Sibirische Märchen I -  - E-Book
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Sibirische Märchen I E-Book

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Beschreibung

Dieser Band versammelt die schönsten Märchen zweier kleiner Völker, der Wogulen und Ostjaken, angesiedelt im nördlichen Eurasien: am Wolgaknie, am Mittelural und im benachbarten Westsibirien. Im Mittelpunkt der Glaubenswelt dieser Fischer, Rentierzüchter und Ackerbauer steht die Ahnenverehrung sowie der Kult um das heilige Tier, den Bären. Als Vermittler zwischen Mensch und Gottheiten spielt der Schamane eine wichtige Rolle. Die Märchen zeigen uns das Weltbild, die moralische Ordnung und die Figuren der Glaubenswelt, sowie ein buntes Bild des Alltagslebens.

Die Diederichs-Reihe »Märchen der Weltliteratur« ist die umfassendste Sammlung ursprünglicher Erzählliteratur aller Völker und Zeiten. Sie versammelt das Schönste, was sich die Menschen je erzählt haben: Mythen und Legenden, Göttersagen und Dämonengeschichten, Feen- und Zaubermärchen, gewitzte Tierfabeln und herrliche Schwänke. Wer die Eigenart anderer Völker verstehen will, wird hier Wege abseits des Mainstreams finden. Eine moderne Märchenbibliothek für eBook-Leser.

Ein Qualitätsprodukt von Diederichs.

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Seitenzahl: 467

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Inhaltsverzeichnis

Ostjakische Märchen
1. Der jüngste Bruder2. Der Ursprung des Paster-Volkes3. Die Mos-Frau4. Die gerechte Maus5. Der Enkel6. Die feurige Wasserflut7. Der Alte vom Großen Flußarm8. Einstiefel und der Fuchs9. Mos-Frau und Por-Frau10. Der Bretterschneider11. Das Siski-Vögelchen12. Die Füchsin und die Tiere13. Kemjas, der jüngste der drei Brüder14. Der schlaue Kaj15. Der Fuchs-Alte und die Kahnfahrer16. Der aus dem Knie der Frau geborene Mos-Mann17. Der Semper-Stein18. Der Lampask-Alte, Vampask-Alte und sein Enkel19. Der Enkel und der Zar Ohneherz20. Der scheintote Enkel21. Der Jäger und der siebenköpfige Waldgeist22. Die Schwester der drei Brüder23. Der kleine Vogel und die Maus24. Der Jäger und der Adler25. Die Beere und das Grasbüschel26. Der Sohn der Masmas-Alten27. Das Wundernetz
Wogulische Märchen
28. Die kleine Maus29. Das Vögelchen und seine Schwester30. Die Frau, die für eine Lüge Feuer gab31. Der Kater und sein Oheim32. Der Mann, der Reichtum vergibt33. Die holzgeschnitzte Frau34. Die drei Schwestern und der Schlangenmann35. Die jüngste Schwester und ihr Söhnchen36. Rotfink37. Der Brotfladen38. Der Feuerschwamm-Anzünder39. Der Mäuserich40. Der Sieben-Zobel-hohe-kupferne-eiserne Unhold41. Eine Wundergeschichte42. Der Kupfermann43. Der Bären-Sohn44. Die Stieftochter45. Der verbannte Alte46. Der Wettstreit
Copyright

Ostjakische Märchen

1. Der jüngste Bruder

Wo einst das Märchenvolk lebte, wo einst das Kalt-Volk1 wohnte, dort am Ufer ihres Flusses lebten einmal drei Brüder. Sie lebten dort und wußten selbst nicht, ob sie vom Himmel dorthin gekommen waren oder aus der Erde.

Sie lebten wohl eine lange Zeit, sie lebten wohl eine kurze Zeit, sie gingen jagen. Der jüngste Bruder hieß Tjiberlos Kupfermesser.

Eines Tages spricht Tjiberlos Kupfermesser zu seinen Brüdern also:

»Seit drei Menschenaltern häufen sich hier die Felle des Waldwildes, die Häute des vierbeinigen, vierfüßigen Wiesenwildes. Es wäre an der Zeit, sie irgendwo loszuschlagen! Brüder, ihr seid die älteren, sprecht, gibt es nicht irgendeine Stadt in der Nähe?«

»Es gibt wohl eine Stadt, doch der Weg dorthin dauert sieben Tage«, antworteten ihm die Brüder.

»So fertigt einen guten Schlitten an«, befiehlt Tjiberlos Kupfermesser seinen Brüdern.

Die Brüder fertigten einen Schlitten an, dann banden sie darauf, was sie nur an erbeutetem Getier im Hause hatten. Die älteren spannten sich vor den Schlitten, der jüngste setzte sich obenauf, so fuhren sie los.

Sie fuhren wohl eine kurze Zeit, sie fuhren wohl eine lange Zeit, schließlich wurde es dunkel. Ob sie sich niederließen, ob sie ein Lager aufschlugen oder nicht, wer weiß. Bei Sonnenaufgang machten sie sich wieder auf den Weg. Wie sie so dahinziehen, erblickt plötzlich Tjiberlos Kupfermesser oben vom Schlitten herab eine Stadt oder wer-weiß-was. Sie ziehen weiter und gelangen in die Stadt. Sie schauen sich nach allen Seiten um, doch menschliche Spuren finden sie nicht. Schließlich betreten sie ein besseres Haus und lassen sich nieder. Tjiberlos Kupfermesser befiehlt seinen Brüdern:

»Macht Holz fertig, schafft Wasser herbei, holt her, was wir brauchen! Ich will mich derweil aufmachen und in der Stadt herumgehen.«

Sprach’s und ging fort. Weder eine Menschenspur noch eine Tierspur war auf der Erde zu sehen, noch nicht einmal die Spur einer Maus. Der vom Himmel fallende Schnee hatte alles zugedeckt. Tjiberlos Kupfermesser schaute sich ein Weilchen um, dann kehrte er zu seinen Brüdern zurück. Die fragten ihn gleich:

»Brüderchen, Tjiberlos Kupfermesser, was hast du gesehen?«

»Wahrhaftig, nichts hab’ ich gesehen!« antwortete er ihnen.

Darauf begannen sie zu essen und zu trinken. Sie taten, was der Brauch ist. Die Brüder legten sich schlafen. Tjiberlos Kupfermesser aber blieb auf, um zu wachen. Er ging hinaus zwischen zwei Pfahlspeicher2 und kletterte auf einen Baum. Dort blieb er sitzen. Über ihm glänzte das Mondlicht. Wie er dort sitzt, sieht er plötzlich vom oberen Stadtrand her einen eisernen Hasen auf sich zukommen. Er wartet auf ihn, und als der Hase unter ihm ankommt, springt er von oben auf ihn herab. Er packt ihn bei den Ohren und beginnt ihn mit seinem Kupfermesserrücken zu häuten. Der Hase heult nach allen Seiten, doch Tjiberlos Kupfermesser befiehlt ihm:

»In dieser Stadt haben einst Menschen gewohnt. Lauf und schaff den herbei, der diese Stadt vertilgt hat!«

Damit ließ Tjiberlos Kupfermesser den Hasen los, der aber rannte heulend davon. Er lief dorthin, woher er gekommen war. Derweil kletterte Tjiberlos Kupfermesser auf seinen Platz zurück. Wie er dort sitzt, sieht er plötzlich: vom oberen Uralgebirge her kommt eine weiße Wolke auf ihn zu. Die Wolke kommt näher und näher, schließlich verwandelt sie sich am Horizont in einen weißen Reiter, der ruft immerfort:

»Mein marderzähniges kleines Tier, ja, ja, ja, mein tierzähniges großes Tier, ja, ja, ja! Daß Tjiberlos uns ja nicht hört, so, ja, so!«

Als der Reiter aus der Wolke herabkam, sprang Tjiberlos Kupfermesser ihm von oben entgegen:

»Wenn du Tjiberlos Kupfermesser suchst, da bin ich!« ruft er dem weißen Reiter zu.

»Tjiberlos Kupfermesser, es war nur Spaß, zürne nicht!« sagt darauf der weiße Reiter, der zweiköpfige Waldgeist-Alte.

»Hast du diese Stadt verschlungen?« fragt nun Tjiberlos Kupfermesser den Unhold.

Der Unhold antwortet ihm zunächst gar nicht, doch dann hebt er an und spricht:

»Richte für zwei Mann einen Ringplatz her!«

»Du bist schlau. Wenn du einen Ringplatz willst, so richte ihn doch selber her!« erwidert ihm Tjiberlos Kupfermesser.

»Tjiberlos Kupfermesser, du bist größer als der geflügelte Gott, du bist stärker als der Tiergott der Erde,3 richte du ihn her!«

Da zog Tjiberlos Kupfermesser den Ring von seiner Rechten, nahm ihn in den Mund und spie ihn wieder aus. Wie er ihn ausspie, entstand daraus im selben Augenblick ein Zwei-Mann-Ringplatz. Da begannen sie zu ringen. Sie rangen die Nacht hindurch, sie rangen in der Frühe, sie rangen solange, bis die Sonne aufging. Tjiberlos Kupfermesser verlor einen Blutstropfen, der zweiköpfige Waldgeist-Alte drei Barthaare. Da packte Tjiberlos Kupfermesser den Unhold und schleuderte ihn hoch in die Luft. Als er herunterkam, starb der Unhold, obgleich er tausend Jahre gelebt hatte. Nun band Tjiberlos Kupfermesser das Pferd des Waldgeist-Alten in den Stall, dann ging er zu seinen Brüdern:

»Männer, wie lange wollt ihr noch schlafen? Und wenn wir überfallen werden? Euch ist’s wohl gleich, ob wir aufgefressen werden oder ob uns allesamt der Teufel holt!« so sprach er zu ihnen, dann legte er sich auch schlafen. Als er erwachte, dunkelte es schon. Seine Brüder beschlossen, sie wollten in dieser Nacht wachen, und setzten sich vor das Haus. Doch Tjiberlos Kupfermesser kleidete sich an und trat zu ihnen hinaus.

»Das ist nicht eure Sache«, sprach er zu seinen Brüdern, »geht ihr nur hinein und schlaft!«

Darauf gingen die Brüder hinein, er aber kletterte wieder auf den Platz, wo er am ersten Abend gesessen hatte. Wie er dort sitzt, schau, da erscheint wieder ein Hase. Tjiberlos Kupfermesser springt ihm auf den Rücken und beginnt ihn mit seinem Kupfermesser zu häuten, dann läßt er auch diesen laufen. Danach kehrt er auf seinen Platz zurück und hält weiter Ausschau. Plötzlich taucht vom oberen Uralgebirge her eine bunte Wolke auf. Als sie näher kommt, sieht er: sie ist nichts anderes als ein gescheckter Reiter. Der ruft immerfort:

»Mein marderzähniges kleines Tier, ja, ja, ja. mein tierzähniges großes Tier, ja, ja, ja! Daß Tjiberlos uns ja nicht hört, so, ja, so!«

Als der Reiter Tjiberlos Kupfermesser erreicht hat, schreit Tjiberlos ihn an:

»Verflucht sei dein Vater, verflucht deine Mutter! Freilich höre ich es, da ich nun einmal hier bin!«

»Tjiberlos Kupfermesser, bitte, zürne nicht! Es war nur Spaß!«

»Dreiköpfiger Unhold« – denn das war der Reiter –, »hast du diese Stadt vertilgt?«

»Ob ich sie vertilgt habe oder nicht, richte für zwei Mann einen Ringplatz her!«

»Du hast sogar der Köpfe drei, mach es doch selbst!« antwortet ihm Tjiberlos Kupfermesser.

»Was ich herrichte, das ist nicht gut!« sagt darauf der Unhold. Tjiberlos aber zieht den kupfernen Ring von seiner Rechten und nimmt ihn in den Mund. Er dreht ihn im Munde um, dann speit er ihn aus. Und wieder entsteht daraus ein breiter Ringplatz. Da beginnen der Dreiköpfige und Tjiberlos zu ringen. Tjiberlos Kupfermesser verliert zwei Blutstropfen, der dreiköpfige Waldgeist-Alte drei Barthaare. Nun schleudert Tjiberlos Kupfermesser den dreiköpfigen Unhold zu Boden, daß seine Knochen sogleich in Stücke brechen. Die kleinen in noch winzigere, die großen in kleinere, nichts bleibt heil. Dann nimmt Tjiberlos das gescheckte Pferd des Unholds und bindet es neben das andere in seinen Stall. Was kann er nun anderes tun, er geht ins Haus, er weckt seine Brüder. Sie essen und trinken, und Tjiberlos Kupfermesser legt sich schlafen. Es wird schon Abend, als er erwacht. Er schickt seine beiden Brüder schlafen, er selbst aber geht auf seinen Platz, um zu wachen. Da kommt wie zuvor ein eiserner Hase auf ihn zu. Tjiberlos Kupfermesser packt ihn, häutet ihn und jagt ihn davon, um den herbeizuholen, der die Stadt verschlungen hat. Kaum ist der Hase davongerannt, so taucht vom oberen Uralgebirge her eine schwarze Wolke auf. Die Wolke verwandelt sich in einen schwarzen Reiter. Faustgroße feurige Glutbrocken stieben aus seiner Nase. Er kommt geradewegs auf ihn zu:

»Mein marderzähniges kleines Tier, ja, ja, ja, mein tierzähniges großes Tier, ja, ja, ja! Daß Tjiberlos uns ja nicht hört, so, ja, so!«

Als der schwarze Reiter bei ihm ankommt, da sieht Tjiberlos Kupfermesser: der siebenköpfige Waldgeist-Alte ist da. Der Unhold läßt sich zur Erde herab, hebt an und spricht:

»Tjiberlos Kupfermesser, hast du mich gerufen? Nun, da bin ich! Tjiberlos Kupfermesser, du bist größer als der geflügelte Gott, du bist stärker als der Tiergott der Erde, so richte für zwei Mann einen eisernen Ringplatz her!«

»Warum befiehlst du das mir? Du hast sieben Köpfe, richt ihn doch selber her!« antwortet Tjiberlos Kupfermesser dem siebenköpfigen Unhold, doch dann zieht er seinen Kupferring vom Finger und nimmt ihn in den Mund. Er kaut und kaut, dann speit er ihn aus. Sogleich entsteht aus dem Ring ein Vier-Mann-Ringplatz, ein eiserner Platz für vier Männer. Kaum war er fertig, so begannen Tjiberlos Kupfermesser und der siebenköpfige Waldgeist-Alte zu ringen. Sie rangen die ganze Nacht hindurch. Als es tagte, hatte Tjiberlos Kupfermesser drei Blutstropfen verloren, der siebenköpfige Unhold aber fünf Barthaare. Da schleuderte Tjiberlos Kupfermesser den siebenköpfigen Unhold zu Boden, daß seine Knochen in Stücke brachen. Die winzigen Knochen verschlangen die kleinen Tiere, die größeren verschlangen die größeren Tiere. So starb der siebenköpfige Unhold durch die Hand des Tjiberlos Kupfermesser, obwohl er hundert Jahre alt war. Nun zog Tjiberlos Kupfermesser den Ring wieder auf seinen Finger, dann band er auch das Pferd des siebenköpfigen Unholds in den Stall.

»Seid ihr denn noch nicht aufgestanden?« tadelt er seine Brüder. Sie springen sofort auf, essen und trinken, dann befiehlt ihnen Tjiberlos: »Wir wollen uns auf den Weg machen!«

»Tjiberlos Kupfermesser, Brüderchen, es wird bald dunkel. Wir müssen wohl einen langen Weg wandern, wir müssen wohl einen kurzen Weg wandern, zu Fuß werden wir gewiß nicht weit kommen!«

»Brüder, das ist meine Sache«, antwortete ihnen Tjiberlos Kupfermesser, damit ging er zum Stall, führte den Schimmel heraus und gab ihn seinem ältesten Bruder. Dann ging er wieder hin, holte den Schecken heraus und schenkte ihn dem jüngeren Bruder. Danach führte er auch den Rappen heraus, den behielt er für sich selbst. Dann sprangen sie auf die Pferde.

Die Schöße ihrer Mäntel, die Aufschläge ihrer Umhänge rutschten nach vorn, sie richteten sie unter sich und brachen auf.

Sie beschlossen, auf Brautschau4 zu gehen in ein Land, wo ein fremder Herrscher herrscht, wo fremde Mädchen wohnen. Wie sie so dahintraben, gelangen sie plötzlich an die Küste des nicht vereisenden Meeres. Da spricht Tjiberlos Kupfermesser zu seinen Brüdern also:

»Brüder, mir ist etwas zugestoßen, ich fühle es. Ich habe etwas verloren. Bleibt auf dem Platz, wo wir jetzt stehen! Ehe ein aufgesetzter Kessel aufwallt, ehe eine längliche Holzschale vollgeschöpft ist, bin ich wieder da!«

Damit schlug Tjiberlos Kupfermesser sein Pferd und kehrte um. Er ritt zu dem Haus zurück, in dem sie tags zuvor genächtigt hatten. Wie er ankommt, sieht er: das Rauchloch raucht. ›Wir haben kaum den Rücken gekehrt, wer zum Teufel konnte derweil hierherkommen?‹ überlegte Tjiberlos Kupfermesser. Dann klomm er leise zum Rauchloch hinauf und lugte hinein. Am Feuerplatz hockten drei Waldgeist-Töchter, die sprachen untereinander:

»Wo werden wir’s diesen drei Menschenkindern heimzahlen?«

»In der Stadt des Stadtfürsten-Alten5 werde ich den ältesten verschlingen«, spricht die älteste.

»Und wo willst du’s dem mittleren heimzahlen?« fragt die jüngste die mittlere.

»In der Stadt des teuflischen Tandal-Alten6 werde ich ihm den Garaus machen«, antwortet die mittlere.

Als Tjiberlos Kupfermesser das hörte, stieß er sein Kupfermesser in die Hauptsäule des Hauses. Im selben Augenblick schlüpften die drei Unholdinnen in drei Hausecken, nur ihre Augen blitzten noch hervor. Darauf zog Tjiberlos Kupfermesser sein Messer aus dem Holz, sprang auf sein Pferd und kehrte zu seinen Brüdern zurück. Alsbald überquerten sie das Wasser des nicht gefrierenden Meeres und gelangten in eine Stadt. Sie betrachten sie genauer: es ist die Stadt des Stadtfürsten-Alten. Schon von weitem rufen ihnen die Fürstenkinder zu:

»Was für wunderbare fürstliche Helden7 sind da gekommen! Ach, was für schönzopfige tapfere Fürstensöhne sind da gekommen!«

Darauf tritt auch der Stadtfürsten-Alte heraus und verjagt die Kinder:

»Ich habe sie zuerst kommen hören, und nicht etwa ihr habt sie zuerst gehört!« spricht er zu den Kindern, und er befiehlt, daß Tjiberlos Kupfermessers Pferde in den Stall geführt werden. Als das geschehen ist, lädt der Stadtfürsten-Alte sie ein, zu essen und zu trinken. Was nur Himmel und Erde bieten, ist da auf dem Tisch! Ein jeder macht sich ans Essen und Trinken. Unterdes wird für den ältesten Bruder ein gelbes Rentierfell auf den Boden gebreitet. Er will sich daraufsetzen, aber Tjiberlos läßt es nicht zu. Er hebt das Hirschfell auf und rollt es zusammen, dann nimmt er eine Axt und hackt es mitten im Zimmer kurz und klein. Der Boden wurde ganz rot von Blut. Der Stadtfürsten-Alte sagt nichts.

»Genauso sollte ich auch deine Halswirbel zerhacken!« schreit Tjiberlos ihn an. »Wenn du uns nicht bewirten wolltest, warum hast du uns dann hereingerufen?!«

Der Stadtfürsten-Alte wandte sich ab und wiegte nur den Kopf.

»Meinst du, meines Bruders Leben gelte mir nichts?« sagt darauf Tjiberlos Kupfermesser. »Hätte sich mein Bruder auf dieses Renhirschfell gelegt, so wäre er morgen früh tot gewesen! Ihr habt dieses Renhirschfell nur dorthin gelegt, um meinen Bruder zu töten.«

»Tjiberlos Kupfermesser, zürne nicht! Ich gebe deinem Bruder meine jungfräuliche Tochter aus dem marderfellbeschlagenen Mädchenhaus.«

Und so geschah es.

Der Bruder des Tjiberlos Kupfermesser bekam die Stadtfürsten-Tochter zur Frau, und sogleich wurde eine so große Hochzeit gehalten, daß das ganze Land herbeiströmte.

Kaum war der Festschmaus zu Ende, so sprach Tjiberlos Kupfermesser zu seinem älteren Bruder also:

»Warte hier, bis ich wiederkomme! Ob ich lange Zeit fort bin, ob ich kurze Zeit fort bin, warte auf mich!«

Darauf wünschte Tjiberlos Kupfermesser ihm Glück und nahm Abschied. Tjiberlos und sein mittlerer Bruder bestiegen die Pferde und brachen auf. Sie schoben die nach vorn gerutschten Mantelschöße unter sich, sie glätteten die zerknitterten Aufschläge ihrer Mäntel, dann sprengten sie davon.

Wie sie so reiten, kommen sie mit einem Mal in ein buschbewachsenes Land, in dem fremde Männer und fremde Frauen wohnen. Da spricht der mittlere Bruder:

Tjiberlos Kupfermesser, Brüderchen, wem gehört dieses Land, wem gehört diese Stadt?«

»Dies ist die Stadt des teuflischen Tandal-Alten«, antwortet ihm Tjiberlos Kupfermesser.

Als sie sich der Stadt nähern, rufen die Kinder des Tandal-Alten schon von weitem:

»Was für wunderbare fürstliche Helden sind da gekommen! Ach, was für schönzopfige tapfere Fürstensöhne sind da gekommen!«

Der teuflische Tandal-Alte aber herrscht sie an:

»Schreit nicht so! Ich habe sie schon früher kommen hören!« Dann befahl er, die Pferde der Gäste zu versorgen, sie zu füttern und zu tränken. Die Fremdlinge aber sollten seine Gäste sein.

Als sie eintraten, begann man im Hause des Tandal-Alten die Speisen zu kochen. Sie taten einen großen Kessel aufs Feuer und füllten ihn mit allem, was es nur gibt. Zu guter Letzt wurde auch noch ein Hechtkopf mitgekocht. Als die Speise gar war, nahmen sie den Hechtkopf heraus und setzten ihn Tjiberlos Kupfermessers Bruder vor. Die beiden Brüder aßen aus einer Schüssel, der eine saß auf der einen Seite, der andere auf der anderen Seite. Doch ehe sie noch zu essen begonnen hatten, sprang Tjiberlos Kupfermesser auf, packte sein Beil und zerhackte den Hechtkopf mitsamt den Fischen. Das Zimmer wurde ganz rot von Blut. Erschrocken sieht es der Tandal-Alte. Tjiberlos Kupfermesser aber schreit ihn an:

»Teuflischer Tandal-Alter, wovon blutete wohl der Hechtkopf? Uns wolltet ihr damit umbringen! Auch deine Halswirbel, Tandal-Alter, sollte ich mit dieser Axt in Stücke hacken!«

Der Alte sagt nichts, sondern wendet sich nur um und wiegt den Kopf. Doch hernach hebt er an und spricht:

»Wahrhaftig, ich wußte nicht, was gekocht wird!«

Darauf bückt sich Tjiberlos und klaubt zwischen den Hechtkopfstücken ein Stück Menschenfleisch heraus.

»Und was ist das?« fragt er den Alten. »Wenn du es nicht verborgen hättest, wie wäre es dann hierhergekommen?«

»Tjiberlos Kupfermesser, hör zu! Beruhige dich! Ich gebedeinem Bruder meine mittlere Tochter!«

Aber auch das kann Tjiberlos Kupfermessers Zorn nicht beschwichtigen.

»Tjiberlos Kupfermesser, so beruhige dich doch! Zürne nicht!« fleht der Tandal-Alte aufs neue. »Ich gebe deinem Bruder meine Tochter aus dem Mädchenhaus, meine jüngste Tochter aus der mit Vogelgefieder verzierten Hütte.«

Wie der langsamer schwimmende Seefisch, so beruhigt sich nun auch Tjiberlos Kupfermesser. Am andern Tage rief der Tandal-Alte alles Volk aus Stadt und Land zusammen, und es wurde eine solche Hochzeit gefeiert, daß alle aus Stadt und Land satt wurden.

Nach dem Festschmaus ruft Tjiberlos Kupfermesser den Tandal-Alten herbei und erbittet von ihm einen dreibödigen Schlitten, denn er könne nicht hierbleiben und müsse weiterziehen. Sogleich wird der Schlitten gebracht, und Tjiberlos Kupfermessers Pferde werden eingespannt. Ehe sie losfahren, ruft Tjiberlos noch seinem Bruder zu:

»Als wir damals mit den Fellen fuhren, kehrte ich in das Haus zurück, wo wir abgestiegen waren. In dem Haus waren drei Waldgeist-Töchter. Ich lauschte ihrem Gespräch. Sie sprachen darüber, wo sie uns dreien den Garaus machen wollten. Die älteste sprach also: ›In der Stadt des Stadtfürsten-Alten werde ich zwischen den Haaren des Rentierfelles den ältesten fressen.‹ Diese Unholdin habe ich im Hause des Stadtfürsten-Alten mit dem Beil zerhackt, und sie war auf der Stelle tot. Danach hob die mittlere Unholdin an und sprach: ›In der Stadt des Tandal-Alten werde ich, im Hechtkopf verborgen, den mittleren töten.‹ Darum habe ich den Hechtkopf zerhackt. All das habe ich vorher erlauscht, aber wo die jüngste Waldgeist-Tochter mich umbringen will, das konnte ich nicht mehr erfahren. Jetzt ziehe ich aus, um es zu erkunden. Du aber sollst in diesem Lande bleiben. Ob ich lange Zeit fort bin, ob ich kurze Zeit fort bin, warte hier auf mich!«

So sprach Tjiberlos Kupfermesser zu seinem Bruder, dann faßte er die Pferde beim Zügel und brach auf. Er fuhr und fuhr, bis er ans Ufer des nicht vereisenden Meeres kam. Das Meer hatte eine lange, schmale Bucht. Diese Bucht war von Eis bedeckt. Tjiberlos Kupfermesser besann sich nicht lange und ging mit den Pferden aufs Eis. Nach ein, zwei Schritten brach das Eis unter dem Pferd. Er schaut hin: Die ganze lange Bucht ist voll toter Fische. Von der Flut dorthin getrieben, waren sie wohl auf dem Trockenen verendet. Da sprang Tjiberlos Kupfermesser vom Pferd, und er lud soviel Fisch auf den Schlitten, wie die Pferde nur ziehen konnten. Dann brach er auf.

Er fuhr wohl eine lange Zeit, er fuhr wohl eine kurze Zeit, schließlich wurde es Frühling. Wie er so des Weges zieht, merkt er auf einmal, wie irgendein Tier vor ihm dahinstolpert. Als es näher kommt, sieht er: es ist ein Marder, und er will immer wieder sein Pferd beißen.

»Was hast du, Marder?« fragt ihn Tjiberlos Kupfermesser.

»Ich habe Hunger, ich will fressen«, antwortet der Marder.

»Ich gebe dir etwas zum Fressen, wenn du willst, aber rühre mein Pferd nicht an!« spricht Tjiberlos Kupfermesser zu dem Marder, und er wirft ihm Muksun-Fisch und Lachs vom Schlitten herunter.

»Vielleicht kann auch ich dir helfen, wenn du einmal in Not bist«, bedankte sich der Marder für den Fisch. Tjiberlos Kupfermesser aber zog weiter. Wie er so dahinzieht, merkt er plötzlich, wie etwas nach dem Hals seines Pferdes schnappt. Es war ein Fuchs.

»Fuchs, laß ab von meinem Pferd! Ich gebe dir zu fressen, wenn du’s brauchst«, rief Tjiberlos Kupfermesser dem Fuchs zu, und er gab auch ihm zu fressen.

»Wenn du in Not bist, helfe ich dir auch«, sagt darauf der Fuchs. Tjiberlos Kupfermesser aber zog weiter. Er fuhr wohl eine lange Zeit, er fuhr wohl eine kurze Zeit, plötzlich traf er einen Vielfraß. Der Vielfraß lief ein Weilchen vor ihm her, dann fiel er um. Er richtete sich auf, schleppte sich wieder ein Stückchen weiter, dann fiel er wieder um.

»Ohne einen Bissen muß ich Hungers sterben!« so rief er immer wieder. Da gab Tjiberlos Kupfermesser auch ihm etwas von dem Fisch.

»Vielleicht kann auch ich dir helfen, wenn du einmal in Not bist«, sagte der Vielfraß. Tjiberlos Kupfermesser aber setzte seinen Weg fort. Er fährt wohl eine lange Zeit, er fährt wohl eine kurze Zeit, da erblickt er wieder irgendein Tier. Wie er näher kommt, ist es ein Wolf. Auch der schnappt nach seinem Pferd.

»Wolf, rühre mein Pferd nicht an!« fuhr Tjiberlos Kupfermesser ihn an. »Ich gebe dir zu fressen, wenn du’s brauchst!« Und er warf auch ihm einen Haufen Fisch vom Schlitten herab.

»Du hast mich gerettet, darum will auch ich dir helfen, wenn du Hilfe brauchst«, spricht darauf der Wolf. Tjiberlos Kupfermesser aber zieht weiter seines Weges. Er fährt wohl eine lange Zeit, er fährt wohl eine kurze Zeit, schließlich trifft er den Bären. Der Bär taumelt auf und fällt wieder um. Was hilft’s, daß er ein mächtiges Tier ist, vor Hunger bricht er kraftlos zusammen.

»Bären-Alter, rühre mein Pferd nicht an! Ich gebe dir zu fressen, so viel du nur brauchst«, spricht Tjiberlos Kupfermesser zu dem Bären, und er streute ihm soviel Fisch vom Schlitten herab, als er nur konnte.

»Du hast mich vor dem Hungertod gerettet. Wenn du in Not bist, will auch ich dir helfen, so gut ich kann«, dankte der Bär, und er blieb dort, um den Fisch zu verzehren. Tjiberlos Kupfermesser aber zog weiter. Er fuhr wohl eine lange Zeit, er fuhr wohl eine kurze Zeit, nach einer Weile traf er einen Vogel, eine Krähe. Die Krähe flatterte auf und fiel wieder herab.

»Was hast du, Krähe?« fragte Tjiberlos Kupfermesser.

»Ohne einen Bissen Nahrung muß ich Hungers sterben«, antwortete die Krähe, und Tjiberlos Kupfermesser gab auch ihr zu fressen.

»Vielleicht kann auch ich dir helfen, wenn du in Not bist«, sagte die Krähe und machte sich gleich über den Fisch her. Tjiberlos Kupfermesser aber zog weiter. Er fuhr wohl eine lange Zeit, er fuhr wohl eine kurze Zeit, auf einmal stürzte ein Fischadler vor ihm nieder.

»Adler, rühre mein Pferd nicht an! Ich gebe dir zu fressen, wenn du’s brauchst«, sprach Tjiberlos zum Adler und warf auch ihm etwas von dem Fisch hin.

»Wenn du einmal in Not bist, will auch ich dir nach besten Kräften helfen!« sagte der Adler. Tjiberlos Kupfermesser aber machte sich wieder auf den Weg. Er fährt wohl eine lange Zeit, er fährt wohl eine kurze Zeit, er fährt und fährt, da trifft er wieder einen dahintaumelnden Vogel, einen Falken.

»Was hast du, Falke?« fragt ihn Tjiberlos Kupfermesser. »Bist du nicht so stark, daß du selbst das Eis auf deinem Wege zerbrechen kannst?«

»Ich komme um, ich sterbe vor Hunger«, antwortete ihm der Vogel, und Tjiberlos Kupfermesser warf ihm so viel zu fressen hin, als er nur konnte.

»Wenn du einmal in Not bist, werde auch ich dir helfen!« versprach der Falke, doch Tjiberlos Kupfermesser hörte es schon nicht mehr, er zog weiter. Er fuhr wohl eine lange Zeit, er fuhr wohl eine kurze Zeit, bis plötzlich ein Habicht vor ihm aufflog. Er flatterte auf, dann fiel er herab.

»Was hast du, Habicht?« fragte ihn Tjiberlos Kupfermesser.

»Ich habe das ganze Land durchzogen und muß doch Hungers sterben.«

»Rühre mein Pferd nicht an! Ich gebe dir zu fressen, wenn du willst«, sprach Tjiberlos Kupfermesser zu ihm, und er warf ihm so viel Fisch herab, wie noch übriggeblieben war. So war der viele, viele Fisch doch alle geworden!

»Wenn du einmal in Not bist, wenn du einmal in eine Tiefe fällst, dann will auch ich dir helfen, so gut ich es vermag!« sagte darauf der Habicht. Tjiberlos Kupfermesser aber zog weiter.

Er fuhr wohl eine lange Zeit, er fuhr wohl eine kurze Zeit, schließlich gelangte er in ein fremdes, waldiges Hügelland. Wie er so dahinzieht, taucht vor ihm irgendeine Stadt, irgendein Dorf auf. Fremde Männer, fremde Frauen wohnen hier. Tjiberlos Kupfermesser zieht weiter, bis er das am Flußufer liegende Ende der Stadt erreicht. Er spannt die Pferde aus dem Schlitten und schlägt sie mit der Peitsche. Da verwandelten sich alle drei Pferde in krummes Felsgestein, als hätte Gott Torem8 selbst sie geschlagen, der Schlitten aber verwandelte sich in einen kahlen Hügelrücken. Nun machte sich Tjiberlos Kupfermesser zu Fuß auf den Weg in die Stadt. Alsbald erreichte er den Friedhof der Stadt. Drei fremde Mädchen verfertigten dort Särge, sehr schöne Särge.

»Warum macht ihr diese Särge?« fragte sie Tjiberlos Kupfermesser.

»Weil wir damit unser Brot verdienen, weil wir davon leben«, antworteten ihm die drei fremden Mädchen.

»Und wem verkauft ihr diese Särge?«

»Von uns aus auch dir, wenn sie dir gefallen. Jedermann kann einen Sarg bekommen, wenn er einen braucht«, antworteten ihm die Mädchen. Tjiberlos Kupfermesser besah sich einen der Särge.

»In diese Särge passe ich aber nicht hinein!« sagte Tjiberlos Kupfermesser zu den Mädchen. Darauf zogen die Mädchen einen anderen hervor. Tjiberlos Kupfermesser betrachtete ihn, besah ihn genau.

»Vielleicht passe ich da hinein«, sprach er und legte sich in den Sarg, die Mädchen aber taten langsam den Deckel darauf.

»Drückt er nicht deine Nase?« fragten sie.

»Nein, er berührt mein Gesicht gar nicht«, antwortete Tjiberlos Kupfermesser, doch plötzlich nagelten die Mädchen den Sarg an beiden Enden mit eisernen Nägeln zu. Man konnte hören, wie der Deckel Tjiberlos Kupfermesser zusammendrückte. Er schrie den Mädchen zu:

»He, so macht doch auf!«

»Tjiberlos Kupfermesser, du bist größer geworden als der geflügelte Gott, du bist stärker geworden als der Tiergott der Erde, du hast unsere Väter getötet, du hast unsere beiden Schwestern getötet. Jetzt aber zahlen wir’s dir heim!« antworteten sie ihm. Tjiberlos Kupfermesser rüttelte und schüttelte mit aller Kraft an dem Sarg, doch er gab kein bißchen nach. Da faßten die drei Mädchen den Sarg und ließen ihn auf den Grund des Meeres hinab.

Wer wird von Tjiberlos Kupfermesser erzählen? Wer wird sein Lied singen? Wer soll Kunde von ihm bringen? Und wenn und wohin? Kein Mensch hat es gesehen, keiner wird es erzählen. Niemand hat es gesehen, niemand wird Kunde von ihm bringen.

Doch einmal begann der Marder zu zaubern. Er zaubert und zaubert, da sieht er: Tjiberlos Kupfermesser, sein Retter, lebt nicht mehr! Da sprang der Marder auf und eilte fort, um die Kunde zu verbreiten. Auf seinem Wege traf er zuallererst den Fuchs.

»Du spazierst hier noch herum, während dein Herr, der dich gerettet hat, tot ist?« rief er dem Fuchs zu. Da lief der Fuchs zum Vielfraß.

»Du spazierst hier noch herum?! Dein Herr, der dich gerettet hat, ist tot!« sprach er zum Vielfraß, und sie liefen zu zweit weiter.

»Wahrhaftig, auch ich habe Schlimmes geträumt«, sagte der Vielfraß. Dann eilten sie fort und brachten die Nachricht dem Wolf. Als der Wolf hörte, was geschehen war, wurde er so zornig, daß beide, Fuchs und Vielfraß, erschrocken zur Seite sprangen.

»Warum so zornig, Wolf?« fragte der Vielfraß den Wolf. »Bei uns brauchst du ihn nicht zu suchen!«

»Lauf du voraus, Vielfraß, und finde, bis wir ankommen, heraus, wo er geblieben ist!« sprach der Wolf zum Vielfraß und machte sich gleichfalls auf die Beine. Unterwegs erblickte er einen Habicht:

»Komm einmal her, Habicht!« rief ihm der Wolf zu. Der Habicht flog herbei.

»Was gibt’s, Wolf?« fragte er.

»Tjiberlos Kupfermesser ist tot! Geh und rufe alle gefiederten Vögel unter dem Himmel zusammen!« befahl der Wolf dem Habicht.

»Das will ich tun«, antwortete der Habicht, und schon flog er davon. Nun suchte der Wolf den Bären auf.

»Du bist mir ein wackerer Geselle!« sprach er zum Bären. »Sitzt nur da, wenn dem Menschen geholfen werden müßte, der dir das Leben gerettet hat. Denn man sagt, daß er tot ist.«

Da sprang der Bär auf und begann so zu rennen, daß er wohl heute noch läuft, wenn er nicht stehengeblieben ist. Der Wolf lief hinterdrein, und alsbald erreichten sie eine Stadt. Auf einer Felsenstufe nahe der Stadt hockte schon der Marder. Alle Tiere, so viele ihrer unter dem Himmel sind, hatte er versammelt. Nun saßen sie alle um ihn herum. Als auch der Bären-Alte und der Wolf ankamen, hob der Marder an und sprach:

»Warum kommt ihr so spät? Bären-Alter, einmal hat ein Mensch dir das Leben gerettet. Deine Kraft ist Kraft, dein Fleisch ist Fleisch, aber wenn ich von diesem Felsen auf dich herabspringe, kratze ich dir gleich beide Augen aus!«

Nun waren auch die Vögel alle angekommen. Von ihrer unermeßlichen Zahl verfinsterte sich die Erde. Als sie alle versammelt waren, hob der Bären-Alte an und sprach:

»Wo ist jener Mann?« fragte er die Tiere. »Habt ihr nicht gesehen, wohin man ihn gebracht hat?«

»Wir haben es nicht gesehen«, antworteten die Tiere. »Wir wissen auch nicht, ob man ihn bei Tag fortschaffte oder bei Nacht.«

»Marder, zaubere!« befiehlt nun der Bären-Alte dem Marder. Der Marder setzte sich und begann aufs neue zu zaubern. Er zauberte und zauberte, schließlich hob er an und sprach:

»Man hat ihn in einen eisernen Sarg gelegt.«

Darauf setzten sich die Tiere zu Rate:

»Wir wissen nun, daß er in einem eisernen Sarg ist, aber wo der Sarg ist, wissen wir nicht. Wäre er in der Erde begraben worden, so hätte es doch einer von uns gesehen!«

Sie suchten und forschten nach ihm, doch sie konnten und konnten ihn nicht finden. Da wandten sie sich an den Habicht.

»Habicht, fliege zum Himmel hinauf und frage alle Sterne, so viele ihrer am Himmel sind, ob sie ihn nicht gesehen haben.«

Der Habicht flog hinauf. Er fragte die Sterne, fragte sie alle.

»Wir sahen ihn nicht, wir wissen es nicht«, antworteten ihm die Sterne. »Doch in des Himmels Mitte ist ein kleines Sternchen, das frage! Hat ihn einer gesehen, dann gewiß dieses Sternchen!«

Der Habicht flog zu dem Sternchen in der Mitte des Himmels. Er fragte es: »Wir suchen den Leichnam des Tjiberlos Kupfermesser, hast du nicht gesehen, wo er begraben ist?«

»Konnten es dir die anderen Sterne nicht sagen?«

»Ich habe sie alle gefragt, aber sie wußten es nicht!« antwortete der Habicht dem Sternchen in der Mitte des Himmels.

»Aber ich hab’s doch gerade gesehen: Er wurde ins Wasser des Meeres geworfen!«

Als der Habicht das hörte, flog er sofort zu den anderen zurück.

»Was gibt’s? Wo ist er?« fragten sie ihn alle.

»Im Wasser des Meeres!«

Da machten sich die Tiere alle auf den Weg zum Meer. Doch als sie ankommen, sehen sie, daß das Meer zugefroren ist. Darauf setzen sich die Tiere wieder zu Rate.

»Man muß ihn aus dem Meerwasser heraufholen«, sagen die gefiederten Vögel zu den Tieren der Erde.

»Aber wie kann ich ihn denn unter dem Eis hervorholen?« antwortet ihnen der Bären-Alte. Da hob der Falke an und sprach:

»Kommt nicht zu nahe, denn ich schaue jetzt hinunter, ich schaue nach, wo er ist! Und wenn mein Torem-Vater mir hilft, bringe ich ihn vielleicht herauf!« So sprach der Falke und stieg auf, daß ihn bald keiner mehr sehen konnte. Die übrigen Tiere hocken derweil da und warten. Plötzlich aber gab es ein Krachen und Tosen, als hätte der himmlische Torem-Vater Blitz und Donner geschickt. Der Falke stürzte sich auf’s Eis des Meeres! Er zerbrach das Eis und tauchte im Wasser unter. Lange Zeit blieb er dort, kurze Zeit blieb er dort, plötzlich tauchte er wieder auf und hielt Tjiberlos Kupfermessers eisernen Sarg fest in seinen Klauen. Er brachte ihn herauf und warf ihn auf das Eis. Die vielen, vielen Tiere umringten ihn alle. Da hoben die gefiederten Vögel an und sprachen zu den Erdentieren:

»Der Falke hat den Sarg unseres Herrn heraufgeholt, an euch ist es nun, ihn zu öffnen!«

Der Bären-Alte und der Wolf springen herbei, um den Sarg aufzubrechen. Doch wie sie sich auch abmühen, der Eisensarg öffnet sich nicht. Da ging der Falke zum Bären-Alten:

»Holt Lebenswasser und Lebensgras herbei! Das brauchen wir dazu!« befahl er ihnen, dann sprach er zum Habicht:

»Schick die Krähe aus, das Lebenswasser zu holen!«

Nun hob auch der Bären-Alte an und sprach:

»Wen wollen wir ausschicken, das Lebensgras zu holen?«

»Ich will es holen!« sagte die Maus. Danach machten sie sich auf, die Maus, um das Lebensgras zu holen, die Krähe, um das Lebenswasser zu holen. Der Falke aber spricht zum Bären-Alten also:

»Bären-Alter, deine Kraft ist Kraft, dein Fleisch ist Fleisch, du bist groß, du bist mächtig und kannst doch den Eisensarg nicht aufbrechen?!«

Darob wurde der Bär zornig. Er stellte den Eisensarg auf die Kante und schlug auf ihn ein. Da zerbarst der Eisensarg in winzige Stückchen. Nun nahmen sie Tjiberlos Kupfermesser aus dem Sarg und rissen sein Fleisch in Stücke. Derweil brachte die Krähe in einem Birkenrindengefäß das Lebenswasser, und auch die Maus kam mit dem Lebensgras. So begannen sie, Tjiberlos Kupfermesser zum Leben zu erwecken. Sie fügten die Stücke seines Fleisches wieder in rechter Ordnung zusammen und begossen sie immer wieder mit dem Lebenswasser. In sein Herz aber taten sie das Lebensgras. Eins wird zum andern gefügt und mit dem Lebenswasser begossen. Mit einemmal verwandelt sich sein Fleisch in das lebendige Fleisch eines Chanti-Mannes.9 Er wird wieder zum Menschen. Nur die Seele fehlt ihm noch, obgleich alles Lebenswasser schon verbraucht ist. Da faßt ihn der Bären-Alte und beginnt ihn zu bewegen. So erwacht Tjiberlos Kupfermesser endgültig wieder zum Leben.

Seine Augen schauen, da sieht er: das Eis des Meeres ist so schwarz wie der Erdboden von den vielen Tieren. All die vielen Tiere neigen ihm zum Gruß die Köpfe und springen vor ihm umher. Da hebt Tjiberlos Kupfermesser an und spricht:

»Ihr Tiere alle, die Torem schuf, was tat ich für euch, daß ihr für mich so viel Gutes tatet?«

»Einst sind auch wir beinahe umgekommen, und du hast uns gerettet. Darauf sprachen wir zu dir also: Wenn du einmal in Not bist, wenn du einmal in irgendeine Tiefe fällst, werden auch wir dir helfen. Darum haben wir dich jetzt sogar aus dem Eiswasser des Meeres heraufgeholt!«

2. Der Ursprung des Paster-Volkes

Fern im Süden oder nah, wer weiß, dort, wo der Obfluß entspringt, dort haben wohl einst die Ahnen des Paster-Volkes10 gelebt, und vielleicht leben sie dort auch heute noch.

Einmal gingen ihrer zwei auf die Jagd. Während der Jagd stießen sie plötzlich auf ein schönes Laufwild, einen Elchhirsch. Sie begannen ihm nachzujagen. Der eine Paster-Mann hatte Flügel, der setzte dem Tier durch die Luft nach, der andere, der nur seine Füße hatte, verfolgte es auf der Erde. Aber ob er gleich so schnell lief wie ein Vogel, blieb er doch hinter dem Elch und dem geflügelten Paster-Mann zurück. Er blieb so weit zurück, daß er die beiden gar nicht mehr sehen konnte, so sehr waren sie ihm vorausgeeilt! Aber umkehren wollte er dennoch nicht, so lief er denn weiter hinter ihnen her. Wenn er läuft, so soll er laufen, wir wollen sehen, was derweil der andere, der Geflügelte, machte.

Der Flügelmann jagte weiter dem schönen Elch nach. Er jagte ihn wohl eine lange Zeit, er jagte ihn wohl eine kurze Zeit, schließlich erreichte er ihn. Da traf ihn der geflügelte Paster-Mann mit einem Pfeil, und der Elch brach tot zusammen.

Aber auch der Mann war nun erschöpft!

»Ach, wie bin ich müde geworden!« sagte er und setzte sich neben den Elch auf die Erde.

Wie er so dasaß, begann er sich umzuschauen:

›Mein Land habe ich aber weit hinter mir gelassen! Was mag dies für ein Land sein? Ich kenne es nicht! Wer weiß, wie viele Tage ich diesen Elch gejagt habe, wer hat sie gezählt? Und wenn ich ihn auch erlegt habe, mein Heimweg ist so weit, daß ich ihn wohl nimmermehr heimtragen kann!‹ so dachte er bei sich, dann stand er auf. Er häutete den Elch, schnitt das Rückenfett herunter und steckte es in die Schäfte seiner Schneestiefel. Er deckte das Fleisch mit Zweigen und Ästen zu und legte auch noch Flechtwerk darunter. Dann machte er sich wieder auf dorthin, woher er gekommen war. Im Fluge zog er einen Flügel eine Weile durch den Schnee, flog ein bißchen auf und zeichnete danach abermals mit seinem Flügel ein Zeichen in den Schnee.

Er flog wohl eine lange Zeit, er flog wohl eine kurze Zeit, da kam ihm plötzlich der andere Paster-Mann, der zu Fuß dahinlief, entgegen. Der jagte noch immer den Elchhirsch.

»Hast du den Elch erlegt, oder hast du ihn davonlaufen lassen?« fragt nun der Fußmann den Flügelmann.

»Wohl habe ich ihn erlegt, aber so fern von hier, daß ich sein Fleisch dortließ. Ich ziehe jetzt heimwärts, aber wenn du das Elchfleisch brauchst, so geh nur und nimm es dir!« antwortete der Geflügelte dem Fußläufer. Zugleich holte er den Hirschtalg aus seinen Schneestiefeln und gab ihn dem anderen, damit er, bis er das Fleisch fände, etwas zu essen habe. Dann fuhr er also fort:

»Als ich zurückkehrte, zog ich mit meinem Flügel Zeichen in den Schnee. Eine lange Zeit wirst du wandern, eine kurze Zeit wirst du wandern, dann wirst du auf meiner Spur das Fleisch des Elchhirschs finden. Du kannst es auch aufessen, und meinethalben kannst du sogar dort bleiben, denn ein Fußläufer kann von dort wohl nimmermehr heimkehren!«

So sprach der geflügelte Paster-Mann und zog weiter heimwärts, der Fußmann aber brach auf und wanderte geradewegs weiter. Unterwegs aß er immer wieder von dem Elchfett, so daß er nicht zu verhungern brauchte. Er wanderte wohl eine lange Zeit, er wanderte wohl eine kurze Zeit, und als ihm schließlich der Talg ausging, fand er den erlegten Elchhirsch.

›Meine Heimat ist wahrhaftig weit, weit fort. Wann werde ich sie zu Fuß je wieder erreichen?‹ dachte er bei sich. So holte er denn das Fleisch hervor und begann zu schmausen. Er aß und ließ es sich schmecken, darauf begann er sich rundherum umzuschauen.

›Meine Heimat ist fern von hier. Zu Fuß komme ich nimmermehr zurück!‹ denkt er. ›Land ist auch dies hier! Fisch gibt es, Jagdwild gibt es, es wird nicht übel sein hier! Ich bleibe hier!‹ also dachte er bei sich, und so geschah es. Der Paster-Mann, der Fußläufer, blieb dort für alle Zeiten. Seine alte Heimat hatte er bald ganz vergessen.

3. Die Mos-Frau

In einer einsamen Hütte lebte einst eine Mos-Frau.11 Eines Jahres, als schon der Frühling ins Land kam, brachte sie ihren schön bestickten und verzierten Pelz an die Sonne zum Trocknen.

›Mag er noch ein Weilchen trocknen!‹ dachte sie bei sich, danach ging sie ins Haus und versah ihre Arbeit. Als es Abend wird, geht sie hinaus, da sieht sie: der Pelz ist weg! Sie schaut rechts umher, sie schaut links umher, aber ihren Pelz findet sie nicht. Es hat auch kein Wind geweht, wo ist er nur geblieben?! Hat ihn etwa ein Mensch weggenommen?! Weit und breit schaut sie umher, doch sie sieht niemanden. Da bricht sie in Tränen aus:

»Warum habe ich ihn nur hinausgehängt? Noch meine Mutter hat ihn genäht, es sind nun wohl fünfundzwanzig Jahre. Aber selbst dreißig Jahre lang wäre daran nichts zerrissen! Ob wohl ein vierfüßiges Erdentier ihn geraubt hat? Ob wohl ein gefiederter Himmelsvogel damit fortgeflogen ist? Wo finde ich ihn nur?« klagte sie vor sich hin. Dann legte sie sich nieder, doch sie konnte und konnte nicht einschlafen. In der Frühe stand sie rasch auf. Sie aß und trank, band sich ein Tuch um den Kopf und machte sich auf den Weg, wohin ihr Auge schaute.

Sie wanderte wohl eine lange Zeit, sie wanderte wohl eine kurze Zeit, schließlich spürt sie, wie ihr die Kräfte schwinden. Sie schaut sich um: dort hinten steigt Rauch auf! Der Rauch kam ja aus einer Hütte! Drei ihrer Säulen sind in die Erde gesenkt, drei aber ragen gen Himmel. Die Mos-Frau geht zu der Hütte, sie wagt aber nicht einzutreten. Ob ein Mensch darin wohnt oder ein Teufel, wer weiß es! Sie lauscht. Nur das Knistern des Feuers ist von drinnen zu hören. Sie beginnt zu weinen. Da öffnete sich die Tür, und eine Frau trat ihr aus der Hütte entgegen: »Wer bist du?« fragte sie die Mos-Frau.

»Ich bin die Mos-Frau aus der einsamen Hütte!« antwortete die Mos-Frau.

Da lief die Frau auf sie zu:

»Herrin, was hat dich hierher geführt?« fragte sie.

»Der Pelz, den meine Mutter genäht, ist verlorengegangen.«

»Wie ist er denn verlorengegangen?« fragte die Frau.

»Ich habe ihn zum Trocknen hinausgehängt, und er ist verschwunden. Ob ein vierfüßiges Erdentier ihn raubte, ob ein gefiederter Himmelsvogel damit fortflog, ich weiß es nicht. Nun gehe ich, wohin mein Auge schaut, ihn zu suchen«, entgegnete die Mos-Frau. Die Frau aber küßte sie, führte sie ins Haus und gab ihr zu essen und zu trinken. Die Mos-Frau aß, aber so viel sie aß, so viel weinte sie auch.

»Weine nicht, mit Weinen findest du ihn niemals wieder!« besänftigte sie die Frau.

»Gewiß, niemals werde ich ihn wiederfinden«, wiederholte die Mos-Frau.

»Warte nur, bis dein Schwager12 heimkommt, vielleicht hat er ihn irgendwo gesehen!« tröstete die Frau, und sie hatte es kaum ausgesprochen, so hören sie schon, wie jemand kommt. Der Mann der Frau war gekommen. Er trat ein, sagte aber nichts.

»Merkst du denn nicht«, fuhr da die Frau ihren Mann an, »daß jemand bei uns ist, den wir kennen?«

»Meine Augen sind noch blind vom Frühlingswind, aber nun sehe ich schon: die Mos-Frau aus der einsamen Hütte ist hier«, sprach der Mann, dann fragte er die Mos-Frau: »Suchst du vielleicht irgend etwas? Fischend und jagend durchziehe ich das Land, ich wandere auf weiten Wegen, ich wandere auf nahen Wegen, aber ich habe nichts gefunden.«

»Der Pelz, den meine Mutter genäht hat, ist verlorengegangen, nun gehe ich, ihn zu suchen.«

»Hier treiben sich nur noch Teufel herum, aber keine Menschen«, sagte darauf der Mann.

»Dennoch, hast du nichts gesehen?« fragte die Mos-Frau aufs neue.

»Hätte man ihn dort entlanggetragen, wo sein Weg entlangführt, so hätte er ihn sicher gesehen!« antwortete die Frau an ihres Mannes Statt. Da ergriff auch der Mann das Wort:

»Frau, gib deiner Schwester ein Marder-Sommerfell! Im fernen Land, dort im einsamen Land, da wohnt ihre jüngere Schwester. Die weiß ihr vielleicht etwas zu sagen.«

Damit legten sie sich nieder. In der Frühe standen sie auf. Der Mann war schon lange fortgegangen. Reif wie das Fell eines Eichkätzchens bedeckte sein Lager. Sogleich erhoben sich auch die beiden Frauen, sie begannen zu essen. Aber so viel die Mos-Frau ißt, so viel weint sie auch!

»Meinen Pelz will ich suchen! Auch wenn es mich das Leben kostet, will ich ihn wiederfinden!« so klagte sie ihrer Schwester. Darauf küßte die Schwester sie, und die Mos-Frau machte sich auf und ging ihres Weges.

Sie wanderte wohl eine kurze Zeit, sie wanderte wohl eine lange Zeit, vielleicht wanderte sie auch einige Wochen lang. Einmal aber schwanden ihr wieder die Kräfte.

›Wenn ich auch heute noch nicht sterbe, so sterbe ich doch gewiß morgen‹, denkt sie bei sich. Da, als sie vorwärtsschaut, erblickt sie wiederum eine Hütte. Drei Säulen sind in die Erde gesenkt, drei aber ragen gen Himmel. Sie geht zu der Hütte, aber vor Schwäche konnte sie die Tür nicht öffnen. Da tut sich plötzlich von innen die Tür auf, eine Frau tritt heraus, sie faßt die Mos-Frau bei der Hand und geleitet sie ins Haus.

»Herrin, liebe Schwester, mein Schwesterchen, was ist dir geschehen?‹ fragt sie.

»Die Augen sind mir geschwollen, auch sprechen kann ich nicht. Laß mich erst ein wenig zu mir kommen, gleich will ich alles erzählen«, entgegnet ihr die Mos-Frau. Da bereitet ihr die Frau ein Lager und gibt ihr zu essen. Die Mos-Frau fiel sogleich in einen so tiefen Schlaf, daß sie erst erwachte, als der Schwager kam. Die Tür tut sich auf, und gleich einem zottigen Bär tritt jemand über die Schwelle. Ganz nah kommt er an sie heran, beschnuppert sie, beobachtet sie. Die Mos-Frau erschrak.

»Ist denn ein Fremder gekommen oder was, daß du so herumschnüffelst«, fuhr da die Frau den Mann an. Nun schlug die Mos-Frau aufs neue die Augen auf. Nun, was sieht sie? Dort an einem Haken hängt das Bärenfell,13 und ein fürstlicher Held von selten schöner Gestalt steht vor ihr. Wahrhaftig, solch einen Mann sah sie noch nie! Jetzt hebt der Mann an und spricht:

»Mos-Frau aus der einsamen Hütte, was suchst du in diesem fernen Land, wohin sich nicht einmal ein Vogel verirrt?«

»Ich suche meinen Pelz, der mir von meiner Mutter geblieben ist«, antwortete die Mos-Frau.

»Dir ist doch nicht ein lieber Pelz verlorengegangen?«

»Ach doch! Hei, ich habe in diesem Pelz das ganze toremgeschaffene Land durchzogen, und er ist nicht einmal zerschlissen, nicht einmal gerissen. Hei, so ein Pelz war das! Und nun ist er verloren.«

»Weit fort ist dein Pelz«, sagt darauf der Schwager zur Mos-Frau. »Selbst ein Vogel könnte nicht dorthin gelangen, und gar eine schwache Frau wie du!«

»Ich will meinen Pelz wiederfinden, auch wenn es mich das Leben kostet!«

»Nun, wenn du klug bist, wird es dich vielleicht nicht die Seele kosten«, entgegnete der Schwager der Mos-Frau. Danach aßen sie und legten sich zur Ruhe. In der Frühe, als sie aufstehen, befiehlt der Mann sogleich seiner Frau:

»Frau, gib deiner Schwester einen Eichhörnchen-Sommerpelz!« dann wendet er sich der Mos-Frau zu und fragt:

»Was hat dir dein älterer Schwager gegeben?«

»Er hat mir einen Marder-Sommerpelz gegeben«, antwortete die Mos-Frau.

»Dein älterer Schwager wußte wohl, was er dir geben mußte! Jetzt aber machst du dich auf den Weg. Unterwegs, am Lauf des Ob, auch an der Küste des Meeres wirst du bald vielen Menschen begegnen. Aber höre nicht auf sie, blicke sie gar nicht an! Wenn du sie schon hinter dir gelassen hast, wirst du auf eine Stadt treffen. Am Rande dieser Stadt steht ein Baum und auf dem Wipfel dieses Baumes ein Haus. Auf einem Balken unter dem Fenster dieses Hauses auf dem Baumwipfel, da ist dein Pelz14 . Wenn du in die Nähe des Baumes kommst, leg das Marderfell an, das dein älterer Schwager dir gegeben hat. Zu beiden Seiten des Baumes liegen Hunde in einer Reihe, aber fürchte dich nicht vor ihnen, sie bemerken dich nicht. Geh nur ruhig weiter. Dann klettere auf den Baum und nimm dir deinen Pelz. Bedecke dich mit dem Eichhorn-Sommerfell, aber daß du unterdes ja nicht denkst: ›Na, endlich habe ich meinen Pelz‹ – denn augenblicks werden dich die Hunde in Stücke reißen. Nun also geh, aber vergiß nicht, was ich gesagt habe!«

Die Mos-Frau machte sich auf den Weg. Sie wanderte wohl eine lange Zeit, sie wanderte wohl eine kurze Zeit, schließlich, als ihr Fuß schon müde wurde, erblickte sie auf einmal am Ufer des Ob Menschen, die fischten mit einem Zugnetz. Der eine sang, der andere lachte. Doch was hatte sie hier zu suchen, sie blieb nicht einmal stehen, sondern wanderte nur immer weiter.

Sie wanderte und wanderte, bis sie plötzlich etwas gleich einer Stadt vor sich erblickte. Vor der Stadt ist ein Baum, auf dem Baumwipfel aber, kaum sichtbar, ein Haus. Sie geht näher, legt den Marder-Sommerpelz an und beginnt hinaufzuklettern. Zu beiden Seiten des Baumes liegen Hunde in eiserne Ketten geschlagen. Kaum ein Fußbreit ist zwischen ihnen, kaum kann man hindurchgehen. Dennoch geht die Mos-Frau, sie nimmt ihren Pelz – keine Menschenseele ist zu sehen –, sie legt das Eichhorn-Sommerfell an, und als wäre sie selbst ein Sommer-Eichkätzchen, machte sie sich auf den Weg zurück. Wie sie am Fuße des Baumes anlangt, denkt sie bei sich: ›Na endlich! Ich habe meinen Pelz doch wiedergefunden!‹ Aber im selben Augenblick, als sie dies dachte, stürzten sich auch schon die Hunde auf sie und verschlangen sie auf der Stelle. Die Mos-Frau war tot, ihr Pelz blieb dort, aber ihre Seele wanderte weiter.15

Die Seele wanderte. Sie kam zum Hause der jüngeren Schwester, die Tür schlug zu.

»Weh, sie ist tot!« sagte die Schwester und begann zu weinen. Die Seele wanderte weiter. Sie gelangte zum Haus der älteren Schwester, da schlug auch ihre Türe zu.

»Weh, sie ist tot, die von den Meinen in der Ferne war!« rief die ältere Schwester aus und begann zu weinen. Wieder aber wanderte die Seele weiter, in ihre eigene Hütte. Dort verkroch sie sich zwischen die vielen Wildfelle und die vielen Marderfelle. Aber vergebens kroch sie da hinein, sie konnte nicht auferstehen. So ging sie wieder aus dem Haus. Gerade begann die Erde, sich zu erneuern, es war Frühling, und die Seele der Mos-Frau kroch in die Erde hinein. Wo sie in die Erde gekrochen war, da begann alsbald eine rote Blume zu wachsen. Sie wuchs und wurde größer, da kam eine Bärin vorbei und fraß die rote Blume. Doch kaum war die Seele der Mos-Frau, das nämlich war die Blume, in die Bärin gelangt, so wurde die Bärin von ihr trächtig und gebar ein Kind. Danach gebar sie noch ein Kind, als drittes Kind aber brachte die Bärin eine Chanti-Jungfrau, die Mos-Frau aus der einsamen Hütte, zur Welt.

»Eine Chanti-Jungfrau, ein himmlisches Mädchen habe ich geboren«, schrie da die Bärin auf.

Die Zeit verging, und sie zog sie mit den anderen zusammen auf. Als das Mädchen herangewachsen war, zog es Birkenrinde ab und nähte daraus so reichverzierte Birkenrindengefäße, daß es eine Pracht war!

Wie sie so miteinander die Tage verbringen, hebt einmal die Bärenmutter an und spricht:

»Mein Chanti-Mädchen, mein himmlisches Mädchen, geh fort von hier, geh fort irgendwohin! Ich spüre, es werden Menschen kommen und uns töten.«

»Ich verlasse euch nicht!« entgegnete ihr das Mädchen. »Du bist eine Mutter, lieber sollen sie mich töten, und ihr bleibt am Leben!«

»Mein Chanti-Mädchen, mein vom Himmel gekommenes Mädchen, Gott Torem hat den Tag meines Todes bestimmt, du kannst mich davon nicht erlösen! Aber hernach, wenn du unter Chanti-Menschen kommst und sie beim Mahl mein Fleisch essen werden,16 dann verberge du, Chanti-Mädchen, mein himmlisches Mädchen, unsere Hände und Füße, unsere zirbelkieferzapfenschönen Nägel an einem stillen Platz am Ufer, damit unsere Seelen sie nach dem Tod wiederfinden. Wenn du auch weinst, vergiß es dennoch nicht!«

Wie sie so miteinander reden, hören sie plötzlich Menschen draußen hin- und hergehen. Darauf fuhr die Bärenmutter fort:

»Chanti-Mädchen, mein himmlisches Mädchen, du wirst uns noch sehen! Sobald die Abenddämmerung anbricht, wirst du unsere Seelen in der Gestalt von sieben Sternen am Himmel sehen. Fragt man dich, so sage nur: ›Das ist das Haus der Bärin.‹ Die sieben Sterne werden wir sein.«

In diesem Augenblick begann draußen das Volk, das Haus, die Tür des Hauses aufzubrechen.