She Said - Jodi Kantor - E-Book

She Said E-Book

Jodi Kantor

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Beschreibung

»Jodie Kantor und Megan Twohey sind für mich moderne Heldinnen, weil für sie Vermutungen nichts zählen, solange sie nicht durch nachprüfbare Fakten beweisbar werden. Der detailgenaue Bericht über ihre unermüdliche Recherche ist ein Zeugnis dafür, dass investigativer Journalismus die Welt verändern kann.« Maria Schrader Das Buch zum Kinofilm von Maria Schrader Mit ihren Enthüllungen zum Fall Harvey Weinstein bringen die Journalistinnen Jodi Kantor und Megan Twohey eine Bewegung ins Rollen, die die Welt nachhaltig verändert. Damit beginnt die Zerschlagung eines Systems, das sexuelle Übergriffe über Jahrzehnte systematisch verschleierte. Monatelang recherchieren Megan Twohey und Jodi Kantor, um die Wahrheit über Harvey Weinstein herauszufinden. In ihren Interviews mit über 80 Frauen beweisen sie erstmals, was die bereits kursierenden Gerüchte besagen: Sexueller Missbrauch und Belästigungen sind an der Tagesordnung. Schauspielerinnen wie Mitarbeiterinnen Weinsteins berichten von Schweigegeldzahlungen und Geheimhaltungsvereinbarungen, die die jahrzehntelangen Übergriffe systematisch verschleierten. Mit immensem journalistischem Geschick und gegen alle Widerstände gelingt es Jodi Kantor und Megan Twohey, Harvey Weinstein zu Fall zu bringen. In diesem Buch erzählen sie nicht nur von bislang unveröffentlichten Details und versteckten Quellen, sie verdeutlichen auch, was die Enthüllung für die daraus erwachsene, weltweite #MeToo-Bewegung bedeutet. Eine einzigartige, inspirierende Geschichte des investigativen Journalismus, in der sich Frauen für andere Frauen, zukünftige Generationen und für sich selbst eingesetzt haben. Ausgezeichnet mit dem Pulitzer-Preis Stimmen zum Buch: »Die Geschichte von Jodi Kantor und Megan Twohey sollte jeder lesen. Sie zeigen eindrücklich, wie ein Mann wie Weinstein seine Macht und viele Frauen so lange missbrauchen konnte.« Los Angeles Times Review   »#MeToo ist fesselnd und, von zwei der talentiertesten Journalistinnen des Landes angefertigt, eine lebhafte, filmische Lektüre.« CNN   »Eine ›true crime story‹, die teilweise so spannend ist, als wüsste niemand, was kommt.« Frankfurter Allgemeine Zeitung »#MeToo liest sich gleichzeitig wie ein Thriller und wie eine Anklage gegen ein System voller Fäulnis. Aber letztlich geht es um die Frauen, die in ihrem Schmerz gefesselt sind und sich weigerten, länger zu schweigen.«The Atlantic

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Seitenzahl: 573

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Cover for EPUB

Jodi Kantor Megan Twohey

#Me Too

Wie das Schweigen gebrochen wurdeund die #MeToo-Bewegung begann

Aus dem Amerikanischen von Judith Elze und Katrin Harlaß

Tropen Sachbuch

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »She Said. Breaking the Sexual Harassment Story That Helped Ignite a Movement« im Verlag Penguin Press, New York

© 2019 by Jodi Kantor and Megan Twohey

Für die deutsche Ausgabe

© 2020, 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Klett-Cotta Design

Unter Verwendung der Originaldaten © 2022 Universal Studios.

All Rights Reserved

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-50192-6

E-Book: ISBN 978-3-608-12167-4

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Kapitel #1

Der erste Anruf

Kapitel #2

Geheimnisse in Hollywood

Kapitel #3

Wie man ein Opfer zum Schweigen bringt

Kapitel #4

»Positive Reputation Management«

Kapitel #5

Das Unternehmen als Komplize

Kapitel #6

»Wer hat sich sonst noch offiziell geäußert?«

Freitag, 29. September 2017

Samstag, 30. September 2017

Montag, 2. Oktober 2017

Dienstag, 3. Oktober 2017

Kapitel #7

»Es wird eine Bewegung geben«

Mittwoch, 4. Oktober 2017

Donnerstag, 5. Oktober 2017

Kapitel #8

Dilemma am Strand

Kapitel #9

»Ich kann nicht garantieren, dass ich nach D.C. komme«

Epilog

Das Treffen

Nachwort

Juni 2020

Dank

Anmerkungen

Kapitel #1

Kapitel #2

Kapitel #3

Kapitel #4

Kapitel #5

Kapitel #6

Kapitel #7

Kapitel #8

Kapitel #9

Epilog

Personenregister

FÜR UNSERE TÖCHTER:MIRA, TALIA UND VIOLET

Vorwort

Als wir 2017 begannen, für die New York Times über Harvey Weinstein zu recherchieren, verfügten Frauen über mehr Macht als je zuvor. Die Zahl der Jobs, die einst ausschließlich Männern vorbehalten waren – Polizist, Soldat, Pilot – ging fast gegen Null. Frauen führten nicht nur Staaten, darunter Deutschland und Großbritannien, sondern auch Unternehmen wie General Motors und PepsiCo. Eine Frau in ihren Dreißigern konnte in einem Jahr mehr Geld verdienen als all ihre Vorfahrinnen zusammengenommen in ihrem ganzen Leben.

Dennoch sahen sich Frauen nur allzu oft sexuellen Belästigungen ausgesetzt, die straffrei blieben. Wissenschaftlerinnen und Kellnerinnen, Cheerleader, hochrangige Managerinnen und Fabrikarbeiterinnen waren gezwungen, Grapschereien, Anzüglichkeiten oder unerwünschte Annäherungsversuche mit einem Lächeln zu überspielen, um nicht das nächste Trinkgeld, den nächsten Lohn oder die nächste Beförderung aufs Spiel zu setzen. Sexuelle Belästigung verstieß gegen geltendes Recht, gehörte jedoch in einigen Bereichen der Arbeitswelt zum Alltag. Frauen, die den Mund aufmachten, wurden häufig entlassen oder verunglimpft. Die Opfer litten meist im Verborgenen und waren voneinander isoliert. Das Beste, was sie tun konnten, so war man sich im Allgemeinen einig, sei es, als eine Art Entschädigung Geld anzunehmen, im Austausch gegen ihr Schweigen.

Und die Täter erklommen unterdessen oft eine Karrierestufe nach der anderen und schwammen ungestört von einer Erfolgswelle zur nächsten. Von der Umwelt wurden ihre Belästigungen meist akzeptiert oder sogar verschmitzt kommentiert – als wären sie bloß übermütige kleine Lausbuben, die sich eben mal danebenbenommen haben. Ernsthafte Konsequenzen hatten solche Vorfälle kaum. Megan schrieb einige der ersten Artikel, in denen Frauen Donald J. Trump vorwarfen, ihnen nachgestellt zu haben – und berichtete dann 2016 über seinen Wahlsieg.

Nachdem wir am 5. Oktober 2017 unsere Story über die mutmaßlichen sexuellen Belästigungen und Übergriffe durch Harvey Weinstein erstmals veröffentlicht hatten, sahen wir mit wachsendem Erstaunen zu, wie ein Damm brach. Plötzlich begannen Millionen von Frauen weltweit, ihre Misshandlungsgeschichten zu erzählen. Plötzlich mussten zahllose Männer ihres übergriffigen Verhaltens wegen Rede und Antwort stehen. Es war ein beispielloser Moment der Umkehrung. Wir Journalistinnen und Journalisten hatten daran mitgewirkt, einen Paradigmenwechsel einzuläuten. Unsere Arbeit war allerdings nur eine der Triebkräfte eines Wandels, den Vorkämpferinnen des Feminismus und Rechtsgelehrte über Jahre hinweg vorbereitet hatten. Zu ihnen gehörten, neben vielen anderen, auch Journalistenkolleginnen und -kollegen sowie Anita Hill und die Aktivistin und Begründerin der #MeToo-Bewegung Tarana Burke.

Während wir zusahen, wie unsere hart erarbeiteten investigativen Enthüllungen dazu beitrugen, Grundeinstellungen zu verändern, fragten wir uns allerdings eines: Warum gerade diese Story? Wie einer unserer Redakteure hervorgehoben hatte, war Harvey Weinstein ja nicht mal so berühmt. Wieso löste in einer Welt, in der an so vielen Stellen Stillstand zu herrschen scheint, gerade dieser Artikel ein derartiges Erdbeben aus? Warum brachte ausgerechnet er einen solchen Wandel in Gang? Auf der Suche nach Antworten beschlossen wir, dieses Buch zu schreiben.

Dieser Wandel war weder unvermeidlich noch vorauszusehen. Auf den folgenden Seiten beschreiben wir, was die ersten mutigen Quellen motivierte und wie sie mit sich rangen, das Risiko einzugehen und die Mauer des Schweigens, die Harvey Weinstein umgab, zu durchbrechen. Laura Madden, eine ehemalige Assistentin Weinsteins, inzwischen Hausfrau und Mutter in Wales, hatte gerade ihre Scheidung hinter sich und eine Brustkrebsoperation vor sich, als sie sich offen zu Weinstein äußerte. Ashley Judd setzte ihre Karriere aufs Spiel, bestärkt durch eine wenig bekannte Lebensphase, in der sie sich aus Hollywood zurückgezogen und grundsätzliche Überlegungen zur Geschlechtergerechtigkeit angestellt hatte. Zelda Perkins, eine Londoner Produzentin, die eine zwei Jahrzehnte zuvor unterzeichnete Verschwiegenheitserklärung gehindert hatte, ihre Beschwerden über Weinstein öffentlich zu machen, sprach ungeachtet möglicher rechtlicher und finanzieller Konsequenzen mit uns. Eine Schlüsselrolle spielte auch ein langjähriger Mitarbeiter Weinsteins, der das, was er wusste, immer stärker als Belastung empfand. Die bislang unbekannte Quelle half uns, seinem Boss am Ende die Maske vom Gesicht zu reißen.

Dies ist auch eine Geschichte über investigativen Journalismus. Sie beginnt mit den ersten Tagen unserer Recherchen, die voller Ungewissheit waren, denn wir wussten noch sehr wenig, und kaum jemand wollte mit uns sprechen. Wir beschreiben, wie wir Geheimnissen auf die Spur kamen, Informationen festklopften und die Jagd nach der Wahrheit über einen mächtigen Mann auch dann noch fortsetzten, als dieser sich hinterhältiger Taktiken bediente, um unsere Arbeit zu sabotieren. Ebenso rekonstruieren wir hier zum ersten Mal unseren finalen Showdown mit dem Filmproduzenten – und sein letztes Gefecht – im Büro der New York Times unmittelbar vor Veröffentlichung unseres Artikels, also genau in dem Augenblick, in dem er begriff, dass er verloren hatte.

Unsere Berichterstattung über Harvey Weinstein fand zu einer Zeit statt, in der die Medien wegen der Verbreitung von Fake News allgemein in der Kritik standen und das Einvernehmen darüber, was Wahrheit sei, zu bröckeln begann. Die Enthüllungen über ihn hatten auch deshalb so dramatische Folgen, weil es uns und anderen Kolleginnen und Kollegen gelungen war, unwiderlegbare, erdrückende Beweise für sein Fehlverhalten zu erbringen. Auf den folgenden Seiten erläutern wir, wie wir anhand von Augenzeugenberichten, Finanzunterlagen, juristischen Dokumenten, Firmenmemos und anderen aussagekräftigen Materialien ein Verhaltensmuster freilegen und dokumentieren konnten. Bei der öffentlichen Debatte, die unsere Arbeit auslöste, ging es weniger um das, was Weinstein einzelnen Frauen angetan hatte, als vielmehr darum, wie damit umzugehen sei.

Dieses Buch speist sich aus zweierlei Quellen: dem, was wir im Verlauf unserer ursprünglichen Recherchen zu Weinstein im Jahr 2017 in Erfahrung brachten, und der beachtlichen Menge an Informationen, die wir seither gesammelt haben. Vieles von dem, was wir hier an neuem Material über Weinstein präsentieren, illustriert sehr gut, wie das Rechtssystem und die Unternehmenskultur Opfer zum Schweigen brachten und Veränderungen auch weiterhin blockieren. Firmen werden instrumentalisiert, um übergriffige Männer zu schützen. Anwälte, die Frauen vertreten, profitieren von einem Vergleichssystem, das Fehlverhalten deckt. Viele Menschen bekommen hier und da von dem Problem etwas mit – wie etwa Bob Weinstein, Harveys Bruder und Geschäftspartner, der ausführliche Interviews zu diesem Buch beigesteuert hat  –, tun jedoch wenig, um es zu unterbinden.

Wir hoffen, dass dieses Buch ein bleibendes Zeugnis von Weinsteins Vermächtnis sein wird: die Instrumentalisierung des Arbeitsplatzes, um Frauen zu manipulieren, unter Druck zu setzen und zu terrorisieren.

Als sich in den Monaten nach Veröffentlichung unserer Ermittlungsergebnisse im Fall Weinstein die #MeToo-Bewegung Bahn brach wie ein explodierender Vulkan, entstanden auch völlig neue Debatten. Sie bewegten sich in einem breiten Themenfeld, das von Date Rape über Kindesmissbrauch und Geschlechterdiskriminierung bis hin zu unangenehmen Partybegegnungen reichte. Worum ging es denn nun aber eigentlich? Um das Unterbinden sexueller Belästigungen, eine Reform des Justizwesens, den Sturz des Patriarchats oder darum, wie man richtig flirtet, ohne eine strafbare Handlung zu begehen? War die Abrechnung zu weit gegangen, weil aufgrund mehr als zweifelhafter Beweise der Ruf unschuldiger Männer beschädigt wurde, oder nicht weit genug, weil ein frustrierender Mangel an Systemwandel herrschte?

Knapp ein Jahr nach Veröffentlichung unserer Weinstein-Story erschien Dr. Christine Blasey Ford, Psychologieprofessorin aus Kalifornien, vor einem Untersuchungsausschuss des US-Senats und beschuldigte Richter Brett Kavanaugh, der für einen Posten am Obersten Gerichtshof nominiert war, er habe sie während ihrer gemeinsamen Zeit auf der Highschool im betrunkenen Zustand sexuell genötigt. Kavanaugh wies die Beschuldigung wutentbrannt zurück. Manche sahen in Ford die ultimative Heldin der #MeToo-Bewegung. Für andere war sie ein Symbol dafür, dass das Ganze zu weit ging, eine lebende Rechtfertigung für den sich anbahnenden Backlash.

Für uns war sie die Protagonistin einer der komplexesten und aufschlussreichsten »Sie sagte«-Storys, die es bis dato gegeben hat, vor allem, als wir nach und nach erfuhren, wie viel von ihrem Weg, der sie schließlich in diese Senatsanhörung führte, von der Öffentlichkeit nicht verstanden worden war. Jodi erlebte die Sitzung live im Verhandlungssaal mit, begleitete einige Mitarbeiter von Fords Anwaltsteam bei der Arbeit und traf sie persönlich am nächsten Morgen. Im Dezember führte Megan bei einem Frühstück in Palo Alto das erste Interview mit ihr nach Abschluss der Anhörung. In den folgenden Monaten kamen Dutzende Stunden zusätzlicher Interviewaufzeichnungen mit Ford zusammen, in denen sie darüber sprach, wie sie dazu gekommen war, ihre Stimme zu erheben, und welche Konsequenzen das für sie hatte. Wir sprachen auch mit anderen, die ihr damals nahegestanden und mitbekommen hatten, was passiert war. Wir erzählen die Geschichte von Fords Reise nach Washington und beleuchten, unter welch enormem Druck sie stand, weil sie zur Zielscheibe unzähliger Projektionen und Ängste wurde und Institutionen und politische Kräfte sie für ihre Zwecke vereinnahmen wollten.

Viele Menschen fragen sich, wie es Christine Ford nach ihrer Anhörung ergangen ist. Das letzte Kapitel dieses Buches bildet ein einzigartiges Gruppeninterview, bei dem wir für ein größeres Gesamtbild einige der Frauen, über die wir berichtet hatten, zusammenbrachten, darunter auch Ford. Doch im Zusammenhang mit ihrer Odyssee steht noch etwas Größeres auf dem Spiel: die immerwährende Frage, was Fortschritt antreibt und behindert. Die #MeToo-Bewegung ist ein Beispiel für gesellschaftlichen Wandel in unserer Zeit und zugleich ein Prüfstein für eben diesen: Wird es uns, die wir in dieser fragmentierten Welt leben, gelingen, ein neues, für alle Seiten faires Regelwerk zu entwickeln, das uns gemeinsam schützt?

Dieses Buch ruft noch einmal zwei erstaunliche Jahre ins Gedächtnis, erstaunlich für Frauen in den USA und auf der ganzen Welt. Es ist eine Geschichte, die allen Beteiligten gehört: Im Gegensatz zu manchen journalistischen Ermittlungen, die sich mit gut gehüteten Regierungs- oder Firmengeheimnissen beschäftigen, geht es bei dieser hier um Erfahrungen, die die meisten von uns aus erster Hand kennen, aus der Familie, vom Arbeitsplatz und aus der Schule. Dennoch haben wir dieses Buch verfasst, um Sie, die Leserinnen und Leser, so nah wie möglich ans Epizentrum der Ereignisse zu holen.

Um alles so unverstellt und authentisch wie möglich wiederzugeben, haben wir Transkriptionen von Interviews sowie E-Mails und andere Primärdokumente mit eingeflochten. Es gibt Notizen aus den allerersten Gesprächen, die wir mit Filmstars über Weinstein führten, einen eindringlichen Brief von Bob Weinstein an seinen Bruder, Auszüge aus den Texten von Christine Ford und anderes Originalmaterial. Einiges von dem, was wir hier mit Ihnen teilen, war ursprünglich nicht für eine Veröffentlichung bestimmt. In diesen Fällen konnten wir dank zusätzlicher Berichterstattung, einschließlich nochmaliger Rückfrage bei den Beteiligten, erreichen, dass es doch aufgenommen werden durfte. Wir bekamen die Möglichkeit, mit Hilfe von Aufzeichnungen und Interviews auch Gespräche wiederzugeben, die wir nicht selbst geführt haben, und Ereignisse zu schildern, bei denen wir nicht persönlich anwesend waren. Insgesamt basiert das Buch auf drei Jahren Berichterstattung und Hunderten von Interviews, die wir von London bis Palo Alto führten. Die Anmerkungen geben einen detaillierten Überblick darüber, welche Informationen aus welchen Quellen und Aufzeichnungen stammen.

Und noch ein Satz zum Schluss: Dieses Buch ist auch eine Chronik der Partnerschaft, die zwischen uns entstand, während wir gemeinsam daran arbeiteten, die Ereignisse zu verstehen. Um Verwirrung zu vermeiden, schreiben wir über uns selbst in der dritten Person. (Hätten wir in der ersten Person über unsere Berichterstattung geschrieben, die auf enger Zusammenarbeit beruhte, häufig jedoch von uns verlangte, unterschiedlichen Fährten zu folgen, dann wäre unklar gewesen, ob ein »ich« Jodi oder Megan meint.) Bevor wir also mit unserer Erzählung beginnen, möchten wir uns noch einmal ganz explizit bedanken: Danke dafür, dass Sie uns ein Stück begleiten, sich mit uns gemeinsam einen Weg durch das Dickicht der Ereignisse und Beweise bahnen, die wir zusammengetragen haben, Zeuginnen und Zeugen dessen werden, was wir bezeugen können, und hören, was wir gehört haben.

Kapitel #1

Der erste Anruf

Die Ermittlungen der New York Times zu Harvey Weinstein(1) begannen damit, dass die vielversprechendste Informationsquelle sich weigerte, überhaupt ans Telefon zu gehen.

»Ehrlich gesagt bin ich von Ihrer Zeitung schon mehrfach ziemlich schlecht behandelt worden. Die Ursache scheint mir Sexismus zu sein«, antwortete die Schauspielerin Rose McGowan(1) am 11. Mai 2017 auf Jodis E-Mail mit der Bitte um ein Gespräch.[1] McGowan zählte die Kritikpunkte auf: eine Rede, die sie auf einem politischen Dinner gehalten hatte, war in der »Style section« behandelt worden und nicht im Nachrichtenteil; ein früheres Gespräch über Weinstein(2) mit einem Times-Reporter war ihr unangenehm in Erinnerung.

»Die NYT sollte sich, was Sexismus angeht, an die eigene Nase fassen«, schrieb sie. »Ich bin nicht besonders geneigt zu helfen.«

Monate davor hatte McGowan(2) einen nicht beim Namen genannten Produzenten – dem Gerücht nach Weinstein(3) – beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben. »Weil es in Hollywood und in den Medien ein offenes Geheimnis ist & ich gedemütigt werde, während mein Vergewaltiger beweihräuchert wird«, hatte sie getweetet und den Hashtag #WhyWomenDontReport hinzugefügt.[2] Jetzt hieß es, sie schreibe an einer Autobiografie, die Enthüllungen über die schlechte Behandlung von Frauen in der Unterhaltungsindustrie enthalten solle.[3]

Im Gegensatz zu fast alle anderen in Hollywood hatte McGowan(3) schon mehrfach ihre Karriere riskiert und Sexismus offen angeprangert. Einmal hatte sie per Tweet den beleidigenden Kleidercode publik gemacht, der auf einer Casting-Ankündigung zu einem Film von Adam Sandler gefordert wurde: »Tanktop mit großem Dekolleté (Push-up-BHs erwünscht).«[4] Ihr Ton in den sozialen Medien war generell hart und konfrontativ: »Es ist in Ordnung, wütend zu sein. Habt keine Angst davor«, hatte sie einen Monat davor getweetet und später hinzugefügt: »Reißt das System nieder.«[5] Wenn sich schon McGowan als Aktivistin und Schauspielerin nicht zu einem vertraulichen Gespräch bereiterklärte, wer dann?

Harvey Weinstein(4) war nicht der Mann der Stunde. In den letzten Jahren hatten die von ihm produzierten Filme geschwächelt, der Zauber schien gebrochen. Doch sein Name stand für Macht, insbesondere für die Macht, Karrieren zu begründen und anzuschieben. Erst hatte er sich selbst erfunden: Er stammte aus einfachen Verhältnissen und war im New Yorker Stadtteil Queens aufgewachsen. Vom Konzertveranstalter über den Filmverleih hatte er es schließlich in die Filmproduktion geschafft. Er schien ein Händchen dafür zu haben, alles um sich herum größer werden zu lassen – Filme, Partys und vor allem Menschen. Über die Jahre hatte er vielen jungen Schauspielerinnen und Schauspielern, wie zum Beispiel Gwyneth Paltrow(1), Matt Damon, Michelle Williams und Jennifer Lawrence, zu Ruhm verholfen. Er war imstande, winzige Independent-Filme wie Sex, Lügen und Video (OTSex, Lies, and Videotape, 1989) oder The Crying Game (OTThe Crying Game, 1992) zu einem globalen Phänomen zu machen. Er war der Wegbereiter der modernen Oscarverleihung und hatte die Trophäe für den Besten Film fünfmal für sich selbst und haufenweise für andere gewonnen. Er beschaffte schon seit fast zwanzig Jahren Geld für Hillary Clinton(1) und unterstützte sie bei zahllosen Benefizveranstaltungen. Als Malia Obama eine Praktikumsstelle beim Film suchte, arbeitete sie für »Harvey« – der Vorname stand für sich und wurde selbst von vielen Fremden verwendet. Obwohl seine Filme inzwischen weniger erfolgreich waren, genoss er auch 2017 einen hervorragenden Ruf.

Gerüchte über seinen Umgang mit Frauen hatte es schon lange gegeben. In der Öffentlichkeit kursierten entsprechende Witze: »Glückwunsch, ihr fünf Ladys braucht jetzt nicht mehr so zu tun, als fändet ihr Harvey Weinstein(5) attraktiv«, scherzte Comedian Seth MacFarlane bei der Verkündung der Oscarnominierungen 2013. Doch viele hatten sein Verhalten als harmloses Flirten abgetan, und nie war etwas öffentlich dokumentiert worden. Andere Journalisten hatten in der Vergangenheit ihr Glück versucht und waren gescheitert. Eine Ermittlung des City of New York Police Department (NYPD) gegen Weinstein im Zusammenhang mit einer Anschuldigung wegen Grapschens war ohne Strafantrag ausgegangen. »Irgendwann werden sich alle Frauen, die bisher Angst hatten, sich zu Harvey Weinstein zu äußern, bei den Händen fassen und springen müssen«, hatte die Journalistin Jennifer Senior damals getweetet.[6] Das war jetzt zwei Jahre her. Nichts war geschehen. Jodi hatte zwar gehört, dass es zwei weitere Reporter – ein Autor vom New York Magazine und Ronan Farrow(1) von NBC – versucht hätten, aber es waren keine Storys erschienen.

Waren die Gerüchte über Weinsteins Umgang mit Frauen falsch? Hatte sich McGowans Tweet auf jemand anderen bezogen? In der Öffentlichkeit präsentierte sich Weinstein(6) selbstbewusst als Feminist. Gerade erst hatte er eine stolze Summe für die Einrichtung eines Lehrstuhls zu Ehren der Frauenrechtlerin Gloria Steinem gespendet. Sein Unternehmen hatte den Dokumentarfilm Freiwild – Tatort Universität (OTThe Hunting Ground, 2015) vertrieben, einen wütenden Aufschrei gegen sexuelle Gewalt an US-amerikanischen Hochschulen. Im Januar 2017 hatte der Filmmogul sogar an den denkwürdigen Women’s Marches teilgenommen und sich während des Sundance Film Festivals den Pink-Pussyhat-Scharen in Park City, Utah, angeschlossen.[7]

Der Investigativabteilung der Times ging es darum, abseits der lauten Hektik der anderen Redaktionen nach dem zu graben, worüber nie berichtet worden war, Personen zur Rechenschaft zu ziehen, deren Übergriffe bewusst gedeckelt wurden, und Institutionen zu entlarven, die das schmutzige Spiel mitspielten. Der erste Schritt bestand meist in einer vorsichtigen Kontaktaufnahme. Wie also konnten wir McGowan(4) motivieren, ans Telefon zu gehen?

Ihre E-Mail bot Ansatzpunkte. Da war zunächst einmal die Tatsache, dass sie überhaupt geantwortet hatte. Viele meldeten sich gar nicht erst zurück. Zweitens hatte sie sich Gedanken gemacht und die Mühe auf sich genommen, eine Kritik zu äußern. Vielleicht wollte sie Jodi mit ihrem Angriff gegen die Times nur testen, um zu sehen, ob die Reporterin ihren Arbeitgeber verteidigen würde.

Doch Jodi hatte nicht die Absicht, sich über ihren Arbeitsplatz der letzten vierzehn Jahre zu streiten. McGowan(5) zu schmeicheln (»Ich bewundere Sie ehrlich für Ihre mutigen Tweets …«) war auch nicht der richtige Weg. Das würde auch noch das bisschen Autorität untergraben, das sie im vorliegenden Fall besaß. Auch über die Ermittlungen, zu denen McGowan etwas beisteuern würde, durfte sie nichts preisgeben. Eine Antwort auf die Frage, mit wie vielen Frauen Jodi sonst noch gesprochen hätte, würde lauten müssen: »Mit keiner«.

Die E-Mail musste ohne all das auskommen, auch ohne Erwähnung von Weinsteins Namen. McGowan(6) hatte eine Vorgeschichte: Sie hatte private Mitteilungen auf Twitter gepostet, wie etwa die Casting-Einladung von Adam Sandler. Es war ganz offensichtlich, dass sie Dinge ans Licht bringen wollte, doch konnte das unter den gegebenen Umständen auch nach hinten losgehen. (»Ihr alle da draußen, schaut euch mal diese Mail von einer Times-Reporterin an.«) Und die Thematik, um die es ging, machte die Antwort nur umso heikler. McGowan hatte gesagt, sie sei Opfer eines Übergriffs geworden. Es wäre falsch gewesen, Druck auf sie auszuüben.

Jodi hatte bereits 2013 begonnen, über die Erfahrungen von Frauen in Unternehmen und anderen Institutionen zu recherchieren. Die Gender-Debatte in den USA schien mittlerweile gefühlsbeladen: Es gab Meinungskolumnen, Autobiografien, Empörungs- und Verschwesterungsbekundungen in den sozialen Medien. Es war dringend nötig, verborgene Tatsachen aufzudecken. Vor allem über den Arbeitsplatz. Angestellte von ganz oben bis hin zum niedrigsten Posten hatten häufig Angst, ihre Arbeitgeber in Frage zu stellen. Reporter nicht. Jodi hatte während ihrer Recherche festgestellt, dass Gender nicht nur ein Thema war, sondern eine Art investigativer Einstiegspunkt. Da Frauen in vielen Organisationen noch immer Außenseiterinnen waren, erlaubte ein Dokumentieren dessen, was sie erlebten, zugleich Einblicke in die Funktionsmechanismen von Macht.

Jodi antwortete Rose McGowan(7), indem sie auf diese Erfahrungen Bezug nahm:

Hier meine eigene Erfolgsbilanz zu diesen Themen: Amazon, Starbucks und die Harvard Business School haben als Reaktion auf die von mir enthüllten geschlechterbezogenen Probleme allesamt ihre Verhaltensregeln geändert. Als ich über den Klassenunterschied in Bezug aufs Stillen schrieb – Büroangestellte dürfen bei der Arbeit abpumpen, Frauen im Niedriglohnsektor nicht –, reagierten die Leserinnen und Leser, indem sie die allerersten mobilen lactation suites zum Stillen/Abpumpen erfanden und bauten, von denen inzwischen mehr als 200 im ganzen Land verfügbar sind.

Falls Sie lieber nicht mit mir sprechen möchten, habe ich vollstes Verständnis. Alles Gute für Ihre Buchveröffentlichung.

Danke, Jodi

McGowan(8) meldete sich innerhalb weniger Stunden zurück. Bis Mittwoch stehe sie jederzeit zu einem Gespräch zur Verfügung.

Es war zu befürchten, dass der Anruf heikel werden würde. McGowan(9) wirkte taff mit ihrem Igel-Haarschnitt und dem Ruf zu den Waffen auf Twitter. Doch die Stimme am Telefon gehörte einer überaus mutigen und leidenschaftlichen Frau, die eine Geschichte zu erzählen hatte und dafür nach dem richtigen Weg suchte. In den Tweets hatte sie nur Andeutungen gemacht und wenige Details preisgegeben. Bei Interviews war es allgemein üblich, dass das Gespräch mitgeschnitten wurde, damit das Material veröffentlicht werden konnte, es sei denn, man traf eine andere Abmachung. Daher würde sich vermutlich jede Frau, die eine Anschuldigung wegen sexueller Übergriffe gegen Weinstein(7) vorzubringen hatte, schon allein gegen ein Anfangsgespräch sträuben. Jodi stimmte also zu, das Telefonat vertraulich zu behandeln, solange sie sich nicht auf etwas anderes einigten, und McGowan legte los.

Damals, 1997, war sie noch blutjung gewesen und hatte beim Sundance Film Festival im Rausch des ersten Ruhms geschwelgt, war von einer Filmpremiere zur nächsten gelaufen, im Schlepptau stets ein Fernsehteam. Sie hatte erst in vier oder fünf Filmen mitgespielt, darunter im Teenie-Horrorfilm Scream – Schrei! (OTScream, 1996), avancierte aber bereits zum Liebling aller. »Ich war die Königin des Sundance«, sagte sie. Independent-Filme standen im Zentrum des kulturellen Interesses, das Festival war der angesagteste Ort überhaupt, und Harvey Weinstein(8) war der große King. Hier hatte der mächtige Produzent und Verleiher kleine Filme wie Clerks – die Ladenhüter (OTClerks, 1994) und Reservoir Dogs – Wilde Hunde (OTReservoir Dogs, 1992) eingekauft und anschließend zu Kultfilmen gemacht. In welchem Jahr passierte, was sie danach erzählte, daran konnte sich McGowan(10) nicht mehr genau erinnern; viele Schauspielerinnen rekonstruierten ihre Vergangenheit nicht anhand genauer Daten, sondern indem sie sich daran erinnerten, wann sie welchen Film gedreht hatten und wann dieser in die Kinos kam. McGowan erinnerte sich jedenfalls an eine Filmvorführung, bei der sie direkt neben Weinstein gesessen hatte. Der Film habe auch noch Going All the Way (»das volle Programm durchziehen«) geheißen, sagte sie und musste wegen des ironischen Umstands lachen. (Der deutsche Filmtitel lautet Der lange Weg der Leidenschaft, 1997.)

Danach habe er sie um ein Treffen gebeten, was ja Sinn ergab: Der Top-Produzent wollte mit dem aufgehenden Stern Kontakt knüpfen. Sie habe ihn im Stein Eriksen Lodge Deer Valley in Park City getroffen, in seinem Zimmer. Außer dem üblichen Gerede über Filme und Filmrollen sei nichts gewesen, sagte sie.

Doch auf dem Weg nach draußen habe Weinstein(9) sie in einen Raum mit Whirlpool gezogen, sie an der Poolkante ausgezogen und sein Gesicht mit Gewalt zwischen ihre Beine gedrückt. Sie sagte, sie erinnere sich daran, das Gefühl gehabt zu haben, den eigenen Körper zu verlassen, an der Decke zu schweben und die Szene von oben zu beobachten. »Ich stand extrem unter Schock und wechselte in den Überlebensmodus«, berichtete sie. Um von ihm wegzukommen, habe sie einen Orgasmus vorgetäuscht und sich selbst Schritt für Schritt stumme Anweisungen gegeben: »Dreh jetzt den Türgriff.«, »Geh jetzt raus hier.«

Ein paar Tage später habe Weinstein(10) auf ihrem Anrufbeantworter zu Hause in Los Angeles ein gruseliges Angebot hinterlassen: Er zähle auch andere weibliche Stars zu seinen speziellen Freundinnen, und sie könne gern zu diesem Club dazustoßen. Schockiert und völlig aufgelöst habe sie sich bei ihren Managern beschwert und einen Anwalt eingeschaltet. Am Ende sei ein Vergleich mit Weinstein dabei herausgekommen, verbunden mit einer Abfindung in Höhe von 100 000 Dollar – im Grunde eine Zahlung dafür, die Sache unter den Tisch fallen zu lassen, ohne irgendein Eingeständnis etwaigen Fehlverhaltens seinerseits. Das Geld habe sie einem Krisenzentrum für Vergewaltigungsopfer gespendet.

Ob sie ihre Ausfertigung der Vergleichsdokumente noch hätte? »Ich habe nie eine Kopie bekommen«, antwortete sie.

Das Problem gehe weit über Weinstein(11) hinaus, fügte sie hinzu. Hollywood sei ein organisiertes System für den Missbrauch von Frauen. Es locke sie alle mit dem Versprechen von Ruhm, mache höchst profitable Produkte aus ihnen, behandle ihre Körper wie Eigentum, fordere ihnen perfektes Aussehen ab und rangiere sie am Ende aus. Während des gesamten Gesprächs feuerte McGowan(11) ihre Beschuldigungen ab wie Schüsse.

»Weinstein(12) – es geht nicht nur um ihn, es ist eine ganze Maschinerie, eine Lieferkette.«

»Keinerlei Aufsicht, keinerlei Angst.«

»Die Studios diffamieren die Opfer und kaufen sich frei.«

»Fast alle haben eine Vertraulichkeitsvereinbarung.«

»Wenn weiße Männer je eine Spielwiese hatten, dann ist es Hollywood.«

»Die Frauen hier sind genauso schuldig.«

»Tanz bloß nicht aus der Reihe, du bist jederzeit ersetzbar.«

McGowans Worte hatten etwas Faszinierendes. Die Behauptung, Hollywood nutze Frauen aus, zwinge sie in die Konformität und serviere sie ab, sobald sie alterten oder rebellierten, war zwar ein alter Hut. Doch von einem so bekannten Gesicht einen derart direkten, mit verstörenden Details gespickten Bericht über diese Ausbeutung zu hören, noch dazu mit einem der renommiertesten Produzenten als Täter, war völlig anders: schärfer, spezifischer, ekelerregend.

Das Telefonat endete mit der Vereinbarung, bald wieder miteinander zu sprechen. Die Schauspielerin war eine ungewöhnliche Frau, aber die mitunter haarsträubenden Dinge, die sie gesagt oder getan hatte, oder mit wem sie zusammen gewesen war, spielten in diesem Zusammenhang keine Rolle. Die Frage war, ob ihr Bericht den Härten des journalistischen Prozesses und, falls es so weit kommen sollte, dem unvermeidlichen Gegenschlag durch Weinstein(13) und schließlich der öffentlichen Überprüfung standhalten würde. Bevor die Times überhaupt in Betracht ziehen konnte, McGowans Anschuldigungen zu publizieren, mussten sie untermauert und schließlich Weinstein vorgelegt werden. Man musste ihm die Gelegenheit zu einer Stellungnahme geben.

Die Zeitung hatte die Pflicht, alle Beteiligten fair zu behandeln, vor allem angesichts der Schwere der Vorwürfe. Im Jahr 2014 hatte die Zeitschrift Rolling Stone, ohne auch nur annähernd Beweise dafür liefern zu können, von einem Vorfall an der University of Virginia berichtet, den sie als schreckliche Gruppenvergewaltigung bezeichnete.[8] Die nachfolgende Kontroverse setzte eine Reihe von Gerichtsprozessen in Gang,[9] ruinierte die Reputation der Zeitschrift nahezu vollständig, gab denen Munition in die Hand, die behaupteten, Frauen würden Vergewaltigungen erfinden, und warf den Kampf gegen sexuelle Übergriffe auf dem Universitätscampus um einiges zurück. Die Washington Post berichtete, die Polizei habe die Geschichte als »kompletten Schwachsinn« bezeichnet, die Columbia Journalism Review nannte sie »eine Sauerei«, und der Artikel heimste einen Preis als »Error of the Year« ein.[10]

Auf den ersten Blick wirkte McGowans Bericht für Weinstein(14) leicht anzufechten. Er könnte behaupten, die Sache ganz anders in Erinnerung zu haben, sie hätte den Eindruck erweckt, es würde ihr Spaß machen. Und er hätte sogar den perfekten Beweis dafür gehabt: ihren vorgetäuschten Orgasmus. Die alte Aufnahme auf dem Anrufbeantworter konnte von großer Bedeutung sein, denn damit würde man zeigen können, dass Weinstein seine Macht als Produzent ausnutzte, um sexuelle Gefälligkeiten zu erzwingen. Doch falls McGowan(12) die Aufnahme von vor zwanzig Jahren nicht mehr hatte, wäre es nur die Erinnerung an eine lange zurückliegende Nachricht, die ebenso leicht zu leugnen war.

Als Bericht einer Einzelnen würde McGowans Geschichte aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem klassischen »Er sagte, sie sagte«-Streit verkommen. McGowan(13) würde eine schreckliche Geschichte erzählen. Weinstein(15) würde sie leugnen. Da es keine weiteren Zeugen gab, würden die Leute Partei ergreifen: Team Rose gegen Team Harvey.

Allerdings hatte McGowan(14) erwähnt, sie hätte eine Abfindung erhalten. Es würde zwar schwer sein, Beweise dafür zu finden, doch waren Rechtsanwälte involviert gewesen, eine Vereinbarung war unterzeichnet worden, und Geld hatte den Besitzer gewechselt. Außerdem gab es eine Spende an das Krisenzentrum für Vergewaltigungsopfer. Irgendwo musste die Vereinbarung dokumentiert sein. Sie würde zwar nicht beweisen, was genau sich in dem Hotelzimmer abgespielt hatte, aber die Tatsache, dass Weinstein(16) damals eine beachtliche Summe an McGowan gezahlt hatte, um einen Disput beizulegen, konnte deren Aussage untermauern.

Jodi ging mit allem, was sie bis hierher in Erfahrung gebracht hatte, zu Rebecca Corbett(1), ihrer langjährigen Redakteurin bei der Times und Expertin für komplexe Ermittlungen. Sie besprachen, ob sich McGowans Sicht der Dinge bekräftigen ließe, und erörterten auch die wichtige Frage: Hatten andere Frauen ähnliche Geschichten über Weinstein(17) zu erzählen?

Das herauszufinden, würde enormen Aufwand kosten. Weinstein(18) hatte über die Jahrzehnte Hunderte von Filmen produziert oder verliehen. Zusammen mit seinem Bruder Bob hatte er zwei Unternehmen besessen und geführt: Miramax und The Weinstein Company (TWC); letztere führten sie noch immer. Es gab daher eine Menge von potenziellen Quellen, eine bessere Voraussetzung, als wenn nur ein kleiner Kreis von Menschen über heikle Informationen verfügte. Doch war die Zahl der zu kontaktierenden Leute erdrückend – Schauspielerinnen und ehemalige Angestellte, über verschiedene Kontinente verstreut, von denen die meisten vermutlich nur ungern reden würden.

Mitte Juni schlug Corbett(2) vor, Jodi solle ihre Kollegin Megan Twohey kontaktieren, die noch relativ neu bei der Zeitung war. Megan sei im Mutterschaftsurlaub, aber sie habe ein gutes Händchen für diese Art von Job, sagte die Redakteurin. Jodi konnte sich zwar nicht vorstellen, welche Hilfe genau Megan ihr bieten konnte, schickte ihr aber trotzdem eine E-Mail.

Als Megan Jodis E-Mail erhielt, kümmerte sie sich gerade um ihr Neugeborenes und erholte sich von der schlimmsten Zeit, die sie bis dato in ihrer Karriere als Reporterin erlebt hatte. Sie war im Februar 2016 zur Times gestoßen, um das Politikressort zu verstärken, und hatte über die Präsidentschaftskandidaten recherchiert. Die Stelle hatte sie nur zögerlich angenommen: Politik war bislang weder ihr Ressort noch von besonderem Interesse für sie gewesen.

Doch nur wenige Wochen nach ihrem Einstieg hatte Dean Baquet(1), Chefredakteur der Times, sie auf eine ganz spezielle Frage angesetzt, die genau in ihr Fachgebiet fiel: Hatte Donald J. Trump(1) in seinem Verhalten gegenüber Frauen jemals die Grenzen des Gesetzes und der Ethik übertreten? Megan hatte über mehr als zehn Jahre hinweg Sexualstraftaten und sexuelles Fehlverhalten aufgedeckt. Sie hatte enthüllt, wie in den Chicagoer Randbezirken Polizei und Staatsanwälte »Rape kits« zur Spurensicherung zurückhielten und so den Opfern jede Chance auf Gerechtigkeit nahmen, und wie Ärzte trotz sexueller Übergriffe auf Patientinnen weiter praktizieren konnten.[11] Später hatte sie einen Schwarzmarkt für Adoptivkinder aufgedeckt, über den auch einige an sexuelle Straftäter vermittelt worden waren.

Trump(2) hatte sich lange als Playboy oder zumindest als Karikatur eines solchen aufgeführt. Er war zum dritten Mal verheiratet und mit einer Reihe von Howard-Stern-Interviews ins Rennen um die Präsidentschaft eingestiegen, in denen er mit seinen sexuellen Heldentaten prahlte und Geschmacklosigkeiten über Frauen vom Stapel ließ, auch gegenüber seiner Tochter Ivanka.

Baquet(2) hörte bei diesen Prahlereien gleich die Alarmglocken läuten. War Trump(3) einfach nur promiskuitiv gewesen, dann gab es keine Story – die Zeitung steckte ihre Nase nicht grundlos in das Sexleben anderer Leute, auch dann nicht, wenn es sich um einen Präsidentschaftskandidaten handelte. Doch einige von Trumps Kommentaren waren am Arbeitsplatz gefallen, ein mögliches Zeichen für sexuelle Belästigung. Bei der von ihm mitproduzierten Show The Celebrity Apprentice, bei der er auch selbst auftrat, hatte Trump zu einer Kandidatin gesagt: »Das würde ja ein hübsches Bild abgeben, Sie so auf den Knien.«[12] Jahrzehnte zuvor hatte Ivana Trump, seine erste Ehefrau, ihn Berichten zufolge der Vergewaltigung in der Ehe beschuldigt, den Vorwurf dann aber kleingeredet. Baquet hatte bereits einen anderen Reporter, Michael Barbaro(1), beauftragt, Trumps Verhalten gegenüber Frauen zu untersuchen, und Michael und Megan sollten ihm nun die Frage beantworten, ob Trump nur ein Grobian war oder ob das Problem tiefer lag.

Die Berichterstattung lief zunächst nur schleppend an: Die meisten von Trumps früheren Angestellten waren an Vertraulichkeitsvereinbarungen gebunden,[13] seine bekannte Rachsucht gegenüber allen, die ihn verärgerten, hatte abschreckende Wirkung. Im Laufe der Jahre waren so viele Gerichtsverfahren gegen ihn angestrengt worden, dass es schwerfiel, die richtigen herauszusuchen.

Im Mai 2016 jedoch waren Megan und Barbaro(2) so weit, auf der Grundlage von Hunderten Akten und über fünfzig Interviews mit Menschen, die mit oder für Trump(4) gearbeitet hatten, mit ihm ausgegangen waren oder gesellschaftlich mit ihm verkehrt hatten, einen Artikel zu schreiben. Trump war ein mächtiger Mann, der sich Frauen gegenüber sehr widersprüchlich verhielt. Er konnte zu den Frauen, mit denen er arbeitete, liebenswürdig und ermutigend sein und hatte einige von ihnen in seinem Unternehmen in Spitzenpositionen befördert. Doch gab er ebenso gern endlose Kommentare über Frauenkörper ab und zeigte immer wieder ein verstörendes Verhalten am Arbeitsplatz.

Das Wichtigste aber war, dass Megan zusätzlich zu Ivana Trumps Vergewaltigungsbehauptung zahlreiche Anschuldigungen wegen sexueller Übergriffe zusammengestellt hatte.[14] Eine ehemalige Miss Utah hatte im Detail beschrieben, wie Trump(5) sie 1997 zweimal gewaltsam auf den Mund geküsst hatte: bei einer Gala nach dem Schönheitswettbewerb zur Miss USA und später während einer Besprechung in seinem Büro über ihre mögliche Modelkarriere. In zwei alten Gerichtsverfahren hatte eine ehemalige Geschäftspartnerin, die mit ihm gemeinsam einen Schönheitswettbewerb organisiert hatte, behauptet, Trump habe sie während eines Arbeitsdinners im Plaza Hotel unter dem Tisch begrapscht und sie bei einem anderen Arbeitstreffen in ein Zimmer geführt, wo er sie gewaltsam »geküsst, befummelt und gehindert« habe zu gehen.[15]

Höchste Vorsicht war geboten. Stand auch nur eine einzige Anschuldigung innerhalb einer der Storys auf wackeligen Beinen, konnte das den gesamten Artikel gefährden. Als eine frühere Teilnehmerin eines Schönheitswettbewerbs Megan erzählte, Trump(6) habe sie in seiner Villa in Palm Beach begrapscht, worauf sie panisch in ihr Zimmer geflohen sei und gleich ihren Vater angerufen habe, machte sich ein Kollege auf die Suche nach dem Mann und spürte ihn im Ausland auf. »Hab den Vater«, meldete der Kollege per E-Mail. »Kurz gesagt – er kann sich nicht erinnern, dass so etwas mit Trump passiert wäre.« Das hieß zwar nicht, dass die Frau gelogen hatte. Aber ihre Beschuldigung konnte in der Story nicht verwendet werden.

Der Artikel – in dem viele Frauen selbst zu Wort kamen – erschien am Samstag, dem 14. Mai 2016, im Morgengrauen (Eastern Time) und verbreitete sich in Windeseile. Er wurde schließlich zum bis dahin meistgelesenen politischen Times-Artikel des Jahres. Dass Trump(7), der bekanntlich an ihm geäußerte Kritik unverzüglich und auf bösartigste Weise attackiert, sich das ganze Wochenende über nicht zu der Sache äußerte, wurde als Zeichen der Stärke des Artikels interpretiert. Vor der Veröffentlichung hatten Megan und Barbaro(3) ein langes Interview mit dem Präsidentschaftskandidaten geführt und seine Antworten, darunter auch sein Leugnen jeglichen sexuellen Fehlverhaltens und sein Beharren darauf, Frauen stets respektvoll behandelt zu haben, mit eingeflochten.[16]

Am Montagmorgen waren sie gerade im Green Room der CBS-Nachrichtensendung This Morning und bereiteten sich auf ein Interview zu dem Artikel vor, als Gayle King hereinkam und auf den Fernseher zeigte: »Habt ihr das gesehen? Rowanne Brewer Lane ist gerade bei Fox and Friends gewesen und hat eure Story kommentiert.«[17]

Brewer Lane war im Artikel als Erste zitiert worden. Das Ex-Model, das Trump(8) 1990 bei einer Poolparty in Mar-a-Lago kennengelernt hatte, beschrieb während eines Interviews, wie Trump sich ganz und gar auf sie konzentriert hätte, sie in ein Zimmer geführt und ermutigt hätte, einen Badeanzug anzuziehen, um sie dann den Gästen vorzuführen. Brewer Lane stellte nicht in Frage, wie sie im Hinblick auf das Geschehene zitiert worden war. Nicht einverstanden war sie mit der Einordnung des Ganzen als »entwürdigender, direkter Begegnung zwischen Trump und einer jungen Frau, die er kaum kannte«.

Die Darstellung machte innerhalb einer aus fünftausend Worten bestehenden Story, in der darauf hingewiesen wurde, dass sie danach auch weiterhin mit Trump(9) ausgegangen war, gerade mal eine Handvoll Absätze aus. Doch Brewer Lanes öffentliche Kritik gab Trump einen Anknüpfungspunkt, um den gesamten Artikel anzugreifen. Er machte sich ihre Kommentare sofort zu eigen und feuerte eine Reihe von Tweets zurück:

Die @nytimes ist so verlogen. Ihr gestriger Drecksartikel über mich ist gerade von Rowanne Brewer gesprengt worden. Sie hat gesagt, es ist alles Lüge!

Der schwache Artikel der @nytimes über mich ist durch die heutige Aussage der Frau, die im Mittelpunkt steht, als Schwindel entlarvt![18]

Bald sprangen ihm seine Anhänger bei und nahmen Megan und Barbaro(4) in den sozialen Medien, in E-Mails und wütenden Telefonanrufen unter Beschuss. Die schweren Anschuldigungen gegen Trump(10) wegen sexuellen Fehlverhaltens waren im Artikel sorgfältig dokumentiert. Doch nun befanden sich Megan und Barbaro wegen der Kritik an einem weit weniger schwerwiegenden Ausrutscher in der Defensive.

Die Mitarbeiter von Bill O’Reilly, dem aufgeblasenen Platzhirsch der rechtskonservativen Nachrichten, riefen ständig bei Megan an und fragten: »Sind Sie Feministin?«, als würde sie das diskreditieren. Misstrauisch gegenüber ihren Motiven, lehnte sie alle Bitten um ein Interview ab und musste dann zusehen, wie sich der Moderator aufplusterte und seine Fernsehpräsenz dazu nutzte, um vor Millionen von Zuschauern die Glaubwürdigkeit ihrer Arbeit anzuzweifeln. »Das Problem ist, dass Megan Twohey eine Feministin ist. Oder zumindest eine zu sein scheint«, sagte er. Sein Argument war absurd – die Washington Post stellte die Frage, ob etwa ein Chauvinist über die Geschichte hätte berichten sollen –, aber O’Reilly nutzte seine Macht und seinen Einfluss in vollem Umfang, um die Bedeutung der Ergebnisse ihrer Nachforschungen herunterzuspielen und Megan in Verruf zu bringen.[19]

Diese öffentlichen Attacken waren anders als alles, was Megan je erlebt hatte. Sie war dankbar, als endlich der Juni 2016 kam und ein schon längst eingegangenes Versprechen – die eigene Hochzeit – ihr eine Atempause gönnte.

Doch gab es noch andere Frauen, die Anschuldigungen wegen gewaltsamer Küsse, Grapschens oder Schlimmerem vorzubringen hatten? Als Megan aus ihren Flitterwochen zurückkehrte, berichtete sie weiter über Trump(11).

Monate später, am Freitag, dem 7. Oktober, telefonierte sie gerade mit einer Quelle, als plötzlich alle Kollegen aufstanden und sich vor den in der Nachrichtenzentrale laufenden Fernsehern zusammenscharten. Die Washington Post hatte von der Boulevardshow Access Hollywood eine kurze Videoaufnahme von 2005 zugespielt bekommen, in der sich Trump(12) mit seiner Aggressivität gegenüber Frauen brüstete.[20]

Schöne Frauen ziehen mich automatisch an – ich fang einfach an, sie zu küssen … Ich warte nicht einmal. Und wenn du ein Star bist, lassen sie dich alles machen. Ihnen an die Pussy fassen, alles.

So etwas hatte man von einem Präsidentschaftskandidaten noch nie zuvor gehört. Es klang wie eine Bestätigung des Verhaltens, das Megan monatelang recherchiert und zusammengetragen hatte.

Trump(13) entschuldigte sich für seine Worte und verdoppelte anschließend seine Dementis.[21] Die Kommentare zu dem Access-Hollywood-Tape seien nur privates Garderobengerede gewesen, insistierte er. Zwei Tage später, am 9. Oktober, behauptete er während einer Präsidentschaftsdebatte, noch nie eine Frau ohne deren Einverständnis geküsst oder etwa an intimen Körperteilen angefasst zu haben. Ja, er habe sich damit gebrüstet. Aber ob er so etwas tatsächlich getan habe? »Nein, habe ich nicht«, versicherte der Kandidat.[22]

Innerhalb einer Woche standen Megan und Barbaro(5) mit einem neuen Artikel in den Startlöchern. Diesmal berichteten zwei Frauen, Trumps Äußerungen auf besagtem Tape stimmten mit ihrer Erfahrung überein.[23] Sowohl Jessica Leeds, eine vierundsiebzig Jahre alte Ex-Börsenmaklerin und Urgroßmutter, die in einem ansehnlichen Zweizimmerapartment in der Upper East Side von Manhattan wohnte, wie auch Rachel Crooks(1), eine dreiunddreißig Jahre alte Doktorandin der Hochschulverwaltungswissenschaften aus Green Springs, Ohio, hatten E-Mails an die Times geschickt, in denen sie ihre Anschuldigungen ausführlich darlegten.

Leeds war in den frühen 1980ern als Außendienstmitarbeiterin für einen Zeitungspapierhersteller durchs Land gereist, als sie das Glück hatte, für einen Flug von Dallas nach New York ein Upgrade in die erste Klasse zu bekommen. Der Zufall wollte es, dass neben ihr Donald Trump(14) saß – groß, blond und sehr geschwätzig. Eine Dreiviertelstunde nach dem Start, so Leeds, hätte er sich über sie gebeugt, ihre Brüste betatscht und versucht, seine Hand unter ihren Rock zu schieben.

»Er überfiel mich förmlich, seine Hände waren überall«, schrieb sie in ihrer E-Mail und erklärte, sie habe sich auf einen Platz in der Economy Class geflüchtet.

Crooks(2) war Tochter einer Krankenschwester und eines Handwerkers; mit Politik hatte sie nichts am Hut, verstand sich aber als Republikanerin. In der Highschool war sie Landesbeste in Basketball, Leichtathletik und Volleyball gewesen und zur »Abgängerin mit den größten Erfolgschancen« gewählt worden. Im Jahr 2005 zog es sie nach New York, wo sie und ihr Freund ein billiges Apartment am Rand von Brooklyn mieteten. Sie schliefen auf einer Luftmatratze, bis sie genug Geld für einen Futon zusammenhatten. Um die Miete bezahlen zu können, nahm sie einen Job als Sekretärin in einer Projektentwicklungsfirma an, die im vierundzwanzigsten Stock des Trump(15) Tower saß und an Projekten mit The Trump Organization arbeitete. Ein Jahr zuvor war im Fernsehen die Reality-Show The Apprentice angelaufen, die beliebteste neue Show der Saison.[24]

Als sie Donald Trump(16) eines Tages in jenem Winter vor ihrem Büro auf einen Fahrstuhl warten sah, stand sie vom Schreibtisch auf, um sich ihm vorzustellen, und streckte höflich die Hand aus. Er hätte sie nicht mehr losgelassen, sagte sie, und auf die Wangen geküsst, danach seine Lippen auf ihre gepresst. Das Ganze hätte nur eine oder zwei Minuten gedauert. Sie war zweiundzwanzig, und der einzige Mann, der sie bis dahin je geküsst hatte, war der Freund gewesen, mit dem sie zusammenlebte.[25]

»Ich war wütend, weil Mr. Trump(17) mich als so unbedeutend betrachtete, dass er meinte, sich mir derartig aufdrängen zu dürfen«, schrieb sie.

Crooks(3) beschrieb den gewaltsamen Kuss fast genauso wie die ehemalige Miss Utah. Und Leeds die erlittene Grapscherei ganz ähnlich wie die frühere Geschäftspartnerin des Schönheitswettbewerbs. Zudem passte alles zu Trumps Prahlerei auf der Access-Hollywood-Aufnahme. Beide Frauen bekräftigen am Telefon Megan gegenüber, sie seien bereit, sich offiziell zu äußern. Weder Leeds noch Crooks waren auf Publicity aus. Aber die Welt sollte wissen, dass Trump(18) log.

Megan und Barbaro(6) war absolut klar, wie viel hier auf dem Spiel stand. Daher prüften sie die Aussagen nicht nur mehrfach bei Freunden und Familienmitgliedern nach, denen die beiden Frauen sich anvertraut hatten, sondern sie leuchteten auch den jeweiligen Hintergrund der beiden genauestens aus, um sicherzugehen, dass es keine Verbindungen zu Hillary Clinton(2)s Wahlkampagne gab. Megan bat Crooks(4) sogar, ihr ein altes Foto zu schicken, das sie an ihrem Schreibtisch im Trump(19) Tower zeigte, um zu belegen, dass sie dort gearbeitet hatte. Eine so sorgfältige Prüfung hätten die beiden Frauen auch als Beleidigung auffassen können. Aber es ging darum, sie zu schützen. Und nicht nur sie, auch die Times.

Der letzte Schritt bestand darin, Trumps Team die Beschuldigungen vorzulegen.

Megan saß also an ihrem Esstisch und ließ die Augen nicht von ihrem E-Mail-Account. Sie erwartete ein routinemäßiges Dementi von Trumps Sprecher. Stattdessen klingelte ihr Handy.

Am anderen Ende war Trump(20).

Megan hatte kaum angefangen, ihre Fragen zu stellen, da schlug er auch schon um sich. Jessica Leeds und Rachel Crooks(5) würden lügen. Er habe keine Ahnung, wer die beiden seien. Warum seien sie, wenn er ihnen solche Sachen angetan hätte, nicht zur Polizei gegangen?

Megan erklärte, die Frauen würden nicht behaupten, ihn zu kennen, sie wären ihm nur zufällig begegnet. Sie erinnerte ihn an die Beschuldigungen von Seiten der ehemaligen Miss Utah und der einstigen Geschäftspartnerin des Schönheitswettbewerbs.

Außer sich vor Wut verlagerte Trump(21) das Ziel seines Angriffs. Die New York Times habe sich die Berichte der Frauen ausgedacht. Sollten sie die Story veröffentlichen, werde er sie verklagen.

Megan ließ nicht locker, sie wollte unbedingt, dass er weiterredete. Wie stehe es mit dem kürzlich geleakten Access-Hollywood-Tape? Sie fragte ihn noch einmal, ob er je getan habe, womit er sich dort brüstete.

»So was mach ich nicht«, betonte er mit erhobener Stimme. »So was mach ich nicht. Das war Garderobengerede.«

Er fing an, Megan zu beschimpfen. »Sie sind widerlich!«, schrie er. »Sie sind ein widerlicher Mensch.«[26]

Als er auflegte, entspannte Megan sich. So brutal das Gespräch auch gewesen war, hatte sie Trump(22) doch ausreichend Gelegenheit gegeben, auf die Anschuldigungen zu antworten. Nun konnten sie den Artikel zusammen mit seinen Kommentaren veröffentlichen.

Minuten später trat Trump(23) bei einer Wahlkampfkundgebung in Florida auf die Bühne und machte sich umgehend daran, die brodelnde Energie und Wut der versammelten Menschenmenge auf die Journalisten zu lenken.[27]

»Die korrupten Medien haben sich gegen euch, das amerikanische Volk, zusammengerottet«, sagte er. »Und ich sag euch was: Das ist beleidigend und verleumderisch, das ist schrecklich und absolut unfair. Aber wir werden das System zerschlagen.«

Bis zum Wahltag waren es keine vier Wochen mehr. Der republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses sagte, die Access-Hollywood-Aufnahme widere ihn an. Senator John McCain zog seine Unterstützung zurück. Der Vizepräsidentschaftskandidat, Gouverneur Mike Pence, sagte, er bete für die Trump(24)-Familie. Manche Republikaner rieten Trump, sich aus dem Rennen um die Präsidentschaft zurückzuziehen.[28]

Weitere Frauen traten vor, um Trump(25) anzuklagen. Eine war mit Freunden in einem Nachtclub gewesen. Eine andere hatte einmal bei The Apprentice mitgemacht. Bei der dritten handelte es sich um eine Reporterin, die anlässlich von Trumps erstem Hochzeitstag mit seiner dritten Frau Melania eine nette Schnulze schreiben sollte. Was sie erzählten, entsprach im Wesentlichen dem, worüber Megan bereits berichtet hatte. Trump hatte die Frauen angefasst, begrapscht oder befummelt, sie gegen eine Wand gedrückt und sie mit seinen Hüften oder Genitalien bedrängt. Wer konnte sein übergriffiges Verhaltensmuster jetzt noch ignorieren oder als lächerlich abtun?

Allerdings gelang es Megan und Barbaro nicht, alle Beschuldigungen zu überprüfen. Einer brisanten Zivilklage zufolge hatte Trump(26) zwanzig Jahre zuvor ein dreizehnjähriges Mädchen vergewaltigt, und zwar bei einer Party, die ein bestens bekannter Investmentbanker ausgerichtet hatte – Jeffrey Epstein(1), gegen den später wegen Unterhaltung eines Sexhandelsrings mit Minderjährigen für mächtige Männer ermittelt wurde und der sich der erzwungenen Prostitution einer Minderjährigen schuldig bekennen musste.[29] Doch Trumps mutmaßliches Opfer, bislang nur unter dem gängigen Pseudonym Jane Doe bekannt, war weder identifiziert worden noch für Journalisten erreichbar gewesen, auch nicht vertraulich. Ohne eine Bestätigung der Existenz dieser Frau und jede Möglichkeit, ihre Geschichte gründlich zu prüfen, hatte Megan sich geweigert, über den Fall zu berichten, und ihren Kollegen ebenfalls davon abgeraten.

Andere Behauptungen zogen durchaus Aufmerksamkeit auf sich, erschienen aber nicht berichtenswert. Megan verfolgte eine im Fernsehen übertragene Pressekonferenz mit, bei der eine Frau tränenreich von einem Vorfall berichtete, wo Trump(27) ihr, als sie auf eine Mitfahrgelegenheit wartete, offenbar absichtlich mit der Hand über die Brust gefahren war und sie anschließend bedrängt hatte.[30]

Als die sorgfältig abgesicherten Anschuldigungen von Crooks(6) und Leeds sich mit den anderen Vorwürfen zu vermischen begannen, ging Trump(28) von striktem Leugnen zu scharfen Attacken über. Seine Anklägerinnen seien Lügnerinnen. Ruhmsüchtig. Würden für Hillary Clinton(3) arbeiten. Seien zu hässlich und unattraktiv, als dass sie seine Aufmerksamkeit hätten erregen können. Er werde sie verklagen.

Seine Anhänger nahmen die Stichwörter bereitwillig auf und traten erneut in Aktion. Lou Dobbs, Moderator von Fox Business, teilte mit seinen knapp einer Million Followern auf Twitter einen Link zu einem Post einer konservativen Newsseite, die Jessica Leeds’ Telefonnummer und Adresse aufführte und die falsche Behauptung aufstellte, sie arbeite für die Clinton(4)(1) Foundation.[31]

Leeds war nicht so leicht einzuschüchtern, Rachel Crooks(7) dagegen war extrem verunsichert. Sie konnte in Ohio nicht mehr vor die Tür gehen, weil Reporter ihren Vorgarten belagerten. Und wegen der Trump(29)-Trolle und deren beständigem Trommelfeuer von Posts – Du bist so hässlich. Du wirst dafür bezahlt. Jemand sollte dir ein Gewehr an den Kopf halten und diesem Land einen Gefallen tun. – konnte sie auch nicht mehr online gehen. Eine Fremde postete auf Facebook einen Kommentar, in dem sie sich als Freundin der Familie ausgab und behauptete zu wissen, dass Crooks log, was Trump betraf. Der Post wurde zum Toptreffer, wenn man in Suchmaschinen Crooks’ Namen eingab. Ein Mann, von dem Crooks noch nie gehört hatte, beschuldigte sie, eine Firma bestohlen zu haben, für die sie nie gearbeitet hatte.

Mit jedem dieser Angriffe fühlte Megan sich schlechter. Sie hatte die beiden Frauen ermutigt, sich offiziell zu äußern, hatte ihnen gesagt, es wäre ein Dienst an der Öffentlichkeit, derart wichtige Informationen über einen Präsidentschaftskandidaten zu teilen. Sie hatte intime Details aus dem Leben dieser Frauen an eine riesige Wand gemalt, so groß, dass das ganze Land sie lesen konnte. Und nun standen sie unter Beschuss. Crooks(8) hatte am Telefon mit zitternder Stimme gefragt, was die Times tun würde, falls Trump(30) seine Drohung, sie zu verklagen, wahr machte. Die Antwort fiel äußerst mager aus. Jede Woche wurden Tausende von Menschen in der Times zitiert: Genau wie andere Publikationen auch, konnte das Blatt keinerlei rechtliche Verantwortung für sie übernehmen.

Auch Megan wurde angegriffen. Sie erhielt sowohl per Telefon wie über den PC Drohungen von Trump(31)-Anhängern. Nachdem sie wiederholt anonyme Nachrichten von einem Mann erhalten hatte, der drohte, sie zu vergewaltigen, umzubringen und ihre Leiche im Hudson River zu entsorgen, alarmierte sie den Sicherheitsdienst der Times. Sie war mit jedem Tag sichtbarer schwanger und hatte Angst, die Leute könnten anfangen, Drohungen gegen das Baby zu tweeten oder noch Schlimmeres zu tun.

Trump(32) selbst drohte mit einer Klage. Sein Rechtsanwalt schickte einen später vom Trump-Team veröffentlichten Brief an Baquet(3), in dem er diesem nahelegte, die Aussagen von Leeds und Crooks(9) zurückzuziehen. »Kommen Sie dieser Aufforderung nicht nach, wird meinem Klienten nichts anderes übrigbleiben, als alle ihm zur Verfügung stehenden Rechtsmittel zu ergreifen«, hieß es darin.[32]

David McCraw(1), Vizepräsident und Justiziar der New York Times, in der Nachrichtenredaktion wegen seiner Unerschütterlichkeit und seines Eintretens für den Schutz der Journalistinnen und Journalisten sehr beliebt, antwortete ebenso entschieden.

»Es wäre zum Schaden nicht nur unserer Leserinnen und Leser, sondern der Demokratie selbst, ihre Stimmen zum Schweigen zu bringen«, schrieb der Anwalt.

Er forderte Trump(33) sogar direkt dazu auf, die Times zu verklagen. »Falls er glaubt, die amerikanischen Bürgerinnen und Bürger hätten kein Recht gehabt zu hören, was diese Frauen zu sagen hatten, und das Gesetz dieses Landes zwinge uns und diejenigen, die es wagen, ihn zu kritisieren, den Mund zu halten oder abgestraft zu werden, sehen wir mit Freuden der Gelegenheit entgegen, ihm von einem Gericht den Kopf zurechtrücken zu lassen.«[33]

Es war eine mitreißende Verteidigung nicht nur des Journalismus, sondern auch des Rechts von Frauen, Beschuldigungen gegenüber mächtigen Männern zu erheben. Als die Times den Brief auf ihrer Webseite veröffentlichte, ging er sofort viral.

Doch intern äußerte Megan ihre Sorge, Trump(34) würde, wie von McCraw vermutet, einen Prozess gegen sie, Barbaro(7) und die Zeitung anstrengen, falls er die Wahl verlor. Auch wenn er schließlich vor Gericht den Kürzeren ziehen würde, stünde ihnen ein langer, mühsamer Prozess bevor. Für den Fall einer gerichtlich angeordneten Vorlage von Beweismitteln hatte Megan begonnen, alle ihre Notizen, E-Mails und Textnachrichten zu archivieren.

Dreieinhalb Wochen später, am 7. November, flog Megan nach Illinois, um vor Ort die Wahl der, wie viele glaubten, ersten Präsidentin der Vereinigten Staaten mitzuerleben. Aus symbolischen Gründen hatten Megans Redakteure sie gebeten, diesen Augenblick in den Wahllokalen in Hillarys Heimatstadt Park Ridge, einem Vorort von Chicago, einzufangen.

Megan machte sich weder für Clinton(5) noch für sonst irgendeinen Kandidaten stark. Das war nicht Sache einer Reporterin. Einige Wochen zuvor hatte sie in einem Artikel dargelegt, welche Rolle Hillary Clinton(6) im Kampf gegen die Frauen gespielt hatte, die Bill Clinton(2) sexuelles Fehlverhalten und Schlimmeres vorgeworfen hatten. Die Verbündeten der Präsidentschaftskandidatin behaupteten hartnäckig, diese Rolle wäre verschwindend gering gewesen, aber Megan besaß Belege darüber, dass Clinton(7) einen Privatdetektiv angeheuert hatte, der schmutzige Dinge über die Frauen herausfinden sollte.

Während ihrer Gespräche mit den Wählerinnen und Wählern war Megan klar, dass diese ihre Entscheidungen – über die Vorwürfe gegen Trump(35) wegen sexuellen Fehlverhaltens hinaus – auf der Basis vieler Faktoren trafen. Doch hatte sie erwartet, dass ihnen die Angelegenheit zumindest Sorgen machte. Unter der Verwendung von Hashtags wie #WhatWomenDontReport hatte sich in den Wochen vor der Wahl eine wachsende Anzahl von Frauen über andere Männer geäußert, die ihnen Ähnliches angetan hatten. Unter ihnen auch Rose McGowan(15) mit ihren Tweets über den Studioboss, der sie vergewaltigt hatte.

Doch während ihrer Interviews vor den Wahllokalen musste sie feststellen, dass sich kaum eine dieser weißen Vorstadtfrauen allzu sehr für die Trump(36) vorgeworfenen Grenzüberschreitungen oder für seine eigenen Worte in dem Access-Hollywood-Video interessierte. An jenem Abend brauchte Megan den Fernseher eigentlich gar nicht einzuschalten: Ihr war bereits klar, dass Trump gewonnen hatte.

Im April nach den Wahlen beobachteten Megan und Jodi erstaunt, wie eine Reihe von Entwicklungen direkt zum Beginn der Weinstein(19)-Ermittlung führte. Der rechtskonservative Fernsehmoderator Bill O’Reilly verlor auf dem Höhepunkt seiner Macht seinen Posten beim Nachrichtensender Fox News Network, nachdem die Times enthüllt hatte, wie er und das Unternehmen wiederholte Anschuldigungen gegen ihn wegen sexueller Belästigung verschleiert hatten.[34] Emily Steel(1) und Michael Schmidt hatten acht Monate für den Artikel gebraucht. Sie wiesen nach, dass O’Reilly mit mindestens fünf Frauen, die ihm verbale Übergriffe, anstößige Bemerkungen und unerwünschte Annäherungsversuche vorwarfen, Vergleiche geschlossen hatte. O’Reilly und Fox News hatten offenbar geheime Abfindungen in Höhe von insgesamt dreizehn Millionen Dollar gezahlt, um die Frauen zum Schweigen zu bringen – eine enorme Summe von einem der größten Feminismuskritiker Amerikas.

Im Rahmen dieser Story hatte nur eine einzige Frau ihre Anschuldigungen offiziell geäußert: Wendy Walsh, ehemaliger Gast in O’Reillys Sendung. Sie hatte ein lukratives Angebot, in den Kreis seiner Mitarbeiterinnen aufgenommen zu werden, verspielt, als sie eine Einladung in seine Hotelsuite ablehnte. Die meisten der Frauen, um die es in dieser Story ging, durften aufgrund eingegangener Vergleiche mit O’Reilly oder dem Network nicht reden. Sie hatten große Summen angenommen und im Gegenzug eingewilligt, nie über das Geschehene zu sprechen.

Aber Steel(2) und Schmidt hatten etwas Wichtiges herausgefunden: Derart komplexe Transaktionen können nie vollständig geheim gehalten werden. Die geschlossenen Vereinbarungen setzten Anwälte, Verhandlungen und Geld voraus, und auch andere bekamen unweigerlich etwas davon mit: Kollegen, Agenten, Familienmitglieder und Freunde. Zusammengenommen bildeten die Zahlungen eine juristische und finanzielle Spur, die die Geschichte der Anschuldigungen gegen O’Reilly erzählte. Die Abfindungen verhinderten die Story nicht; sie waren die Story, die Geschichte einer Verschleierung, die mutmaßliches Fehlverhalten erst recht beleuchtete. Dies war eine neue Methode der Berichterstattung über sexuelle Belästigung.

Binnen weniger Tage zogen sich Werbeträger wie Mercedes-Benz und Allstate aus O’Reillys Show zurück.[35] Doch vor allem begannen auch andere Frauen bei Fox, gegen das Verhalten des Moderators Beschwerde einzulegen.[36] Am 19. April, keine drei Wochen nach dem Erscheinen des Artikels in der Times, wurde O’Reilly gefeuert. Sowohl er als auch Roger Ailes(1), einflussreicher Republikaner und Begründer von Fox, hatten ihren Job verloren, und zwar nicht etwa aufgrund der Beschuldigung, Frauen schlecht behandelt zu haben – Fox wusste über viele der Fälle Bescheid –, sondern aufgrund der öffentlichen Enthüllungen darüber.[37] Dass dies nun zum zweiten Mal passiert war, machte die Geschichte umso erstaunlicher: Es war wie ein kurzzeitiges Aussetzen der physikalischen Gesetze der Macht.

Die Redakteurinnen der Times ergriffen die Gelegenheit beim Schopf. Frauen schienen zunehmend genug zu haben. Genau wie nach Trumps »Fass-ihnen-an-die-Pussy«-Kommentaren begannen sie jetzt, sich im Zusammenhang mit den Enthüllungen über O’Reilly ihren Frust von der Seele zu reden. Es war nie einfach, Frauen davon zu überzeugen, sich offiziell zu solchen Themen zu äußern, aber vielleicht war dies ja eines der seltenen Zeitfenster, in denen Offenheit möglich war.

Die O’Reilly-Story stellte quasi eine Blaupause zur Verfügung. Fast nie brach jemand ganz allein sein Schweigen. Doch wenn es gelang, solche Muster von Fehlverhalten zu enthüllen, dann gab es vielleicht auch einen Weg, über andere, ähnliche Geschichten zu berichten. Die Times-Redaktion stellte ein Reporterteam zusammen, das eine ganze Reihe von Branchen unter die Lupe nehmen sollte: Silicon Valley und die Tech-Branche, ein Feld für Utopien, das angeblich frei war von alten Gewohnheitsregeln, Frauen aber dennoch ausschloss. Auch die akademische Welt schien wegen der Macht der Professoren über Doktorandinnen, die eine Karriere im selben Bereich anstrebten, reif für eine Ermittlung. Außerdem wollten sich die Journalisten auch den kaum jemals sichtbaren Kleinverdienern widmen, die unter enormem finanziellem Druck standen und weniger Regressmöglichkeiten hatten als wirtschaftlich besser gestellte Frauen.

Einige Tage nach O’Reillys Rauswurf bat Rebecca Corbett(3) Jodi, sich um zwei Fragen zu kümmern. Die erste lautete: Gab es weitere mächtige Männer in Amerika, die missbräuchliches Verhalten Frauen gegenüber verschleierten? Jodi hatte im Stillen bereits ein paar Anrufe getätigt, um sich Rat zu holen, und Shaunna Thomas, eine feministische Aktivistin, hatte ihr empfohlen, sich mit Hollywood, Rose McGowans Buchprojekt und Harvey Weinstein(20) zu befassen.[38] Doch Corbett hatte Jodi noch einen zweiten Auftrag gegeben: Sie sollte über die einzelnen Täter hinaus wiederkehrende Elemente, das System, ausmachen, das dafür sorgte, dass die sexuellen Belästigungen weitergingen und so schwer zu bekämpfen waren. Wie verbreitet waren diese Vergleiche, die bei jeder Story aufzutauchen schienen, und inwieweit hatten sie das Problem verdeckt?

Als Jodi Megan anrief, um sich bei ihr Rat zu holen, wusste Letztere noch nicht, mit welchen Themen genau sie sich beschäftigen würde, sobald sie aus dem Mutterschaftsurlaub zurück wäre. Aber sie sprachen darüber, was Frauen wie Jessica Leeds und Rachel Crooks(10) motiviert hatte, ihr Schweigen zu brechen, und wie der Artikel über O’Reilly zum Beweis dafür hatte werden können, dass die Times ein derart heikles Projekt reibungslos über die Bühne bringen konnte. Sie diskutierten darüber, was sie in den allerersten Sekunden eines Telefongesprächs mit einer Fremden, die ein mögliches Opfer war, sagen könnten, und Megan brachte eine Reihe neuer Ansätze ins Spiel. Darunter einen, den sie gegenüber Vergewaltigungsopfern in Chicago angewandt hatte, um sie dazu zu bringen, von ihren Erlebnissen zu erzählen: »Ich kann nicht ändern, was Ihnen in der Vergangenheit zugestoßen ist, aber vielleicht können wir gemeinsam Ihre Erfahrung nutzen, um andere Menschen zu schützen.«

Der Satz kam an wie nichts anderes zuvor. Weder versprach er zu viel noch klang er einschmeichelnd. Er implizierte stattdessen zwingende Gründe, das Risiko einzugehen und über ein so schmerzhaftes, unangenehmes Thema zu reden. Das war es, was Jodi in ihrer ersten E-Mail an McGowan(16) versucht hatte auszudrücken: Wir meinen es ernst.

Es ging vor allem darum, anderen Menschen zu helfen. Das war immer der ehrlichste und beste Grund, mit einem Journalisten zu reden, und so gut wie die einzige wirksame Antwort auf ein »Ich will die Aufmerksamkeit nicht« oder ein »Ich will keinen Stress«.

Nach diesem Telefongespräch stellte Jodi Corbett(4) nur eine einzige Frage: Wie bald käme Megan aus ihrem Mutterschaftsurlaub zurück?

Kapitel #2

Geheimnisse in Hollywood

Megans Rat war wertvoll, doch während die Ermittlungen gegen Weinstein(21) im Juni 2017 weitergingen, stellte sich die entmutigende Frage, wie sie Schauspielerinnen aus der obersten Liga überhaupt ans Telefon bekommen sollten. Diese Frauen waren schon von Berufs wegen gezwungen, den schönen Schein zu wahren, und sie lebten in größtmöglicher Diskretion, um sich vor der Öffentlichkeit zu schützen. Das typische Prozedere, um an solche Stars heranzukommen, bestand darin, ihre Presseagenturen anzurufen. Aber genau das kam nicht in Frage, ebenso wenig, ihre Agenten und Manager zu kontaktieren. Diese Leute wurden schließlich dafür bezahlt, Barrieren aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Und sie waren meist loyal gegenüber Strippenziehern wie Harvey Weinstein. Zudem ging es hier um sehr intime Fragen, viel zu heikel, als dass man sie mit bezahlten Mittelsleuten geteilt hätte. Jodis einzige Hoffnung bestand in einer direkten Kontaktaufnahme mit den in Frage kommenden Frauen. Aber wie sollte sie das anstellen? Sie verfügte in der Filmwelt über so gut wie keine Informationsquellen oder Kontakte.

Jodi klickte sich durch Fotos, die während des letzten Filmfestivals in Cannes auf dem roten Teppich entstanden waren.[1]