Sich selbst beheimaten: Grundlagen systemischer Biografiearbeit - Herta Schindler - E-Book

Sich selbst beheimaten: Grundlagen systemischer Biografiearbeit E-Book

Herta Schindler

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Beschreibung

Was ist eine Biografie? Kommt uns Menschen eine Biografie zu, indem wir leben, oder ist Biografie etwas, das wir uns erarbeiten? Lassen sich beide Aspekte überhaupt trennen? In welchem Maße ist unsere persönliche Erinnerung familiengeschichtlich und gesellschaftspolitisch geprägt? Wie lässt sich systemische Biografiearbeit gestalten? Wer braucht sie? Wie hilft sie beim Bewältigen des Alltags? Und was verbindet sie mit Zukunftsaspekten? Diesen und weiteren Fragen geht Herta Schindler in diesem grundlegenden Werk nach, das kenntnis- und geschichtenreich Konzepte, Methoden und Praxisfelder der Biografiearbeit vorstellt. Eine Biografie zu schaffen heißt, sich durch Erzählen Sinn geben. Biografien gibt es also nicht per se, sie werden in einem schöpferischen Prozess konstruiert. Eigenes Erinnern wird zur gemeinsamen Erfahrung, gelebtes Leben erhält dadurch einen Platz im sozialen Gedächtnis und gewinnt an Bedeutung. Ziel der Biografiearbeit ist es, Menschen und ihrer Lebenssprache Raum zu geben, Selbstausdruck zu ermöglichen und Selbstreflexion zu fördern. Dieses Buch vermittelt umfassendes Theorie- und Praxiswissen für eine professionelle Begleitung in verschiedenen psychosozialen Arbeitsfeldern und eröffnet einen schöpferischen Raum für Suchbewegungen bei allen Beteiligten.

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Herta Schindler

Sich selbst beheimaten

Grundlagen systemischer Biografiearbeit

Mit einem Geleitwort von Aleida Assmann

Mit Beiträgen von Eva Burghardt, Christa Hengsbach, Anna Hoff, Susanne Ringeisen, Julia Schmidt

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 34 Abbildungen und 7 Tabellen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: © shutterstock.com/Andrej Privizer

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99416-1

Inhalt

Geleitwort von Aleida Assmann

Vorwort

Die Autorin erzählt

Was geschieht, indem ich eine, indem jemand seine Geschichte erzählt?

Wie kann dieses Wissen in der professionellen Beratung wirksam werden?

Teil AGeschichte(n) als Grundlagen – theoretische Rahmung systemischer Biografiearbeit

 

1 Biografiearbeit – die Kunst, über das Leben zu erzählen

1.1 Einführung in Begrifflichkeiten oder: Wer hat eigentlich eine Biografie und was geschieht bei Biografiearbeit?

1.2 Eine mögliche Entwicklung der Biografiearbeit oder: »Mit meiner Stimme sprechen, mehr, andres hab’ ich nicht gewollt« (Christa Wolf)

1.3 Biografiearbeit im Kontext systemischen Denkens und Handelns oder: »Geschichten sind die Bausteine unserer sozialen Welt« (Arist von Schlippe)

2 Theoretische Rahmung

2.1 Biografiearbeit als Arbeit mit individuellen und sozialen Gedächtnisebenen oder: »Ohne Anteilnahme kein Gedächtnis« (Christa Wolf)

2.2 Die Verortung der Biografiearbeit zwischen unterschiedlichen Disziplinen oder: »Wer bin ich wo – und wenn ja, wie viele?« (frei nach Richard David Precht)

2.3 Die Bedeutung des schöpferischen Ausdrucks in der Biografiearbeit oder: »Form ist das an die Oberfläche gebrachte Wesentliche« (Victor Hugo)

2.4 Zur Haltung der Mentor:in für Biografiearbeit oder: Die Begleitung biografischer Prozesse als sokratische Hebammenkunst

Teil BPraxis systemischer Biografiearbeit

 

3 Arbeiten mit den vier Grundthemen der Biografie oder: Geschichten schichten

3.1 Die Arbeit mit dem Lebensbaum

3.2 Ausgangsorte: Familiengeschichte und Herkunft als Basis der Biografie

3.3 Lebenswege: Die Entwicklung im individuellen Lebenslauf

3.4 Lebenslagen: Biografien im Spannungsfeld gesellschaftspolitischer Konfliktlagen und/oder traumatischer Erfahrungen

3.5 Lebensfragen: Geburt und Sterben als die großen Tore der Biografie; Sinn- und Glaubenshorizonte, Zweifelhaftes und Frag-Würdiges

3.6 Recherche in der Biografiearbeit oder: Gewusst wie

4 Biografische Prozessgestaltung am Beispiel von Schreibgruppen oder: Vom roten Faden zum Gewebe des Lebens

4.1 Zielgruppen und Kontexte – wo, wann und mit wem?

4.2 Themenfindung und Themengestaltung

4.3 Über die Kunst, auseinanderzudividieren und zusammenzufügen – Aufbau von biografischen Schreibprozessen

4.4 Die Entwicklung des poetischen Selbst und der Erzählstimme

4.5 Gehör finden oder: Die Bedeutung der Vorleserunde

4.6 Die Aufgabe von Mentor:innen im Gruppenprozess

4.7 Methodische Anregungen und Hinweise

5 Biografiearbeit als Bestandteil psychosozialer Arbeitsfelder oder: Versuchen, die Fragen selber lieb zu haben« (Rainer Maria Rilke)

5.1 Biografisches Arbeiten im Kontext des Jugendamtes

5.2 Generationsübergreifendes Arbeiten in biografischen Gruppen oder: »Die Zeit ist eine Brücke« (Håkan Nesser)

5.3 Biografisches Arbeiten mit älteren Menschen oder: »Die Zeit ist eine Diebin« (Håkan Nesser)

5.4 Biografisches Arbeiten im Kontext von Pflegebedürftigkeit und mit Sterbenden oder: Leben ein Leben lang (Ein Beitrag von Susanne Ringeisen)

5.5 Biografisches Arbeiten im Kontext Supervision oder: Wenn die Wellen höher schlagen

5.6 Biografisches Arbeiten im Kontext Coaching oder: Zurückgucken, um vorwärtszukommen

6Einblicke in Vielfalt oder: Das Mosaik der Biografiearbeit

6.1 Biografiearbeit tänzerisch oder: Biografiearbeit in Bewegung (Ein Beitrag von Eva Burghardt)

6.2 Pferdegestützte Biografiearbeit – ein theoretischer und praktischer Überblick (Ein Beitrag von Julia Schmidt)

6.3 Inter- und transkulturelle Biografiearbeit – theaterspielende Ansätze zur Überwindung von Fremdenangst und Rassismus in einer diversen Gesellschaft (Ein Beitrag von Christa Hengsbach)

6.4 Biografiearbeit als Methode der politischen Bildung gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (Ein Beitrag von Anna Hoff)

6.5 Storytelling oder: Gesellschaftliche Narrative gemeinsam neu erzählen

Nachwort: Sich selbst beheimaten

Die Beteiligten

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Literatur

Für meine Mutter

und

meine Töchter

Mein Dank gilt den Biografisierenden, mit denen ich arbeiten konnte, ebenso wie den Menschen, die mit mir gearbeitet haben. Er gilt meiner Familie für vielfältige Unterstützung und den Autor:innen, deren Bücher ich gelesen und deren gedankliche Anregungen mich begeistert haben. Ebenso gilt mein Dank dem Verlag und seinen Mitarbeiter:innen, die die Entstehung des Buches mit viel Engagement ermöglicht und begleitet haben.

Systemisches Institut Mitte

syim.de

Geleitwort von Aleida Assmann

Wie Erzählen befreit und verbindet

Das Buch »Sich selbst beheimaten. Grundlagen systemischer Biografiearbeit« von Herta Schindler ist eine Einführung in eine neue Praxis – die Hebammenkunst der Biografiearbeit. Biografiearbeit ist vielfältig, kann niedrigschwellig überall ansetzen – im nachbarschaftlichen Austausch, in der Schreibgruppe, in der Erinnerungsarbeit in Seniorenheimen, in Integrationsgruppen, in Schulen. Denn sich mit dem eigenen Leben zu beschäftigen, ist ein urmenschliches Anliegen. Überall, wo dieses Leben in die Isolation geraten ist, durch traumatische Gewalt verformt wurde oder durch Zäsuren der Migration durchschnitten ist, steigt der Druck und die Bereitschaft, sich einer solchen Arbeit zu widmen. Aber nicht nur der Wunsch nach Therapie ist ein Anstoß für Biografiearbeit. Der wichtigste Impuls dahinter ist und bleibt die Selbstaufklärung, verbunden mit einem Bedürfnis nach Mitteilung, Kommunikation und Austausch. Dieses Buch zeigt, was Biografiearbeit sein und wie sie kundig angeleitet werden kann. Diese antwortet auf grundlegende menschliche Bedürfnisse und hat zugleich das Potenzial, stützend und heilend auf die Gesellschaft einzuwirken. Erzählte Geschichten wirken in zwei Richtungen: Sie ermöglichen, sich selbst zu beheimaten und einen gesellschaftlichen Raum zu schaffen, in dem diese Heimaten ihren Platz finden. Jeder Mensch ist ja nicht nur ein Zeitgenosse, sondern auch ein Zeitzeuge. Er kann in die Arbeit der Selbstaufklärung einsteigen, wichtige Erfahrungen vermitteln und dabei das Wissen in der Gesellschaft anreichern. Die eigene Geschichte zu erzählen, kann zu einer Grundkompetenz werden, die über schmerzhafte Grenzen des Schweigens, der Differenz und Indifferenz hinweg Kommunikation ermöglicht und damit zugleich gegenseitiges Interesse, Anteilnahme und Reflexion.

Biografiearbeit als neues Paradigma

Biografiearbeit unterscheidet sich deutlich von der Technik der Oral-History-Forschung. Diejenigen, die hier ihre Stimme erheben, informieren zwar andere über sich selbst und die eigenen Erfahrungen, aber sie tun das nicht als »Zeitzeugen«, die eine Geschichtsquelle abliefern, sondern als Menschen, die selbst über sich nachdenken, forschen und ihre Erfahrungen kritisch reflektieren.

Geschichten zu erzählen ist kein neuer Impuls. Es wird überall erzählt und Erzählen ist in viele Kontexte eingebunden. Dieses Buch ist innovativ, nicht weil es ein neues Thema vorstellt, sondern weil es viele, weit verstreute und sehr heterogene Aktivitäten zusammenfasst und für sie einen theoretischen Rahmen sowie einen didaktisch gut geordneten Fundus praktischer Anleitungen anbietet. In der Biografiearbeit spielen ja viele Dimensionen zusammen: Psychologie und Soziologie, Geschichte und Politik. Biografiearbeit hat, wie anfangs in diesem Buch betont wird, nirgendwo einen festen Stammplatz, öffnet aber einen nicht zu unterschätzenden Zugang zur Vergangenheit, der in seinem Potenzial noch nicht angemessen erkannt ist. Der Impuls der Biografiearbeit hat deshalb zwei Anliegen: Das erste besteht darin, die verstreuten Ansätze zu dieser Theorie und Praxis aus unterschiedlichen Therapieformen sowie der Sozial-, Erziehungs- und Geschichtswissenschaft zu sammeln, und sie zweitens so miteinander zu verbinden, dass das in diesem Ansatz liegende Potenzial voll genutzt werden kann.

Bei der Integration der verschiedenen Ansätze geht es auch darum, die Grenze zwischen dem Privaten und Öffentlichen zu überschreiten und die Analyse privater Geschichten mit öffentlicher Erinnerungsarbeit zu verbinden. Gewiss dient die Membran zwischen Privatem und Öffentlichem dem Schutz der Privatsphäre. Wenn wir aber dem Soziologen Maurice Halbwachs (1991) folgen, ist diese Grenze immer schon durchlässig, weil selbst die individuelle Erinnerung sozial geformt und kollektiv gestützt ist. Eine wichtigere Grenze ist heute die zwischen dem Erzählten und dem Nichterzählten. Die damit verbundenen Fragen lauten: Wie kann man sich dem annähern, wofür es noch keine Sprache gibt? Was bleibt unerzählt? Wofür findet man in der Öffentlichkeit Anerkennung, Empathie und Gehör? Die Bereitschaft zur Mitteilung ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen, jedoch nicht in gleicher Weise die Bereitschaft zum Zuhören. Es entstehen gerade neue Diskursräume, denn es wächst in der Gesellschaft inzwischen der Impuls, sich als Individuum mit der eigenen Familien- und Migrationsgeschichte auseinanderzusetzen und diese Fragen auch in die Öffentlichkeit zu tragen. Diese Auseinandersetzung mit individuellen Biografien hat inzwischen wichtige Diskussionsräume geöffnet und Lernprozesse angestoßen.

Erinnern in der diversen Gesellschaft

Neue Fragen werden inzwischen gestellt: Wer erzählt die Geschichte der Nation? Wer kommt darin vor und wer nicht? Die Biografiearbeit von Menschen mit nichtdeutschen Herkunftsgeschichten hat deutlich zugenommen und in den vergangenen Jahren die Gesellschaft enorm verändert. Hier nur einige Beispiele. In Ihrem Buch »Sprache und Sein« hat die Autorin Kübra Gümüsay den Leser:innen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft erklärt, wie durch Sprache und Wahrnehmungsmuster permanent unsichtbare Grenzen in der Gesellschaft aufgebaut werden. Emilia Roig, Tochter einer schwarzen Mutter, die aus den französischen Kolonien stammt, schildert in ihrem Buch »Why we matter« (2021) ihren Leser:innen aus eigener Erfahrung anschaulich, was Mehrfachdiskriminierung bedeutet. Asal Dardan, deren Familie aus Iran geflohen ist, beschreibt in ihren »Betrachtungen einer Barbarin« (2021), wie schwer es ist, nach dem Verlust von Traditionen eine neue Heimat zu finden. Und der Pädagoge Burak Yilmaz, der in einem türkischen Ghetto in Duisburg aufgewachsen ist, hat sich in seinem Buch »Ehrensache. Kämpfen gegen Judenhass« (2021) mit der deutschen Geschichte beschäftigt. Er entdeckte, dass in seinem Viertel jüdische Migranten wohnten, die von den Einheimischen vertrieben und deren Geschäfte arisiert wurden, bevor in den 1960er Jahren türkische Migranten angesiedelt wurden. Im Stadtarchiv fand er die ihm bekannten Straßen und Geschäfte wieder, wo heute türkische Brautmoden ausgestellt sind und erkannte sich selbst in der Kontinuität der Geschichte.

Bücher wie oben genannte sind wertvolle Fortbildungsangebote für die gesamte Gesellschaft. Die darin erzählten Familiengeschichten sind heute der beste Weg, um etwas über Verflechtungen in der Geschichte und in der globalisierten Welt zu erfahren. Im Grunde schafft die Biografiearbeit, wie dieses Buch deutlich macht, dabei eine Win-win-Situation – was man für sich selbst tut, erweist sich auch als gut für die Gesellschaft: Sie fördert Empathie und ermöglicht neue Perspektiven, sie erhöht das Reflexionsniveau, indem sie eine neue Sprache und Begriffe schafft, sie höhlt Stereotypen aus und ist damit ein ganz wichtiges Instrument im Kampf gegen Politisierung und Polarisierung.

Vorwort

Was ist eine Biografie? Kommt uns Menschen eine Biografie zu, indem wir leben, oder ist Biografie etwas, das wir uns erarbeiten? Lassen sich beide Aspekte überhaupt trennen? In welchem Maße ist unsere persönliche Erinnerung familiengeschichtlich und gesellschaftspolitisch geprägt? Wie lässt sich systemische Biografiearbeit gestalten? Wer braucht sie? Wie hilft sie beim Bewältigen des Alltags? Und was verbindet sie mit Zukunftsaspekten? Diesen und weiteren Fragen wird im Buch nachgegangen. Dabei zeigt sich: Systemisch orientierte Biografiearbeit eröffnet einen schöpferischen Raum für Fragen und Suchbewegungen, die unsere Klienten oder uns selbst nicht loslassen.

Das Buch lebt von den reichen Beispielen aus einem langjährigen Erfahrungsschatz. Es versteht sich als Sachbuch und ist doch auch ein Stück »Literatur des Lebens«, das die Lesenden erzählerisch an die Hand nimmt und mitnimmt in biografische Geschichten und ihre Konstruktionen. Es ist deshalb ebenfalls für interessierte Laien geeignet, die sich mit ihrer eigenen Biografie beschäftigen möchten. Das Buch ist neben einer Einführung in die Biografiearbeit und ihre Praxisfelder damit auch ein Geschichtenbuch. Und das sollte ein Buch über Biografiearbeit auch sein (siehe dazu auch Angela Steideles »Poetik der Biografie«, 2019).

Das aus dem Griechischen stammende Wort »Biografie« wird häufig übersetzt mit »Lebensniederschrift«. Ich möchte einen variierenden Begriff einführen, den Begriff der Lebenssprache. Das Wort Lebensniederschrift lässt an etwas Festgeschriebenes denken, das zwar fortgeschrieben, aber im Wesentlichen nach hinten nicht mehr veränderbar ist. Ich plädiere dafür, die Entwicklung eines Bewusstseins für biografische Zusammenhänge stattdessen im Sinne von Sprachentwicklung zu verstehen, in der mit zunehmender Reife immer komplexere Zusammenhänge ausgedrückt, entwickelt und verstanden werden. Biografie, das Leben des Menschen in der Zeit, ist viel mehr diese Lebenssprache als eine Niederschrift. Von der Sprache aus denkend, lassen sich die verschiedenen Ebenen der Biografie mit denen der Sprache (Worte, Grammatik, Sätze, Interpunktion) erklären, die – in Verbindung gebracht – zu immer differenzierteren Strukturen und Erkenntnissen führen. Es gibt dann darin kein Zuendekommen, sondern ein Verweilen auf einer bestimmten Ebene des Verstehens oder ein Weitergehen zu übergeordneten Zusammenhängen. Dieses Verständnis trägt den seelisch-geistigen Entwicklungsprozessen des erwachsenen Menschen Rechnung, sodass eine sich wandelnde Sichtweise auf die biografischen Ereignisse und Zusammenhänge als eine sich ausdifferenzierende Kenntnis von der Sprache des Lebens verstanden werden kann.

Warum dieses Buch in dieser Form entstanden ist

Im Folgenden umreiße ich Entstehungshintergründe, Sinn und Zweck sowie den Aufbau des Buches.

In den vergangenen Jahrzehnten hat Biografiearbeit (Kapitel 1) sich entwickelt als interdisziplinäre Arbeit im Schnittfeld von Therapie (individuelle Aufarbeitung von Lebensproblematiken), Soziologie (Bearbeitung gesellschaftlicher Fragestellungen), Literatur (Theorie und Praxis des Erzählens) und Geschichtswissenschaften (Geschichte aus der Perspektive von Zeitzeugen bzw. als historische Erkundungsprozesse von Laien). Sie in ihrem Verhältnis zu den genannten Disziplinen zu verorten und den ihr eigenen Platz und die eigenständige Bedeutung der systemisch ausgerichteten Arbeit an der Biografie deutlich zu machen, ist ein Anliegen des Buches.

Dabei lehne ich mich an die Unterscheidungen von Gedächtnisformen an, wie sie Aleida Assmann (Literatur- und Kulturwissenschaftlerin) und Jan Assmann (Ägyptologe) vorgenommen haben. Die sehr unterschiedlichen Praxisbezüge des biografischen Arbeitens werden durch diesen Fokus miteinander verbunden und geordnet. Es entsteht damit ein Bezugssystem für die Felder der Biografiearbeit, das die bisherigen – mehr oder weniger in Aufzählungen von Praxisfeldern und Methoden steckenbleibenden – Ordnungsprinzipien übersteigt. Die Konturen der Biografiearbeit sind damit umrissen.

Biografie und Biografiearbeit sind durch den Lebensvollzug unverbrüchlich an den Körper gebunden. Wir »antworten« auch mit Körperreaktionen auf Suchbewegungen und Lebensfragen, auf sich abzeichnende Zusammenhänge und wiedergefundene Bedeutsamkeiten. Das Buch greift deshalb körperliche Prozesse als Grundlage für biografische Prozesse auf. Dieser Aspekt korrespondiert u. a. mit der Aufstellungsarbeit, in der körperliche Signale bzw. deren Mitteilungen wichtige Impulse über soziale Dynamiken und familiengeschichtliches Erleben geben.

Biografische Erkundungen benötigen ein Ausdrucksgeschehen, das wiederum die Selbstreflexion fördert. Die ernste Freude, die dieses Ausdrucksgeschehen begleitet, verweist auf das spielerische Element in der Biografiarbeit und damit auf das schöpferische Gestalten. Dem kommt eine besondere Bedeutung zu, denn ohne schöpferisches Gestalten ist Biografiarbeit nicht möglich. Biografien werden – dem systemischen Verständnis entsprechend – auf der Grundlage von subjektiven Wahrnehmungen konstruiert, ihr Entstehen ist ein Gestaltungsprozess. Welche äußeren Anregungen dafür hilfreich sind und welchen inneren Impulsen dieser Schaffensprozess folgt, wird beschrieben.

Immer wieder stellt sich die Frage: Wer ist es eigentlich, der oder die in der Biografiearbeit arbeitet – die Leitenden oder die (ja, wie nennen wir sie eigentlich?) Biografisierenden? An der Diffusität der Bezeichnung wird deutlich, dass die biografische Begleitungsarbeit bisher noch nicht eigenständig konturiert ist.

Für die Begleitungsarbeit (Kapitel 2) habe ich einen eigenen Ansatz entwickelt, der sich im Laufe zahlreicher Weiterbildungen mit Fachkräften aus unterschiedlichen Berufsfeldern bewährt hat: Der bzw. die Begleiter:in im biografischen Prozess wird als Mentor:in für Biografiearbeit eingeführt. Für die Haltung des Mentors oder der Mentorin beziehe ich mich auf die Hebammenkunst, d. h. die Gesprächsführung nach Sokrates, so wie sie Hannah Arendt in einem Aufsatz (2016) beschrieben hat. Es ist damit für die biografische Begleitungsarbeit ein eigenständiger Ansatz beschrieben und eine eigene Bezeichnung entwickelt, der sich neben Beratung, Therapie, Supervision und Coaching stellen lässt und zugleich auch daran anschlussfähig ist – endlich, möchte ich sagen. Die praktisch arbeitenden Fachkräfte finden damit eine Orientierung in der Ausgestaltung ihrer fachlichen Rolle.

Biografische Geschichten sind verflochtene Geschichten. Sie haben mehrere Ebenen – in der Literatur würde man sagen Erzählstränge –, die in einer (Lebens-)Geschichte zusammenfließen. Zusammen sind sie, wie jede Ganzheit, mehr als die Summe ihrer Teile. Im Teil B, dem Praxisteil, skizziere ich in Kapitel 3 die Grundthemen, aus denen sich das Geflecht von Biografien zusammensetzt, und stelle in Kapitel 4Methoden vor, mit denen diese Themen erkundet und gestaltet werden können. Des Weiteren gibt es Hinweise auf Netzwerke und Quellen für Formate, die die eigene Recherche erleichtern. Methodische Anregungen erweitern den professionellen Werkzeugkasten. Das Buch kann damit zur Unterstützung bei der Entwicklung biografischer Projekte genutzt werden.

Um die Breite der biografischen Praxis sichtbar zu machen, wird im Kapitel 5 Biografiearbeit in unterschiedlichen psychosozialen Feldern mit unterschiedlichen Zielgruppen vorgestellt, mit entsprechenden methodischen Anregungen und Beispielen. All dies wird durch Geschichten, die in Schreibgruppen entstanden sind, und durch Darstellung längerer Verläufe lebendig und anschaulich erzählt.

Einblicke in Vielfalt (Kapitel 6) gewähren Kolleginnen, die in ganz unterschiedlichen Feldern und mit verschiedenen Gestaltungsmitteln biografisches Arbeiten realisieren. Dazu zählen (neben anderen) das generationsübergreifende Tanzprojekt einer freien Choreografin ebenso wie Biografiearbeit in der pferdegestützten Therapie, das im Rahmen einer Doktorarbeit konzeptionell entwickelt und in die Praxis implantiert worden ist. Das Kapitel will dazu anregen, eigene, noch ungewohnte Ideen des biografischen Arbeitens in die Tat umzusetzen.

Das Buch richtet sich somit an Fachkräfte, die bereits in der Biografiearbeit tätig sind und an einer eigenständigen Verortung und Weiterentwicklung ihrer Arbeit interessiert sind. Angesprochen sind des Weiteren Fachkräfte aus dem psychosozialen Feld, u. a. Sozialpädagogen:innen, Erzieher:innen, Therapeut:innen, Psycholog:innen, Erziehungswissenschaftler:innen und solche, die in ihrem beruflichen Kontext mit Menschen und deren Lebensgeschichten in Berührung kommen und damit arbeiten wie Pfarrer:innen, Ärzt:innen, Heilpraktiker:innen. Entsprechend wendet sich das Buch ebenso an Tätige unterschiedlicher Professionen in Berufsfeldern, die für Biografiearbeit prädestiniert sind, wie die Arbeit im Pflege- und Adoptivkinderbereich, in der Erwachsenenbildung, mit alten Menschen und Sterbenden. Für systemische Therapeut:innen und Berater:innen, systemische Supervisor:innen und Coaches mag das Buch eine anregende Ergänzung zu bisherigen Sichtweisen und Interventionen darstellen.

Das Buch stellt schließlich den Gedanken in den Raum, Biografiearbeit im systemischen Feld als eigenständiges Verfahren zu etablieren. Bisher werden vorrangig seine Methoden als Tools in verschiedene Kontexte hinein adaptiert. Mit diesem Buch liegen nun erstens eine geschichtliche Herleitung, zweitens mit der Verknüpfung von thematischen Schwerpunkten und Gedächtnisformen eine theoretische Grundlage und drittens mit dem Konzept der Mentorenschaft eine Definition der damit verbundenen professionellen Haltung vor – Gründe genug, Systemische Biografiearbeit als ein Verfahren neben andere systemische Verfahren wie Systemische Beratung, Systemische Therapie, Systemische Supervision u. a. zu stellen. Ein Verfahren, das – neben anderen Potenzen – im großen Feld der psychosozialen Prophylaxe einen wichtigen Platz einnehmen kann.

Die Autorin erzählt

Wie ich zur Biografiearbeit gekommen bin

Seit über drei Jahrzehnten bin ich in der Biografiearbeit auf vielfältigsten Wegen, in unterschiedlichen Bereichen und Settings tätig, was schließlich in der Entwicklung einer Biografieweiterbildung und im Schreiben dieses Buches mündete. Im Folgenden finden Sie Einblicke in meine eigenen biografischen und fachlichen Entwicklungsprozesse. Es dient meiner Kenntlichmachung und kann helfen, die nachfolgenden Inhalte in ihrem Entstehungskontext zu verorten.

wir Menschen

Sobald ich in die Schule kam – vermutlich schon früher, denn ich konnte bereits lesen – war ich an Schrift interessiert, mehr noch, ich war ihr verfallen. Ich »verschlang«, was ich bekommen konnte: Das waren exakt drei Bücher in der Woche. So viel war erlaubt, auszuleihen aus der Dorfbücherei, jeden Donnerstag um halb sechs.

Diesen Dorfbüchereigeschichten vorangegangen und sie flankierend waren Erzählungen aus dem Alten Testament, die Jahr für Jahr im Kindergottesdienst in einem sich wiederholenden Rhythmus in unser Ohr geträufelt wurden: Josef, seine Brüder und die ganze Dynastie einschließlich Engeln und dem lieben Gott, der brennende Dornbusch mit der körperfernen Stimme, die aus ihm spricht, der Turmbau zu Babel und sein jähes Scheitern – alles, alles war da und kehrte immer wieder.

Die Sprache dieser Bibel-Erzählungen war von eindringlicher Intensität (es war die Lutherübersetzung), die Gewaltigkeit der Darstellung, die imposante Größe aller Figuren und ihrer Charaktere waren meine erste Literatur von Weltrang und zugleich meine ersten Erzählungen von der Welt überhaupt, und sie haben sich heute für mich verbunden mit dem Licht und der Dramatik von Rembrandts malerischem Werk, von dem einige Bilder in der Gemäldegalerie im Schloss Wilhelmshöhe in Kassel zu sehen sind.

Diese Geschichten waren bedeutsam, weil sie mir einen Erzählweg wiesen. Dies umso mehr, als meine Eltern und drei meiner vier Großeltern des Erzählens nicht mächtig waren. Mein Vater und meine Mutter waren als Kinder und Jugendliche von den Kriegsereignissen auf sehr unterschiedliche Weise überrollt worden. Meine mütterliche Familie stammt aus der Tschechei, so hieß das damals bei uns, und meine Mutter erlebte mit 14 Jahren die Vertreibung von dem, was sie als ihr Zuhause begriff. Diese und andere dramatische und zugleich alltägliche Ereignisse konnten nicht in Worte gefasst werden, bekamen keine erzählbare Form. Mithin, es gab einen gravierenden Mangel an zusammenhängendem Verstehen.

Meine Eltern – und schmerzlich empfunden hauptsächlich meine Mutter – blieben in gewisser Weise ferne Gestalten, die zu erreichen mir nie ganz vergönnt schien. Heute wird man diese Art von Ferne als Folge einer posttraumatischen Belastungsstörung bezeichnen. Damals war es, was es war.

Aufwachsend in der schwarzen Materie dieser und anderer nicht gesprochener und doch präsenter Situationen wuchsen in mir unnennbare Fragen. Die grundlegendsten Fragen, die sich aus der Verbindung von Nichterzähltem und Erzähltem bildeten, waren:

• Was ist eigentlich ein Mensch?

• Befindet der Mensch sich an dem Ort, an dem er ist? (Oder ist er an irgendeinem Vergangenheitsort verloren?)

• Wie gehören Wort und Gefühl zusammen (die oft nicht übereinzustimmen schienen)?

• Wie ist also der Mensch in sich selbst gestimmt? Stimmt er denn? Stimmt, was er sagt, was er zeigt, was er tut? Was erzählt das Nichtstimmige?

eine Frage sind wir, eine Frage

Im 7. Hauptschuljahr kam ich, vermutlich deutlich zu früh, durch einen frisch von der Universität kommenden Lehrer intensiv mit den Geschehnissen des so genannten »Dritten Reiches« und der Judenvernichtung in Berührung.

Zwei Jahre zuvor hatte meine Cousine mir diesbezügliche Geheimnisse ins Ohr geflüstert: Dass mein Elternhaus ein »Judenhaus« gewesen sei, dass es bei uns im Dorf eine große jüdische Gemeinde gegeben habe, dass unser Großvater dabei gewesen sei, als die Synagoge angezündet wurde und wo eben diese gestanden habe. »Und der Kronleuchter aus der Synagoge«, flüsterte meine Cousine, »der hängt jetzt beim Engelwirt.«

Mit eben dieser Cousine hatte ich Jahre zuvor ausgiebige Spielnachmittage auf dem verfallenen jüdischen Friedhof verbracht, auf dem wir, in unser Spiel versunken, Kreuze aufrichteten und Blumen auf Gräber legten.

Die Ungereimtheiten, auch Schrecknisse meiner Kindheit waren erfreulich durchleuchtet und gehalten von starken, über die Sinne aufgenommenen Lebendigkeiten, von allen Wettern, Gerüchen und Spielen, von lebensstarken Menschen in der Großfamilie, von einer Oma, die Träume und Geschichten von einer fernen Verwandtschaft zum Besten gab, von Franzl beispielsweise, der Lehrer beim Russischen Staatszirkus war – ja, der Franzl –, und die am Samstag, während sie erzählte, Powidldatschgerl buk.

Aus all diesen erzählten und empfundenen Wirklichkeiten entstand eine fraglose Kenntnis und Erkundung der Verknüpfungen zwischen politischen, gesellschaftlichen, religiösen und familiären Erzählungen. Das Interesse daran habe ich seitdem nicht verloren.

eingewoben in Geschichten

Während meines Studiums (Diplom-Sozialarbeit, zwei Semester Soziologie und Germanistik) habe ich mich vertraut gemacht mit unterschiedlichen Möglichkeiten des Erkundens und Auffindens von Geschichten und Geschichte. Zweierlei Erfahrungen waren besonders prägend:

Die erste Erfahrung war die Suche in Archiven nach zeitgeschichtlichen Dokumenten zur Situation der jüdischen Bevölkerung in meinem Heimatort. So fand ich z. B. ein »Verzeichnis der z. Zt. in Burghaun noch wohnhaften Juden« vom 21. Oktober 1939 mit genauer Wohnortangabe zur Vorbereitung von Deportationen. »Anschel Braunschweiger, geboren 1873«, ist dort beispielsweise zu lesen, »wohnhaft in der Dimbachstr. 13«. Ebenso las ich eine Anordnung der Gestapo in Kassel an den Hünfelder Landrat vom 28. August mit einem Deportationsfahrplan für den 5. September 1942. Für 15.50 Uhr ist dort als Halteort meine Heimatgemeinde eingetragen.

Bei der zweiten prägenden Erfahrung handelt es sich um die Arbeit mit narrativen Interviews. Diese Methode ist in den 80er Jahren von dem Soziologen Fritz Schütze an der Gesamthochschule Kassel entwickelt worden und wurde in Seminaren und Forschungskolloquien gelehrt und geübt.

In dieser Interviewform entwickeln die Interviewten ihre eigene Erzählform und werden darin nicht durch Fragen des Interviewers unterbrochen. In der Auswertung werden dann verschiedene Ebenen der Texte analysiert. Neben den erzählten Inhalten gehört dazu die Art und Weise, wie Inhalte aufeinander bezogen werden und die grammatikalische Sprachstruktur, in der erzählt wird. Die erzählende Person erzählt dem geübten Ohr also durchaus mehr als das, was sie zu erzählen vermutet.

Narrative Interviews habe ich geführt mit einigen Familienangehörigen, mit Bewohnern und dem Pfarrer unseres Dorfes. In diesen Erzählungen tauchten die Fakten aus den Archiven als erlebte Geschichte aus dem Blickwinkel und mit den Verarbeitungsmustern von Dorfbewohnern wieder auf.

Anschel Braunschweiger z. B. war 1941 als letzter jüdischer Dorfbewohner auf dem örtlichen Judenfriedhof beerdigt worden. Mein Vater hat dies in seinem narrativen Interview erzählt, ebenso, dass er die Beerdigung als Zwölfjähriger im Kreise der Dorfjungen, wohl durchaus im doppelten Sinne des Wortes, mitverfolgt hat. Ebenso hörte ich Erzählungen über die Sammlung der jüdischen Bevölkerung auf dem Marktplatz und ihren Weg zum Bahnhof im Zuge der Deportation. Das Erzählen enthielt ein Bemühen, diesen Erfahrungen einen Randplatz in den eigenen Erinnerungen zuzuteilen und zugleich die nicht zum Verstummen kommenden Beunruhigungen daraus zu begrenzen.

Antrieb für diese Nachforschungen war, etwas von den verschwiegenen Ereignissen zu erhaschen, die durch mein Leben geisterten.

In den 80er Jahren lebte die Tätergeneration des Faschismus noch und Nachforschungen waren durchaus mit einem Risiko verbunden: mit dem Risiko, bestraft zu werden für das Herausholen von Themen und Menschen aus den schwarzen Löchern der Kommunikation durch – paradoxerweise – den Ausschluss aus der Schweigegemeinschaft.

Ich habe mich dann entschieden, nicht weiter als »Geschichtenhervorlockerin« mit der Methode der narrativen Interviews im Bereich der Soziologie zu arbeiten: Ich erfuhr zu viel. Zu viele Zusammenhänge, von denen die Erzählenden selbst nicht wussten, dass sie sie mir erzählt hatten – und die ich demzufolge nicht zurück in unser Gespräch bringen konnte. Ich war in eine kommunikative Sackgasse geraten.

Mit den Themen wollte ich mich weiter beschäftigen, aber ich wollte es innerhalb von Kommunikation tun und auf eine Art, die Beziehung und Gespräch förderte. Ich suchte nach neuen Wegen. Mitnehmen würde ich das angeeignete Wissen, ein Wissen über den Aufbau von mündlichen Erzählungen, über die inhaltliche Bedeutung der Grammatik, über Erzählstrategien zur Vermeidung von schmerzlichen, bohrenden Themen und Zusammenhängen in Lebensgeschichten und natürlich auch geschichtliches Wissen.

Worte Zeichen

Was ist der Mensch?

Was sind unsere Schrecken, unsere Schmerzen? Unsere Glückseligkeiten?

Rufen und Antwort erhalten.

Verloren gehen und gefunden werden.

Den Raum des Sprechens, den Raum des Schweigens als menschlichen empfinden.

Im eigenen therapeutischen Beziehungs- und Selbsterkundungsprozess fand ich eine vertiefte Form der Antwort auf meine Suche, eine Form, in der ich mich im Raum der Begegnung niederließ, in dem ich dort nach meiner Mutter (nach dem Leben) suchen konnte, mir begegnete, aufstand, mein Bett nahm und ging.

Was ist der Mensch?

wandernde, sich wandelnde

Meine Frage, was ein Mensch (wo meine Mutter) sei, eine liebende Frage, hatte mich zur Ergründung meiner Familiengeschichte, meiner Dorf- und Zeitgeschichte, meiner innerseelischen Bilder und tiefen Empfindungen geführt. Dies sind die Quellen, die meine berufliche Profession gespeist haben.

Meine Ausbildung und Arbeit als Systemische Therapeutin und Lehrtherapeutin haben sich mit diesen Erfahrungen aufs konstruktivste verbunden. Über die Jahre entwickelte ich meinen eigenen Ansatz und konzipierte die einjährige Weiterbildung »Sich selbst beheimaten – Neue Zugänge zur systemischen Biografiearbeit«1.

Nun, am Ende meines kurzen Rückblicks angekommen, möchte ich noch einmal auf den Anfang, auf die alttestamentarischen Erzählungen zurückkommen. Deren Geschichten werden immer als lang angelegte, familiäre Epen mit politischer Kontextualisierung erzählt und auf ihre Bedeutung im Bewusstsein der Zeitlichkeit des Lebens befragt.

Heute und in der Biografiearbeit geht es mir darum, diese Ebenen zusammenzuführen und gemeinsam mit Biografisierenden zu durchdringen, in gewisser Weise also episches Erzählen, ein episches Verständnis von Erfahrungen zu befördern, ein episches Verstehen, in dem Menschen ihren Sinnbezug pflegen und ihre Handlungsfähigkeit stärken können. Und in dem sie in der Verdichtung zu sich selber kommen.

In der Biografiearbeit, wie ich sie verstehe, suchen wir Ausdruck für unser Menschsein. Wir schauen auf uns als ein geborenes, mit Seele und Geist begabtes, leibliches Wesen, das in einem familiären, kulturellen, politischen Raum lebt und sich verstehen will und das handelt in eben diesem Raum. Und das diesen dann auch wieder verlässt.

Menschen

wir Menschen,

eine Frage sind wir, eine Frage

Eingewoben in Geschichten

Worte Zeichen

Wandernde sich wandelnde

Menschen

wir

Vom Zählen zum Erzählen

Wie hängen Zählen und Erzählen zusammen? Was hat es mit den Schichten in den biografischen Ge-Schichten auf sich? Der nachfolgende Text lädt ein, sich anhand einer kleinen Anekdote aus meiner Schulzeit auf den Weg zu ersten Antworten zu machen. Darin bringe ich das Ereignis, in eine Kinderkur geschickt zu werden, mit dem Rechenunterricht in Verbindung und beides mit dem Nachdenken über Biografiearbeit. Im Aufeinanderbeziehen dieser Ereignisse hat sich folgende Geschichte entwickelt:

Als ich in der zweiten Klasse war, wurde ich »in Erholung« in ein Kinderkurheim geschickt, so nannte man das damals, aus unserem Dorf an der Haune nach Bad Karlshafen an der Weser, was die Grenzen meiner vertrauten Welt bei Weitem überschritt. In der Schule hatten wir zu dieser Zeit das Teilen (Dividieren) durchgenommen. Am Tag, bevor ich losfuhr, hatte ich die Achterreihe aufbekommen und ich weiß noch, ich stand auf dem Spielplatz, als mir der zufriedenstellende Gedanke kam, ich würde ab jetzt kaum noch etwas verpassen. Was sollte noch kommen?

Wir hatten bereits zählen gelernt, Reihen, die aufs Zuverlässigste aufeinander folgten. Wir hatten diese Zahlen zusammengerechnet und wieder voneinander abgezogen. Schließlich hatte man uns in etwas so Wunderbares wie in das Malnehmen eingeführt: Mit den gleichen Zahlen wie zuvor bekam man nun ein Vielfaches mehr. Und jetzt noch das Teilen! Eine große Menge wurde gerecht verteilt unters Volk oder unter die Kinder, sogar der Rest war kalkulierbar, und jung wie ich war, wusste ich doch schon, dass das einem Wunder gleichkam. Was also sollte jetzt noch kommen? Die Welt der Zahlen, so schien es, war durchschritten. Ich fuhr gelassen los.

Was durchgenommen worden war, als ich nach sechs Wochen zurückkam, erinnere ich nicht. Zu meinem Erstaunen aber ging es immer weiter. Gut erinnern kann ich mich an das Rechnen mit einer Unbekannten. Dass es Unbekannte gab, wusste ich ja. Aber dass man mit ihnen rechnen konnte, und zwar so lange, bis sie einem bekannt waren, war überraschend und löste Befriedigung über das Ergebnis aus. Als später Rechnungen mit mehreren Unbekannten gelangen, war man doch schon besser gerüstet für die Welt. Es geht, wie wir wissen, auch danach weiter in der Mathematik. Ich habe gelernt, dass es kein Zuendekommen gibt bei ihr. Mit Null, also nichts, und neun Ziffern lässt sich bis ins Unendliche denken.

Jahrzehnte später, als ich schon lange im Bereich der Biografiearbeit tätig war, wollte ich in einer Ausbildungsgruppe die Dimensionen des Biografischen erläutern, als mir meine Rechengeschichte als Metapher einfiel. Mit Lebensgeschichten, habe ich gesagt, ist es ganz ähnlich wie in der Mathematik. Auch mit ihnen kommt man nie zu Ende. Und falls wir denken, unser Leben und die Geschichte davon sei überschaubar geworden, öffnet sich eine neue Frage, eine Herausforderung, eine Unsicherheit, begegnen wir einem Menschen mit fremden Fragen und sind aufgerufen, die Er-Zählungen unseres Lebens in neuen Dimensionen aufeinander zu beziehen.

Und schon ist die Vergangenheit dabei, sich zu ändern.

Was geschieht, indem ich eine, indem jemand seine Geschichte erzählt?

Eine biografische Erzählung entsteht, indem ein Ereignis mit anderen in eine Reihenfolge gebracht wird. Hier bekommt die Anekdote von der Achterreihe einen zusätzlichen Bezug: In dem Wort Erzählung steckt die Zahl, das Zählen, das Aneinanderreihen von Verschiedenem. Ganz wie im Erleben der Mathematik entsteht Dynamik, indem wir Geschehnisse in ihrer inneren und äußeren Qualität aufeinander bezogen erzählen. Die Art der Reihung entwickelt der erzählende Mensch durch seine momentane Perspektive und Erkenntnismöglichkeit. Eine Lebensgeschichte erscheint uns umso umfassender, je mehr Ereignisse aufeinander bezogen sind und je vielfältiger sich Bewegungen durchdringen und miteinander korrespondieren, also, indem die bloße Reihung verlassen wird und wir, quasi aufgestiegen in die gehobenen Ebenen der Mathematik, komplexere Erzähloperationen vollziehen. Eine Geschichte ist demzufolge das, was entsteht, wenn mehrere Erlebensschichten in Bezug aufeinander in den Blick genommen werden.

Daraus ergibt sich eine weitere Bedingung: Um Erlebnisse aneinanderzureihen und sie damit aufeinander zu beziehen, muss die erzählende Person entscheiden, dass sie etwas für ein Ereignis, für eine Erfahrung hält.

Nehmen wir besagte Sequenz, in der das Kind, auf dem Spielplatz stehend, die Rechenwelt für durchschritten hält. Jahrzehntelang war diese Erinnerung nur vage vorhanden, ohne dass ich ihr Bedeutung beigemessen hätte. Hätte ich sie zu einem anderen Zeitpunkt hervorgeholt, wäre sie möglicherweise in eine Belegerzählung zu einer Aussage über den Lebensalltag in den 1960er Jahren auf dem Land gewesen. Indem ich sie mit meinen Erfahrungen im Umgang mit Lebensgeschichten zusammenbrachte, bekam sie Bedeutung und Wert im Rahmen einer Ausbildung im Bereich Biografiearbeit. So ist mir aus dem kindlichen Erleben eine bedeutsame Geschichte geworden. Stellen wir also fest:

• Ich kann nur zusammenfügen, was ich für wert halte, erzählt zu werden.

• Zugleich gewinnt das, was ich in Zusammenhänge stelle, an Wert.

• Darin liegt die Gestaltungskraft des biografischen Erzählens: Dem, was wir für ein Ereignis halten, messen wir im Erzählen eine bestimmte Qualität zu.

• Diese Qualität ist nicht festgelegt und absolut, sondern wandelt sich, je nachdem, in welchen Zusammenhang die Erzählsequenz von uns (oder anderen) gestellt wird.

• Eine biografische Geschichte entsteht somit durch das Zusammenhängen von Erlebtem und zugleich durch das Konstruieren dessen, was für ein Erlebnis gehalten wird.

Wie kann dieses Wissen in der professionellen Beratung wirksam werden?

In der Biografiearbeit regen wir das Aufspüren verschiedener Schichten von Erfahrungen und deren Überführen in Geschichten an und unterstützen Menschen darin, sie auf schöpferische und heilsame Weise »zusammenzuzählen«, oder – anders ausgedrückt – sie zusammen zu erzählen. Biografiearbeit zielt darauf ab, diesen vielschichtigen Prozess kompetent zu begleiten, die Aktivität, auch Arbeit, in Bezug auf das Hervorbringen und Gestalten einer Lebenserzählung zu unterstützen. Dabei kann das Hervorbringen auf vielfältige Weise angeregt werden: Durch Gesprächsarbeit, durch biografisches Schreiben, durch Malen, durch filmische Projekte, Theaterspielen, Tanzen und mehr. Wenn von Erzählen die Rede ist, ist immer an all diese Erzählweisen zu denken.

Und wenn wir so vom Leben erzählen – vielschichtig und immer wieder neu –, wer weiß, vielleicht werden wir dann zu dem, was man früher weise nannte: Menschen, die um die Schichten des Lebens wissen und sie in Geschichten erzählen.

 

1 Die Weiterbildung findet am »Systemischen Institut Mitte – SYIM, Kassel« statt.

Teil A

Geschichte(n) als Grundlagen – theoretische Rahmung Systemischer Biografiearbeit

1 Biografiearbeit – die Kunst, über das Leben zu erzählen

Zu Beginn erfolgt eine Annäherung an Biografiearbeit: Begrifflichkeiten werden eingeführt, Entwicklungsperspektiven aufgezeigt und der systemische Kontext aufgezeigt.

1.1 Einführung in Begrifflichkeiten oder: Wer hat eigentlich eine Biografie und was geschieht bei Biografiearbeit?

Unter einer Biografie verstehen wir eine individuelle Erzählung über das gelebte Leben eines konkreten Menschen. Das Individuelle entfaltet sich dabei auf der Grundlage des Allgemeinen. Der universelle Charakter der Biografie zeigt sich in gemeinsamen menschlichen Bedingungen, an denen wir uns in der Gestaltung unseres Lebens »abarbeiten« wie eine Künstler:in an seinem bzw. ihrem Material.

Allgemeine und individuelle Ebenen in der Biografie

Grundlegende Entwicklungsbedingungen gehören in alle Lebensverläufe, sie sind somit überindividuell und unumkehrbar:

• Geburt und Tod als die großen Dimensionswechsel unseres Daseins

• die Notwendigkeit, die leiblichen Grundbedürfnisse zu befriedigen

• die Angewiesenheit auf menschliche Bindungen

• der stetige Entwicklungs- und Alterungsprozess

• die Zeitgenossen:innenschaft

Individuelle Fakten des Lebens sind ebenfalls nicht veränderbar: wie Geburtszeit- und -ort, leibliche Herkunft, Geschwisterfolge. Die Bedeutungen, die wir diesen Unausweichlichkeiten geben, sind es allerdings schon. Diese wandeln sich im Lebensprozess. Insofern sind wir in der Biografiearbeit mit einer doppelten Realität, der Gestaltung des Wandelbaren auf der Grundlage des Gegebenen, befasst. Das jeweils Eigenartige tritt aus diesem Gegebenen hervor gleich einem individuellen Daumendruck. Dabei kommt gerade das Selbstverständliche nicht zur Sprache und bildet »das Hintergrundrauschen« der biografischen Erzählung. Es bleibt eine Herausforderung, Konstruiertes vom Faktischen zu differenzieren, wie wir z. B. an der Geschlechterthematik [Sex-/Gender(selbst)zuschreibungen] erkennen, und »dominante Diskurse« sichtbar zu machen, die über gesellschaftspolitische Normen »Unsichtbarkeit« erzeugen.

Von Gedächtnisspuren zur biografischen Erzählung

Biografiearbeit fußt auf dem Bedürfnis, sich seiner eigen-art-igen Erfahrungen zu vergewissern, sich darin zu verstehen, Sicherheit, Erleichterung, Orientierung zu entwickeln, indem sie in eine Geschichte überführt werden. »Alle Menschen tragen in ihrer Psyche vielfältige Gedächtnisspuren, doch kontinuierliche Erinnerung gibt es nicht. Das ist einfach auch schon deshalb ausgeschlossen, weil nur einige besondere Spuren im Langzeitgedächtnis gespeichert werden« (Heller, 2020, S. 133) Die Hinwendung zur Biografie, der eigenen oder der eines anderen, beinhaltet die Beschäftigung mit diesen Gedächtnisspuren, um ihnen im Rahmen einer Geschichte Sinn und Bedeutung zu geben. Der Anlass dafür liegt in der Gegenwart, und die Gegenwart ist auch »das Ziel der Geschichte« (S. 133).

Das Anfangsinteresse bleibt somit leitend für den biografischen Erkundungsweg. Es übernimmt die Funktion des Ariadnefadens aus der griechischen Mythologie, in der Theseus den Minotaurus in dessen Labyrinth aufsuchen und töten will: Ariadne, die Tochter des Königs Minos, übergibt ihm den legendär gewordenen Faden, dessen Anfang am Ausgang des Labyrinths Theseus auf seinem Weg sichert. Nun kann er sich in das Labyrinth vorwagen, ohne sich darin zu verirren und zugrunde zu gehen.

In dem ungeordneten »Wildwuchs« der Gedächtnisspuren übernimmt der Ausgangsaspekt diese Aufgabe: den Bezug zur Gegenwart zu halten, sich nicht im Labyrinth seinen Erinnerungen zu verlieren. Im biografischen Arbeiten werden die sporadischen Erinnerungsspuren »in einer Erinnerungskette verbunden, in einer Geschichte, die einer sich selbst oder anderen über seine Vergangenheit erzählt. So entsteht die autobiografische Erinnerung, die John Locke ›Identität‹ nannte« (S. 133). In der biografischen Erzählung wird somit eine Gestalt des eigenen Lebens im Wandel der Zeit umrissen. Indem sich Erinnerungsspuren dabei beweglich aufeinander beziehen lassen, wird die biografische Arbeit »zu einem Selbstbildungsprozess, in dem Identität sich flexibel ›clustert‹ und sich entlang von Diskontinuitäten und Brüchen prozesshaft immer neu ausrichte[n lässt]« (Jansen, 2011, S. 20).

Dies kann als selbstorganisierender Prozess verstanden werden. Dabei schränken strukturelle Muster die Möglichkeiten, Erlebtes wahrzunehmen und zu erzählen, ein. Zugleich werden diese Muster erkennbar und wandeln sich stetig durch veränderte Erzählperspektiven. Systemisch ausgerichtete Biografiearbeit unterstützt die Arbeit an diesem Erzählrahmen, indem sie die breite Möglichkeit von Erinnerungskonstruktionen unterstützt bzw. schwankenden biografischen Boden durch Erkundungsprozesse stabilisieren hilft.

Biografische Recherche

Brüche und Nichtwissen machen Recherche nötig, um zu einer kohärenten Erzählung zu kommen. Recherche findet sowohl im familiären Rahmen durch Nachfragen, Gespräche, Sichten von Dokumenten etc. statt als auch durch Erkundungen historischer Bedingungen in Bibliotheken, Archiven und durch das Aufsuchen von bedeutsamen Orten. Teil der Biografiearbeit können deshalb Reisen, Bibliotheks- und Archivbesuche sowie Interviews sein. In die Biografie fließen sowohl die Ergebnisse der Recherche ein als auch die Erfahrung und emotionale Wirkung, die dieser Prozess auslöst. Die Markierung der Grenzen des Wissens und Erinnerns sind ebenfalls Teil der Auswertung von Rechercheprozessen.

Wer oder was hat eigentlich (k)eine Biografie?

Biografiearbeit nimmt neben den Lebensgeschichten von Personen zahlreiche weitere »Identitätsprozesse« in den Blick: Geschichten von Orten und Gebäuden, von Firmen und Institutionen, von sozialen Gruppen. Was als von Menschen gestaltet wahrgenommen werden kann, kann biografisch beschrieben werden. In der Umkehrung bedeutet das: Was biografisch beschrieben wird, wird als vom Menschen geprägtes »Subjekt mit Geschichte« gekennzeichnet.

Bei jeder Person und in jeder Gesellschaft gibt es nicht in Erzählungen überführte Aspekte und Artefakte, die sich der Erzählfähigkeit entziehen oder bei denen sich die Erzählfähigkeit erst bildet. Es handelt sich dann um im gegenwärtigen familiären oder gesellschaftspolitischen Bezugssystem nicht »biografiewürdige« Personen und Gruppen, Orte und Erfahrungsebenen. Biografisierende bewegen sich entlang dieser inneren und äußeren Erzählgrenzen und suchen tastend einen Sprachraum für bisher Ungestaltetes. Dies ist zu unterscheiden von dem, was mit dem Begriff »Narration« umrissen ist.

Narrativ

Der seit ca. 1990 verwendete Begriff bezieht sich auf sinnstiftende Erzählungen über Gruppen und Gemeinschaften. Narrationen dienen als gesellschaftspolitisches Medium, um im weitesten Sinne »Sinn« zu verankern, also auf Deutungen Einfluss zu nehmen. Im Narrativ werden Werte und Interessen mit Emotionen verknüpft, es wird ein vorteilhafter Bedeutungszusammenhang konstruiert, der eine bestimmte Sichtweise erklärt und rechtfertigt, stabilisiert oder erneuert. Narrative werden gebraucht und weiterentwickelt, um Gruppen und Institutionen zu konturieren, z. B. Nationen, die EU, politische Systeme, aber auch Berufsgruppen, Altersgruppen, Geschlechtszugehörigkeiten. Sie werden eingesetzt für die Bedeutungsmarkierung von Markenartikeln, Konsumbedürfnissen, aber auch für die Präsenzfeststellung von Werten und Verhaltensweisen.

Bei narrativen Erzählungen stellt sich die »biografische« Frage: Wer spricht? Und: Wer spricht mit welchem Interesse? In der Biografiearbeit taucht Narration auf im Zusammenhang mit der Frage, wie Aspekte einer Person oder Herkunft in der öffentlichen Wahrnehmung auftauchen.

Der Begriff »Narrativ« hat, ähnlich wie »Diskurs« oder »Trauma«, starke Verbreitung gefunden. Der Ansatz im Bereich »Storytelling« bezieht sich auf die Veränderung von Narrativen.

Für wen eignet sich Biografiearbeit?

Das Fragen nach der eigenen Biografie entsteht in Zeiten von Lebensübergängen und Lebenskrisen, bei drängenden Lebens- und Familienthemen und in Alterungsphasen, in denen eine Lebensernte vollzogen werden will. Biografiearbeit ist nicht altersabhängig. Bei Kindern und Jugendlichen unterstützt sie die Identitätsentwicklung, wenn sie gravierende Abbrüche und Verluste erlitten haben, die nicht eingeordnet werden können. Biografiearbeit dient dann als Möglichkeit, ein Bewusstsein von Kontinuität für das eigene Leben zu entwickeln und dem Verlorenen einen symbolischen Platz zu geben. Ähnliches gilt für alle Gruppen, die Selbstvergewisserung durch Suche nach der Herkunft oder Vergangenheit erfahren können.

Biografische Begleitungsarbeit

Das Land der eigenen Erfahrung mit seinen Grenzen zu erkunden und dadurch zu verändern, ist ein freiwilliger Akt, der Einwilligung braucht – und oftmals auch Ermutigung. Die biografische Begleitungsarbeit setzt »fachliche Professionalität voraus, die dazu in der Lage ist, ein spezifisches Setting der Biografiearbeit zielorientiert und Adressatinnen spezifisch zu entwickeln und zu gestalten« (Jansen, 2011, S. 26). Dazu gehören Methodenkompetenz, Fähigkeit in der Prozessbegleitung und Kontextwissen bezüglich der Interessent:innengruppe. »Biografien sind subjektive und bedeutungsstrukturierte Konstruktionen des individuellen Lebens, wie sie sich in der kognitiven, emotionalen und körperlichen Auseinandersetzung zwischen individuellem Erleben und gesellschaftlichen und kulturellen Dimensionen herausbilden. […] In der Biografiearbeit geht es deshalb nie um die Rekonstruktion von Fakten […], vielmehr um das Verstehen des ›Eigen-Sinns‹ biografischer Äußerungen« (Miethe, 2011/2014, S. 21). Systemische Begleitungsarbeit unterstützt diese Erkundungswege:

• durch Kenntnisse über komplexe Systemdynamiken, diese beziehen sich

– auf individuelle Entwicklungsprozesse im Lebensverlauf

– auf familiäre Mehrgenerationendynamik

– auf gesellschaftspolitische Macht- und Ohnmachtserfahrungen

• durch Ressourcenorientierung und Wertschätzung im Umgang

– mit Menschen

– ihren Erinnerungen

– ihren Ausdrucksweisen

1.2 Eine mögliche Entwicklung der Biografiearbeit oder: »Mit meiner Stimme sprechen, mehr, andres hab’ ich nicht gewollt« (Christa Wolf)

Will man die Entwicklung der Biografiearbeit erkunden, lautet die zentrale Frage: Wessen Stimme ist es, die wir jeweils hören? Eine Frage, die uns auf eine weite, gedankliche Reise führt.

Biografiearbeit als Sujet ist nicht eindeutig definiert. Ingrid Miethe setzt sich mit dieser Thematik auseinander und kommt zu folgender Feststellung: »Was genau unter Biografiearbeit zu verstehen ist, was noch dazu zählt und was nicht, ist begrifflich gar nicht so einfach einzugrenzen. Ist es nur Biografiearbeit, wenn wir ein Seminar zum Thema ›Biografiearbeit‹ ausschreiben, zu dem sich Teilnehmer anmelden? Oder ist es auch Biografiearbeit, wenn wir in der stationären Jugendhilfe ein Kind ins Bett bringen und mit diesem über seine Eltern sprechen? Ist es Biografiearbeit, wenn wir in einem Seminar z. B. Zugang zu dem zu behandelnden Stoff zu bekommen und somit das Interesse an der Veranstaltung zu steigern? Oder ist es auch Biografiearbeit, wenn wir uns im Kreis von Freundinnen die Geschichte unserer ersten Liebe erzählen? Um es kurz zu machen: In der Literatur gibt es keinerlei einheitlichen Gebrauch für die Verwendung des Terminus ›Biografiearbeit‹« (Miethe, 2011/2014, S. 21 f.). Die Ambivalenz und Vagheit des Begriffs der Biografiearbeit werden durch Miethes Worte deutlich; es zeigt sich, dass biografische Themen in unterschiedlichen Kontexten mit jeweils spezifischen Schwerpunkten zur Sprache kommen, ohne dass deren Konturen klar umrissen sind. In welchem Umfeld welche Person etwas äußert, um sich selbst und ihrem Erleben Ausdruck zu verleihen, bietet einen ersten Rahmen für eine zu schaffende Ordnungsstruktur im Bereich der Biografiearbeit (siehe auch Unterkapitel 2.1, S. 51).

Was heißt: »Mit meiner Stimme sprechen«?

Mit meiner Stimme sprechen! – Wer spricht da? Im Roman der Schriftstellerin Christa Wolf ist es Kassandra, die Tochter des trojanischen Königs Priamos und der Königin Hekabe, die dies begehrt. Denn sie ist mehr als die Tochter des Königs, sie ist Seherin und als solche mit eigenen Sichtweisen verbunden. Denen will sie Gehör verschaffen. Und unterliegt doch dem Fluch, dass keiner ihr zuhört, mehr noch, dass man ihre Einblicke für gefährlich hält. Sie zahlt denn auch für das Erheben ihrer Stimme mit dem Verlust ihrer Freiheit und ihres Lebens. Christa Wolf lässt sie im gleichnamigen Buch am Tag ihrer Hinrichtung über ihr Schicksal berichten.

So dramatisch vollzieht sich das Erheben der eigenen Stimme in der Biografiearbeit nicht. Hier geht es, im Umkehrschluss, eher darum, Eigenmächtigkeit und Souveränität der Selbstaussage zu entwickeln. Das Zitat zeigt dennoch, welche inneren Anstrengungen und äußeren Kämpfe nötig sein mögen, um die eigene Stimme (wieder) zu finden.

Als Voraussetzung dafür klingt im Wolf-Zitat zweierlei an: zum einen der Rückbezug auf sich selbst, also das Bedürfnis und die Bereitschaft zur Selbstreflexion: Meine Stimme, wie klingt die, was will ich mit meiner Stimme über mich und die Welt, in der ich lebe, sagen? Zum anderen schwingt das Finden eines Zugangs zum sozialen Raum mit, in den hinein ich sprechen kann. Und in dem sich ein Gegenüber findet, zu dem ich spreche – Menschen also, die mich hören und hören wollen und die dann auch noch antworten.

Dass es biografische Selbstreflexions- und Mitteilungsräume gibt, ist an gesellschaftliche Voraussetzungen gebunden, denn »Vergangenheit steht nicht naturwüchsig an, sie ist eine kulturelle Schöpfung« (Assmann, 2007, S. 48). Die Praxis der Biografiearbeit setzt damit ein im weitesten Sinne geschichtliches Bewusstsein und demokratische Kulturräume voraus. Was liegt also näher, als mit einem kurzen Rückblick in weit zurückliegende Epochen zu beginnen.

Entstehung der Geschichtlichkeit

Aus der frühkindlichen Entwicklung kennen wir, alle Menschen, das Leben vor dem Begreifen der Zeit. Vor dem Bewusstsein der unumkehrbaren Abfolge Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft liegt das Erleben rhythmischer Wiederholungen; davon sind die basalsten vermutlich dunkel-hell-dunkel-hell, gesättigt-hungrig-gesättigt, müde-wach, müde-gesättigt und hungrig-müde. Diese ineinandergreifenden, rhythmisch wiederkehrenden und damit kreisförmigen Lebensbewegungen werden im Laufe von Jahren allmählich durch ein Verständnis für das lineare Vergehen der Zeit erweitert.

Auch menschheitsgeschichtlich wurde diese Entwicklungsabfolge vollzogen. Die wiederholenden Rhythmen differenzierten sich in komplexen Mythen aus, die das unumkehrbare Vergehen der geschichtlichen Zeit noch nicht berücksichtigen. Die Verehrung des ägyptischen Sonnengottes Ra veranschaulicht dies. In der ägyptischen Mythologie ist die Sonne der Gott Ra und der Gott Ra ist die Sonne. Deren unendlicher Auf- und Untergang entspricht dem »Pulsschlag […] des göttlichen und ewigen Kosmos« (Assmann, 2007, S. 183). Dieser Pulsschlag wird in den Vorstellungen des alten Ägypten sowohl bestätigt als auch aufrechterhalten und gefeiert durch den zelebrierten Ritus.

Die ältesten überlieferten Chroniken, die ägyptischen Königslisten, dienten denn auch diesem Mythos. Sie sind wahrhaftig ein Mammutwerk! Denn obwohl sie »Listen« heißen, sind sie nicht geschrieben. Sie sind in Stein gehauen. In der umfänglichsten der Listen, der des Totentempels von Sethos I., sind sage und schreibe 76 aufeinanderfolgende Pharaonen als Reliefs mit Namenskartuschen den Mauern eingeprägt. Dort lassen sie sich heute noch vorfinden, sodass der steinerne Palast als Gedächtnisträger fungiert. In ihrer Entstehungszeit dienten die Königslisten als Brücke. Mit ihrer Hilfe maßen die Ägypter die Vergangenheit bis in fabelhafte Tiefen hinein aus, um die mythische Urzeit, eine paradiesische »Zeit ohne Ende«, in kultischen Handlungen zu berühren und lebendig zu erhalten und durch Verehrungsrituale symbolisch mit der Gegenwart zu verbinden. Wesentliches Anliegen war, immer wieder bis in die »mythische Urzeit als die im eigentlichen Sinne wirklichkeitsschaffende Geschichte« (S. 185) zurückzukehren.

Der Blick der alten ägyptischen Kultur unterscheidet sich fundamental von unserer heutigen Sichtweise. Ja, die Perspektive wirkt entgegengesetzt: Die Jahrtausende weit zurückreichende Vergangenheit in Form der Königslisten lag den Ägyptern vor Augen. Demzufolge assoziierten sie die Zukunft, konträr zu unseren Vorstellungen, als im Rücken liegend. Zukunftsweisende Bilder als Imaginationen des Kommenden entstanden somit eher nicht.

Die ägyptischen Königslisten stellen eine Aufzählung dar. Sie sind noch nicht mit Ereignissen verbunden. Sie sind »kein Dokument der Rechenschaftsablegung, sondern […] ein Kalender« (S. 184). Man könnte also sagen, die Königslisten sind die erste – in Stein gemeißelte – überlieferte und erhaltene Er-Zählung: Sie zählen die Pharaonenherrscher fast chronologisch auf. Interessanterweise fängt ihre Geschichtlichkeit an der Stelle an, an der Lücken in der Er-Zählung auftauchen, da sich daran Fragen entzünden lassen, die ins Erzählen führen: Welche Pharaonen wurden nicht »in Stein gemeißelt«? Was erzählen diese Auslassungen?

Machen wir einen Sprung in die Gegenwart: Die Chronik als Auflistung zeitlicher Abfolgen finden wir bis heute beispielsweise im tabellarischen Lebenslauf, in Datierungen historischer Ereignisse, in Datierungen von Gesetzesänderungen und Ähnlichem. Als solche spielen sie in der Biografiearbeit eine bedeutsame Rolle. Das, was in einer Chronik auftaucht, gilt oft als Faktum, zählt zu dem, was mit gesicherten Daten umrissen wird.

Bis heute sind Auslassungen im tabellarischen Lebenslauf bei Bewerbungen oder in Lebensgeschichten ein brisantes Thema: Was schreiben, was sagen über eine Zeit, deren Realität unerwünscht oder gar gefährlich erscheint? Wie mit einer Lücke umgehen, wenn diese entweder als nachteilig oder verdächtig gilt? Wie passe ich meine Erzählung dann den äußeren und inneren Erwartungen an? Diese Fragen sind Teil von Biografien, wenn sich Werte- und Machtverhältnisse mit ihrem Einfluss auf Lebenswege und -entscheidungen gravierend ändern.

Beispiele:

Eine alleinerziehende Frau bewirbt sich auf eine höher dotierte Stelle in einer anderen Stadt. Im Bewerbungsgespräch wird sie gefragt, wie sie »das mit ihrer Familie machen wird«. »Meinen Sohn«, sagt sie, »nehme ich mit, mein Mann kommt nach, wenn er eine entsprechende Stelle gefunden hat.« Sie bekommt eine Zusage und kommentiert: »Wenn ich gleich gesagt hätte, dass ich alleinerziehend bin, hätte ich die Stelle vermutlich nicht bekommen. Hinterher hat keiner mehr gefragt, wo mein Mann bleibt. Und das geht die ja auch nichts an.«

Eine »afghanische Krankenschwester«, die mit ihrem Mann und zwei Kindern in Deutschland Asyl beantragt hat, putzt in Privathaushalten. Nach Jahren eröffnet sie in den Putzstellen, sie sei Ärztin und spreche fünf Sprachen. »Wer hätte mich denn bei sich putzen lassen, wenn ich das gesagt hätte«, fragt sie. Anlass des »Aufdeckens« ist die Anerkennung ihres ärztlichen Diploms und die damit verbundene Arbeitserlaubnis in Deutschland.

Mit einigen biografischen Notizen können Sie diesem Themenaspekt bei sich selbst nachspüren:

Versetzen Sie sich einmal zurück – Lassen Sie sich einen Augenblick Zeit:

Bei welchen Ihrer Daten und Fakten im Lebenslauf spüren sie Stolz?

Wie verbindet sich das mit Ihrer individuellen Entwicklung und familiären Herkunft?

Welche Fakten und Ereignisse in Ihrem Leben lassen Sie in Ihrem Lebenslauf aus?

Welche Werte schützen Sie mit der Auslassung?

Welche Machtverhältnisse berücksichtigen Sie dabei?

Gehen wir noch einmal zurück und schauen auf den Übergang von der mythischen zur geschichtlichen Zeit: Der Übergang von der in die Vergangenheit weisenden Chronologie zum Zweck der Verbindung mit der Urzeit in die Verflechtung von Ereignissen zu einer Geschichte der Verheißung beginnt nach Jan Assmann (2015, S. 293 ff) mit der Erzählung über die israelische Knechtschaft in Ägypten und den »Auszug aus Ägypterland«, der Erzählung des »Exodus« (Bibel, 2. Buch Moses). Diese Ereignisse sind als Fließtext in der jüdischen Thora und im Alten Testament der christlichen Bibel festgeschrieben und nicht mehr, wie die Königsliste, in Stein gehauen.

Das bedeutet: Hier tauchen sowohl eine Erzählstimme als auch eine soziale Gemeinschaft auf, für die diese bestimmte Geschichte erzählt wird. Diese handelt von Menschen, die sich mit ihrem Erleben auseinandersetzen, diese Auseinandersetzung festhalten, um sie weiterzugeben, und die dadurch zu einer stabilen Identität gelangen. Im Beispiel der Exoduserzählung geschieht dies, während ihr Lebensalltag nach dem Ende der Sklaverei buchstäblich auf Sand gebaut ist: Nach 34 Jahren Knechtschaft haben sie 40 Jahre in der Wüste durchzustehen, so heißt es. Dabei haben sie die Verheißung auf das gelobte Land als Zukunftsvision mehr oder weniger deutlich vor Augen.

Diesen Prozess der Identitätsentwicklung vollzog diese Gruppe, indem sie sich als Schicksalsgemeinschaft in einer exklusiven Beziehung verstehen lernte, indem sie sich also Bedeutung innerhalb einer folgenreichen Beziehung gab, die sie fortan als Beziehungsgeschichte lebendig hielt. Denn »damit eine Gesellschaft daran interessiert ist, sich Rechenschaft über ihre Vergangenheit abzulegen, muss sie sich die Vergangenheit als ›ihre‹, als Teil ihres Selbstbilds, zurechnen. Sie muss die Vergangenheit, wie Claude Lévi-Strauss schreibt, verinnerlichen, um sie zum Motor für ihre Entwicklung zu machen« (Assmann, 2015, S. 174). Damit ist die Gegenwart in stetiger Wechselwirkung mit Vergangenheit und Zukunft verbunden.

Von der Er-zählung, der Aufzählung der Pharaonen, ging der Prozess damit zur Geschichte2, der Mitteilung bedeutsamer innerer und äußerer Prozesse, über.

Zusammenfassend lässt sich sagen: »Auf der Ebene allgemeiner […] Orientierung geht es um den Ausstieg aus der mythischen […] hin zu einer geschichtlichen Zeitordnung, der [nun] die Vergangenheit im Rücken liegt und die Zukunft vor Augen steht in Form einer Verheißung […]. Und da dieses Neue in vielfacher Weise die Welt bestimmt, in der wir noch immer leben, ist auch das biblische Buch Exodus als Gründungslegende dieser unserer Welt bis heute lebendig geblieben« (2015, S. 396 f.).

Die Frage, warum ich diese historischen Themen in ein Kapitel über die Geschichte der Biografiearbeit einbeziehe, führt wieder näher an die Gegenwart: Biografien, wie sie in tradierten Erzählweisen konstruiert werden, gehen auch heute noch auf diese Exodusgeschichte zurück. Deren erzählerischer Aufbau ist in jüdisch-christlich geprägten Kulturen, unabhängig von religiösen Bekenntnissen, tief verwurzelt. Wirkungen reichen bis in die Konstruktionsmuster von Hollywoodfilmen mit dem bekannten Erzählschema: Einführung der Figuren/schwierige Situation/Retterfigur/Rettungsplan/Aufbruch/äußere Hindernisse/innere Zweifel/Durststrecke/Wendepunkt/Happyend/Fortsetzung. Bis heute dienen diese Konstruktionen damit als Hintergrundfolie beim Zusammenfügen der Erinnerungsfragmente zu einer biografischen Erzählung.

In Settings der Biografiearbeit taucht immer wieder einmal der Satz auf »Über mein Leben gibt es eigentlich nichts zu erzählen«. Gemeint ist dann in der Regel, dass die oben beschriebene Erzählchoreografie nicht bedient werden kann. Die innere Erzählung folgt keinem als bedeutsam angesehenen Erzählmuster.

Kenntnisse über zugrundeliegende Muster biografischer Erzählungen unterstützen darin, deren Konstruktionen zu erkennen. In der multiethnischen Biografiearbeit ist differenziertes Wissen darüber unerlässlich, werden in unterschiedlichen Kulturen Erzählungen doch auf verschiedene Weise konstruiert.

So gibt es »kulturelle Unterschiede, was die Erinnerungspraktiken […] angeht. In asiatischen Kulturen beziehen sich Eltern beim Erzählen weitaus mehr auf die soziale Gruppe als auf das Kind. Daher entwickeln Kinder aus asiatischen Kulturräumen weitaus weniger detaillierte Erzählungen einer persönlichen Vergangenheit als Kinder, die in Europa oder Amerika aufgewachsen sind« (Alley, 2019, S. 41). Andererseits muss davon ausgegangen werden, dass »Erzählmuster historisch wandelbare Phänomene sind, die grundsätzlich von kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten abhängen: Sie sind also immer Brüchen und Wandlungen unterworfen« (Saupe u. Wiedemann, 2015, S. 7). In unterschiedlichen Kulturen und in unterschiedlichen Zeiträumen wird zudem Unterschiedliches mit generalisierten Bedeutungen belegt und als Faktum behandelt.

Damit wird deutlich: Auch das, was im Rahmen der Biografiearbeit als Daten und Fakten benannt wird, ist im weitesten Sinne durch kulturelle Erzählungen tradiert. Dazu zählen die Bedeutung von Geburtsdaten, die Definition von Geschlecht oder der Gebrauch von Familiennamen. So gibt es z. B. in Indonesien keine Familiennamen. Jeder Mensch hat mehrere Namen, von denen keiner erblich ist.

Nun, nach dem weiten Bogen über die ägyptischen Königslisten, die Gegenwartsbezüge in den Beispielen und möglicherweise auch in Ihren eigenen Erinnerungen sowie der Exoduserzählung samt ihren Bezügen zu modernen Mythen aus Hollywood schauen wir noch einmal auf das Anfangszitat »Mit meiner Stimme sprechen«: Christa Wolfs Kassandra äußert diesen tiefen Wunsch – und bleibt doch in Zweifel verstrickt, ob sie wirklich aussprechen darf und will, was sie, die Seherin, erblickt. Hier ist ein großes Thema der Biografiearbeit angesprochen: Erfahrungen, Gefühle, Einschätzungen durch eine als eigen erlebte Sprache in den eigenen Ausdruck zu bringen und damit zu sich selbst zu kommen, eigentlich zu werden, verbunden mit dem Risiko, durch die Sichtbarwerdung innerlich und äußerlich im doppelten Sinne des Wortes wirklich und angreifbar zu sein. Die Geschichte der Biografiearbeit wäre in diesem Sinne auch eine fort von den großen, offiziellen Erzählungen in Königslisten, Heldenepen und über göttliche Aufträge bedeutsamer Männer3.

Die Biografiearbeit schaut nun stattdessen hin zu denjenigen Geschichten von Menschen, die in den gesellschaftlichen Narrativen leise oder eher rudimentär zu hören waren oder sind, die ihre Stimme nicht souverän im öffentlichen Raum erheben, aber trotzdem zur Geschichte gehören und Sehnsucht danach haben, ihre Stimme zu erheben.

Die Stimmen »kleiner Leute«

Mit einem großen zeitlichen Sprung bleiben wir nun näher an der Gegenwart mit der Frage: Wie entstand der biografische Prozess auch für die sogenannten »kleinen Leute«, für jedermann und hauptsächlich auch jedefrau? Denn Biografiearbeit ist – und nicht zufällig – ein tendenziell von Männern weniger genutzter Raum. Sowohl Mentor:innen als auch Biografisierende sind in ihrer deutlichen Mehrzahl weiblich. Männliche Bezugsgruppen sind seltener, und wenn dann eher im Bereich Ortsgeschichte und Oral History anzutreffen. Biografiearbeit als Raum zur Selbstbefragung und Selbstvergewisserung mit der Möglichkeit, die eigene Stimme »finden« bzw. entwickeln zu wollen, wird vermutlich immer noch eher als Schwäche denn als Möglichkeit erlebt, besteht doch im Bezugsrahmen männlicher Identitätsbilder der Anspruch, per se seine Stimme zu haben und sie zu erheben. Dies korrespondiert damit, dass das demokratische Stimmrecht für (wohlhabende) Männer zuerst eingeführt wurde. Frauen blieben ohne dieses Recht auf »ihre Stimme«. In Deutschland wurde das Stimmrecht für Frauen 1918, in Frankreich 1944, in der Schweiz erst 1971 eingeführt, im Kanton Appenzell per Bundesgesetz sogar erst 1990. Biografiearbeit erfordert, so wird deutlich, auch diese Geschichte mitzuberücksichtigen.4

Für lebensgeschichtliches Erzählen ist neben der Mündlichkeit die allmähliche Verbreitung des Romans ab dem 18. Jahrhundert eine wichtige Errungenschaft. Dabei fungiert der Briefroman als Zwischenschritt und Vermittlung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Mit der Verbreitung von Romanen und der aufgrund von Schulbildung sich erweiternden Möglichkeiten, diese auch zu lesen, entwickeln sich neue Fühl-, Denk- und Erzählkonstruktionen. Das Erleben von Differenz, also das Nichtaufgehen eigener Erfahrungen in gesellschaftlich angebotenen Rollen, nährt Fragen nach der eigenen Lebensführung, der individuellen Biografie.

Im 18. Jahrhundert beginnt auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit biografischen Fragestellungen. »Neben der Literaturwissenschaft, der Histografie und der Philosophie war auch die Pädagogik an der Begründung der Biografieforschung maßgeblich beteiligt« (Röhrbein, 2019, S. 39).

Anfang des 20. Jahrhunderts wird, angeregt durch Rudolf Steiner, die anthroposophische Biografiearbeit in Theorie und Praxis begründet. Sie stellt bis heute einen eigenen biografischen Zweig dar. Die Bezugspunkte dieses Ansatzes unterscheiden sich deutlich von anderen Entwicklungsansätzen. Neben lebensgeschichtlichen Themen der Biografie bezieht das anthroposophische Denken vorschwangerschaftliche und nachtodliche Erfahrungen sowie Planetenkonstellationen mit ein. In ihr wird von wiederholten Erdenleben ausgegangen und demzufolge von inneren Aufträgen, mit denen die Seele auf die Welt kommt. Was ein Mensch willentlich oder schicksalhaft erlebt, steht mit diesen inneren Aufträgen in Verbindung. Anthroposophische Biografiearbeit will darin unterstützen, diese zu erkennen, um ein erfülltes Erdenleben zu verwirklichen. Im Sinne des systemischen Verständnisses handelt es sich hier um eine Konstruktion, die von seinen Vertreterinnen und Vertretern nicht als Konstruktion angesehen wird. Dies schließt differenzierte Betrachtungen zum Lebenslauf nicht aus. Anregungen aus der anthroposophischen Biografiearbeit haben auch in anderen Ansätzen Eingang und Verbreitung gefunden, ohne dass die Quellen des Wissens immer bekannt sind und angesprochen werden. Dazu zählen u. a. der Rückgriff auf die 7-Jahresschritte im Lebenslauf (siehe Unterkapitel 3.3, S. 130) und verschiedene, mittlerweile weitverbreitete Tools5 (Miethe, 2011/1914, S. 95).

Mit Beginn des Ersten Weltkrieges kam die Entwicklung der Biografieforschung und -arbeit zum Stillstand. Das Interesse am individuellen Lebenslauf trat hinter nationalen Interessen und Forderungen zurück. Bereits vorhandene Ansätze lagen von da ab brach oder gerieten in Vergessenheit.

In der Weimarer Republik (1918–1933) erlebte die Biografieforschung einen, wenn auch kurzen, Aufschwung im Bereich Pädagogik und Psychologie (siehe auch Röhrbein, 2019, S. 40).

Im Faschismus (1933–1945) wurde diesen Forschungszweigen die Grundlage wieder entzogen: Nicht das Augenmerk auf das Leben von Individuen, sondern deren Funktion und Opferbereitschaft für Führer und Nation oder deren Abwertung als »unwertes Leben« wurden propagiert und durchgesetzt. Während des Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg gibt es keine Anzeichen, dass Biografiearbeit in Forschung und Praxis eine Rolle spielte (siehe auch S. 45 ff.).

Bis zu einem Wiederaufleben dieses Forschungsfeldes dauerte es denn auch nach 1945 noch eine geraume Zeit. Weder in den sogenannten Aufbau- und Wirtschaftswunderjahren der BRD noch in den sozialistischen Aufbaujahren der DDR finden sich Anzeichen für ein Wiederaufkeimen der Biografiearbeit. Doch allmählich erforderte die Erfüllung der notwendigsten Grundbedürfnisse für die breite Bevölkerung nicht mehr alle Lebenskräfte. Jahrzehntelange Abwesenheit von Krieg und existenzieller Not wurden somit eine der Voraussetzungen für die wieder in Gang kommende Entwicklung der Biografiearbeit im gesellschaftspolitischen, kulturellen und psychosozialen Kontext.