mund. Ich winde mich in seinen Armen, aber es ist zwecklos. Er ist zu groß, zu stark.
»Hallo Rapsody«, flüstert er mir ins Ohr. »Oder sollte ich besser sagen: Lillian?«
Vier Jahre lang habe ich seine kehlige Stimme nicht mehr gehört. Meine grünen Augen finden im Spiegel seine karamellfarbenen, und ich erstarre angesichts des Hasses, der in ihnen glüht.
»Endlich habe ich dich gefunden.« Er verzieht die Lippen zu einem diabolischen Lächeln.
Der Tag ist gekommen.
Meine Vergangenheit hat mich eingeholt.
Ausgerechnet heute.
Mit pochendem Herz starre ich auf das Bild auf meinem Handy.
Sie ist es.
Im Lauf der Jahre gab es allzu häufig falschen Alarm, und als mir der neue Privatdetektiv, den Mr. Smith mir empfohlen hatte, per Textnachricht mitteilte, dass er Rapsody gefunden habe, machte ich mir keine großen Hoffnungen. Ich ging davon aus, dass es ein weiterer Fehlschlag wäre.
Aber sie ist es tatsächlich, es lässt sich nicht leugnen. Die langen blonden Haare und smaragdgrünen Augen, die mich in meinen Albträumen heimsuchen. Sie hat noch immer diesen unschuldigen, fast kindlichen Gesichtsausdruck, als wäre alles auf der Welt neu und wundervoll für sie.
Ich fahre mit dem Daumen über das Display, über ihr Gesicht. Drei lange Jahre habe ich nach ihr gesucht. Ein Jahr hatte es gedauert, bis ich nachgab und mich auf die Suche nach ihr machte, um mich zu rächen. Ein Jahr, in dem ich immer weiter in den Tiefen meiner Sündhaftigkeit versank. Die Jagd nach ihr gab mir etwas zu tun, ein Ziel, auf das ich meine aufgestaute Energie richten konnte, um den Teil von mir zu besänftigen, der danach gierte, sie büßen zu lassen.
Nachdem ich mich von meiner Überraschung erholt hatte, warf ich einen Blick über den Esstisch auf meinen Bruder Sid. Wären meine drei Brüder alle hier, würde er neben mir sitzen, aber Nero und seine Verlobte Maude liegen noch im Bett, und mein ältester Bruder Asher und seine Frau Anabelle kommen erst heute Abend von ihrer Hochzeitsreise zurück. Da wir nur zu zwei sind, wäre es seltsam, neben Sid zu sitzen.
Ich beantworte die Textnachricht.
Wo wohnt sie jetzt?
Die Antwort kommt sofort.
In Seattle.
Was weißt du sonst noch?
Sie heißt jetzt Lillian Harris.
Ich runzle die Stirn.
»Hat dich gerade jemand persönlich beleidigt?«, fragt Sid.
Ich hebe den Kopf, und unsere Blicke treffen sich. »Ach, nichts Besonderes.« Ich lege das Handy mit dem Display nach unten auf den Tisch und frühstücke weiter.
Aber Sid ist nicht dumm. »Erzählst du mir, was in der Nachricht stand, oder muss ich mich mit dir um das Handy prügeln?«
»Netter Versuch«, versetze ich, schiebe mir ein Stück Obst in den Mund und mustere ihn aus schmalen Augen.
Wir wissen beide, dass ich über eine Spezialausbildung verfüge und ihn in Sekundenschnelle zu Boden ringen würde. Aber es wäre dumm, Sid zu unterschätzen. Er mag der charmanteste von uns Voss-Brüdern sein, aber er hat mehr zu bieten als die schöne Fassade, die er der Welt zeigt. Möglicherweise ist er der Gefährlichste von uns allen, weil er sein wahres Ich geschickt zu verbergen versteht. Das Wolfstattoo, das unter dem Kragen seines perfekt gebügelten weißen Hemdes hervorschaut, ist der einzige Hinweis darauf, dass hinter der aufgesetzten Fassade des adretten Anwalts mehr steckt, als man auf den ersten Blick erkennen kann.
Er zuckt mit den Schultern. »Ich habe nicht gesagt, dass ich es schaffe. Aber ich wäre ein mieser Bruder, wenn ich es nicht wenigstens versuchen würde.«
»Es ist nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest«, erwidere ich mit ausdrucksloser Miene und nehme einen Schluck Kaffee.
»Ich glaube, du lügst. Diesen Blick habe ich nicht mehr bei dir gesehen, seit …« Als er verstummt, schaue ich ihn an. Seine fast schwarzen Augen sind weit aufgerissen. »Holy Shit, echt jetzt?«
Ich habe keine Lust, mit ihm über Rapsody zu sprechen. Mein Stuhl droht zu kippen, als ich aufstehe, aber ich stabilisiere ihn mit einer Hand; dann stürme ich aus dem Raum.
»Hast du sie gefunden?«, ruft Sid mir hinterher. Unsere Schritte hallen in dem breiten Flur wider, als ich mich vom gemeinschaftlich genutzten Teil des Hauses zu meinem privaten Bereich im Nordflügel bewege.
»Wo ist sie?«
»Lass es einfach«, versetze ich, ohne das Tempo zu verlangsamen oder über die Schulter zu schauen.
»Kol.« Er packt mich am Ellbogen, um mich zum Anhalten zu bringen.
Innerhalb von Sekunden habe ich ihn mit dem Arm an die Wand gedrückt. Wäre er nicht mein Bruder, würde ich ihm das Leben aus dem Leib pressen. »Ich sagte, lass es sein.«
Er mustert mich aus schmalen Augen, versucht mich einzuschätzen. »Sag mir wenigstens, was du vorhast.«
»Ich weiß es nicht«, erwidere ich wahrheitsgemäß. Ich muss die Tatsache noch verdauen, dass ich sie gefunden habe. Ein Teil von mir will einfach losrennen, aber meine militärische Ausbildung hat mich gelehrt, niemals ohne Plan aus einem Gefühl heraus zu handeln.
Sid mustert mich einige Sekunden lang, dann nickt er. Offenbar glaubt er mir. »Brauchst du meine Hilfe?«
Ich lasse den Arm sinken, und er atmet einige Male tief durch. »Nein.«
»Sagst du Bescheid, wenn doch?« Er sieht mir in die Augen, und ich nicke.
Als wir noch Kinder waren, war Sid derjenige meiner drei Brüder, der mir am nächsten stand. Asher war der Älteste und versuchte immer, uns vor dem Zorn unseres Vaters zu schützen … bevor er als Teenager auf ein Internat ging. Ich kann ihm nicht verübeln, dass er verschwunden ist. Ich tat dasselbe, als ich mit achtzehn zum Militär ging, obwohl mein Vater zu diesem Zeitpunkt schon zwei Jahre tot war. Nero war immer der Kleine, was dazu führte, dass Sid und ich uns verbündeten, da wir in der Sandwichposition zwischen dem Ältesten und dem Jüngsten steckten.
»Viel Glück«, sagt Sid und macht sich ohne ein weiteres Wort auf den Weg zurück ins Esszimmer.
Lautlos durchquere ich das schummrige Herrenhaus und packe in meinem Flügel eine Tasche. Dann schreibe ich dem Piloten meines Privatjets, dass ich in einer Stunde abheben möchte. Ich werde meinen Plan in der Luft ausarbeiten.
***
Nach der Landung in Seattle kaufe ich bei einem Händler am Stadtrand einen gängigen Minivan und bezahle ihn bar. Ein Fahrzeug, das niemandem auffällt, weil es nach einem Vorstadt-Fußballvater von vier Kindern aussieht und nicht nach einem rachsüchtigen Milliardär.
Mr Smiths Mann hat mir alle Informationen geschickt, die er über Lillian Harris und ihre Mutter Virginia finden konnte, deren Name auf dem Mietvertrag der schäbigen Zweizimmerwohnung steht, die sie gemietet haben.
Auch ohne Virginia zu sehen, weiß ich, dass es sich um Rapsodys Mutter handelt und nicht um eine Tante, Cousine oder Schwester. Meine schnelle Hintergrundrecherche zu Rapsody nach unserem ersten Treffen vor vier Jahren hat keine weiteren lebenden Verwandten ergeben, und sie hat mir erzählt, dass sie nur mit ihrer Mutter zusammenlebt.
Ich parke vor der Wohnung, und als ich Rapsody sehe, ist es, als versetzte mir jemand einen Schlag in die Magengrube. Widerstrebend gestehe ich mir ein, dass sie so schön ist wie eh und je. Das gewellte blonde Haar reicht ihr bis zur Taille. Es schwingt hin und her, als sie zu einem am Straßenrand geparkten Fahrzeug geht.
Ich habe den Typen sofort bemerkt, als er vorfuhr … gepflegtes hellbraunes Haar, Mitte bis Ende zwanzig. Nachdem er seine Limousine geparkt hatte, nahm er ein Handy von der Konsole. Anfangs interessierte er mich nicht sonderlich, aber als Rapsody jetzt auf ihn zugeht, hat er meine volle Aufmerksamkeit.
Ich gebe das Kennzeichen des Wagens in meine Notizen-App ein. Sie lächelt, als sie ihn sieht, dann öffnet sie die Beifahrertür. Welcher Kerl steigt nicht aus dem Auto, um einer Frau die Tür zu öffnen, verdammt?
Rapsody trägt eine weite schwarze Stoffhose und eine hellviolette geknöpfte Bluse ohne Ärmel. Obwohl ihr Outfit nichts Freizügiges an sich hat, zuckt mein Schwanz, als ich die Wölbung ihrer Brüste unter dem dünnen Stoff bemerke. Ich halte mein Handy fest umklammert, und gleichzeitig mit meinem Schwanz schwillt mein Zorn auf mich selbst an.
Als sie sich über die Mittelkonsole beugt und ihm einen unschuldigen Kuss gibt, packe ich den Türgriff und will nur aus dieser beschissenen Karre aussteigen, ihn aus dem Wagen zerren und mit meiner Stiefelspitze bekannt machen.
Stattdessen lasse ich die beiden wegfahren und folge ihnen mit ausreichend Abstand, um keinen Verdacht zu erregen. Als sie auf den Parkplatz einer Kirche abbiegen, fahre ich weiter und kehre kurze Zeit später zurück. Sie machen Anstalten, die Kirche zu betreten.
Was zum Teufel hat sie in einer Kirche zu suchen?
Ich halte in der hinteren Ecke des Parkplatzes an, weit weg von ihrem Auto, und warte ab, um sicherzugehen, dass sie nicht gleich wieder herauskommen. Als sie verschwunden bleiben, setze ich meine Sonnenbrille und die Baseballcap auf und steige aus dem Minivan.
Ich betrete die Kirche und schließe langsam die Türen hinter mir, damit sie keinen Lärm machen. Ein paar Leute sitzen verstreut auf den Kirchenbänken, aber keiner von ihnen ist Rapsody oder der geheimnisvolle Typ. Ich vermute, dass die beiden sich irgendwo mit einer Person oder auch einer Gruppe treffen wollen. Leise, sodass es niemand bemerkt, verlasse ich das Kirchenschiff, um mich auf die Suche nach ihnen zu machen.
Ich biege zuerst nach links ab, aber dort gibt es nur ein paar verschlossene Türen und Toiletten, also mache ich kehrt und gehe in die andere Richtung. Hinter mir knarrt eine Tür, und ich weiche in einen schmalen Flur aus, der zu einem Abstellraum führt. Ich trete in den Schatten zurück und achte darauf, keinen Mucks zu machen, während das Klackern von Absätzen immer näher kommt.
Rapsody geht den Flur entlang, ohne in meine Richtung zu blicken. Sie rückt den Bund ihrer Hose zurecht und presst die Lippen zusammen, als wäre sie nervös.
Als das Geräusch ihrer Schuhe fast verklungen ist, spähe ich um die Ecke und sehe, wie sie am Ende des Flurs durch eine andere Tür geht. Die Tür fällt hinter ihr nicht ins Schloss, also bewege ich mich fast lautlos in diese Richtung.
Ich höre, dass Rapsody mit zwei Männern spricht. Durch die schwere Holztür verstehe ich kaum etwas, obwohl sie einen Spaltbreit offen steht. Ich schnappe nur einzelne Worte auf: bereit, Zeremonie, aufgeregt.
Als es zu einer Gesprächspause kommt, eile ich zurück in den Flur, in dem ich mich versteckt hatte. Ein paar Minuten später gehen Rapsody und der geheimnisvolle Typ an mir vorbei, gefolgt von einem Mann, der vermutlich der Pastor ist. Zur Sicherheit warte ich noch fünf Minuten, dann gehe ich zurück zu dem Raum, in dem sie sich unterhalten haben.
Die Tür schwingt auf. Ich sehe mich kurz um, dann trete ich ein. Es ist das Büro des Pastors. Die Bücherregale, die die Wände säumen, sind mit alten Folianten bestückt, und vor dem Schreibtisch stehen zwei Stühle.
Ich hatte damit gerechnet, mich in einen Computer hacken zu müssen. Aber das Fehlen eines Rechners sagt mir, dass dieser Typ entweder eine Abneigung gegen moderne Technologien hat oder sich in dieser Kirche jemand anders um derartige Angelegenheiten kümmert. Ich gehe zum Schreibtisch, wobei ich weiterhin auf näherkommende Schritte lausche, und sehe, dass er auf dem Schreibtisch liegt … der Grund, warum Rapsody mit dem mysteriösen Mann hierhergekommen ist. Eine Heiratserlaubnis.
Der Anblick treibt mir den Sauerstoff aus der Lunge, und ich schnappe keuchend nach Luft. Meine Augen werden schmal; ich balle die Fäuste. Wut brodelt in meinem Bauch wie in einem Kessel.
Mein Blick fällt auf einen ledernen Terminkalender. Ich greife danach, sicher, Rapsodys großen Tag darin zu finden. Und tatsächlich, da steht es. Die Frau, die am Tag unserer Hochzeit ohne jede Erklärung verschwunden ist, heiratet einen anderen Mann.
In zwei Wochen. An einem Samstag.
Mach dich bereit, Rapsody. Es ist an der Zeit, für deine Sünden zu bezahlen.
»Endlich habe ich dich gefunden.«
Mir läuft ein Schauer über den Rücken, als ich Kols Stimme höre. Ein Schrei entringt sich meiner Kehle, ähnlich dem eines verwundeten Tieres.
»Und jetzt sage ich dir, wie es weitergeht: Du wirst heute nicht heiraten. Du gehst mit mir.«
Unsere Blicke treffen sich im Spiegel; meine Augen sind geweitet, seine hingegen leuchten vor Freude über mein Entsetzen. Sein finsteres Lachen vibriert an meinem Rücken.
»Hast du wirklich geglaubt, ich finde dich nicht?«
Ja. Nein. Ich habe versucht, nicht darüber nachzudenken. Über nichts, was mit ihm zu tun hat.
Ich weiß nicht, was er von mir hören will oder wie ich ihm überhaupt antworten soll, wenn er mir den Mund zuhält. Meine Worte könnten ihn verärgern, und dann bricht er mir womöglich das Genick. Eine kleine Drehung seiner Hand würde genügen, daran besteht kein Zweifel.
»Wir werden jetzt ohne Aufsehen durch den Hinterausgang verschwinden. Wenn du schreist oder dich mir in irgendeiner Weise widersetzt, werde ich dich ohne zu zögern k. o. schlagen. Verstanden?«
Mein Herz schlägt wie eine Trommel und mein Atem rast. Ich nicke, während mir die Tränen in die Augen schießen.
Diesmal zeigt er keine Reaktion auf meine Verzweiflung. Seine kupferfarben glänzenden Augen sind von grenzenloser Wut und von Groll erfüllt, was mir fast den Magen umdreht. Was wird er mit mir anstellen, wenn wir die Kirche verlassen haben? Von einem Mann wie Kol ist nichts Gutes zu erwarten.
»Wenn ich meine Hand wegnehme, wirst du nicht schreien. Verstanden?«
Ich nicke, so gut es geht, da seine Hand mein halbes Gesicht bedeckt. Ich könnte es riskieren und trotzdem schreien, aber wer weiß, was er dann tut? Ich möchte es lieber nicht herausfinden.
Langsam löst er seine Hand von meinem Mund und macht einen Schritt rückwärts. Ich drehe mich zu ihm um, meine Gliedmaßen zittern.
Ich bin wie in einer Zeitschleife gefangen, als ich nun anstelle seines Spiegelbilds ihn selbst sehe. Er ist nach wie vor fast kahlrasiert, sein Kinn wirkt wie gemeißelt. Der einzige Unterschied zu früher besteht darin, dass er statt einer Militäruniform einen maßgeschneiderten dunkelblauen Anzug trägt, der seine breiten Schultern betont. In der eleganten Kleidung sieht er sogar noch tödlicher aus.
Auch nach vier Jahren reagiert mein Körper noch immer auf ihn, was absolut verrückt ist, da ich einen anderen Mann heiraten soll. Und weil der Mann, der nun vor mir steht, mich verletzen will.
Er lässt den Blick rasch über mich wandern, verzieht die Lippen, packt mich am Handgelenk und zerrt mich zur Tür. »Na los, gehen wir.«
Meine Füße berühren kaum den Boden, als wir uns zur Tür hinaus und den Flur entlang bewegen, der an der Seite des Altarraums verläuft. Dann hält er auf die Seitentür der Kirche zu. Er kennt sich hier gut aus, was für die Qualität seiner Ausbildung spricht.
Als mir klar wird, dass er mich ins Freie führen will, versuche ich vergeblich, meine Fersen in den gefliesten Boden zu stemmen.
Er lässt nicht locker, schaut mich nur verärgert über die Schulter an. »Fordere mich nicht heraus, Rapsody.«
Es ist, als spräche er mit einer anderen. Rapsody hat mich seit Jahren niemand mehr genannt.
Jetzt wehre ich mich nicht mehr. Vielleicht kann ich fliehen, sobald wir die Tür erreichen, oder ich rufe vor der Kirche um Hilfe. Nur mühsam halte ich mit ihm Schritt. Er öffnet die Seitentür und strebt über den Rasen auf einen heruntergekommenen Minivan zu, der rückwärts in einer Parklücke steht.
Eine Bewegung von rechts lenkt meine Aufmerksamkeit auf die andere Straßenseite. Ich öffne den Mund, aber seine Hand landet auf meinem Hals und er drückt zu.
»Fuck«, murmelt er.
Bevor ich ein Wort herauswürgen kann, verschwimmt meine Sicht. Meine Glieder werden schwer, und mein Körper erschlafft.
Ich denke an meine erste Begegnung mit diesem Mann, daran, dass ich damals ein völlig anderes Bild von ihm hatte.
***
Meine Mutter hatte Komplikationen aufgrund einer MRSA-Infektion, und ihr Arzt teilte mir mit, dass sie voraussichtlich mindestens zwei Wochen lang im Krankenhaus würde bleiben müssen.
Am zweiten Tag in der Klinik sah ich ihn zum ersten Mal, in der Cafeteria.
Ich war müde, emotional ausgelaugt und überfordert. Ich saß an einem der Tische und weinte still in ein Taschentuch. Meine Mutter bedeutete mir alles. Bevor sie nicht wieder gesund und ganz die Alte war, bevor ich sie nicht mit nach Hause nehmen konnte, würde ich nachts nicht mehr ruhig schlafen.
Kol betrat die Cafeteria. Ich bemerkte es und setzte mich aufrechter hin. Er trug ein T-Shirt, eine Cargohose und Armeestiefel. Sein dunkles Haar war kurz geschoren, und er beanspruchte Aufmerksamkeit, als ob sie ihm zustünde. Ein gottgegebenes Recht.
Ich war achtzehn und wohlbehütet. Ich wurde zu Hause unterrichtet. Meine Mutter hatte mir nie erlaubt, einen Job anzunehmen oder das Haus ohne sie zu verlassen, und selbst mit ihr kam es nur selten dazu. An den wenigen Tagen, die ich ohne sie verbracht hatte, hatte ich das Alleinsein als überwältigend empfunden. Ich schrak vor jedem zurück, der mir begegnete, und war zutiefst verängstigt.
Kol fiel nicht nur mir auf. Alle schauten in seine Richtung, aber seine einschüchternde Präsenz sorgte dafür, dass die meisten sich sofort wieder umdrehten. Ich allerdings nicht. Ich konnte den Blick nicht von ihm abwenden.
Er bestellte und nahm weiter unten in derselben Reihe wie ich Platz, um zu essen. Er drehte sich in meine Richtung, und mit heißen Wangen senkte ich den Blick auf meinen Teller.
Nachdem er mich fast dabei erwischt hätte, wie ich ihn anstarrte, zwang ich mich, nicht mehr in seine Richtung zu schauen. Es hatte keinen Sinn. Sobald es meiner Mutter besser ging, würde sie mir ohnehin verbieten, mit jemandem auszugehen, erst recht mit jemandem wie ihm. Er war definitiv mindestens zehn Jahre älter als ich. Meine Mutter würde mir niemals erlauben, Zeit mit ihm zu verbringen. Sie erlaubte mir ja nicht einmal, allein zum Laden an der Ecke zu gehen.
Ich war an die übertriebene Fürsorge meiner Mutter gewöhnt. Sie redete ständig über die Gefahren der Welt und dass man niemandem trauen konnte. Nachdem ich im Alter von zehn Jahren die Abendnachrichten gesehen hatte, wusste ich, dass sie recht hatte. Schießereien an Schulen, Obdachlosigkeit, psychische Probleme, politische Korruption, endlose Kriege … die Welt war voller Schrecken.
Früher hatte mich meine Unfreiheit nicht gestört, aber im Jahr zuvor war ich unruhig geworden, als gäbe es da draußen mehr für mich als das Leben zwischen den Wänden unserer Zweizimmerwohnung.
Die letzten zwei Tage, die ich allein verbracht hatte, waren zwar geradezu beängstigend gewesen, aber die schlichte Freiheit, ein Taxi zu rufen und damit allein zum Krankenhaus zu fahren, ja selbst der Besuch in der Cafeteria fühlten sich wie kleine Siege an. Allerdings hatte ich wegen dieser Gedanken ein schlechtes Gewissen, denn der Grund für das bisschen Freiheit war die Krankheit meiner Mutter.
Wenn es meiner Mutter wieder besser ging, könnte ich vielleicht mit ihr über ein wenig mehr Unabhängigkeit für mich sprechen. Das heißt, falls es ihr besser gehen würde …
Tränen stiegen mir in die Augen, als ich erneut daran dachte, dass sie vielleicht nicht wieder gesund werden würde. Der Arzt hatte deutlich gemacht, dass ihre Genesung zu diesem Zeitpunkt keine Selbstverständlichkeit war. Ich verurteilte mich dafür, dass ich an mein eigenes Leben dachte, während das meiner Mutter am seidenen Faden hing. Sie musste wieder gesund werden. Sie musste einfach.
Ich stand auf und griff nach meinem Tablett, um den Müll zu entsorgen. Mit gesenktem Blick näherte ich mich Kols Tisch und ermahnte mich innerlich immer wieder, ihn ja nicht anzusehen. Aber der Drang, einen letzten Blick zu riskieren, war einfach zu stark.
Darum sah ich den Arzt nicht, der mir auf dem Gang entgegenkam. Als ich ihn bemerkte, blieb ich derart abrupt stehen, um ihn vorbeizulassen, dass die leere Wasserflasche von meinem Tablett fiel und über den Boden rollte.
Direkt zu Kols Tisch.
Da mir nichts anderes übrigblieb, schluckte ich und hielt seinem Blick stand. Ich eilte an seinen Tisch und bückte mich, um die Plastikflasche aufzuheben.
»Verzeihung«, murmelte ich mit kaum hörbarer Stimme und spürte, wie mein Gesicht heiß wurde. Vermutlich war ich knallrot geworden.
Ich stellte die Wasserflasche auf mein Tablett, und das verdammte Ding kippte ein zweites Mal um und rollte hinunter. Kurz bevor es auf dem Boden landete, fing Kol es auf.
Ich richtete mich auf und sah ihm in die Augen. Er hielt mir die Flasche hin, und in diesem Moment wusste ich es. Ich wusste, dass sich das Gesicht dieses Mannes für immer in mein Gedächtnis einbrennen würde. Dass dieser Moment immer und immer wieder in meinem Kopf ablaufen würde.
Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass die zufällige Begegnung zu einem kurzen Gespräch führen würde, bei dem er mich einlud, mich zu setzen, und dazu, dass wir uns am nächsten Tag erneut in der Cafeteria treffen würden. Bald erzählte ich meiner Mutter abends regelmäßig, ich würde nach Hause gehen, während ich die Nacht tatsächlich mit Kol verbrachte. Ich streunte mit ihm durch Atlanta und verliebte mich dabei in ihn. Die größte Überraschung von allen war, dass er mich vor dem Aufbruch zu seinem letzten Einsatz bat, ihn zu heiraten.
Es ging alles sehr schnell und fühlte sich an wie ein Wirbelwind, ein magisches Zeichen des Schicksals.
Aber genau wie meine Mutter es mich gelehrt hatte, war die Welt voller grausamer Menschen.
Es war alles eine Lüge.
***
Als ich aufwache, ist ein mechanisches Brummen das Erste, was mein Verstand registriert. Dann bemerke ich, dass der Boden unter mir ruckelt. Befinde ich mich in einem Fahrzeug? Wo bin ich?
Blinzelnd öffne ich die Augen. Ich liege in einem seltsamen Raum auf einem Bett, wie das Muster der Decke, die an meiner Wange klebt, und der kleine Nachttisch zu meiner Linken vermuten lassen.
Etwas zieht an meinen Haaren. Als ich nach hinten greife, spüre ich rauen Stoff. Ich nehme meinen Schleier ab. Und mir wird wieder bewusst, in welchem Albtraum ich stecke. Erschrocken rolle ich mich herum, um mich aufzusetzen.
»Gut, du bist wieder wach.«
Ruckartig drehe ich den Kopf in die Richtung, aus der Kols Stimme kommt. Er sitzt auf einem Stuhl in einer Ecke des Raums.
Ich weiß nicht, wie lange ich bewusstlos war, aber meine Mutter dreht wahrscheinlich gerade durch. Ich kann mir kaum vorstellen, welche Panik sie ergriffen haben muss, als sie den Raum, in dem ich mich aufgehalten hatte, leer vorfand. Und was ist mit Alistair? Er wird denken, dass ich einfach durchgebrannt bin.
»Wo sind wir?«
»Wahrscheinlich zehn Kilometer über Idaho.«
»Was?!«, schreie ich und schaue panisch nach rechts und links. In meiner Brust zieht sich etwas zusammen, ich bekomme kaum noch Luft.
Nein, nein, nein.
Ich zwinge mich, tief und gleichmäßig einzuatmen und die Luft einen Moment lang anzuhalten, ehe ich durch die Nase wieder ausatme. Um mich zu beruhigen, atme ich noch eine Weile auf diese Art weiter.
»Ich bin noch nie geflogen!« Warum erzähle ich ihm das überhaupt? Er hat mich gerade entführt. Es ist ihm definitiv egal, dass ich mich in der Luft unwohl fühle.
Er runzelt die Stirn, als hätte ich gelogen. »Wie seid ihr dann von Atlanta in einen Vorort von Seattle gekommen?«
»Wir sind gefahren. Meine Mutter will nicht fliegen.« Ich möchte weder über diesen Umzug noch über die Gründe sprechen, die uns dazu gezwungen haben.
Ich rutsche an den Bettrand und werfe einen Blick aus dem kleinen Flugzeugfenster. Als ich die Wolken unter uns sehe, rebelliert mein Magen, als wäre ich gerade aus dem Flugzeug gesprungen.
Kol bleibt ruhig, aber ich spüre, dass er mich mustert.
Um meine Nerven zu beruhigen und meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen, schließe ich die Augen. Es ist unglaublich. Es kann nicht wahr sein, dass ich mit Kol in diesem engen Raum bin. Wie oft habe ich davon geträumt, wieder mit ihm zusammen zu sein? Wie oft habe ich mich gefragt, was er gedacht hat, als ich nicht im Rathaus auftauchte, um ihn zu heiraten? Und jetzt ist er hier.
Ich habe keine Ahnung, auf welche Art er mich bestrafen wird.
»Wohin fliegen wir?«, frage ich, ohne mich zu ihm umzudrehen.
»Das wirst du schon sehen.« An seiner Stimme höre ich, dass er grinst. Es macht ihm Spaß, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er will mir Angst machen.
Wenn ich ihm gebe, was er will, wenn ich mich seinen Wünschen unterordne, lässt er mich dann vielleicht gehen? Nein, wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich wird er seine Rache noch mehr genießen.
Vermutlich ist es am besten, meine große Angst vor ihm zu verbergen und so zu tun, als wäre ich völlig unbeeindruckt. Vielleicht wird er meiner überdrüssig, wenn er nicht die gewünschte Reaktion von mir bekommt.
Ich schlage die Augen auf und blicke erneut auf die Wolken, aber diesmal scheue ich nicht davor zurück. Ich drehe mich um und sehe Kol in die Augen. »Super. Sag mir Bescheid, wenn wir da sind. Ich mache jetzt ein Nickerchen.«
Damit gehe ich zum Bett, ziehe die Decke zurück und schlüpfe darunter, mit Brautkleid und allem. Ich drehe ihm demonstrativ den Rücken zu. Allerdings schlafe ich nicht ein. Ich liege mit geschlossenen Augen da und atme gleichmäßig, um so zu tun, als ob. Nach einer Weile höre ich, wie er sich von seinem Stuhl erhebt und den Raum verlässt. Erst jetzt kann ich wieder tief durchatmen.
Ich drehe mich auf den Rücken und starre an die Decke des Flugzeugs. Wie soll ich diesem Mann jemals entkommen?
Wir landen irgendwo im Süden. Diese Hitze Anfang Juni und die ersten Anzeichen hoher Luftfeuchtigkeit kenne ich aus meiner Zeit in Georgia. Die Verkehrsschilder sind auf Englisch, als Kol mit seinem Sportwagen die Straße entlang rast, wir befinden uns also nicht in Mexiko. Die allgegenwärtige sommerliche Schwüle habe ich absolut nicht vermisst, nachdem wir in den pazifischen Nordwesten gezogen waren.
Ich frage ihn nicht, wo wir sind oder wohin wir fahren. Erstens würde er es mir sowieso nicht sagen. Und zweitens würde er glauben, dass es mich interessiert, während ich den Eindruck zu erwecken versuche, dass es mich nicht interessiert. Obwohl mir die Fragen auf der Zunge brennen und es kaum erwarten können, endlich ausgesprochen zu werden.