Sherin und Amar - Vered Morgan - E-Book

Sherin und Amar E-Book

Vered Morgan

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Beschreibung

Sherin und Amar erzählen der westlichen Journalistin Vered Morgan die wahre Geschichte ihrer unmöglichen Liebe – und die ist Filmstoff pur. Sherin entstammt einem führenden und sehr strengen paschtunischen Familienclan, in dem Frauen noch immer keine Rechte haben. Während des Krieges verlässt die Familie Afghanistan und zieht in die Emirate. Dort muss Sherin die Schule besuchen und verliebt sich in Amar, einen jungen christlichen Inder. Sherins Liebe wird mit Gewalt, Arrest, Verschleppung und Zauberei bekämpft. Doch sie lässt sich nicht beirren und begeht ein – in den Augen ihrer Familie – todeswürdiges Verbrechen: Sie lässt sich heimlich taufen. Sherin und Amar von Vered Morgan: im eBook erhältlich!

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Vered Morgan

Sherin und Amar

Die verbotene Liebe einer Paschtunenprinzessin

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

Motto1 Der Fisch, der Vogel und die Liebe2 Fremde Tage in Kabul3 Das Nauroz-Fest4 Wir zogen in die Wüstenstadt am Meer5 Die Zeit der Träume6 Ein kleiner Inder in Dubai7 Im kalten Land der Muttawas8 Das Leben ist eine Achterbahn9 Als meine Seele zu tanzen begann10 Der Tag, an dem ich Sherin traf11 Amar und Sherin und der Mond über Jumeira12 Wie ein Pferd vor dem ersten Rennen13 Die dunkle Zeit14 Wie ich im Gefängnis landete15 My family my enemy16 Gib mir ihre Leiden!17 Fluchtgedanken18 Kann man vor Sehnsucht sterben?19 Die Hölle von Peschawar20 Gott antwortet auf meine SMS21 Auch mächtige Wasser können die Liebe nicht löschen22 Ich suchte sie in jeder Nacht23 Die Flucht24 Nachwort: Wie dieses Buch zustande kam
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Gewidmet ist das Buch:

Ismael aus Burma

und Fatima Al Mutairi aus Saudi-Arabien

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1Der Fisch, der Vogel und die Liebe

Sherin erzählt

Wie ein dunkler Schatten steht er dort unter dem Banyanbaum und blickt zu meinem Fenster hinauf, mein geliebter Amar. Es zerreißt mir das Herz, ihn dort stehen zu sehen.

Ich hatte ihn gefunden, den mein Herz über alle Vernunft hinweg liebt, und ich werde ihn nie mehr loslassen, und koste es mich das Leben.

Kann denn ein Fisch einen Vogel lieben? Ich, der exotische Vogel im goldenen Käfig, und du, mein Amar, du, der Fisch, der im weiten Ozean schwimmt.

Eine unmögliche Freundschaft nannte es Mr.Balton, der Schuldirektor, »als würde man einen Vogel mit einem Fisch zusammentun. Dieses ist ein islamisches Land.«

Wir leben in den Arabischen Emiraten, ich, die Afghanin, und Amar, der Inder.

»Graan«, so nenne ich dich in meiner Sprache, »Graan, Geliebter, mein indischer Freund. Sag: Ist Indien denn so ganz anders als Afghanistan? Wirst du mich einmal mitnehmen in dein Land?«

»Ich werde sterben, wenn du mich nicht bald zu dir holst. Befreie mich und nimm mich mit in deine Welt«, schreibe ich auf ein Stück Papier, das ich Ali, dem Diener, zustecke, als ich seine Schritte vor meiner Tür höre.

»Geh schnell, und bring es ihm.«

Ali wurde zu unserem Vertrauten. Wir mussten es wagen, ihm zu vertrauen.

Wie viele Abende stand ich nun schon voll Ungeduld am Fenster und wartete auf Amar, immer mit der heimlichen Furcht, sie könnten entdecken, dass wir aufeinander warten. Einer aus der Familie wacht immer über mich und die Unversehrtheit des Familienrufes, mehr noch, seitdem man uns an den Händen haltend entdeckt hatte.

»Sie hat Schande über den Clan gebracht, sie muss bestraft werden, sie hat die Ehre der Paschtunen beschmutzt, sie hat sich mit einem Inder, einem Kafir, einem Ungläubigen, eingelassen.«

Seitdem bin ich eine Geächtete. Seitdem wurde mein Zimmer zu meinem Gefängnis. Doch sie konnten mir nicht den Geliebten aus dem Herzen reißen, auch dem Mullah aus Peschawar war es nicht gelungen.

 

So lass dir die Geschichte der Sherin erzählen, liebe Freundin aus dem fernen, freien Land. Die Geschichte der Paschtunin aus Afghanistan, gefangen im Netz des Ehrenkodex der Paschtunen und der Gesetze des Islam. Ich möchte, dass du Sherin verstehst, dass du mit ihr leidest, mit ihr Schmerz, aber auch Freude fühlst von Anfang ihres Lebens an. Und höre auch die Geschichte von meinem geliebten Amar, um auch ihn zu verstehen.

Alles in unser beider Leben war auf den Augenblick der ersten Begegnung ausgerichtet, den einzigartigen Augenblick, in dem der Himmel uns miteinander verband mit einem eisernen Band, das niemand auseinanderzureißen vermag.

* * *

Es war an einem kalten Dezembertag, als ich das Licht dieser Welt erblickte, eines Teils der Welt, den die Fremden das dunkle Land am Hindukusch nennen. Afghanistan, so heißt das Land, in das ich hineingeboren wurde. In eine eisige Kälte wurde ich hineingeboren, draußen war die Natur zu Eis erstarrt, und kalt war auch der Empfang für ein kleines Mädchen drinnen in der Kala.

»Ein Mädchen? Nun ja, ein Mädchen.«

»Und die Mutter?«

»Wie soll es ihr schon gehen? Es ist das achte Kind, es glitt aus ihr heraus, als sie in der Küche war und keine Kraft mehr hatte, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen.«

So wurde meine Geburt ein öffentlicher Akt in der Küche, in der meine Mutter gerade dabei war zu putzen. Erschrocken reagierten die Frauen, ihre Cousinen und ihre Schwägerinnen. Noch heute spüre ich den Vorwurf im Blick der Frauen des Clans, wenn sie flüsternd über meine Geburt reden.

»Warum hat sie es so eilig, in diese Welt zu kommen?«, fragten die Frauen.

»Und die Mutter?«

»Sie war zu erschrocken, um sich zu freuen.«

»Und all das Blut auf dem frisch geputzten Küchenboden!«

»Und Aday, die Großmutter?«

»Ach, die sah nur das Blut und dachte an die Gäste, die man an diesem Nachmittag erwartete.«

»Und der Vater?«

»Man solle ihn benachrichtigen, falls es ein Junge ist.«

Nur bei der Geburt eines Jungen ist es üblich, ein Schaf zu schlachten und alle Nachbarn zu einem Fest zu laden. Doch nur ein Nichts wurde in einen Familienverband hineingeboren, der bereits 150 Menschen zählte. Sie alle lebten in dieser Kala, die wie ein Dorf war. Nur, dass in diesem Dorf Menschen wohnten, die alle miteinander verwandt waren.

Unsere Kala war groß. Ich kann mich nicht erinnern an die Zahl der Zimmer, aber es müssen sehr viele gewesen sein, und immer wieder wurden neue Räume angebaut. Es waren Häuser aus Lehm. In der Mitte der hohen Mauer, die uns schützen sollte vor unseren Feinden, gab es ein großes Tor, mit vielen Schlössern, die zur Nacht alle mit riesigen Schlüsseln verschlossen wurden.

Die Menschen des Clans, meine Familie und meine Verwandten, sie alle wohnten in dem großen zweistöckigen Haus oder in einem der kleineren Häuser, die wie eine lose Kette das Haupthaus umgaben. Vor der Mauer erstreckten sich meilenweit die Obstplantagen und fruchtbaren Äcker, die uns noch heute gehören.

Wir lebten von dem, was das Land hergab. Weizen, Gerste und Mais wurden angebaut, alles Gemüse, was in Deshsabz-Land wuchs, dem Gebiet, das wir das Grünland nennen. In den Obstplantagen ernteten wir Pflaumen, Äpfel, Pfirsiche und Aprikosen und Nüsse von den vielen Nussbäumen, die unsere Kala umgaben. Es war eine fruchtbare Erde, und sie brachte reiche Ernte.

Ich wurde in einen reichen Clan hineingeboren, in dem es schon viele Kinder gab, doch niemand reagierte auf meine Geburt. Niemand kam, mich anzuschauen. Niemand sagte meiner Mutter ein freundliches Wort über die Geburt ihrer Tochter. Meine Mutter war unendlich traurig darüber. Sie hatte mir einmal davon erzählt, als ich sieben oder acht Jahre alt war und wissen wollte, ob sie sich gefreut hätte über meine Geburt. Da war ich ihr längst ein Ärgernis, denn ich stellte zu viele Fragen, und in unserem Clan ist es nicht üblich, Fragen zu stellen. Und so sagte sie mir ärgerlich ins Gesicht: »Mit Entsetzen erinnere ich mich an deine Geburt, denn wie in einem Sturzbach kamst du aus mir heraus, und erschrocken reagierten alle, die in der Küche waren. So warst du für mich ein Schrecken, doch für die anderen ein Nichts, denn du warst ein Mädchen und nicht einmal ein schönes Kind. Als man deinem Vater sagte, es sei ein Mädchen, wandte er sich gleich wieder seinen Geschäften zu.«

»Was nutzt uns ein Mädchen, es kann ja noch nicht einmal ein Gewehr halten.«

Es war die Zeit, als wir uns gegen die Russen verteidigen mussten in Deshsabz-Land. In jedem reichen Haus gab es versteckte Waffen, um sich vor Angriffen zu schützen. Jeder stolze Paschtune trug eine Waffe.

Die Worte meiner Mutter hatten mir sehr weh getan, seitdem fühlte ich mich erst recht als ein Nichts. So schrieb ich die Geschichte meiner Geburt in mein Tagebuch, die erste der bitteren Geschichten meiner Kindheit. Es sollten noch viele bittere Geschichten folgen.

Mein Vater? Ich kann mich nicht erinnern, dass er mich jemals angeschaut hätte. Nie hat er mir die Hand gehalten, mich getröstet, wenn ich weinte, nie hat er mit uns zusammen gegessen – bis zum heutigen Tag nicht.

Da ich schon als kleines Kind spürte, dass ich ein Nichts war, zog ich mich von Anfang meines Menschenlebens an in mich zurück. Als wäre ich noch im Bauch meiner Mutter und nur Dunkel um mich herum, und so war mir die Welt außerhalb des Bauchs meiner Mutter unheimlich und kalt. Als ob ich gespürt hätte, dass da draußen nichts war, wofür es sich lohnte zu leben. »Tot für die Welt von Anfang an«, schrieb ich später in mein Tagebuch. Ich war unsichtbar für die Umgebung und unbemerkt. Ich schrie nicht, ich lachte nicht, ich lag nur einfach da in meiner Wiege und wartete, was mit mir geschehen würde.

Was für ein merkwürdiges Kind, dachte meine Mutter ein wenig ängstlich. Im Innersten jedoch war sie froh, dass ich nicht schrie, dass ich keine Ansprüche stellte. Doch als dieser Zustand anhielt, wurde sie unruhig. Es war doch ihr Kind, und dieses Wesen hatte sie neun Monate in ihrem Bauch getragen.

Und so brachte sie dieses unheimliche Kind zum Arzt: »Schauen Sie es sich an, dieses Mädchen, irgendetwas stimmt nicht mit ihr.«

Der Arzt untersuchte mich, und er fand, dass mir nichts fehlte, und er sagte zu meiner Mutter: »Es ist ein gesundes Mädchen. Seien Sie froh über ein Kind, das Ihnen keine Mühe macht.« Also nahm meine Mutter dieses Kind, das ihr keine Mühe machte, wieder in die Kala zurück, und sie dankte Allah dem Allbarmherzigen.

Dafür liebte sie dieses Kind und nur dafür. Aber ihre sechs Söhne, die liebte sie, wie man Söhne in unserer Kultur zu lieben pflegt. Sechs Söhne hatte sie der Familie geschenkt, und das machte sie ein wenig stolz. Doch weder ihr Mann noch Aday, die Mutter ihres Mannes, hatten es ihr je gedankt oder hatten sie geachtet für die sechs Söhne.

Meine Mutter wurde von niemandem geliebt, nicht von ihrem Mann, nicht von ihrer Schwiegermutter, nicht von ihren sechs Söhnen, so glaubte sie. Niemand in der Kala beachtete sie, auch sie war ein Nichts. Sie war nicht schön und auch nicht klug, und lesen und schreiben hatte man sie nur halbherzig gelehrt, da ihre Bestimmung war, Söhne zu gebären, und dafür musste man nicht lesen oder schreiben können.

Meine Mutter war noch ein kleines Mädchen, als ihre Eltern sie ihrem Cousin ersten Grades zur Frau versprochen hatten. Mit 13 Jahren wurde sie ihm übergeben als sein Eigentum. Vom Mullah wurde der Ehevertrag geschlossen, und sie wurde in die Kala ihrer Tante gebracht, die nun auch ihre Schwiegermutter war. Sie wurde hineinverheiratet in eine der ältesten, reichsten und gefürchtetsten Paschtunenfamilien.

In Deshsabz-Land, dem Grünland, wo wir herkommen, zuckten die Menschen zusammen, wenn sie nur den Namen hörten. Sie waren als die Rotbärtigen bekannt, denn fast alle Männer aus der Familie meines Vaters hatten rote Bärte.

Sie waren berüchtigt als herrschsüchtig, engstirnig und als äußerst konservativ. Stolze Paschtunen, die sich bis heute als die wahren Afghanen betrachten. Denn nur sie sprechen das Paschto, die wahre Sprache Afghanistans. Die Afghanen, die Dari sprechen, gelten als Fremde, denn sie waren aus dem Iran, aus Uzbekistan und aus Tatschikestan nach Afghanistan eingewandert. Auf die Hazaras, von denen man sagt, dass sie von den Mongolen abstammen, blicken die sunnitischen Paschtunen herab, denn sie verachten die schiitischen Hazaras, weil sie glauben, dass sie sich vor jeder politischen Verantwortung drücken und stattdessen ihre eigene Straßen-Politik, wie sie es nennen, betreiben. Die Hazaras waren zu unserer Zeit in Afghanistan die Diener der Paschtunen.

»Wir Paschtunen sind die Elite Afghanistans. Wir sind die wahren Afghanen und tragen unser Land immer mit uns, wohin wir auch gehen«, so sagten die Männer des Clans.

Ein Familiengesetz verpflichtet unseren Clan, ausschließlich Cousins und Cousinen ersten Grades zu heiraten. Kein fremdes Blut darf sich mit dem der Paschtunen mischen.

Auch leben die Männer nach ihren eigenen Gesetzen und bestimmen selbst, was gut und was schlecht ist, und sie beziehen es immer nur auf sich selbst. Sie leben die Traditionen unserer Paschtunenkultur, soweit sie ihnen von Nutzen ist und ihnen noch mehr Macht und Reichtum bringt. Den Koran legen sie so aus, wie es ihnen gefällt. Und so nehmen sich die Cousins die kleinen Mädchen des Clans, wann immer sie die Lust überkommt. Und die Mütter können ihre kleinen Töchter nicht schützen vor der Gewalt der Cousins, und die Väter glauben, dass es so recht sei, denn hatte nicht auch der Prophet Gefallen an Aishe gefunden, als diese erst sechs Jahre alt war, und sie später, als er ein alter Mann und Aishe neun Jahre alt war, zur Frau genommen?

Es kommt Bitterkeit auf, da ich all das aufschreibe, liebe Freundin. Ich schreibe es aus der eigenen Erinnerung heraus, den Erzählungen Adays, den Erinnerungen meiner Mutter, meiner älteren Schwester und älteren Cousinen. Auch wenn du, meine Freundin, mir sagst, ich würde meinen Clan, mein Volk hart beurteilen, so bleibt mir doch nur zu sagen: Ich kann es nicht anders beurteilen, als wie ich es erlebe. Sicher gibt es auch Paschtunen, die kultiviert und gebildet sind, die Achtung vor anderen Menschen und anderen Kulturen haben. Doch ich kenne keine solchen Menschen.

Für mich ist der Mann ein Tier, das seinem Trieb folgt und nicht seinem Herzen, und es ist die Frau, die das wahre menschliche Wesen Afghanistans repräsentiert. Die Frau ist die Stärke Afghanistans. Die Männer wissen, dass ihre Frauen stark und mutig sind. Daher fürchten sie die Frauen, unterdrücken sie mit ihrer körperlichen Überlegenheit und schlagen sie zu Boden, wann immer diese versuchen, sich aufzurichten. Doch die afghanische Frau steht wieder auf, nachdem sie geschlagen wurde. Sie schüttelt den Schmutz ab, sie wischt sich das Blut aus dem Gesicht und ist entschlossen weiterzuleben. Denn Allah hat der afghanischen Frau die Gabe des Erduldens in Gleichmut gegeben und die Gabe, Ungerechtigkeit und schweres Leid in Geduld zu ertragen.

Aday, die mächtigste aller Frauen, herrschte in der Kala wie eine Königin. Sie unterdrückte die anderen Frauen, und sie vergötterte ihre 14 Söhne. Eifersüchtig wachte sie über sie, denn die Liebe der Söhne durfte ausschließlich ihr gehören, und wehe, sie sah, dass einer ihrer Söhne sich länger seiner Frau zuwandte, als es in den Augen von Aday gut war, dann bekämpfte sie diese Frau und bestrafte sie mit Verachtung.

Aday war wie ein riesiger schwarzer Vogel, der seine Flügel ständig über die männliche Brut ausbreitete. Unter ihren scharfen kalten Blicken erstarrte alles vor Angst und gefror das Leben in der Kala zu Eis.

So wurde meine Mutter, bald nachdem sie die Nabelschnur durchtrennt und mich in die Wiege gelegt hatte, von Aday wieder in die Küche verbannt. Doch wie es Sitte ist in unserer Kultur, wickelte mich meine Mutter in Tücher, schnürte meine Arme und meine Beine fest ein und umwickelte mich zuletzt mit dem buntbestickten Zoznee-Band. Die Edelsteine auf dem Band sollten mich vor dem bösen Blick und vor den bösen Geistern schützen. Dann legte sie mich wieder zurück in die Wiege, denn so schön verpackt kann es ruhig schlafen, das Kind, kein Dschinn – kein böser Geist – wird es wecken und davontragen, so glaubte meine Mutter und ließ mich alleine in meinem Paket-Gefängnis.

Auch meine Mutter zog sich in sich zurück, denn es gab niemanden, dem sie ihren Schmerz klagen konnte, am wenigsten ihrem Ehemann, der sie – da es seine Pflicht war und es die Tradition verlangte – von Zeit zu Zeit aufsuchte, um seinen Paschtunen-Samen abzuliefern. Denn so steht es auch im Koran in der zweiten Sure: »Die Weiber sind euer Acker, geht auf euren Acker, wie und wann ihr wollt.«

Doch der ihm zugesprochene Acker gefiel ihm nicht, er pflegte ihn nicht, und er düngte ihn nicht mit dem Dünger der Liebe, sondern ließ ihn vertrocknen. Dennoch ging sein Samen auf, Jahr für Jahr. Und meine arme Mutter erschöpfte sich mehr und mehr im Tragen, im Gebären und im Aufziehen des aufgegangenen Samens, seiner Brut. Und alle Kinder, die sie gebar, waren Winter-Kinder, Kinder der Kälte.

So wurden wir beide zu Inseln, meine Mutter und ich, das achte Kind. Eine kleine Insel und eine große in einem Meer von Kälte und Verachtung. Und manchmal kam die große Insel an die kleine herangeschwommen, denn da sie niemanden hatte, dem sie ihren Kummer anvertrauen konnte, überließ sie ihn mir, da sie glaubte, ich müsste nun schon verstehen. Wie sie mir später erzählte, war sie immer wieder überrascht, wie ernst ich sie anschaute, wenn sie mir ihre Klagen vortrug, so als verstünde ich jedes Wort. Als verstünde ich ihr trauriges Schicksal, das auch das meine werden sollte.

Meine Mutter dankte Allah wieder und wieder für das stille Kind, das nie klagte, das alles Leid dieser kleinen Welt, die es umgab, schon zu verstehen und aufzusaugen schien wie die Milch aus der Brust der Mutter. Und meine Mutter hatte doch immer die heimliche Angst, es könnte daran ersticken.

Ihr Klagen wurde Abend für Abend zu meinem Wiegenlied. So waren die ersten Worte, die ich bewusst vernahm, Klageworte. Und ich behielt sie in meinem kleinen Kopf, und eines Tages, ich war schon zwei Jahre alt, kamen sie aus mir heraus, lauter Klageworte.

»Bei Allah, sie liegt noch in der Wiege, und sie klagt schon über die Welt, was für ein merkwürdiges Kind«, sagten die Frauen der Kala. Doch nur meine Mutter verstand.

Lachen und Singen hörte man selten im Haus, denn die Großmutter hasste Gesang, davon bekäme sie Kopfschmerzen und es gehöre sich nicht, denn auch der Koran verbiete Gesang, so glaubte Aday, und sie konnte fröhlich lachende, lärmende Kinder um sich herum nicht ertragen. Und so erstickten die kleinen Stimmen der Kinder schon beim zweiten Ton in ihren Kehlen, sobald sie die Nähe ihrer Großmutter spürten. Als ahnten die Vögel, dass ihr Gesang unerwünscht war, mieden sie den Garten unserer Kala.

Niemand machte mich vertraut mit dem Gesang der Vögel oder zeigte mir die Schönheit der Blumen und der Bäume. Frauen und Kinder gehören den Männern, so wie die Bäume und die Felder den Männern gehören. Frauen werden nach der Zahl der Söhne beurteilt, die sie dem Clan gebären, die Früchte der Bäume und Felder nach ihrem Ertrag und nicht nach ihrer Schönheit.

Auch die Gäste waren Sache der Männer. Die Frauen hatten dafür zu sorgen, dass die Gaumen der Gäste verwöhnt und ihre Mägen gefüllt wurden. Tag für Tag füllten diese Gäste, die die Frauen nie zu Gesicht bekamen, die Salons des Haupthauses. Sie kamen zum Essen und blieben, um sich mit nichtsnutzigem Geschwätz und mit Spielen die Nachmittage zu vertreiben. Es kam öfter vor, dass sich bis zu 200 Menschen in unserem Haus vergnügten. Die Vorbereitung des Essens, den Abwasch, das Putzen der Küche und der anderen Räume mussten die Frauen verrichten. Die Bediensteten dagegen waren nur da, um die Gäste zu bedienen. Sie standen bereit in den Salons, um die Wünsche der Gäste in Empfang zu nehmen. Die Diener machten die Besorgungen draußen auf dem Markt, denn es war den Frauen des Hauses verboten, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, und man hielt sie auch vor den Gästen verborgen. Zur Tradition des Clans gehörte es auch, dass die Frauen mindere Arbeiten verrichteten, während die Diener präsentiert wurden. So mussten die Frauen des Hauses selbst von den Dienern Befehle entgegennehmen, weil Aday, die Schwiegermutter, es so wollte und es ihr Genugtuung bereitete, die Schwiegertöchter zu demütigen.

Den Müttern blieb nur wenig Zeit für ihre Kinder. Es waren die älteren Brüder und Schwestern, die mit den Kleinen die ersten Schritte übten, die mit ihnen spielten und ihnen das Essen brachten, wenn die Mütter in der Küche arbeiten mussten, weil ein neuer Schwarm Gäste sich in den Salons niedergelassen hatte.

»Sie sind wie gefräßige Krähen, die sich auf alles Essbare stürzen und statt eines Dankes nur ihren Kot hinterlassen«, sagten die Frauen verächtlich, die nie die Gäste, nur ihren Abfall zu Gesicht bekamen.

Ob die Schwiegertöchter des Hauses einander halfen? Nein, meine Freundin, im Gegenteil, die Schwiegertöchter misstrauten einander. Um ihre Männer für sich zu gewinnen, buhlten sie um die Gunst von Aday, sie schmeichelten ihr, warfen sich ihr zu Füßen wie einer Königin. Und wenn Aday, der große schwarze Vogel, sich eine von ihnen zum Opfer erwählt hatte, dann hackten auch die anderen auf ihr herum. Es herrschte das Gesetz der Unterwerfung des Schwächeren unter den Stärkeren innerhalb der Kala, und dieses Gesetz hatten alle Frauen der Kala verinnerlicht.

Eines Tages wagte meine Mutter vor Aday zu erwähnen, dass für die immer größer werdende Zahl von Gästen das Geschirr nicht mehr ausreiche und dass man doch neues Geschirr dazukaufen solle. Da strafte sie Aday mit einem vernichtenden Blick: »Wer ist diese Frau, um mir zu sagen, dass das Geschirr für die Gäste nicht ausreicht? Dann sorge dafür, dass es ausreicht. Seht nur, sie führt sich auf, als sei sie schon die Herrin des Hauses. Du glaubst wohl, deine sechs Söhne geben dir irgendein Recht.« Und sie lachte ihr böses Lachen, vor dem sich alle fürchteten, und die Schwiegertöchter schickten sogleich ihr eigenes böses Lachen hinterher, und meine Mutter zog sich beschämt und verletzt zurück. Sie verfiel in monatelanges Schweigen, so als hätte man ihr den Mund mit Nadel und Faden zugenäht, doch nur vor mir, dem Kind, öffnete sie ihren Mund und ließ ihre Klagen heraus. Sie wären sonst zu einem schweren Stein in ihrem Bauch geworden und hätten sie eines Tages erdrückt.

Um des Gesetzes der Unterwerfung willen hätte mich meine Mutter fast für immer verloren. Eines Morgens, bevor sie sich auf den Weg zur Küche machte und weil sie wusste, dass sie mich für längere Zeit alleine lassen musste, und da es ein kalter Tag war, legte sie eine zusätzliche Decke über mich. Da sich wieder einmal unerwartet Gäste zum Essen einfanden, wurde sie in der Küche aufgehalten, und niemand war da, um nach mir zu sehen. Auch war es ein langer Weg von der Küche zu unserem Zimmer. Voller Unruhe und banger Vorahnung machte sie sich am Nachmittag mit schnellen Schritten auf den Weg zu mir. Als sie zu meiner Wiege kam, fand sie nur einen Berg von Decken, und sie dachte, jemand hätte mich aus der Wiege geholt. Doch dann, aus einem Gefühl der Panik, riss sie die Decken weg, unter denen ich begraben lag. Das eingeschnürte Paket lag in einer Wasserlache, und ihr Kind war kalkweiß und in kaltem Schweiß gebadet. Sie ist tot, war ihr erster Gedanke. Sie betete zu Allah, dem Allbarmherzigen: »Lass sie nicht tot sein, gib ihr den Atem zurück.« Sie nahm mich heraus, schüttelte mich, legte mich auf den Boden und presste mit ihren Händen fest auf meinen Brustkorb, um mich zum Leben zurückzuholen. Dabei flehte sie Allah an: »Nicht auch noch dieses Kind, drei hast du mir schon genommen, nicht auch noch dieses Kind.«

Sie waren alle drei eines plötzlichen Todes gestorben. Alle drei waren noch kein Jahr alt. Und alle drei waren Söhne. Der erste wurde mit Blut, das ihm aus der Nase lief, gefunden. Er war schon tot, als man ihn fand. Der zweite wurde gefunden mit Blut, das ihm aus dem Mund rann, auch er war schon tot, als man ihn fand. Der dritte war in seinem Bett erstickt. Man gab der Mutter die Schuld. Ein Fluch ruhe auf ihr, so glaubte man. Von ihrer Schwiegermutter wurde sie verachtet, mehr als alle anderen Frauen, denn sie hatte den Tod von drei männlichen Nachkommen verursacht.

Wegen der drei Söhne, die sie verloren hatte, liebte und umsorgte meine Mutter die übrigen Söhne tausendmal mehr als ihre Töchter.

Mich liebte sie, solange ich schwieg und alles still und wortlos schluckte, womit sie mit ihren Klagen meinen kleinen Kopf füllte. Doch als ich begann, ein Mensch zu werden mit eigenen Gedanken, eigenen Vorstellungen vom Leben, und mich nicht mehr mit fremden Klagen und fremden Gedanken abfüllen ließ, als ich begann zu begreifen, dass die Welt nicht nur aus Afghanistan, den Paschtunen und dem Clan bestand, da war meine Mutter schockiert und sagte: »Das ist ein störrisches Kind, ein Kind mit bösen Gedanken. Ein Kind, womöglich besessen von einem Dschinn?«

Deshsabz-Zeit war Kriegszeit, und Deshsabz-Land war Russen-Land. Viele Dörfer wurden von den Russen zerstört. Die Menschen hatten Angst vor den Russen, den Zerstörungen und vor dem gewaltsamen Tod, und so zogen sie weg. Als ich vier Jahre alt war, zog die Hälfte des Clans vom Deshsabz-Land nach Kabul. Auch hatten mein Vater und seine Brüder keine Lust mehr, Bauern zu sein. Sie wollten in der Hauptstadt Kabul Geschäfte machen.

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2Fremde Tage in Kabul

Sherin erzählt

Der Clan erwarb ein großes Haus in der Koch-e-murgha-Straße. Es war eine gute Gegend, in der auch die obere Gesellschaft Kabuls wohnte. Unser Haus hatte einst einem Konsul gehört. Es hatte 50 Zimmer, fünf große Salons, zwei Küchen und einen großen Platz hinter dem Haus, groß wie ein Fußballfeld. Der Konsul war wohl Hals über Kopf geflohen, denn er hatte alle Möbel zurückgelassen, wertvolle antike Möbel, so wie man sie wohl in Europa hat, dunkel und schwer und mit vielen Schnitzereien. Und Bilder hingen an den Wänden, die fremde Städte zeigten. Das sei Europa, sagte man uns. Auf manchen Bildern waren Frauen mit weißen, wunderschönen Gesichtern, manchmal in Gewänder gekleidet, wie man sie wohl einmal in Europa getragen hat, und manchmal waren sie fast nackt, aber es waren sicher keine armen Frauen. Es wurde unter den Männern heftig diskutiert, ob man diese Frauen abhängen sollte, oder ob man ihnen Kleider aufmalen sollte.

»Als gläubigen Muslimen ist es uns verboten, Bilder aufzuhängen, auf denen Menschen abgebildet sind«, sagte meine Großmutter streng und verlangte, dass die Bilder sofort zerstört würden.

»Es ist eine Beleidigung gegenüber unseren Frauen«, wagte mein Onkel, der älteste Bruder meines Vaters, einzuwenden. Er war der einzige Mann des Clans, der die Frauen respektierte. Doch die anderen Männer wollten sich nicht von den Bildern trennen, besonders nicht von denen, auf denen die Frauen fast nichts anhatten. Und sie suchten ein Zimmer aus, zu dem nur sie Zugang hatten, und hängten dort die Bilder auf.

Der Konsul hatte all das hinterlassen, das Haus, den Fußballplatz und einen großen weißen Pudel. Der Pudel gehörte jetzt dem Nachbarn, der jeden Morgen und jeden Abend mit ihm durch die Koch-e-murgha-Straße spazierte. Ja, und einen Chaa gab es, einen Brunnen, und als wir Kinder ihn sahen, riefen wir: »Wir haben einen Chaa, darin können wir baden.« Und so nutzten wir ihn als Swimmingpool.

Chaa, mitten im Grünen –

da kam ein Spatz und trank daraus,

verstauchte sich sein Füßchen.

Aday hat ihn gefangen,

Aday hat ihn geschlachtet,

Aday hat ihn gerupft ….

und dann hat ihn die Katze gefressen,

armer Spatz, böse Aday.

Ach, ich wäre so gerne eine Taube gewesen in Kabul. Dann wäre ich über die Stadt geflogen und hätte mir die große Stadt von oben angeschaut, auf die Häuser heruntergeschaut, die Märkte, die Menschen in den Märkten – und hätte mich auf dem Kopf des Pudels niedergelassen.

In Kabul war alles aufregend und fremd. Manchmal schlich ich mich heimlich vor das große Tor und sah den Menschen zu, die durch die Straße liefen. So viele verschiedene Trachten aus allen Regionen und Frauen ohne Schleier. Ich hörte viele Sprachen, nicht nur das Paschto der Paschtunen, auch Sprachen, die ich noch nie gehört hatte. Das Leben war bunt um die Koch-e-murgha-Straße, die übersetzt die Hühnerstraße heißt. Wenn die Frauen die Söhne nach den Hühnern in der Hühnerstraße fragten, lachten sie und sagten, alles gibt es dort in der Hühnerstraße, nur keine Hühner. Und warum sie nun Hühnerstraße hieß, wusste niemand.

In unser Haus kamen nun nicht mehr die Paschtunen aus dem Grünland, es kamen jetzt gebildete Leute wie Professoren, Minister und andere Menschen aus der, wie sie sagten, gebildeten und vornehmen Gesellschaft Kabuls. Und es wurden neue Wörter benutzt, Wörter wie »modern«, »smart« und »liberal«. Smart war eine Frau, die lesen und schreiben konnte, und die vielleicht auch noch eine Universität besucht hatte. Sie trug westliche Kleidung, eine Bluse mit einem weiten Ausschnitt und einen Rock, der die Knie frei ließ. Sie verabscheute den Schleier und auch die Hausarbeit.

Doch unsere Frauen trugen weiterhin lange Kleider, die mit einem Gürtel um die Taille hochgehalten wurden, Kleider mit langen Ärmeln. Und sie trugen Schleier, die ihr Haar und ihre Schultern bedeckten. Sie waren nicht modern und auch nicht smart, und sie waren nach wie vor in die Küche verbannt. Nie hatte meine Mutter einen Professor oder einen Minister zu Gesicht bekommen oder gar eine der smarten Frauen.

So erfuhren sie immer nur von den Dienern, dass dieser und jener Minister zum Essen komme. »Und wie sieht so ein Minister aus?«, wollten die Frauen wissen. Doch die Diener lachten nur über eine solch dumme Frage. Wie soll ein Minister schon aussehen.

Auch hier war Russen-Land, aber man sah die Russen nicht, und man hatte das Gefühl, hier sei Frieden. Von den Männern hörte man sie immer öfter, die Wörter »modern«, »smart« und »liberal«. Und die Frauen des Hauses fragten sich, was »modern«, »smart« und »liberal« für ihr Leben bedeutete.

»Ist das gut für die Frauen?«, fragte meine Mutter, und das fragten sich auch die anderen Frauen. Doch niemand beantwortete ihnen diese Frage. Sie hatten gehört, dass die Frauen da draußen sich zum ersten Mal ein wenig mehr den Männern gleichberechtigt fühlten und dass sie alleine auf der Straße gehen durften und alleine einkaufen konnten und dass nun auch die Schulen für Mädchen offen waren. Mädchen durften zur Schule gehen und all das lernen, was auch Jungen lernen durften. Wie freute ich mich, endlich zur Schule gehen zu dürfen.

Doch drinnen im Hause bei den Frauen war noch immer Deshsabz-Zeit. Die Welt außerhalb des Hauses war den Grünland-Frauen so fremd wie Amerika oder Europa.

Die Männer entdeckten das Fernsehen, und sie entdeckten, dass man in Amerika und in Europa ganz anders lebt und dass in Amerika und in Europa die Frauen fast nackt herumlaufen. In dieser Zeit liefen die Frauen auch in Kabul mit nackten Armen und Beinen und unverschleiert durch die Straßen, und sie stachen Löcher in den Asphalt mit ihren spitzen Absätzen, als würden sie die Straße bestrafen wollen für all die Jahre, in denen es ihnen nicht erlaubt war, alleine auf ihnen zu gehen.

Achmed, einer der Diener, dem die Frauen vertrauten, brachte hin und wieder die Welt da draußen und das Leben in den Salons unseres Hauses zu den Frauen in der Küche. Noch immer war ihnen der Zugang zu den Salons verboten, denn es gehörte sich noch immer nicht, die eigenen Frauen fremden Männern zu zeigen.

Eines Tages erzählte Achmed mit weit aufgerissenen Augen: »Da drinnen sitzen Frauen mit aufgeplusterten Haaren, wie der Pudel des Konsuls, Frauen mit übergeschlagenen Beinen, und man sieht ihre Knie, und ihre Gesichter sind geschminkt, rot wie das Zeug, das man ihnen zu trinken gibt, sind ihre Lippen. Und stellt euch vor, sie rauchen. Ja, sie rauchen Zigaretten und sogar Zigarren, wie die Männer. Alle Frauen waren schockiert und gleichzeitig sehr neugierig, und sie wollten diese Frauen mit den aufgeplusterten Haaren und den roten Lippen sehen, und sie wollten sehen, wie diese Frauen Zigarren rauchten. Und da war eine heimliche Bewunderung für diese Frauen, sagte meine Tante einmal augenzwinkernd. Nur meine Mutter, sagte die Tante, meine Mutter sei sehr schockiert gewesen.

»Und was tragen sie für Kleider, diese Frauen, die Zigaretten und sogar Zigarren rauchen?«, wollten die Frauen des Hauses wissen.

»Sie tragen Kleider, wie man sie in amerikanischen Filmen sieht«, antwortete Achmed. Doch noch nie hatten die Grünland-Frauen amerikanische Filme gesehen.

»Nackte Arme, sag ich euch, nackte Arme. Bei Allah, was für eine Welt!« Und dann erzählte er uns als ganz strenges Geheimnis und um die Frauen zu warnen, dass alle Männer des Hauses verrückt seien nach diesen Frauen. Es ging das Gerücht, dass sich die Grünland-Männer Frauen aus gewissen Hotels holten und aus Clubs, wo die Frauen mit wenig Stoff am Körper für die Männer tanzten, sodass diese ganz verrückt wurden. Sie holten sich diese Frauen in unser Haus, wo sie dann ganz alleine für die Männer tanzten und sich mit ihnen vergnügten. Jeder im Haus wusste, was sie mit diesen Frauen machten, doch niemand wagte es, laut darüber zu reden. Das war das dunkle Geheimnis des Hauses. Manchmal, wenn die Frauen des Hauses, die Grünland-Frauen, am nächsten Morgen den Schmutz und das, was von den dunklen Geheimnissen der Nacht übrig geblieben war, wegräumten, fanden sie Bilder, die die Männer hatten herumliegen lassen. Auf ihnen waren Frauen abgebildet, schöne Frauen, Frauen mit sehr roten Mündern und ohne Kleider am Körper, ganz ohne Stoff, schamlose Bilder, die den Grünland-Frauen tiefe Schamröte ins Gesicht trieben. Und meine Mutter sagte, sie wünschte sich in jenem Moment, Allah würde Feuer über das Haus regnen lassen und sie selbst vom Erdboden verschwinden lassen, so tief verstört und gedemütigt fühlte sie sich.

Dann ging eines Tages die Nachricht durch das Haus, dass einer der Söhne Adays sich mit einer Kabul-Frau verheiraten wolle. Man sagte, sie hätte die Schule und sogar ein College besucht. Sie sei gebildet, klug und sehr schön. Sie trage Kleider, die ihre nackten Knie zeigten und ihre nackten Arme. Die Deshsabz-Männer, die von den Bergen kamen, waren alle verrückt nach dieser Frau. Sie bewunderten sie, ja sie himmelten sie an, als sei sie eine Göttin aus einer nicht-irdischen Sphäre oder als sei sie aus Amerika herausgefallen. Nun stürzten die anderen Frauen, die Grünland-Frauen, in einen Abgrund von Verachtung, denn sie waren weder gebildet noch attraktiv. Sie hielten ihre Knie und ihre Arme bedeckt, weil die Tradition es so verlangte, und sie kannten weder Amerika noch Europa, und sie rauchten auch keine Zigaretten oder Zigarren.

Laila, so hieß diese Frau, die nun ein Mitglied im großen Familienverband wurde, obgleich sie keine Cousine war. Sie wurde geachtet von Aday und allen Männern des Hauses. Und Aday gab dieser Frau einen eigenen Diener, denn einer solchen Frau konnte man keine Hausarbeit zumuten und erst recht keine Küchenarbeit. Die Grünland-Frauen wurden nun immer an der Kabul-Frau gemessen. Eine gebildete und schöne Frau war für uns Kinder gleich einer Frau ohne Herz. Sie sorgte dafür, ihren Kopf mit dem, was Erwachsene Bildung nennen, zu füllen, und damit die Bildung nach etwas aussah, musste man sie vom geschminkten Gesicht ablesen können. »Seht, was für rote Lippen sie hat, bestimmt ist sie sehr gebildet«, dachten wir Kinder.

Und so beklagte sich meine Mutter eines Tages bei ihrer Schwester über diese Laila. »Warum kann diese Kabul-Frau uns nicht bei der Arbeit helfen, da sie doch keine kleinen Kinder zu versorgen hat, wie wir übrigen Frauen?« Die Frauen nickten und fanden, das sei eine berechtigte Forderung.

Ein Dienstbote kam in die Küche und hörte den Vorschlag meiner Mutter und die Klagen der Frauen. Sogleich ging er zu Aday und berichtete ihr von dem Aufstand, der sich in der Küche anbahnte. Sie dankte ihm für seine Loyalität. Und als alle Frauen zum Essen versammelt waren und die Söhne geholt wurden, um sich diese Geschichte der Rebellion anzuhören, und auch die Dienstboten ihre Neugierde nicht verbergen konnten und stehen blieben und gebannt auf Aday blickten, da klopfte meine Großmutter mit dem Stock auf den Boden. Und sie sagte und deutete dabei mit dem Stock auf meine Mutter: »Nun erzähle allen, was du zu beklagen hast, erzähle, wir hören dir alle zu.« Und dabei setzte sie ihr maliziöses Lächeln auf, das nichts Gutes verhieß.

Meine Mutter erstarrte, sie wurde rot bis an die Haarwurzeln, ihr Herz schlug wild vor Angst, als würde sie gleich zum Gesteinigtwerden abgeführt. Alle starrten erwartungsvoll auf sie. Doch die Angst hatte meiner Mutter die Kehle zugeschnürt und den Mund verschlossen, und sie brachte kein Wort heraus.

»Nun, es sieht ganz so aus, als hätte sie von der Küche hierher ihre Sprache verloren. Gebe Allah, dass sie ihre Sprache nicht mehr wiederfindet, denn nichts als dummes Geschwätz kommt aus ihrem Mund. Was kann man von einer Frau erwarten, die nicht lesen und schreiben gelernt hat, die hässlich und ungeschickt ist, die drei ihrer Söhne hat sterben lassen. Du hast kein Recht, dich zu beklagen. Von nun an bleibt die Küche dein Lebensort, und allen anderen hast du zu dienen.« Und Silai, Maha, Sabia und alle anderen Frauen, die meiner Mutter zugestimmt hatten, sie standen da mit verschlossenen Mündern und schwiegen erschrocken.

Da nun meine Mutter von allen verachtet wurde und alle über sie spotteten und lachten, fühlte sie sich noch verlassener, noch einsamer. Eine noch einsamere Insel, bedroht, vom Meer der Verachtung verschlungen zu werden, da schrumpfte meine Mutter dahin zu einem Inselschatten.

Ich sage dir, meine Freundin, ein Mensch, der nicht geliebt wird, von niemandem geachtet, der schrumpft innerlich dahin zum Schatten seiner selbst. Da meine Mutter nun endgültig ein Nichts war, wagte es mein Vater, ihr Ehemann, Aday und den anderen im Clan eine dieser Kabul-Frauen vorzustellen. Und er kündigte an, sie zu heiraten, da er sie liebe, und jeder im Hause würde doch verstehen, dass man mit einer Ehefrau wie die ihm angetraute in dieser neuen Welt in Kabul von den Menschen nicht respektiert würde. Der Koran erlaube einem Mann mehrere Frauen. Er verlange nur sein gutes Recht. Immer wieder verglich er die Kabul-Frau mit meiner Mutter. Mit jedem Vergleich schrumpfte meine Mutter ein wenig mehr in sich zusammen. Und dann wollte meine Insel-Mutter nur noch im Meer versinken und nie mehr auftauchen.

Der älteste Bruder meines Vaters, der einzige Bruder, vor dem er Respekt hatte, verhinderte diese Heirat. Mein Vater reagierte sehr wütend. Und er verachtete von da an meine Mutter noch mehr und zeigte sich nicht nur ihr gegenüber feindselig. Auch wir Kinder waren von da an Feind-Kinder, Fremd-Kinder eines Fremd-Vaters.

Doch wir Kinder erlebten auch schöne Zeiten in Kabul. In unserem letzten Kabul-Winter lag die Stadt unter einer dichten Schneedecke. Ich erinnere mich genau, wie wir Kinder fröhlich durch den tiefen Schnee auf dem Fußballplatz stapften und Schneemänner und Schneekinder bauten, mit riesigen furchterregenden schwarzen Augen aus Kieselsteinen.

In jenem Winter bekam meine größere Schwester zum Geburtstag ein Puppenhaus geschenkt. Es war nicht nur ein Haus, es war eine Kala mit mehreren Häusern und einer Mauer um die Kala. Wie bei einer richtigen Kala waren auch hier die Häuser aus Lehm, und sie hatten kein Dach, damit man mit den Puppen spielen konnte.

Aber meine Schwester klagte, sie habe nur drei Puppen, und ich hatte auch nur drei Puppen. »Sechs Puppen, das ist kein Clan, wir brauchen noch mehr Puppen«, sagte sie.

Also machten wir Puppen aus Streichhölzern. Wir machten 150 Puppen, denn so viele Menschen waren wir in der Kala. Die Frauen waren bunt umwickelte Streichhölzer mit angeklebten Schleiern. Es war mühsam, an die winzigen Köpfe Schleier anzukleben.

»Lassen wir den Schleier weg«, schlug ich vor. Doch meine große Schwester reagierte empört: »Nein, keine Frauen ohne Schleier. Allah hat es so gewollt.«

Die Männer waren ganz aus weißer Seide, und die Babys waren halbe Streichhölzer, mit weißer Wolle umwickelt. Zu ihrem Schutz vor dem bösen Blick banden wir ihnen das Zoznee-Band aus bunten Seidenfäden um.

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3Das Nauroz-Fest

Sherin erzählt

Der Schnee war geschmolzen, und alles erwartete den Frühling und mit ihm Nauroz, das neue Jahr. Am 20. März, dem Frühlingsanfang, beginnt Nauroz. Es bedeutet auf Persisch neuer Tag, denn es ist ursprünglich ein persisches Fest. Und der »neue Tag« soll dem Land und den Familien Hoffnung, Frieden und Wohlstand bringen. Es ist die schönste Zeit des Jahres. Nach der langen Zeit der kalten, dunklen Wintertage holt die Sonne mit neuer Kraft die Bäume, die Wiesen und die Felder zum Leben zurück. Und auch die Menschen sind voll neuer Hoffnung. Mit Allahs Hilfe wird sich alles zum Guten wenden, so glauben sie.

Selbst auf dem Fußballfeld hinter dem Haus kamen winzig kleine grüne Grashalme aus der braunen Erde heraus. Einmal haben mich die großen Brüder zum Darya-e-Kabul mitgenommen. Die Schneeschmelze hatte den Fluss noch nicht zum reißenden Strom werden lassen. Frauen wuschen ihre Wäsche im Fluss, und ihre Kinder spielten am Ufer und warfen Steinchen in das Wasser. Es machte mir so viel Freude, spielende Kinder zu sehen, Kinder, die fröhlich waren und lachten. Auch ich wollte Steinchen in den Fluss werfen, doch schon zogen mich die Brüder ungeduldig weiter.

Eine Woche vor Nauroz beginnt in den Häusern der Frühjahrsputz. Die Armen putzen ihr Haus selbst, und wenn sie fertig sind, gehen die Frauen zu den Häusern der Reichen, um dort zu putzen und sich ein wenig Geld zu verdienen. So kamen auch in diesem Kabuler Frühjahr viele Frauen zu uns und boten sich an, bei uns zu putzen.

Und Aday dirigierte die putzenden Frauen. Sie stand da mit ihrem Stock wie ein General, und sie wies auf diese Ecke und jene und unter das Sofa, unter die schweren Sessel und unter den Schrank. Als das Haus schließlich blitzte und glänzte und die Hecken frisch geschnitten und neue Büsche und Blumen gepflanzt waren, konnten die Nauroz-Gäste kommen.

»Jetzt sollen sie alle sehen, was für ein gepflegtes und reinliches Haus wir haben«, sagte Aday und nickte zufrieden. Und wenn Aday zufrieden war, dann seufzten die Frauen des Hauses erleichtert auf.

Wie gerne hätten die Frauen selbst auf dem Markt die Stoffe für neue Festkleider ausgewählt. Doch es war ihnen nicht erlaubt, auf den Markt zu gehen.

»Es ist zu gefährlich, unsere Frauen den Blicken und Berührungen der fremden Männer auszusetzen«, sagten die Grünland-Männer, die Männer des Clans, die sich den Gästen gegenüber »modern« und »liberal« gaben, aber ihren Frauen gegenüber behaupteten, sie vor allem Bösen der Welt da draußen bewahren und rein halten zu müssen, denn sie waren doch ihr Eigentum.

So blieben die Frauen weiterhin eingesperrt, und fremde Frauen kamen und boten ihre Stoffe an. Sie wurden in den Garten gelassen, nicht ins Haus. Die Frauen des Hauses kamen heraus und setzten sich zu ihnen, ließen die Stoffe durch ihre Hände gleiten, legten sich mal diesen, mal jenen Stoff um und hatten großen Spaß miteinander. Selbst wenn sie nicht den passenden Stoff fanden, so ließen sie die Frauen doch nie ohne Gebäck oder etwas Geld wieder gehen. Die Paschtun-Frauen waren für ihre Großzügigkeit gegenüber den Armen bekannt. »Entlasse nie eine arme Frau aus deinem Haus, ohne sie ein wenig glücklich gemacht zu haben«, sagte meine Mutter, als ich sie fragte, warum sie der Frau Geld gegeben habe, obwohl sie doch nichts gekauft habe.

Der Vorabend und die Nacht vor Nauroz ist für die Frauen und Kinder eine fröhliche Zeit und für mich die schönste Zeit des Jahres. Es ist der Abend, an dem die Lieblingsspeise aller Kinder vorbereitet wird – Haft Maywa. Ein Nauroz ohne Haft Maywa ist kein echtes Nauroz. Wir Kinder warteten immer sehnsüchtig darauf. Der Geruch von Haft Maywa, der riesigen Mengen von sieben Früchten, die in einem ebenso riesigen Topf gekocht werden, ist der Geruch von Nauroz, und er erfüllte das ganze Haus.

Mandeln, Walnüsse, Rosinen, Sultaninen, getrocknete Pflaumen und Aprikosen sowie Pistazien gehören dazu. Wenn die Frauen die Haft Maywa bereiteten, war das für sie keine Arbeit, es war immer ein ausgelassenes fröhliches Fest. Dann blühten die Frauen auf wie die Frühlingsblumen, so als wäre das innere Eis, das sie erstarrt hielt, endlich geschmolzen. Sie wurden schöner mit jedem Tag, auch ohne Schminke auf ihren Gesichtern und rotangemalten Lippen.

Während die Frauen die Mandeln schälten und hin und wieder von den Sultaninen oder den Pflaumen naschten, machten sie sich über die Männer lustig. Und man hörte ihr Lachen durch das ganze Haus, und sogar Aday ließ es geschehen.

Die Sieben-Früchte-Nachspeise, die nach den sieben traditionellen Gerichten gereicht wird, macht das Fest erst vollkommen. Zu keinem Fest wird so viel gegessen in Afghanistan. Vor Sonnenaufgang heißt es, aufzustehen, die neuen Festkleider anzuziehen und auf die Geschenke zu warten. Wird es ein gutes neues Jahr werden? So fragen sich alle. Vielleicht ein Jahr, das uns Frieden bringt?

In unserem letzten Jahr in Kabul besuchten wir das Landhaus der Schwester meiner Mutter.

Das Haus lag auf einem Hügel in den Bergen, umgeben von Pinienwäldern, und ein Bergbach rauschte am Haus vorbei. Für mich war es der schönste Platz der Erde. Es war das einzige Mal im Jahr, dass ich auf einen Ausflug mitdurfte. Das kleine Landhaus war aus Lehm gebaut, und wenn es regnete, roch es nach frischer Erde. Ich liebte diesen Geruch. Und ich liebte den Geruch von getrocknetem Fleisch, das von den Holzbalken der Terrasse hing.

Neben dem Haus war eine offene, mit Holz geheizte Küche. Elektrizität gab es nicht. In einem noch kleineren Raum neben der Küche war der Tandoor, in dem ständig ein Feuer brannte. Darin wurde das »Sporay Doday«, das afghanische Brot, gebacken.

Auch in das Landhaus der Tante wurden viele Gäste zum Essen geladen. Sie alle brachten kleine Geschenke mit, meist waren es Süßigkeiten oder Früchte. Sie legten die Geschenke, wie es Sitte ist, diskret neben der Tür ab oder ließen sie dort liegen, wo sie gesessen waren. Paschtunen sind für ihre Gastfreundschaft bekannt. Sie achten immer darauf, dass der Gast genügend auf seinem Teller hat. Ja, die liebste Beschäftigung der Afghanen ist das Essen, und wenn sie nicht essen, dann reden sie vom Essen.

Zum Nauroz-Fest hatte mein großer Bruder einen echten Fallschirm geschenkt bekommen, mein Onkel hatte ihn irgendwo gefunden. Mein Bruder hatte jedoch Angst, sich selbst dranzuhängen, und auch wir übrigen Kinder hatten Angst. So hängten wir einen Sack mit Tannenzapfen an den Fallschirm. Und wir ließen den Fallschirm den Berg hinuntersegeln. Es war aufregend, ihn durch die Luft schweben zu sehen, und ganz sanft setzte er den Sack mit den Tannenzapfen auf der Erde ab. Wie schön müsste es sein, mit einem solchen Fallschirm durch die Luft zu schweben, dachte ich mir. Wenn ich einmal groß bin, kaufe ich mir einen Fallschirm und werde vom höchsten Berg des Hindukusch hinuntersegeln, nahm ich mir damals vor. Es war eine unbeschwerte Zeit. Die einzige Zeit, in der ich wirklich glücklich war, dort oben in den Bergen.

Mit diesem Sommer kam unser letzter Ramadan und nach dem Fasten das letzte Eid-Fest in unserer Heimat Afghanistan. Wir trugen unsere Festtagstracht, und alle im Haus waren gut gelaunt, denn es ist ein fröhliches Fest.

Draußen auf dem Feld hinter dem Haus roch es nach frisch gemähtem Gras, und durch das Gras hüpften die gerade erst geschlüpften Küken.

»Seht nur den gelben Löwenzahn dort draußen auf dem Feld«, rief ich den Brüdern zu.

»Und wie der Löwenzahn hüpfen kann«, lachten sie. Selbst Aday hatte gute Laune, denn die Hennen hatten 500 Eier gelegt. Sie hatte sie zählen lassen. Aus allen Eiern waren Küken geschlüpft, und das Piepsen der 500 Küken drang bis hinein in die Koch-e-murgha, die Hühnerstraße. Und ich jubelte: »Jetzt weiß ich endlich, warum sie Hühnerstraße heißt.«

Ein Schaf wurde geopfert, wie es zu Eid üblich ist. Wir verteilten das Fleisch an die Nachbarn. An den drei Tagen des Eid kamen viele Gäste in unser Haus, auch um meine Großmutter zu ehren, da sie der älteste und für viele der geachtetste Mensch der ganzen Gegend war. So wurde immer für die gesamte Nachbarschaft gekocht, denn niemand, der mit Glückwünschen zu uns kam, sollte das Haus verlassen, ohne vom Festtagsessen satt geworden zu sein.

Aber dann war es aus mit der Zeit, in der man Feste feiern und unbeschwert leben konnte. Die Russen waren kriegsmüde und kehrten unserem Land, das ebenso kriegsmüde und in Ruinen lag, den Rücken. Alle waren froh, dass die Russen abzogen, und in den Straßen wurde gefeiert. Doch bald kämpften die Mudschaheddin um die Vorherrschaft über jeden der Bezirke Kabuls. Die Männer des Clans trauten den Mudschaheddin nicht. Sie fürchteten, dass sie einen noch schlimmeren Krieg beginnen würden. Die Frauen konnten das nicht verstehen und fragten: »Warum wollen sie sich bekämpfen, um was wollen sie kämpfen? Es sind doch alles Afghanen!«

»Um zu herrschen«, sagte Aday. »Es sind Männer, und Männer sind geboren, um Kriege zu führen und zu herrschen!«

So beschloss mein Vater, mit der Familie wegzuziehen. Er hatte keine Lust, zu kämpfen. Er wollte hier in seinem Land keine Geschäfte machen, denn die Mudschaheddin nahmen sich, ohne zu fragen; mit ihnen konnte man keine Geschäfte machen. Er hatte gehört, in den Emiraten könne man gute Geschäfte machen. Abu Dhabi sei ein Land der Zukunft. So gründete mein Vater eine Handelsgesellschaft, um Handel zu treiben mit dem Land der Zukunft.

Die anderen des Clans wollten in Kabul bleiben, denn sie wollten sich nicht von dem schönen Haus trennen. Doch Jahre später, als die Mudschaheddin wütend, wie sie zuvor die Russen bekämpft hatten, sich nun gegenseitig bekämpften und die Stadt mit Raketen zuschütteten und als auf den Straßen statt Autos und Frauen mit Stöckelschuhen zerfetzte Menschenleiber zu sehen waren, da verließ ein weiterer Teil des Clans das schöne Haus an der Hühnerstraße. Denn, so schrieben sie uns nach Abu Dhabi, »man wagt nicht einmal mehr die Fenster zu öffnen, denn mit der aufgehenden Sonne kommt nicht die kühle frische Morgenluft in die offenen Fenster der Häuser, sondern ein übler Geruch von Blut und verbranntem Menschenfleisch«. Und sie wollten nicht zu denen gehören, die man halbverwest auf der Straße auflas. »Bei Allah dem Allbarmherzigen, wir wollen leben!«, schrieben sie, und da sie auch gut leben wollten, denn sie hatten gehört, dass man in den Emiraten gut leben kann, beschlossen auch sie, nach Abu Dhabi zu ziehen.

Was die Russen übrig gelassen hatten, zerstörten nun die Afghanen selbst. »Warum zerstören sie ihre Städte, warum töten sie ihre eigenen Brüder und Schwestern?«, fragten sich die Frauen.

»Um zu herrschen! Es sind Männer! Es sind Afghanen!«, wiederholten wir die Worte von Aday.

Obgleich die Mudschaheddin noch nicht den islamischen Staat Afghanistan ausgerufen und die ausschließliche Anwendung der Scharia beschlossen hatten, verboten sie bereits jetzt alles, was den Menschen bisher Freude gemacht hatte. Denn Allah ist ein strenger Gott, ein strafender Gott, so glaubten sie.

Die Frauen mussten wieder die Burka tragen und liefen wie wandelnde Gefängniszellen durch die Straßen. Von nun an waren sie gezwungen, durch enge Stoffgitterstäbe auf die Welt zu blicken, und die Welt draußen vernahm nur die klagenden Stimmen aus den wandelnden Gefängniszellen.

Kinos wurden geschlossen, denn in den Filmen, die man dort sah, waren die Frauen unverschleiert und hatten nackte Arme und unverhüllte Knie. Das war nun verboten. Auch die Frauen mit nackten Armen und Knien waren nicht mehr in das Haus an der Hühnerstraße gekommen, darüber waren die Grünland-Frauen, die zurückgeblieben waren, sehr froh, und sie hofften in ein Land zu ziehen, wo es keine Frauen mit nackten Armen und nackten Knien und geschminkten Gesichtern gab, keine Frauen, die ihre Männer verführten.

Nicht nur der Mudschaheddin wegen, die alles zerstörten, die korrupt und gierig auf Macht und auf Reichtum waren, hatten wir unser geliebtes Kabul verlassen. Da war auch die Angst vor den noch strengeren Taliban, die schon vor den Toren Kabuls warteten, die Macht der korrupten Mudschaheddin zu brechen. Es machte den Männern, die zurückgeblieben waren, keine Freude mehr, in diesem Kabul zu leben, und sie beschlossen, dorthin zu ziehen, wo es ihrer Meinung nach noch Freude, Freiheit und Vergnügen gab. So zog auch der letzte Rest des Clans nach Abu Dhabi.

Bevor wir alle in das fremde Land aufbrachen, zum ersten Mal unsere Heimat verließen und uns von dem Haus in der Hühnerstraße verabschieden mussten, baten wir Allah den Allbarmherzigen um seinen Schutz. Der Mullah hielt den Koran hoch, jeder von uns küsste den Koran. Mein Vater legte etwas Geld auf ihn, das der Mullah dann den Armen geben sollte, damit uns Allah wohlgesinnt sei und uns beschützen möge in dem neuen fremden Land. Dreimal mussten wir alle unter dem Koran hindurchgehen, so ist es Brauch, und erst nach dem dritten Mal durften wir noch einmal in das Haus zurück, um alles für die Abreise vorzubereiten.

Aday achtete streng darauf, dass alles genau eingehalten wurde, obgleich sie nicht mit uns reiste. Sie wollte noch in dem Haus bleiben, auch wenn sie von nun an die Burka tragen musste, so wie alle Frauen.

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4Wir zogen in die Wüstenstadt am Meer

Sherin erzählt

Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich das große weite Meer. Aber ich durfte es nur von der Ferne sehen. Es war uns Kindern verboten, uns diesem gefährlichen und fremden Meer zu nähern, und erst recht, darin zu baden. Doch von nun an bewegte mich das Meer in meinen Träumen. Es weckte Sehnsüchte nach einer anderen, einer freien Welt. Und später weckte es Fluchtgedanken.

Wir zogen in eine Gegend, in der schon viele Afghanen lebten. Überall, wohin wir auch ziehen, nehmen wir Afghanen unsere Kultur und unsere strengen Moralgesetze mit, die strengen Normen des Paschtunwali mit seinem Ehrenkodex und der Stammesverfassung.

Als ob wir ohne dieses Gepäck nackt und verloren und ohne Halt wären in der Fremde, in die uns das Schicksal wirft. Ach, wenn wir doch wenigstens diese Last hinter uns zurückgelassen hätten. Es war die schwerste Last, die wir trugen, die auch ich zu tragen hatte.

Die Frauen kleideten sich auch hier in ihre afghanische Tracht, und die Männer ließen sich weiter ihre roten Bärte wachsen, und auch sie trugen die Kleidung, die sie immer in Afghanistan getragen hatten. Mit hocherhobenen Köpfen trugen die alten Männer des Clans, so wie in Afghanistan, den Turban, die jungen trugen die bestickten Käppchen. »Sollen die Menschen in Abu Dhabi sehen, woher wir kommen«, sagten sie.

Die Monate, die wir ohne den Clan in dem großen Haus in Abu Dhabi wohnten, waren glückliche Monate. Meine Mutter war alleine mit uns Kindern, und hin und wieder kam mein Vater, der von nun an zwischen den Emiraten und Afghanistan pendelte. Seine Handelsfirma lief gut, und er machte gute Geschäfte mit der Wüstenstadt.

Nun, da er öfter mit ihr alleine im Hause war, blühte meine Mutter auf. Der große schwarze Vogel, Aday, bedrohte sie nicht mehr. Sie war wie ein kleiner Vogel den Klauen des Raubvogels entkommen, das Gefieder schüttelnd, sich mit einem Jubeltriller in die Lüfte erhebend.

So lief sie mit leichten Schritten durch das Haus, als hätte sie auf dem Weg von Afghanistan nach Abu Dhabi die 20 bitteren Jahre von Afghanistan hinter sich gelassen, sie einfach abgeschüttelt. Sie blühte auf wie eine Wüstenblume nach dem Regen, und sie hatte ihr Lächeln wiedergefunden, das man ihr genommen hatte. Wir Kinder waren sehr froh und glücklich darüber. Nun, da mein Vater sich nicht mehr von den Brüdern und von Aday beobachtet fühlte, war auch von ihm die Strenge abgefallen, so als hätte man ihn von Fesseln befreit. Denn es ist ein ungeschriebenes Gesetz unter den Paschtunen, dass Männer und Frauen, auch wenn sie miteinander verheiratet sind, vor anderen Menschen, und sei es der Clan, weder persönliche Worte noch Berührungen austauschen dürfen.

Für eine ganz kurze Zeit wurden wir zur glücklichen Familie. Ich war besonders glücklich, denn ich durfte zur Schule gehen und eine neue Sprache lernen, Englisch, das hier alle Menschen sprachen.

Doch bald zogen noch zwei andere Familien des Clans zu uns ins große Haus, und mein Vater wurde wieder verschlossen, und wir Kinder konnten nicht verstehen, warum diese glückliche Zeit so plötzlich vorüber war. Und bald herrschte wieder Kälte zwischen ihm und meiner Mutter. Und die Wüstenblume begann langsam zu vertrocknen.

Es wurde noch eisiger, als Aday beschloss, in die Emirate zu ziehen, und sie brachte drei weitere Söhne mit ihren Familien mit. Sie bestand darauf, ihre Söhne um sich haben. So waren wir gezwungen umzuziehen, denn Aday verlangte, dass der Clan zusammenblieb. Wir zogen nach Dubai, auch weil man dort noch bessere Geschäfte machen konnte als in Abu Dhabi, wie die Männer glaubten. In Dubai fanden wir vier Häuser, die von einem großen Garten und einer hohen Mauer umgeben waren. Eine Mauer, um die Ehre der Frauen vor den Augen der Männer des fremden Landes zu schützen. Denn es hieß, die Emirate seien dem Westen zugewandt. Die Brüder verachteten den Westen.

So fanden sich die Frauen wieder in einem Gefängnis, das sie ohne die Männer nicht verlassen durften. Und da meine Mutter unter den Schwägerinnen keine einzige hatte, der sie vertrauen, mit der sie sich austauschen konnte, und nun mein Vater wieder für längere Zeit nach Afghanistan zog, verfiel sie in eine tiefe Depression. Sie wurde wieder zur Insel in einem Meer von Einsamkeit, und um dieser Einsamkeit inmitten dieses Meeres von menschlicher Kälte zu entfliehen, verkroch sie sich in ihr Bett, gleich nachdem sie ihre Arbeit verrichtet hatte. So waren wir Kinder wieder alleine.

Als Anfang des Jahres 1991 der Golfkrieg ausbrach, verließen wir Dubai, denn die Männer fürchteten, der Krieg könne auch die gesamte arabische Halbinsel überschwemmen.

So zogen wir alle nach Pakistan, nach Peschawar, eine Stadt an der Grenze zu Afghanistan, in die bereits viele afghanische Menschen vor dem Krieg in Afghanistan geflüchtet waren und in der viele Paschtunen lebten.

In Peschawar traf meine Mutter ihre Lieblingsschwester, und glücklich, mit ihrer Mutter und ihren Schwestern zusammen zu sein, erwachte sie aus ihrer Depression.

Die neuen Familienmitglieder waren freundliche Menschen, auch die andere Großmutter war eine freundliche Großmutter, und man sagte, sie sei schon über hundert Jahre alt. Sie hatte schneeweißes Haar, und ihre Haut war verschrumpelt wie ein alter Apfel. Sie hatte freundliche Schildkrötenaugen und ein gütiges Wesen. Immer zog sie mich zu sich und stopfte mir Süßes in den Mund.

So blieb meine Mutter im Haus ihrer Mutter. Hier in Peschawar wagte es meine Mutter, mit uns auf die Straße zu gehen, denn es waren viele Frauen auf der Straße, viele afghanische Flüchtlingsfrauen.