Shayna - Sandra Gernt - E-Book

Shayna E-Book

Sandra Gernt

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Beschreibung

Unheilige Kräfte erwachen in Shayna, nachdem sie einer Fremden das Leben rettete. Kräfte, für die sie von ihrer eigenen Familie aus dem Dorf vertrieben wird. Ihr bleibt nichts weiter als die Flucht ins Ungewisse, in einer rauen Welt, in der ein Menschenleben nichts wert ist. Sie versucht alles, um diese Fremde wiederzufinden, die seit der schicksalshaften Nacht ihre Träume beherrscht – doch genauso muss sie sich selbst finden, und das möglichst rasch, denn ihre Kräfte entwickeln sich zu einem dunklen Schatten, der das gesamte Land vernichten könnte.

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Sandra Gernt

Shayna

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Über dieses Buch:

 

  

Über dieses Buch:

 

Unheilige Kräfte erwachen in Shayna, nachdem sie einer Fremden das Leben rettete. Kräfte, für die sie von ihrer eigenen Familie aus dem Dorf vertrieben wird. Ihr bleibt nichts weiter als die Flucht ins Ungewisse, in einer rauen Welt, in der ein Menschenleben nichts wert ist. Sie versucht alles, um diese Fremde wiederzufinden, die seit der schicksalshaften Nacht ihre Träume beherrscht – doch genauso muss sie sich selbst finden, und das möglichst rasch, denn ihre Kräfte entwickeln sich zu einem dunklen Schatten, der das gesamte Land vernichten könnte.

 

Shayna

 

Copyright: © Sandra Gernt

2022 – publiziert von telegonos-publishing

www.telegonos.de (Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website) Covergestaltung: Sandra Gernt

 

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren oder des Verlages ist ausgeschlossen.

 

ISBN der Printversion: 978-3-946762-73-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Kapitel 1

Kapitel 1

 

„Sei vorsichtig, Liebes. Und denk immer daran …“

„… bis zum Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause zu sein. Ja, Nanna. Ich weiß es doch.“ Shayna lachte über den Anflug von Unmut, der das geliebte alte Gesicht ihrer Großmutter überschattete. Man könnte meinen, sie sei noch immer ein kleines Mädchen, das man keine drei Herzschläge unbeaufsichtigt lassen durfte. Dabei zählte sie bereits zwanzig Winter, war stark und gesund, ebenso geschickt beim Speerfischen wie mit der Steinschleuder.

„Nimm diese Warnung ernst“, ermahnte Nanna sie nachdrücklich. „Es sind die Leichtherzigen, die verloren gehen, nicht die Hasenfüße. Denk an die Geschichten!“

Shayna kannte diese Geschichten, jede Einzelne davon. Nachts mussten Fenster und Türen verriegelt und mit getrockneten Otayi-Blüten gesichert werden, um die Schatten fernzuhalten. Schatten, die in menschliche Seelen krochen und von ihnen Besitz ergriffen, wenn man nicht vorsichtig genug war. Wer dennoch nach Einbruch der Dunkelheit hinausmusste, trug geweihte Amulette und mindestens eine Laterne bei sich, was zum Schutz genügte. Gerade im Dorf, das rundum durch starke Bannsprüche und Otayi-Sträucher und zahlreiche weitere Zauber geschützt war. Kio, der Bránpriester, war für den Erhalt der Bannsprüche verantwortlich und seit Menschengedenken war nichts mehr innerhalb der Grenzen geschehen. Was einem drohte, ließ man sich außerhalb des dörflichen Schutzes von der Dunkelheit erwischen, berichteten die zahllosen Geschichten, die abends nach dem Essen im Gemeinschaftshaus erzählt wurden. Mindestens eine kam jeden Winter hinzu, wenn die Tage kurz und die Gefahr damit so viel größer war. Händler und reisende Handwerker erzählten dann Schauergeschichten von verlorenen Freunden und Gefährten, von denen nach Sonnenaufgang nur noch Fußspuren und manchmal blutige Kleiderfetzen gefunden wurden.

Shayna seufzte innerlich. Sie nahm diese Geschichten mehr als ernst. Wer, wenn nicht sie? Ihre eigenen Eltern waren schließlich an die Schatten verloren gegangen, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Trotzdem musste man sie nicht wie einen Säugling behandeln.

Sie griff nach der Rückentrage aus geflochtener Weide und gab ihrer Nanna einen Kuss auf die Wange.

„Ich bin vorsichtig. Das bin ich immer und du weißt es. Ich werde zu Makus Siedlung laufen, ich werde mich beeilen, und wenn ich sehe, dass ich es nicht rechtzeitig zurückschaffe, übernachte ich dort. Versprochen. Also wenn ich nicht vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause bin, dann musst du trotzdem keine Angst und keine Sorge haben, denn dann bin ich bei Verbündeten und schlafe dort sicher unter einem gesegneten Dach.“

„Ich bin deine Nanna. Ich werde immer Angst und Sorge um dich haben. Das ist meine Aufgabe und ich werde nicht damit aufhören, bis die Schattenwölfe meine Seele holen und sie zu Brán tragen.“

Shayna lächelte, gab ihr einen weiteren Kuss und verabschiedete sich endgültig. Der Morgen wurde schließlich nicht jünger und so spät im Herbst blieben bloß wenige Lichtstunden.

Zum Glück war ihre Aufgabe nicht allzu gefährlich. Die benachbarte Siedlung lag zweieinhalb Wegstunden entfernt. Maku war der Dorfvorstand und er hatte vor drei Tagen einen Boten geschickt, um mehrere Lagen gewebte Tücher zu erbitten. Shayna sollte diese überbringen und mit der vereinbarten Bezahlung heimkehren – fünf Stein Getreide, noch ungemahlen. Shaynas Dorf lag am Rand des großen Nordlandwaldes. Der magere Boden taugte nichts, um Felder anzulegen, auf den grasbewachsenen Hügeln der Umgebung konnten sie dafür Schafe züchten und deren Wolle verarbeiten, was wertvolle Tauschware darstellte.

Der Weg führte quer durch den Wald. Das konnte bei starkem Nebel, schwerem Sturm oder bei anhaltendem Schneefall aus verschiedenen Gründen riskant sein. Heute war ein ruhiger, sonniger Tag, die Raubtiere des Waldes fanden noch genügend Nahrung und da es tagelang nicht geregnet hatte, sollte der Weg nicht allzu matschig sein. Shayna freute sich auf eine der letzten Gelegenheiten zum Wandern, bevor der Winter mit Macht Einzug hielt und sie mit heulenden Winden, Schnee und Eis im Dorf einsperren würde. Tausend Mal war sie diesen Weg bereits gelaufen. Was sollte also geschehen?

 

Wie erwartet, verlief die Wanderung ereignislos. Langweilig, um genau zu sein. Der Wald war still geworden. Die wenigen noch vorhandenen Vögel schwiegen, viele waren in den Süden abgewandert. Für Insekten war es bereits zu kalt, die Bäume waren größtenteils kahl, ihr Sommerkleid lag verwelkt und braun und tot am Boden. Seltsam hell war es, jetzt wo keine dichtgewachsenen Blätterkronen das Sonnenlicht fernhalten konnten. Es roch nach nasser Erde, faulenden Pilzen und Frost. Gelegentlich hatte sie Eichhörnchen erblickt, Spuren von Wildschweinen und Wölfen gefunden. Mehr gab es nicht zu sehen, zu riechen oder zu hören.

Den späten Herbstwald, so unmittelbar vor dem Winter, empfand Shayna stets als niederdrückend und sehr, sehr traurig. Alles lag im Sterben, war im Rückzug, im Loslassen begriffen. Im Winter selbst war es anders. Von Schnee zugedeckt, nahm sie das Land als friedlich schlummernd wahr, dem Frühling, der Wärme, der Rückkehr des Lichts entgegenträumend. Sie mochte den Winter. Der späte Herbst hingegen, der lähmte ihr Gemüt, daran konnte auch die Sonne nichts ändern, die tief am Himmel hing, zu schwach war, um die frostige Luft zu wärmen.

Da tat es wohl, die vertrauten Häuser zu erblicken, den Rauch des Herdfeuers zu sehen, der dünn in den Himmel stieg. Die Siedlung lag auf einer Anhöhe, von drei Seiten mit schützenden Wallmauern umgeben, jede etwa zwei Manneslängen hoch. Die Frontseite lag offen, konnte jedoch im Angriffsfall binnen einer halben Stunde verbarrikadiert werden. Es hatte seit Menschengedenken keine Angriffe mehr gegeben. Die Ältesten erzählten, dass ihre Großeltern, als sie kleine Kinder waren, unter feindlichen Attacken leiden mussten. Kaum vorzustellen, dass Menschen einander solche Dinge antaten! Von eingeschlagenen Schädeln war die Rede, abgebrannten Häusern, und Frauen, die gegen ihren Willen …

Shayna schlug hastig ein Sonnenrad, eine Geste, die böse Omen und gefährliche Gedanken bannen sollte. Gäbe es nicht die Überreste von schwarzverkohlten Mauern, sowohl hier als auch bei ihr daheim, würde sie solche Erzählungen als Lügen oder Albträume von sich weisen. So gab es die Mahnmale als Erinnerung daran, dass die Zeiten nicht immer glücklich bleiben mussten – und die Schatten keineswegs die einzige Gefahr war, die Menschen drohte.

Im Moment jedenfalls war alles friedlich und sie wurde willkommen geheißen. Etwa vierzig Leute wohnten in Makus Siedlung, fast genauso viele wie bei ihr. Auch sonst gab es keine nennenswerten Unterschiede: Die kleinen, gedrungenen Steinhäuser mit den Strohdächern umkreisten das große Gemeinschaftshaus. In dem langgetreckten, flachen Bau fand das wahre Leben statt. Dort wurde gearbeitet, gekocht, alle Bewohner aßen gemeinsam, saßen nach Einbruch der Dunkelheit zusammen, trafen sich für Feiern, Hochzeiten, zur Trauer bei Todesfällen. Besucher wurden dort einquartiert, Vorräte gelagert, Recht gesprochen, die Weihetage der Götter begangen. Das Gemeinschaftshaus war das schlagende Herz des Dorfes.

Die Seele hingegen war der große Götterschrein, der vom Bránpriester gepflegt wurde und in einer Senke etwas abseits vom Gemeinschaftshaus lag. Die Steinstatue des Brán, des Göttervaters, war jetzt im Spätherbst nicht mehr mit Blumen bekränzt, und die Feuerstelle davor war leergeräumt. Erst zur Wintersonnenwende würden wieder Feuer brennen, die ganze Nacht, um die Schatten vom Dorf fernzuhalten. Zahlreiche Wunschsteine hingen in der krüppeligen Weide hinter der Statue. Jeder, der einen Wunsch an die Götter äußern wollte, umwickelte einen Kiesel mit einem frischen Grashalm und hängte ihn in die Weide. Sobald der Stein zu Boden fiel, galt der Wunsch entweder als erfüllt oder unerfüllbar. Natürlich prasselten während der Stürme im Frühjahr und Herbst manchmal sämtliche Wunschsteine zu Boden. Das war das stärkste Zeichen, dass Brán ein Gott des Windes war.

Ihm zur Seite saß Yika, die Göttin des Mondes, der Nacht, des Frühlings, die Schutzherrin des Herdfeuers und der Geburten. Die Weide war ihr heiliger Baum, weswegen man die Wünsche auch ihr anvertraute – sie sollte ihrem stürmischen, launischen Gemahl zuflüstern, was die Sterblichen begehrten und er entschied dann, was gewährt und was verweigert wurde. Es gab grundsätzlich genauso viele Yika-Priesterinnen wie Brán-Geweihte, doch nicht in Shaynas unmittelbarer Umgebung. Wenn eine junge Frau sich berufen fühlte, der Göttin zu dienen, musste sie in den Süden wandern, wo größere Siedlungen und sogar Göttertempel errichtet worden waren. Im Frühling und Sommer zogen Yika-Priesterinnen oft in kleinen Gruppen durch das Land, segneten Dörfer und Felder, halfen bei Geburten und der Pflege der Kranken und Alten. Arbeit gab es immer für sie.

„Shayna!“ Aymu kam auf sie zu. Der junge Mann wurde nicht müde, um sie zu werben und auch heute strahlte er vor Freude darüber, sie zu sehen. Er war ein sanfter, gutaussehender Mann. Das lange blonde Haar trug er in den traditionellen schmalen Zöpfen zurückgeflochten, wie die meisten Männer. Sein brustlanger Bart war mit bunten Holzperlen geschmückt und die grün gefärbte Wollkleidung stand ihm hervorragend zu Gesicht, wie auch den grün-braunen Augen. In seiner Gegenwart fühlte Shayna sich stets wie eine gerupfte alte Nebelkrähe – ihr Haar, ihre Augen und ihre Kleidung, alles war schwarz. Nun, Letzteres gehörte sich für eine ungebundene Frau, genau wie der fest geschlungene Haarknoten. Auch Kinder trugen entweder gelbe oder schwarze Wollkleidung, beides war am einfachsten zu färben. Erst nach dem Schluss des Ehebundes durfte sie als Frau grüne Kleidung tragen, was mehr Aufwand bedeutete, da zwei Färbegänge notwendig waren.

Warum genau sie Aymu nicht längst erhört hatte, war für die Bewohner beider Siedlungen ein großes Rätsel. Es war offenkundig, dass er bloß auf ihre Zustimmung wartete. Ihre Nanna drängte Shayna gelegentlich sanft mit Hinweisen, dass ihre Blütezeit genau jetzt war und sie nicht noch viel länger warten durfte, wenn sie gesunde, starke Kinder gebären wollte. Eigentlich sprach ja auch nichts dagegen und alles dafür. Aymu war ein guter, freundlicher Mann von sanftem Gemüt und geschickten Händen. Er schnitzte und töpferte Gebrauchswerkzeug und Geschirr, fertigte und bemalte Götterfiguren und lebte seit dem Tod seiner Eltern allein in einem Haus, das viel Platz für Frau und Kinder bot. Es gab keinen besseren Mann, in beiden Dörfern nicht, und er hatte sein Auge auf sie geworfen. Als er Shayna das erste Mal fragte, hatte sie ihn abgewiesen, weil sie sich mit sechzehn zu jung gefühlt hatte. Diese Worte hatte er akzeptiert und ihr versprochen, dass er warten wollte, bis sie sich alt genug und bereit für ihn fühlen würde. Seither hatte er sie nicht wieder gefragt, es lag ausschließlich an ihr, auf ihn zuzugehen. Kein anderer Mann trat ihr näher, jeder wusste, sie war Aymus Frau, auch wenn sie noch keine Gelübde an die Götter abgelegt und kein Knotenband mit ihrem Gefährten geschlungen hatte.

„Ich hatte sehr gehofft, dass du es sein würdest, die die Tücher bringt“, sagte Aymu und fasste sie behutsam am Arm. „Komm, bringen wir deine Last ins Gemeinschaftshaus.“ Es kribbelte unangenehm, wo er sie berührte und wie üblich wurde Shayna von seltsam widerstreitenden Gefühlen überwältigt. Sie mochte Aymu, mochte ihn wirklich von Herzen gern. Nichts lieber wollte sie, als ihn einen Bruder nennen zu dürfen. Wäre er von derselben Mutter geboren worden, könnte sie sich in seine Arme schmiegen, ihm unschuldige Küsse auf die Wangen drücken, ihm durch das Haar streichen. Ihm zusehen, wie er voller Ernst und Konzentration in seine Arbeit versank. Ihm behilflich sein, Farben für ihn anrühren, seine Kleider waschen und nähen und flicken. Alles das wollte sie gerne tun – aber auf keinen Fall mehr. Sie wollte nicht sein Lager teilen. Beim bloßen Gedanken, er könnte sie mit Begehren anfassen, ein Kind in ihren Bauch pflanzen, überlief es sie kalt und ihr war sofort zum Weinen zumute. Die Götter hatten bei Shaynas Erschaffung einen schrecklichen Fehler gemacht, so viel war gewiss.

Sie hatte einmal versucht, mit dem Priester darüber zu reden, um Rat zu erhalten. Er hatte bloß gelächelt, ihr den Kopf getätschelt und gemeint, die Götter wüssten, warum sie die Menschen auf diese Weise wachsen ließen und warum jeder für sich einzigartig war. Manche Frauen würden eben länger benötigen, bis sie gereift waren und sich einen Gefährten wünschten, sie solle sich keine Sorgen machen.

Shayna machte sich dennoch Sorgen, denn sie wusste, es lag nicht an mangelnder Reife. Sie war falsch. Unnatürlich. Eine Frau, die beim Anblick von Männern kalt blieb. Sie wusste, sie wurde allmählich zu alt. Diesen Winter würde sie noch aussitzen können. Spätestens im Frühjahr musste sie Aymu die Antwort geben, und nachdem sie den armen Mann solange hatte warten lassen, gab es wirklich nur eine einzige Antwort, die angemessen sein konnte. Würde sie sich weigern, würde man sie zwingen. Entweder in Aymus Arme oder die eines anderen Mannes. Eine gesunde, starke Frau musste heiraten! Oder sie folgte der Berufung zur Priesterin. Etwas, das völlig außer Frage stand. Der Priester hatte sie geprüft und befunden, dass sie keinesfalls für den Dienst an den Göttern geeignet war.

Nun war es nicht so, dass sie keine Sehnsüchte kannte. Nachts, wenn sie still unter der Decke lag und nicht sofort einschlafen konnte, da entwickelten ihre Hände ein Eigenleben und begannen zu wandern. Oh, sie wusste sehr genau, was Sehnsucht, Verlangen und Lust bedeuteten. Was war also der göttliche Plan dahinter, dass sie nichts davon mit Aymu verbinden konnte, und noch viel, viel weniger mit irgendeinem anderen Mann? Ihn mochte sie wenigstens!

Es war ja auch alles großartig, was er tat. Er nahm ihr lächelnd die Trage ab, prüfte gemeinsam mit Irla und Vina, zwei älteren Frauen, die Qualität und das Gewicht der Stoffe, die selbstverständlich absolut tadellos waren, und wog vor ihren Augen das Getreide ab, das sie als Gegenleistung nach Hause bringen würde. Währenddessen plauderte er ungezwungen mit ihr, setzte sich gemeinsam mit ihr an einen Tisch, als Vina Essen brachte. Sie lachten und redeten und sangen miteinander, und Shayna entzog sich nicht, als er ihre Hände ergriff und sie mit sanft leuchtenden Augen festhielt. Es fühlte sich durchaus gut an, von ihm gehalten zu werden. Er war der Bruder, den sie nie haben durfte, weil ihre Eltern viel zu früh gestorben waren.

Ein Bruder. Nicht mehr als das.

Selbstverständlich hielt er sie lange genug auf, dass es zu spät wurde, um den Rückweg noch antreten zu können. Und ebenso selbstverständlich erhielt er den Segen der Dorfgemeinschaft, sie als Gast mit in sein Haus zu nehmen, als es spät geworden war. Sie hatten so lange im Gemeinschaftshaus zusammengesessen, geredet, den anderen zugehört … Es war ein wunderschöner Tag gewesen.

Shayna hatte sich durchaus sehr wohl in seiner Gesellschaft gefühlt, und sie wusste, sie konnte ihm blind vertrauen. Die anderen lachten heimlich, gingen davon aus, dass sie und Aymu heute Nacht gegen jede Sitte gemeinsam unter eine Decke kriechen und sie vielleicht sogar sein Kind bereits unterm Herzen tragen würde, wenn sie morgen früh fortging. Doch das würde er ihr nicht antun. Jeder andere, aber nicht Aymu.

Darum schritt sie auch völlig entspannt an seiner Seite, als sie zu seinem Haus gingen. Er hielt einen brennenden Scheit in der Hand, den er vom Herdfeuer des Gemeinschaftshauses mitgenommen hatte, genau wie alle anderen auch. Das Licht musste genügen, um nach Hause zu finden und sich dort fürs Schlafen bereit zu machen. In diesem matten Fackelschein kauerten sie nebeneinander auf dem Boden des Hauses, der aus festgestampftem Lehm bestand, wuschen sich mit dem Wasser aus der Holzschale, die Aymu dafür bereitgestellt hatte. Sie bekam von ihm einen Zweig von einem La’ati-Baum. Weiches Nadelgehölz war das. Sie kauten die weiche, sehr frisch schmeckende Rinde, bissen die Enden ihrer Zweige auf und fuhren damit zwischen die Zähne. Das half, selbige gesund und stark zu halten, eine heilige Pflicht, von den Göttern gefordert, von den Priestern gelehrt. Jeder musste das Geschenk des Lebens ehren, den Körper, in dem man geboren worden war. Sich selbst mit Absicht zu verletzen oder zu vernachlässigen galt als ebenso verabscheuenswürdig, wie anderen Menschen Leid zuzufügen.

Shayna zog ihr Überkleid aus und hängte es zum Lüften an den dafür vorgesehenen Haken vor der halb verdeckten Fensteröffnung im Türbereich. Ihr Unterkleid behielt sie an, sie würde darin schlafen. Wenn sie morgen nach Hause zurückkehrte, konnte sie das zweite Unterkleid anlegen, das sie zum Wechseln besaß, was sie alle drei bis vier Tage tat. Auch Aymu legte Hemd und Hose ab, er würde in seinem Leibtuch schlafen. Sie erkannte in dem schwachen Licht nur wenig von seiner entblößten Brust. Kein Anblick, der sie störte oder neu war, in heißen Sommern liefen Frauen wie Männer zumeist kaum bekleidet umher. Gemeinsam beteten sie zu Yika für eine ungestörte Nacht ohne Albträume, ohne Schatten, und ein Wiedererwachen am Morgen.

„Du musst keine Angst vor mir haben“, sagte er leise und ergriff ihre Hand, nachdem er noch ein letztes Mal geprüft hatte, dass die Fackel fest in der steinernen Verankerung saß, in die er sie nach dem Eintreten fixiert hatte. Feuer war eine der größten Gefahren, jeder respektierte es und es war aus diesem Grund sogar verboten, in den Häusern zu kochen. „Ich werde dich nicht anfassen, Shayna. Ich weiß, dass du mich nicht willst. Nicht als Mann.“

Sie starrte ihn an, unfähig sich zu rühren, ein einziges Wort zu sagen. Er lächelte traurig, was sie eher instinktiv spürte, als sehen konnte.

„Ich weiß es seit Jahren. Du magst mich, das kann ich sehen. Doch vor meinen Berührungen schreckst du zurück. Du musst mir nicht erzählen, warum das so ist. Was dir angetan wurde. Ich liebe dich dennoch. Shayna, wenn du den Bund mit mir schließt, musst du nicht fürchten, dass ich mein Recht einfordere. Es gibt Paare, die keine Kinder bekommen, das ist nicht selten, wie du weißt. Niemand würde uns verurteilen. Ich möchte dich als Frau an meiner Seite haben. Auch wenn das bedeutet, dass meine Seite des Schlaflagers kalt bleibt. Auch wenn es bedeutet, dass ich niemals eigene Kinder haben werde. Ich liebe dich, weil … weil ich es tue. Ich kenne die Gründe nicht, doch sie müssen von den Göttern stammen, denn sie ist stark, diese Liebe, und mit den Jahren immer nur noch stärker geworden. An meiner Seite kannst du ein sicheres Leben führen, ohne dass man dich bedrängt, endlich die Wahl zu treffen. Kannst du dir vorstellen, in diesem Haus zu leben?“

„Ihr Götter, Aymu!“ Sie klammerte sich an seine Hände, zu aufgewühlt, um etwas zu sagen, zu verwirrt, um zu verstehen. „Aymu, ein solches Opfer … Wie könnte ich das von dir verlangen? Es ist zu viel! Du würdest so vieler Dinge entsagen, die dir als Mann zustehen, wie soll ich …?“ Ein Schluchzen drängte in ihrer Kehle und sie spürte Tränen auf der Wange.

„Lieber entsage ich dieser unwichtigen Dinge, als noch länger ohne dich zu sein. Shayna! Ich flehe dich an, lass mich nicht einsam und allein sterben, denn es bist du oder keine. Wenn ich deine Hände halten darf … Vielleicht kannst du lernen, eine Umarmung zu ertragen? Es würde mir die Welt bedeuten.“

Sie konnte seine Stimme brechen hören und wie von selbst glitt sie zu ihm heran, schlang die Arme um seinen jugendlich schlanken, harten Körper.

„Deine Berührungen stoßen mich nicht ab, Aymu“, flüsterte sie, bebend von dem Schluchzen, das sie kaum kontrollieren konnte. „Ich mag dich so sehr, du bist ein wundervoller Freund. Ein Bruder. Mein Bruder, den ich niemals haben durfte. Ich kann dich nicht als Mann sehen. Nur als Bruder.“

„Aber das ist wundervoll!“, stieß er hervor, bebte kaum weniger als sie. „Das bedeutet, dass ich dich umarmen kann. Dein Haar kämmen. Dein Gesicht streicheln. Es ist so viel mehr, als ich befürchtet habe. Ich warte schon lange auf dich. Mein ganzes Leben, glaube ich. Und ich würde noch länger warten, wenn ich nur etwas stärker wäre und ich …“

Sie hob die Hand und legte die zittrigen Finger gegen seine Lippen, wodurch er sofort ins Schweigen verfiel.

„Ich nehme deine Frage an, Aymu. Ich werde den Bund mit dir schließen. Im Frühjahr, zur Tag-und-Nacht-Gleiche, werde ich den Knoten mit dir schlingen und deine Frau werden und ich werde an deiner Seite in diesem Haus mit dir leben und arbeiten. Niemand darf es wissen, doch ich kann dir nur eine Schwester sein, keine Frau.“

„Ich werde dein Bruder sein, Shayna. Ich werde dich lieben und du machst mich glücklich.“

Sie spürte es, sie hörte es, wie glücklich er war. Ein Lachen lag in seiner Stimme, und er drückte sie kraftvoll an seine Brust. Er streichelte über ihre Wangen, und dann hob er sie ohne Vorwarnung hoch und warf sie über seine Schulter, bevor er mit ihr die Leiter zum Zwischenboden erklomm, wo sich sein Schlaflager befand. Der untere Raum hingegen wurde ausschließlich für sein Handwerk genutzt. Sie lachte und schrie zugleich, es war ein bisschen beängstigend, auf diese Weise verschleppt und die schwankende Leiter hinaufgetragen zu werden. Ja, sie war klein und sehr zart gebaut und dennoch schwerer als ein Bündel Wolltücher.

Aymu legte sie auf dem festgeschnürten Strohlager ab, das mit Fellen und Decken warm und behaglich ausgestattet war.

„Ich werde mich ein wenig an dich drücken müssen, sonst haben wir nicht genügend Platz“, raunte er ihr ins Ohr. Sein Glück war nach wie vor zu hören, deutlich zu spüren. Shayna lachte, obwohl ihr zum Weinen zumute war, sie sagte freundliche Worte, die keine Bedeutung hatten. Sie ertrug, dass er sich bäuchlings an ihren Rücken schmiegte, einen Arm locker über ihre Seite legte. Er bedrängte sie nicht, hielt sein Wort, versuchte nicht, nach ihrer Brust zu greifen oder in die Tiefe zu wandern.

Er war solch ein guter Mann … Und genau deswegen zerfraß Schuld ihre Brust, wühlte in ihrem Bauch, raubte ihr den Atem. Sie verdiente Aymu nicht, seine selbstlose Liebe. Seine Dankbarkeit war ein Geschenk, das sie zutiefst demütigte. Er verdiente die Welt! Er sollte eine Frau haben, die ihn und seine Liebe wahrhaftig wertschätzen konnte. Die ihm zurückgab, statt bloß zu fordern und zu nehmen, wie sie es tat. Wie gerne wollte sie eine solche Frau sein!

Und während sie schlaflos dalag, seinen ruhigen, tiefen Atemzügen lauschte, innerlich fror und verbrannte und die Schuld ihre Dämonenklauen unablässig in ihre Eingeweide schlug, flehte sie innerlich zu den Göttern.

„Bitte gebt mir das Verlangen nach Männern, oder zumindest nach diesem einen Mann! Bitte macht, dass ich mich ihm hingeben kann, wie es der Weg der Frau ist! Macht, dass ich Lust empfinde, wenn er mich bewundernd ansieht, dass mein Schoss Feuchtigkeit sammelt, wenn er mich berührt! Ich will seine Kinder tragen und ich will für ihn da sein, wie er es verdient. Warum habt ihr mich als vollkommene Frau geformt, doch dieses Streben, dieses natürlichste aller Bedürfnisse vergessen? Bitte gebt es mir, denn ich will ihn so gerne lieben …“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 2

Kapitel 2

 

„Ich wusste es! Es war aber auch dringend an der Zeit!“

„Meinen Segen habt ihr zwei. Wir warten schon so lange, wie wundervoll! Im Frühjahr wird es ein riesiges Fest geben!“

„Die Götter haben euch gesegnet. Es gibt kein zweites Paar, dem ich je so viel Glück gewünscht habe. Ihr leuchtet richtig, wenn ihr zusammen seid!“

Die Segens- und Glückwünsche wollten nicht aufhören. Bemerkte denn niemand, dass Shayna zwar lächelte, aber ihr zweifellos übernächtigtes, blasses Gesicht nicht von Liebesspielen herrührte? Dass Aymu derjenige war, der vor Stolz und Glück strahlte und nicht aufhören konnte, den Arm besitzergreifend um ihre Taille zu legen, während sie ihre gesamte Selbstbeherrschung brauchte, um nicht schreiend in den Wald zu rennen?

Er war so glücklich gewesen, als er am Morgen erwachte und sie in seinen Armen vorfand. Entschuldigt hatte er sich, weil sein Körper erregt auf diese Nähe und Wärme reagierte. Wie süß er in seiner ehrlichen Bestürzung war, wie sehr darauf bedacht, ihr zu gefallen, bloß nichts zu tun, was sie verstören oder kränken könnte! Dabei wollte sie nichts lieber, als ihm alles das zu geben, was er sich wünschte. Darum hatte sie stillgehalten, als er scheu darum bat, ihr Haar kämmen und zu dem strengen Knoten schlingen zu dürfen, sich Seite an Seite mit ihm gewaschen und angekleidet und zugestimmt, die freudige Nachricht beim Frühstück im Gemeindehaus zu verkünden. Der Dorfpriester versprach sofort, dass es das schönste Fest des Jahres werden würde, die Frauen begannen schon das Mahl und die Tänze zu planen, und die Geschenke, die man Jungvermählten überreichte. Dazu gehörten auch Kleider und Schmuck für die junge Braut, die nicht nur den Stand der Unverheirateten verließ, sondern auch ihre eigene Siedlung, ihr altes Zuhause. Als Mitgift, die man von ihr verlangen würde, spielte Wolle in jedem Stadium der Verarbeitung selbstverständlich die Hauptrolle. Es würde ein Gewinn für jedermann sein.

Letztendlich auch für sie. Die große Last, sich binden zu müssen, wäre damit von ihrer Schulter. Es gab keinen Weg, wie sie dies erreichen konnte, ohne das jemand leiden musste. In ihrer Vorstellung war stets sie diejenige gewesen, die litt. Die sich unterwerfen musste. Die von ihrem Gefährten zu Dingen gezwungen wurde, die sie mit Albträumen erfüllte. War es ein Wunder, dass sie seit endlosen Jahren unter fürchterlichen Träumen litt, beinahe jede Nacht?

Und nun war Aymu derjenige, der leiden würde und sie konnte kaum etwas tun, um ihn davor zu beschützen. Darum lächelte sie wenigstens, lehnte sich willig und weich an ihn, ließ sich halten, als wäre sie das kostbarste Göttergeschenk und kein kaputter Krug. Dabei war sie genau das: ein kaputtes, widernatürliches Ding.

 

Bei all den Plänen und Freudeschreien und Umarmungen und Beteuerungen sämtlicher Bewohner der Siedlung, sie mit Herzenswärme und größter Freude in ihre Mitte aufzunehmen, wurde es früher Nachmittag, bevor sie sich endlich durchsetzen konnte.

„Ich muss wirklich jetzt sofort aufbrechen!“, sagte sie energisch. „Meine Leute erwarten mich bereits seit Stunden, sie werden in großer Angst sein und das Schlimmste befürchten, wenn ich nicht bis zum Einbruch der Dunkelheit daheim bin.“

„Liebes, wir haben dich ja endlos aufgehalten!“, rief Aymu erschrocken. „Wie furchtbar. Soll ich dich begleiten?“

Shayna zögerte, weil sie genau spürte, wie unglaublich gerne er das tun wollte. Doch dann schüttelte sie mit einem Blick in den Himmel den Kopf.

„Nein, das wäre unklug“, rief sie, laut genug, dass jeder im Gemeinschaftshaus sie hören konnte. „Wir würden uns gegenseitig aufhalten und dann zu spät kommen. Es ist viel zu gefährlich! Außerdem riecht es nach Schnee, sicherlich zieht ein Sturm heran. Wer weiß, wie lange du dann in meiner Siedlung gefangen wärst, bevor die Heimkehr sicher genug ist? Deine Leute hier würden sich vielleicht wochenlang sorgen müssen. Nein, lass mich allein laufen und wir sehen uns wieder, sobald das Wetter freundlicher wird.“

Alle nickten bedächtig, auch Aymu, obwohl sichtlich schweren Herzens. Normalerweise würde man gar nicht gestatteten, dass Unvermählte ohne Aufsicht im selben Haus übernachteten und lediglich zu zweit auf Reisen ging. Wären nicht sowohl seine als auch ihre Eltern tot und sie bereits in solch fortgeschrittenem Alter für eine Unvermählte, würde man die unausgesprochenen Gesetze wesentlich strenger befolgen.

So band sie sich also ihren Tragkorb mit dem Getreide auf den Rücken, nahm ein Päckchen mit Proviant für den Weg von Vina an, für das sie unterwegs gar keine Zeit haben würde, verabschiedete sich artig von jedem und mit einer festen Umarmung und einen Wangenkuss von ihrem zukünftigen Gemahl, winkte noch einmal zum Abschied am Dorfausgang jedem zu – und marschierte dann mit raumgreifenden Schritten los. In ziemlich genau zwei Stunden würde die Dämmerung einsetzen, sie würde rennen müssen, um zweieinhalb Wegstunden in dieser Zeit zu bewältigen. Es war zu schaffen und Dämmerung bedeutete glücklicherweise nicht, dass die Nacht und damit die gefährliche Dunkelheit wie mit der Axt gefällt über sie hereinbrach. Dennoch durfte sie nun nicht mehr länger trödeln und musste den Blick konzentriert auf dem Weg belassen, damit keine Wurzel, kein Stein sie zum Stolpern brachte. Eile war geboten!

Der mit tiefgrauen Wolken verhangene Himmel lag drohend über den kahlen Baumwipfeln und verstärkte das Gefühl von Einsamkeit und Herzensschwere. Shayna schlang den Mantel noch enger um sich. Das ausdauernde Laufen sorgte zwar für Wärme und verhinderte das Kreisen der immer gleichen Gedanken, trotzdem fühlte sie sich seltsam ausgekühlt und ungut in ihrer Haut.

Es knackte im Unterholz, das hier unangenehm dicht wuchs. Immergrünes Gestrüpp, in dem sich alle Arten von Wildtieren verbergen konnten. Über ihrem Kopf stiegen Wolken von Krähen und anderen Rabenvögeln in den Himmel, laut schimpfend und offenkundig verärgert über einen Störenfried. Ein Bär vielleicht, der noch keinen Unterschlupf für den Winterschlaf gefunden hatte? Shayna umfasste unwillkürlich den Wanderstock fester, den sie ausschließlich zur Selbstverteidigung bei sich hatte. Bären waren zu dieser Jahreszeit nicht sonderlich aggressiv und es sollte eher nicht zur Konfrontation kommen. Immerhin bedrängte sie ihn nicht, solange sie nicht vom Weg abwich, den Wildtiere durchaus als menschliches Revier erkannten. Falls sich doch ein Braunpelz, ein Wolf oder eine Wildschweinrotte vor ihr aufbauen sollte, musste sie mutig bleiben, keinesfalls fliehen, sich hoch aufrichten, Krach schlagen. In nahezu allen Fällen gingen diese Begegnungen harmlos aus, kosteten lediglich Zeit. Zeit, die sie nicht hatte. Verflucht!

Es knackte erneut, diesmal in ihrem Rücken. Shaynas Herz sprang ihr beinahe aus der Brust, als sie herumwirbelte, den Stock schlagbereit hielt. Nichts! Kein Tier zu sehen, und zu hören waren lediglich die Raben, die über ihr am bleiernen Himmel kreisten, sowie die Zweige der Bäume, die vom Wind gegeneinander gerieben wurden, leise klopfend und schabend.

Atmen. Du bist kein dummes kleines Mädchen mehr, du kennst den Wald!, beschimpfte sie sich selbst. Mit wütender Geste wischte sie sich den Schweiß von der Stirn, wandte sich um, stürmte weiter voran. Noch rund eine Wegstunde trennte sie vom Herdfeuer im heimischen Gemeinschaftshaus. Heiße Kesselsuppe mit Knollen und Wurzeln, ein Stück Brot, flach auf heißen Steinen ausgebacken, dazu Schafskäse, Beerentee, Lachen und Erzählungen. Das Glück und der Stolz in Nannas Augen, wenn Shayna von der bevorstehenden Vermählung mit Aymu berichten würde. Er hatte ihr eine kleine Götterfigur geschenkt, ein würdiges Verlobungsgeschenk. Alle würden sich freuen und tanzen und ihre Mitgift planen. Es war schön, sich solche Bilder auszumalen. Schöner jedenfalls als die Wirklichkeit eines froststarrenden, bitterkalten Waldes kurz vor der Dämmerung, jagende Angst und Anspannung im Bauch und den lärmenden Raben in der Höhe. Schöner als …

Aufschreiend wich Shayna zurück. Wie aus dem Boden gewachsen standen plötzlich zwei Männer vor ihr. Abgerissene, stinkende Kerle, unzureichend in Felle gehüllt. Haare und Bärte waren verfilzt, die Körper hager und ausgezehrt. In ihren Gürteln steckten Steinäxte, grob um Holzschäfte gewickelt. Rechtlose. Das mussten Rechtlose sein! Männer, die für Verbrechen gegen ihre Gemeinschaft mit Verbannung bestraft wurden. Manchmal, so ging die Legende, waren diese Verbrechen von solch grauenhafter Natur, dass diese Männer nicht einmal die Nachtschatten fürchten mussten. Und so überlebten sie, wurden von den Schatten gemieden, stahlen und jagten und mordeten, um nicht zu verhungern, bis sie irgendwann von rechtschaffenen Siedlern erschlagen wurden.

Grimmig hob Shayna ihren Stab. Diese Bestien waren viel, viel gefährlicher als Bären oder Wölfe es jemals sein konnten. Wenn es ihr nicht gelang, diese beiden Kerle zu töten, dann würde es im Frühjahr kein Vermählungsfest mit Aymu geben. Das Wissen, was ihm das antun würde, war gewaltig. Gewaltig genug, um es auf keinen Fall zulassen zu wollen.

„Hallo, du Schöne!“, grollte einer der Rechtlosen. „So allein in diesem Wald?“

„Ich bin nicht allein“, entgegnete sie bewusst hart. „Ich habe meinen Kampfstab, einen Dolch und eine Steinschleuder. Ich freue mich darauf, sie euch vorzustellen. Vorzugsweise euren Schädeln.“

„So kriegerisch, du kleine Raubkatze. Ich mag es, wenn Weiber wild sind. Du wirst vor Wonne kreischen, wenn ich dir meinen besten Freund vorstelle.“ Der schmierige, abgewrackte Kerl griff sich grinsend zwischen die Beine. Sein Bart war schwarz, der seines Gefährten grau gesprenkelt. Es war kein gutes Zeichen, wenn die Rechtlosen sich so nah an die Siedlungen heranwagten. Man musste hart durchgreifen, damit so etwas nicht einriss.

Shayna konzentrierte sich. Jungen Frauen wurde schon im Kleinkindalter beigebracht, sich selbst zu verteidigen. Das wussten diese Kerle gewiss, darum brachte es ihr keinen echten Vorteil; sie würde sie nicht überraschen können. Sie war klein, ihre Reichweite auch mit dem Stock begrenzt. Mit ihrer Last auf dem Rücken war sie auf der Flucht eingeschränkt, beim hastigen Marsch hierher hatte sie einiges an Kraft vergeben. Das waren ihre Schwächen. Ihre Stärken waren ihr ebenso bewusst. Die Männer würde sie nicht töten wollen. Sie schienen noch nicht verroht genug, um sie als Nahrung anzusehen, und auch ihr Gehabe sprach dafür, dass sie auf Spaß aus waren. Leichen machten keinen Spaß.

Sie kamen von beiden Seiten zugleich, sprangen ohne Vorwarnung auf sie zu. Shayna duckte sich, schlug den Stab mit aller Härte gegen Schwarzbarts Kopf. Sie verfehlte ihn, traf seinen Arm. Er schrie gellend, wich zurück. Der Arm war mindestens taub und geprellt, bestenfalls gebrochen. Graubart packte sie am Handgelenk, versuchte, sie zu Boden zu werfen. Aufschreiend riss sie sich los, taumelte einige Schritte. Sie geriet in Schwarzbarts Nähe und er holte übergangslos aus. Seine linke Faust streifte ihr Gesicht, immer noch hart genug, dass sie stolperte und fiel, überraschend von der Intensität des Schmerzes. Shayna griff nach ihrem Stab, doch Graubart packte ihn, entriss ihn ihr, warf ihn ins Gebüsch. Sie schmeckte Blut auf den Lippen und wusste, dies war kein freundliches Gerangel, keine Übung mit den Jungs, mit denen sie aufgewachsen war. Keiner von denen wollte sie jemals verletzen, ihr Gewalt antun. Zum allerersten Mal in ihrem Leben begriff Shayna, was Todesangst wirklich bedeutete. Dass sie sterben würde, hier draußen, vergewaltigt und den Schatten zum Fraß vorgeworfen, wenn sie jetzt nicht sofort …

Ohne nachzudenken, trat sie um sich. Wild, ziellos, gewaltsam. Sie hörte Graubart schreien, blieb nicht stehen, um zu schauen, wie hart sie ihn getroffen haben mochte. Shayna kroch auf Händen und Knien über den Boden, winselte, wimmerte wie ein verletztes Tier. Ihre bebenden Hände fanden einen Stein. Schwarzbart.

Er kam über sie, drückte sie nieder. Gestank hüllte sie ein. Der irrsinnige Blick seiner aufgerissenen Augen. Riesige, dreckige Hände griffen nach ihrem Hals. Sein Gewicht. Er erdrückte sie, sie konnte nicht atmen, sich kaum bewegen. Shayna zappelte, schlug um sich. Schrie und heulte auf, als sie plötzlich wieder Luft bekam. Der Stein traf Schwarzbarts Gesicht. Blut spritzte. Brüllend kippte er zur Seite, und sie trat, schlug, kämpfte weiter, befreite sich, kam tränenblind und mit jedem Atemzug aufschreiend auf die Füße. Begann zu rennen. Hinter ihr noch mehr Gebrüll. Die Rechtlosen, sie waren verwundet, aber sie lebten, würden ihr folgen!

Shayna rannte wie noch nie in ihrem Leben. Sie rannte – bis mit einem Mal ein Baumstamm vor ihr auftauchte und sie im vollen Lauf dagegenprallte.

Benommen stürzte sie zu Boden. Ihr Kopf war unversehrt, sie war mit der Brust und Schulter gegen den Stamm gelaufen. Schlagartig wurde ihr gesamter Körper taub, sie bekam erneut keine Luft und rote Feuerkreise pulsierten im Takt ihres rasant hämmernden Herzens vor ihren Augen. Sie rollte sich zur Seite, versuchte aufzustehen. Es gelang nicht, jedes bisschen Kraft war fort. Wimmernd blieb Shayna liegen, wo sie gefallen war. Um sie herum war alles still. Keine brüllenden Männer. Keine schimpfenden Raben. Keinerlei Gefahr. Nur der Wind raschelte in den Bäumen.

Eine schier endlose Ewigkeit dauerte es, bis sie nicht mehr um Atem rang, bis das Brennen in ihrer Brust nachließ. Allmählich begann sie zu begreifen. Die Rechtlosen hatte sie abgehängt. Die Kerle waren verletzt, denen war sicherlich jegliche Lust auf die vermeintlich leichte Beute vergangen. Es gab gar keinen Grund für diese Männer, ihr noch länger nachzustellen.

Das wahre Problem: Shayna hatte nicht die geringste Ahnung, wo genau sie sich gerade befand. Der Weg war nirgends zu sehen, sie lag hier mitten im Wald. Die Dämmerung hatte begonnen, schon bald würde die Nacht hereinbrechen und die Schatten erwachen. Und sie? Sie musste jetzt dringend aufstehen und den Weg nach Hause finden. In Sicherheit. Andernfalls würde sie hier sterben und niemand ihre Leiche jemals finden.

„Nanna“, stieß sie wimmernd hervor. „Nanna, hilf mir!“

Sie tastete nach ihrem Schutzamulett. Es war schwach. Im Dorf beschützte es sie, Nacht für Nacht, vollkommen zuverlässig. Draußen in der Wildnis würde es die Schatten nicht aufhalten.

„Hoch mit dir. Beweg dich, hoch, hoch!“ Shayna kroch über den Waldboden, der mit raschelnden, vertrockneten Blättern bedeckt war, umklammerte mit beiden Händen den Stamm einer alten Buche, versuchte, sich in die Höhe zu ziehen. Aufschreiend fiel sie, als heftige Schmerzen sie durchzuckten, zu grell, um gegenzuhalten. Sie schaffte es nicht. War zu schwach!

„Aymu! Nanna … Ich will nicht sterben!“ Shayna begann zu weinen, schluchzend, heulend, völlig außer sich, ohne jeden Rückhalt. Sie lag auf der Seite, Blut und Tränen im Gesicht, erbärmlich frierend, jetzt, wo die Nachtkälte einsetzte, wo die Hitze der kopflosen Flucht schwand, der Schweiß auf der Haut trocknete.

Ein letztes Mal stemmte sie sich hoch, versuchte zu kämpfen, zu kriechen. Sie musste nach Hause! Es konnte nicht sein, dass sie starb, ohne jeden Sinn, es konnte nicht sein!

Nur kurz währte das Aufbäumen. Als sie das nächste Mal zusammenbrach, geschah es stumm. Shayna hatte nicht einmal mehr die Kraft, um zu weinen. Oder zu den Göttern zu beten. Vielleicht waren Brán und Yika gnädig und gewährten ihr einen raschen Tod.

Ihre Augen schlossen sich.

Dunkelheit.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 3

Kapitel 3

 

Silhouetten huschten zwischen den Bäumen umher. Nebelschwaden, die dicht am Boden waberten. In die Höhe zogen, wie Hände, die gierig nach Beute griffen. Kälte. Es war so bitterlich kalt, feuchter Schmerz, der tief in den Knochen nistete und sich von dort in Wellen durch den Körper ausbreitete wie ein schwelendes Feuer. Gesichter drangen auf sie ein. Glühende Augen, die ihr einen grausamen Tod versprachen. Schatten, Schatten überall, sie wollten ihr kleines Leben an sich raffen, ihre Seele vernichten, wollten …

 

Shayna fuhr in die Höhe.

Der Schreck, den der Albtraum hinterließ, floss übergangslos als Panik in ihre Eingeweide, packte zugleich ihre Brust mit eiserner Faust und schüttelte sie durch. Es war Nacht! Sie lag im Wald!

Vollkommen erstarrt, wagte sie es nicht einmal zu atmen. Waren Schatten bei ihr? Griffen sie bereits nach ihrer Seele?

Es gab zwei verschiedene Arten von Nachtschatten: Die einen waren reine Schemen, körperlose Schreckgeister, die versuchten, ihre Opfer vor lauter Angst um den Verstand zu bringen. War dies gelungen und kein Widerstand mehr möglich, konnten sie den Körper übernehmen und mit ihm treiben, was immer ihnen gefiel. Die unglücklichen Menschen waren innerlich tot und wandelten dennoch unter ihren Familien und Freunden und Nachbarn, als wäre alles wie immer. Nu’zul nannte man solche von Dämonen besessenen Kreaturen, die mit Feuer und priesterlicher Macht verjagt werden mussten, damit sie niemanden verderben und in den Tod reißen konnten. Sie waren selten, diese Nu‘zul, dafür besonders gefährlich, und man erkannte sie daran, dass ihre Körper mit Tiersymbolen gezeichnet waren. Symbole, die anzeigten, welche Wandelgestalt sie anzunehmen in der Lage waren.

Die zweite Sorte Schatten waren halbkörperliche Dämonen, die mit Klauen und Zähnen über Menschen herfielen und diese in Stücke zerrissen, wenn sie ihrer habhaft wurden. Sie hatten eine beinahe menschenähnliche Gestalt, fratzenhafte Gesichter, entstellte Körper. Gegen beide Arten von Unholden halfen getrocknete Otayi-Blüten, gesegnete Götterfiguren und Priestermacht.

Shayna hatte getrocknete Blüten in ihrem Amulett, eine ungesegnete Götterfigur in der Tasche und ansonsten keine Ahnung, warum sie bis jetzt noch lebte. Vielleicht hatten die Schatten sie nicht bemerkt, weil sie wie tot am Boden gelegen hatte? Wenn es das gewesen sein sollte, dann würde ihr Glück jetzt sehr bald enden …

Schwer atmend richtete sie sich auf. Ihr Körper gehorchte diesmal, auch wenn sie Schmerzen von den Stürzen, den Treffern im Gesicht, der stark geprellten Schulter hatte. Vielleicht lag es an der immensen Angst, dass sie die Pein kaum wahrnahm. Sie rutschte langsam rückwärts, bis sie einen Baumstamm erreichte. Ob Dämonen körperlos durch die Bäume hindurchgleiten konnten, wusste sie nicht. Vermutlich schon. Schatten konnten es ganz bestimmt. Dennoch fühlte sie sich sicherer, jetzt, wo sie diesen Rückhalt hatte.

Shayna zog die kleine Götterfigur heraus, die Aymu ihr geschenkt hatte, umklammerte sie mit der linken Hand, während sie mit der rechten das Amulett festhielt, das sie um den Hals trug.

„Yika, Göttin der Nacht, schütze diese Frau, die in der Dunkelheit verloren ist“, wisperte sie. Sofort kam Ruhe über sie. Wenn sie die Göttin unentwegt anrief, sollte ihre Seele hoffentlich sicher sein. Gewiss würde sie dennoch heute Nacht sterben, doch die Göttin würde ihre Seele retten, und das war wichtiger als alles andere. „Yika, Göttin der Nacht, schütze diese Frau, die in der Dunkelheit verloren ist. Yika, Göttin der Nacht …“

Sie würde so gerne die Augen schließen. Nichts als Silhouetten zu sehen, weil es schlicht zu finster war, war das eine. Natürlich war es sinnlos, die Augen offen zu halten, sie würde einen Schatten frühestens erkennen, wenn er bereits vor ihr stand. Dennoch konnte sie es nicht, konnte die Lider nicht schließen. Denn der Gedanke, dass sie im letzten entscheidenden Moment nicht in der Lage sein würde zu begreifen, dass der Tod zu ihr kam, war unerträglich.

„Yika, Göttin der Nacht …“ Sie bebte von Kopf bis Fuß. Vor Angst. Vor Kälte. Vor Erschöpfung. Wie viele Stunden würde es noch dauern, bis der neue Tag begann? Bis die Sonne sich erhob und die Schatten vertrieb? Zu lange, so viel war gewiss. Viel zu lange. Shayna hegte keinerlei Illusionen, es würde vorher enden. Für sie jedenfalls.

„Yika, Göttin der Nacht …“

Ein Schrei. Ein menschlicher Schrei voller Zorn und Schmerz. Eine Frau? War das eine Frau, die dort schrie, fluchte, Worte einer fremden Sprache gebrauchte?

Bevor sie nachdenken konnte, fand sie sich auf den Beinen wieder, mit weit vorgestreckten Armen durch die Finsternis tastend. Sie hob die Füße kaum, um nicht über Wurzeln oder Steine zu fallen. Dort war ein Mensch! Eine weitere Frau, die genau wie sie in der Nacht gestrandet war. Wie konnte das sein? War das womöglich jemand aus ihrem Dorf? Suchte man nach ihr und eine von ihnen hatte es nicht geschafft, rechtzeitig heimzukehren? Eine ihrer Freundinnen, Nachbarinnen … Durch irgendein dummes Geschehen von der Hauptgruppe getrennt, womöglich verletzt, und niemand hatte ihre Hilferufe gehört?