Sidi Ifni - Peter Bürkler - E-Book

Sidi Ifni E-Book

Peter Bürkler

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Beschreibung

Peter Bürklers Erzähler trifft in Sidi Ifni auf Nora und Ishem, deren Ehe kurz vor dem Scheitern steht. Der dreijährige Sohn, der bei den Eltern von Nora in der Schweiz lebt, ist regelmäßiger Auslöser der lautstarken und handgreiflichen Auseinandersetzungen. In der zauberhaften Lebhaftigkeit der marokkanischen Küstenstadt berichtet der Roman vom Zusammentreffen von Nordafrikanern und Europäern, von Einheimischen und Fremden, von Männern und Frauen, von Altbekanntem und Unbekanntem. Das Buch ist aber vor allem eine Schilderung der Selbstbefreiung einer Frau, die zwischen den Kulturen lebt. Sie führt dem Erzähler vor Augen, wie komplex Beziehungen sind und wie schwierig es ist, das menschliche Verhalten zu entschlüsseln. Der Leser erlebt die Faszination für das Fremde, die das Leben prägt und bereichert. Wie beiläufig hat Peter Bürkler eine Ethnographie des Geheimnisvollen vorgelegt, das es in jeder Gesellschaft und in jedem Menschen zu entdecken gibt.

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Inhalt
Cover
Peter Bürkler - Sidi Ifni
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Impressum

Eine steinige Piste führte schräg den Hügel hoch, gesäumt von Feigenkakteen und staubigen Büschen. Eine Brise trug den Duft von Algen und Erde hinauf bis zum Kamm. Das Rauschen des Meeres verzog sich mit jedem Schritt in die Ferne. Tiefe Stille legte sich darüber, bis auf eine Biene, eine Fliege oder das Zwitschern von Spitzhaubenvögeln, die zwischen dem kargen Grün umher tippelten. Oben bot sich eine atemberaubende Aussicht: hinter mir die Sahara, vor mir der Atlantik, und zu Füßen Sidi Ifni. Aus den weißen Wänden stachen blaue Türen, blaue Fensterläden, blaue Borde, überdacht von sandfarbenen Terrassen. Da und dort ragte ein Minarett heraus. Von irgendwo krähte ein Hahn, schlug ein Hammer, schrie ein Kind, heulte ein Moped auf. Irgendwo da unten musste Nora sein. Bei meiner Abreise hatte ich kein konkretes Ziel vor Augen gehabt. Zeichen, Hinweise oder Menschen sollten mich führen. Ich hatte Nora auf der Überfahrt von Barcelona nach Tanger kennen gelernt, mit ihr ein paar Worte gewechselt. Sie war es gewesen, die mich auf Sidi Ifni aufmerksam gemacht hatte. Etwas Geheimnisvolles hatte da durchgeschimmert, und das betraf sowohl sie selbst als auch die kleine kompakte Stadt da unten. Aber das Gespräch war schon bald versandet. Es schien, als wollte sie alleine sein, als wäre sie mit einer Geschichte belastet, die sie mit niemandem teilen wollte. Bloß in ein paar knappen Sätzen hatte sie gewisse Dinge angedeutet. Beispielsweise dass sie mit einem Berber verheiratet sei. Offensichtlich stimmte da etwas nicht. Es hörte sich an, als würde sich eine Katastrophe anbahnen.

In den folgenden Tagen streifte ich durch die Gassen, saß stundenlang in den Cafés, beobachtete das quirlige Leben, studierte die fremden Gesichter und die bunten Kleider. Und stets hoffte ich, Nora würde auftauchen. Die Stadt war zu klein, um einem bekannten Gesicht nicht früher oder später über den Weg zu laufen, und so war es auch. Eines Morgens, als ich in die Patisserie gegenüber dem ausgedienten Cinema Avenida trat, erkannte ich sofort die burgunderrote Windjacke, darüber das schlanke Profil mit den hohen Backenknochen, die dünne Nase, die zimtfarbene Ponyfrisur. Sie stand an der Kasse und kramte in einem ledernen Geldbeutel nach Kleingeld. Ihre Miene war von Ärger und Überdruss gezeichnet. Ein großgewachsener, breitschultriger Berber in hellgrauem Anzug und schwarzem T-Shirt sah ihr ungeduldig auf die Finger. In seiner Hand baumelte eine mit Gebäck gefüllte Papiertüte. Beide Gesichter wirkten grimmig, als hätten sie sich heftig gestritten.

»Hallo Nora«, sagte ich. »Du erinnerst dich doch?« Sie sah mich überrascht an. »Die Überfahrt auf der Fantastic«, fügte ich hinzu. Sie wirkte überrumpelt, der Mann betrachtete mich skeptisch.

»Fantastic?«, wiederholte er und sah Nora an, als stünde etwas Schmutziges hinter dem Wort. Sein drahtiges Haar glich einer Schuhbürste. Der Haaransatz reichte bis an die buschigen Brauen, und der Bartwuchs klebte wie ein Pelz auf seinem kantigen Gesicht und verlieh ihm einen dunklen Schatten.

»Ah, hallo«, murmelte sie endlich und versuchte freundlich zu sein. In ihrem Gehirn arbeitete es verbissen, als suchte sie einen Notausgang. »Was schaust du mich so an?«, fuhr sie den Mann an, der sie missbilligend taxierte.

»Fantastic war der Name des Schiffes«, sagte ich zu ihm, um die Situation ein wenig zu entschärfen. »Wir waren auf demselben Schiff. Die Überfahrt von Barcelona nach Tanger.«

»Ihr wart zusammen auf dem Schiff?«, fragte er empört.

»Ishem, verdammt«, sagte sie, »es ist normal, dass man auf einer fünfundzwanzigstündigen Schifffahrt mit dem einen oder anderen Menschen spricht. Auf jeden Fall für eine europäische Frau.«

Wie Tage zuvor auf der Überfahrt wirkte sie erschöpft und nervlich angeschlagen. Ihre Haut war blutlos, trocken, beinahe durchsichtig.

»Gehen wir, ich bin hungrig!«, sagte er mürrisch und wandte sich dem Ausgang zu.

»Tschüss«, sagte ich, und Nora erwiderte es trocken und folgte ihm.

Von nun an erwartete ich jeden Moment, dass wir uns erneut über den Weg liefen. Es dauerte keine vierundzwanzig Stunden. Ich saß im Café unter den Pfefferbäumen bei einem Thé à la Menthe und betrachtete das Leben um mich herum. Mein Augenmerk folgte einem kleinen Mann in weißem Kittel, der einen Handwagen über die Straße stieß, überladen mit Eierkartons. Es waren wohl an die dreihundert Eier auf fünf Stockwerken. Als er den Wagen vorsichtig über den Randstein fuhr, kippte er zur Seite. Die oberen Eierschachteln rutschten weg und fielen zu Boden. Der Mann machte ein bestürztes Gesicht und schlug die Hände an die Backen. Das Pflaster war verschmiert mit schleimigem Eigelb, darin verklebt hundert zerbrochene Eierschalen. Sofort waren andere Männer zur Stelle, klopften ihm Mut machend auf die Schulter und halfen ihm, die Schachteln neu aufzuschichten und mit den noch heilen Eiern wiederaufzufüllen. Ein Bettler trat an meinen Tisch und hielt mir die Hand hin, schlank mit feingliedrigen Fingern, die Haut ledrig, die gelblichen Fingernägel wie Krallen. Sein gebräuntes Runzelgesicht besaß etwas Feines, Sensibles, ebenso seine dunklen sanften Augen. Auch seine Kleider hatten nichts von einem Bettler, ein paar braune Stoffhosen, ein heller Wollpulli, darunter ein Hemd. Seine Beine waren leicht verkrüppelt, die Füße nach innen gebogen, sein Gang schleppend. An den Schuhen erkannte man seinen Status, uralte ausgetragene Adiletten, darin vor Dreck stehende Füße. Ich drückte ihm einen Dirham in die Hand. Ohne Blickkontakt murmelte er etwas in seinen Bart und humpelte weiter. Ich sah ihm nach, versunken in Mutmaßungen über ihn. Im Hintergrund tauchte plötzlich etwas Rotes auf. Es war Noras Windjacke. Neben ihr ging der Berber in dem hellgrauen Anzug, im Gesicht eine Spiegelsonnenbrille, sein Gang stolz und zielgerichtet. Die beiden strahlten etwas Spezielles, Kraftvolles, Leidenschaftliches aus. Sie waren anders, stachen heraus, besaßen Charakter. Es war ein Pärchen, nach dem man sich umdrehte. Was für ein Gegensatz zu dem Bettler, der mich eben noch aufgewühlt hatte. Nora deutete auf die Pharmacie Populaire unter den Arkaden gegenüber und überquerte die Straße, während Ishem aufs Café zusteuerte. Die meisten Tische waren besetzt, und so erkannte er mich erst auf den zweiten Blick, erst als er am Tischchen neben mir saß. Und irgendwie schien er verblüfft darüber. Er zog die Brille ab.

»Ah, der Mann vom Schiff«, sagte er bemüht gutgelaunt. »Na, Gefallen gefunden an Sidi Ifni? Ruhig hier, nicht?« Sein Deutsch war fehlerfrei, jedoch mit einem starken Akzent durchzogen. Ich nickte, ja, es sei schön hier. Er wich aus, sah zu der Apotheke hinüber, machte sich eine Zigarette an, hielt nach dem Garçon Ausschau, bestellte zwei café noir. Obwohl er auf gute Laune machte, war es offensichtlich, dass er angespannt war. Er sah sich unruhig um, als hoffte er, einen alten Bekannten zu sehen oder von einem solchen entdeckt zu werden. Nora kam lange nicht zurück. Ishem klopfte nervös mit den Fingern auf den Tisch.

»Bist du im Urlaub hier?«, fragte er mich plötzlich.

Ich erklärte ihm, dass es eine Art Mischform sei zwischen Urlaub und Arbeit. »Ich bin auf der Suche nach Inspiration.«

»Aha, Inspiration«, sagte er. »Künstler?«

»Ich möchte ein Buch schreiben. Einen Roman. Oder einen Reisebericht. Vielleicht eine Mischform.«

»Du bist Schriftsteller?«, fragte er mit großen Augen.

Ich bejahte und fügte an, dass ich auch Musiker sei und dass ich hoffte, ein paar lokale Musiker kennen zu lernen.

»Musiker?«, wiederholte er bewundernd und musterte mich, als versuchte er mich mit neuen Augen zu sehen. Aber sofort wich er aus, und sein Blick wanderte unstetig in der Gegend herum. Und ohne mich anzusehen, sagte er: »Und jetzt horchst du die Leute aus, damit du was zu schreiben hast?«

Ich lachte und fügte an, dass ich allgemein Geschichten und Menschen möge. Jeder Mensch trage eine Geschichte in sich.

»Und du denkst, du kannst über all dies hier schreiben?« Er machte eine ausholende Bewegung mit der Hand. »Über die Menschen hier? Über uns? Die fremde Kultur? Glaubst du, du wirst etwas davon verstehen?«

»Das wird sich herausstellen.«

»Und weshalb kommst du zu uns und schreibst nicht über die Welt bei dir zu Hause? Ist es da zu langweilig?«

»Vielleicht«, sagte ich und zuckte mit den Schultern. Und damit war das Gespräch zu Ende. Als die Stille unangenehm wurde, begann ich ihn über Sidi Ifni auszufragen, beispielsweise woher der Name kommt.

»Sidi ist die Anrede oder der Titel eines Herrn«, erklärte er, »und Ifni war ein Heiliger, der einst hierher kam, vor Jahrhunderten. Sidi Ali Ifni. Er stammte ursprünglich aus Tunesien. Er blieb vermutlich hier, weil es Wasser gab, vielleicht auch weil er am Ende seiner Reise angelangt war, weil er alt war. Er ist auf dem Friedhof am Ende des Strandes begraben.« Ishem verstummte und stierte stirnrunzelnd zu Boden, als grübelte er über etwas Schwerwiegendes nach. Plötzlich musterte er mich eindringlich: »Bist du verheiratet?«

»Ich war es«, sagte ich etwas verblüfft über den plötzlichen Richtungswechsel.

»Geschieden?«

»Ja, vor einem Jahr.«

»Aha.« Wieder lag sein Blick im Nirgendwo. Dann sagte er: »Und wer hat wen verlassen, wenn man fragen darf?«

»Schwierig zu sagen. Es lief sich einfach tot. Und dann war die Trennung wie eine gegenseitige Vereinbarung.« Ishem sagte nichts mehr dazu. Er fühlte sich offensichtlich unbehaglich. Also begann ich ihm Fragen zu stellen, und er schien froh darüber und antwortete bereitwillig. Er war in Sidi Ifni aufgewachsen, lebte aber seit vier Jahren in Zürich. Er lobte die Schweiz über Gebühr und sprach abschätzig über sein eigenes Land. Er war stolz auf seinen dreijährigen Sohn Younes, der leider in Zürich bei den Großeltern bleiben musste. Mit diesem Satz verfinsterte sich seine Miene auf einen Schlag, und als wollte er dies verbergen, sagte er mit bemüht gefühlvoller Stimme: »Die Grippe hat ihn erwischt. Und weißt du, Reise, Kind, Flugzeug, nicht gut bei Grippe.« Er wandte sein Gesicht ab, als versuchte er Kummer zu verbergen. »Und du?«, fragte er mit neuer Stimme, »kannst du von der Kunst denn leben?«

Ich antwortete, ich sei Millionär. Er sah mich verdattert an. »Natürlich nicht«, sagte ich. »Aber ich bin auch nicht am Verhungern. Es geht mir gut. Und ich komme mit sehr wenig aus.«

»Ich kenne jeden Musiker hier in der Stadt«, sagte Ishem. »Hängen immer bei uns zu Hause rum, fast jeden Abend eine Jam Session. Weißt du, wir haben ein Haus, oben in Boulalaam.« Er deutete nach links zu dem östlichen Stadtteil, der sanft gegen den Hügel mit den Antennen anstieg. Er nannte mir Straße und Nummer, ich solle einfach spontan reinschauen, falls ich mal da oben sei. »Open House«, sagte er großzügig. »Ach was! Komm doch gleich heute Abend! Wir essen was, feiern ein bisschen. Na? Nora kennst du ja schon, nicht wahr?«

»Gerne«, sagte ich und lächelte verhalten. Seine aufgesetzte Fröhlichkeit und sein unstetes Gemüt wirkten beunruhigend auf mich. Und doch, er besaß eine einnehmende, großzügige und charismatische Seite, aber irgendwie schien sie von einem Schatten bedeckt. Dieser Schatten strömte unterschwellig etwas Hungriges, Verzweifeltes aus. Und es schien ihm wichtig, vom Gegenüber anerkannt zu werden. Er hungerte nach Zuneigung und Bestätigung. Er war wie Nora gebildet, reflektiert, sensibel und mit einer angeborenen Intelligenz ausgestattet. Ich sah es nicht nur in der Ausdrucksweise, sondern noch mehr im Blick und in der Gabe, das Gegenüber zu lesen, zu erfühlen. Plötzlich begann er voller Begeisterung von dem Restaurant zu erzählen, das er in Zürich eröffnen wolle, eine Art Club. Da müsse ich unbedingt mal vorbei kommen und spielen. Mitten in seinen Worten kam Nora zurück. Offensichtlich erfreute es sie wenig, mich und Ishem an einem Tisch sitzen zu sehen. Ich sagte hallo, sie gab es fade zurück und setzte sich neben Ishem.

»Der coolste Club von Zürich«, sagte Ishem zu Nora, »nicht wahr? Wird es nicht der coolste Club von Zürich?« Sie nickte mit einer Miene, als hätte sie dieses Thema über. Sie setzte die Sonnenbrille auf und blickte zur Seite. An ihren Ohren hingen hübsche silbrige Spiralen, das uralte Symbol der Berberkultur, das Symbol für die ewige Harmonie. Ishem warf mir einen komplizenhaften Blick zu und zuckte mit der Schulter, als wollte er sagen: Diese Frauen! Dann tat sich betretene Stille auf. Plötzlich sagte er mit neuem Mumm: »Nora, der Typ hier ist Musiker. Ich hab ihn für heute Abend eingeladen, wir feiern ein bisschen. Badr, Tarek und Alain werden sowieso da sein. Wir essen was Hübsches und machen ’ne kleine Jam Session. Weißt du was? Ruf doch Pierette an, machen wir eine Paëlla!« Und zu mir: »Magst du Paëlla?«

»Ich liebe Paëlla«, sagte ich aufrichtig.

»Mann, Nora«, maulte Ishem, »wieso sagst du nichts? Wieso hast du die ganze Zeit diese saure Miene auf?«

Sie ignorierte ihn. Ihr Blick zielte über die Straße auf das ausgediente Flugfeld, das sich gegen Süden ausbreitete.

»Passt dir was nicht?«, fragte er. »Hast du wieder mal was gegen meine Freunde? Oder hast du was gegen ihn?« Er deutete mit dem Daumen auf mich. »Oder hast du vielleicht was mit ihm?«

Sie entließ einen entnervten Seufzer der Ungeduld: »Ishem, bitte!« Ihr dünner Mund bewegte sich kaum, als wäre er zu müde zum Sprechen.

Ishem schüttelte verständnislos den Kopf und wandte sich wieder an mich: »Ich sage immer: Freunde sind das A und O des Lebens. Ohne Freunde kannst du einpacken. Hast du Cicero gelesen, seinen Aufsatz über die Freundschaft? Sollte man allen einbläuen. Vor allem ihr.« Nun deutete er mit dem Daumen auf Nora.

»Kluge Worte und wenig Action«, murmelte Nora.

»Action beginnt mit klugen Gedanken und klugen Worten«, konterte Ishem. »Das ist die richtige Einstellung. Da beginnt bei dir schon der Mangel. Du bist der geborene Pessimist, alles ist negativ, ein positiver Gedanke wird gleich mit einem Nein oder einem Aber quittiert.«

»Blablabla«, murmelte Nora und sah beleidigt weg.

»Ja, blablabla«, wiederholte Ishem, »dein Lieblingssatz.«

Ich rief den Garçon, deutete auf alle drei Getränke und streckte ihm eine Note hin. Ishem fuhr mit großer Geste dazwischen und verkündete, das gehe selbstverständlich auf seine Rechnung. Er zog ein Geldbündel hervor und gab dem Garçon eine Note, der Rest sei für ihn. Der Garçon strahlte. Ich bedankte mich bei Ishem, erhob mich und sagte tschüss. Nora schaffte es knapp, den Gruß zu erwidern, schlaff und abwesend.

»Also bis heute Abend«, rief Ishem mir nach.

Gegen acht schritt ich mit meiner Gitarre hoch nach Boulalaam durch den allabendlichen Menschenstrom. In farbige Kleider eingepackte alte Frauen hockten auf dem Boden und boten Kräuter und Wurzeln feil, dahinter eine Parfümerie, daneben eine Wäscherei, ein Imbissladen, ein Haushaltswarengeschäft, ein Eisenwarenhandel, ein Hühnerladen, wo beißender Geruch herausströmte. Stimmen, Rufe, Geplauder, Lachen. Auf den Treppenabsätzen saßen beobachtende Greise in einfachen Gewändern, aber mit würdigen Gesichtern, hier und dort stand eine Gruppe von Frauen und hielt ein fröhliches Palaver, Halbwüchsige schlenderten auf und ab und schielten nach den Mädchen. Ein mit einem schmutzigen blauen Kaftan bekleideter Mann steuerte mit irrem Grinsen und ausgestrecktem Arm auf mich zu und drückte mir die Hand. Zwei stechend schwarze Augen, ein spitzes Kinn mit Bärtchen, mitten drin eine Papageinase, deren Spitze die Oberlippe berührte. Ich wich aus und bog in eine Seitenstraße ein. Auf der einen Seite hing das alte Straßenschild aus der spanischen Zeit: Calle Teniente Ortiz de Zarate, auf der anderen das moderne: Rue Kenitra. Die hatte mir Ishem angegeben, ebenso Noras blauen VW-Bus, der vor dem Haus stand und mir als Erkennungszeichen dienen sollte. Von da führte ein Sackgässchen zwischen bröckelnden rosa Lehmwänden hindurch zu einer zugespitzten blauen Holztür. Die Klingel tönte wie ein Vogelzwitschern. Die Tür ging auf, Nora stand da, streckte mir mit einem höflichen Lächeln die Hand hin, stand zur Seite und bat mich einzutreten. Sie trug einen schwarzen Sweater, Bluejeans und eine grüne Schürze. Die nackten schneeweißen Füße staken in rosa Flipflops. Ihr Gesicht trug ein wenig Farbe, ihre Augen leuchteten, sie wirkte energischer als ein paar Stunden zuvor. Das Haus war im traditionellen Stil gebaut: ein offener Patio, umgeben von rosaroten Lehmmauern, hinter denen sich die Wohnräume und die Küche befanden. Nora entschuldigte sich, sie müsse zurück in die Küche, die Paëlla sei auf dem Herd. Sie verwies mich auf einen Raum, vor dessen Eingang etliche Schuhpaare lagen, Babouches, Turnschuhe, Lederschlappen. Männerstimmen dröhnten heraus, Marokkanisch, Französisch, untermalt mit verhaltenen Gitarrenklängen. Ich zog die Schuhe aus und trat ein. Ein halbes Dutzend Männer sowie eine Frau saßen auf den typischen Sofamatratzen, die sich entlang von drei Wänden zogen, angelehnt an verzierte Stoffkissen. Alle sahen hoch und begrüßten mich einladend. Der schmale Raum war warm und liebevoll eingerichtet, farbige Lampenschirme, weinrote Berberteppiche, an die Wand gehängte traditionelle Musikinstrumente, kleine Nippsachen, eine Stereoanlage, ein Bücherregal voller deutscher, arabischer und französischer Bücher. Obwohl die Tür und das Fenster zum Patio hin offen standen, herrschte dicker Zigarettenqualm vor, gewürzt mit Haschischdämpfen. Auf dem niedrigen Tisch standen Gläser, Wasserkaraffen, Aschenbecher, Zigaretten, Schälchen mit Oliven, Datteln, Mandeln, Rosinen sowie eine angebrochene Rotweinflasche. Ishem, der gerade dabei war, einen Joint zu drehen, erhob sich. Den Anzug hatte er abgelegt, nun trug er einen blauen Trainingsanzug und war barfuß.

»Salut«, sagte er charmant lächelnd, drückte mir die Hand und stellte mich vor in einer Weise, als wären wir schon seit langem die besten Freunde. Ich begrüßte jeden mit einem Händedruck. Badr, ein junger ausgemergelter Berber mit hoch stehendem Haarbusch und einem Herzenslächeln, aber halb verfaulten Zähnen und wässrig roten Augen, teilte mir sofort mit, dass er Bass spiele und eigene Songs habe, die ich mir unbedingt mal anhören müsse. Die beiden Franzosen Alain und Yves begrüßten mich cool, aber freundlich. Yves sagte, er spiele ebenfalls Gitarre, dazu auch Banjo und Mandoline. Neben ihm saß Chafida, seine Frau, eine hübsche dunkelhäutige Berberin mit tiefen schwarzen Augen, aus denen ein neugieriger, selbstsicherer Blick strömte. Dann gab es Mbark, ein arabischer Hüne, der beste Djembé-Spieler, wie Ishem laut verkündete. Jener verließ uns aber einer Verabredung wegen noch vor dem Essen. Zu guter Letzt begrüßte ich Tarek, einen stillen, hellgesichtigen Berber mit einem sensiblen, beobachtenden Blick und einer würdevollen Ausstrahlung. Ich mochte ihn auf Anhieb. Ishem bat mich Platz zu nehmen und mich wie zu Hause zu fühlen. Ich setzte mich neben Tarek. Wir kamen sofort ins Gespräch, auch wenn sein Französisch holprig war. Er war ein multiinstrumentaler Musiker: Schlagzeuger, Gitarrist, Bassist, Perkussionist, Sänger. Auf der Tischplatte demonstrierte er mit den Händen die Vielfalt der marokkanischen Rhythmen. Er erzählte, schon als Dreijähriger hätte er ständig mit den Löffeln auf dem Tisch herum getrommelt, einfach aus einem inneren Antrieb heraus. Als er sechs war, bastelte er sich aus Konservendosen, Kisten und Kübeln ein Schlagzeug, und mit zwölf spielte er in einer lokalen Band und galt als der beste Schlagzeuger in der Gegend. Er hatte sich das Spielen selbst beigebracht. So wie alle anderen Instrumente auch. Nie hatte er ein eigenes Instrument besessen, aber wenn irgendwo welche herumstanden, griff er zu, schaute den andern ab, kopierte, lernte, begriff schnell. Ishem schenkte mir Rotwein ein und schob die Snacks in meine Nähe. Er war ein aufmerksamer Gastgeber, seine Augen waren überall, stets um das Wohl der Gäste besorgt. Hörte er einer Person zu, war sein Ohr gleichzeitig bei einem anderen Gespräch. Ich lobte ihn für das hübsche Haus. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

»Du hättest es vorher sehen sollen«, sagte er. »Eine totale Ruine. Haben wir alles selbst gemacht. Dank Alain. Ohne Alain wären wir aufgeschmissen gewesen. Alain ist ein Baugenie.«

Alains dünner Mund lächelte, und gleichzeitig strich er mit der Zunge über ein Blättchen und rollte einen Joint ein. Er teilte mir etwas mit, doch sein slangartiges Französisch war unverständlich. Er sprach, als hätte er keine Zunge. Ich erhob mich und fragte Ishem nach der Toilette. Im Patio atmete ich tief durch. Der Qualm im Raum war unerträglich. Alle außer Yves, Chafida und Tarek rauchten. Aus der Küche hingegen trat der köstliche Duft von gekochten Meeresfrüchten und Safran. Ich folgte ihm. Nora, ein Glas Weißwein in der Hand, rief erfreut hallo, gab sich aber postwendend wieder reserviert, als bereute sie den kleinen Ausbruch, als versuchte sie mich auf Distanz zu halten. Dabei schien sie sich zuvor gerade amüsiert zu haben, das Lächeln hing ihr noch am Mundwinkel. Sie stellte mich Pierette vor, einer braungebrannten Belgierin, klein gewachsen, grazil, mit einem Sonnengesicht und gewelltem Kastanienhaar, das ihr tief in den Rücken fiel. Sie begrüßte mich warm und herzlich mit zwei innigen Küsse und strahlte mich an. Man hätte sie eher in Spanien als in Belgien angesiedelt. Sie holte sofort ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Weißwein und reichte es mir. Ihre Schokoladenaugen strahlten. Wir stießen an. Nora nahm einen schnellen Schluck und wandte sich ab zum Herd, wo die Paëlla köchelte.

»Schmeckt gut, der Wein«, sagte ich zu Pierette.

»Marokkanischer Weißwein«, erwiderte sie. »Würde man nicht denken, was sie hier an Wein zustande kriegen, nicht wahr?«

Ich deutete auf den Nebenraum und drückte mein Erstaunen über den Alkoholkonsum aus, hätte ich doch eher das Gegenteil erwartet in einem islamischen Land.

»Geh mal in eine der drei Bars, die wir hier haben«, sagte Nora über die Schulter hinweg, »dann wirst du staunen, wie viel vom Islam übrig geblieben ist.«

»Das ist ein wenig übertrieben«, sagte Pierette. »Es ist nur ein kleiner Teil, der trinkt.« Ihre kehlige Stimme eierte, sie hatte offenbar schon einiges intus. »Ich sehe täglich, wer da raus und reingeht in den beiden Bars am Strand. Es sind immer dieselben.«

»Pierette hat ein kleines Restaurant unten am Strand«, sagte Nora über die Schulter. »Belgische Spezialitäten. Moules et Frittes.«

»Komm mich mal besuchen!«, sagte Pierette und zündete sich eine Zigarette an. Nora schickte sie hinaus, sie wolle keinen Qualm in der Küche. Dann machte sie sich daran, die Gerätschaften abzuwaschen und die Anrichte zu reinigen, mir den Rücken zugekehrt. »Hübsch, euer Haus hier«, sagte ich, um die unangenehme Wortlosigkeit zu durchbrechen. »Alles wirklich hübsch gemacht.«

»Es ist mein Haus«, sagte Nora, ohne sich umzudrehen.

»Oh, entschuldige«, sagte ich, verblüfft über ihre plötzliche Brummigkeit. »Ishem sprach vorhin von eurem Haus.«

Sie senkte den Kopf und atmete tief durch, als versuchte sie sich zu sammeln. Dann drehte sie sich um, lehnte sich an die Anrichte, nippte am Wein und musterte mich über den Glasrand hinweg. Ihre Iris war von einem wässerigen Hellblau, darin ein tiefschwarzer geweiteter Punkt, das Weiße drum herum leicht gerötet. Wir sahen uns ungewollt lange in die Augen, und es schien mir, als lächelte sie hinter dem Glas. Sie war undurchschaubar, rätselhaft. Im selben Moment trat Ishem ein, eine Zigarette zwischen den Lippen. Sein Blick fuhr prüfend von mir zu Nora und zurück, als hegte er einen Verdacht. Er legte einen Arm um Noras Hüfte und setzte ein lässiges Lächeln auf. Nora verharrte wie ein Stein.

»Na, amüsiert ihr euch?«, fragte er aufgesetzt fröhlich. »Was habt ihr euch denn Schönes zu erzählen?«

»Wir sprachen gerade über dich«, sagte Nora.

»Über mich?« Ishem war verblüfft. »Was denn?«

Nora löste sich und sah nach der Paëlla. »War bloß ein Scherz. Kannst du bitte draußen rauchen? Du verpestest die Küche.«

Ishem ließ einen theatralischen Seufzer und ging hinaus. »Sie mag dies nicht und sie mag das nicht.«

»Ishem, deckst du bitte den Tisch?«, rief sie ihm nach. Sie probierte den Reis: »Hm, scheint gar zu sein.«

Wir aßen eine vorzügliche Paëlla, die Europäer mit Gabel und Messer, die Marokkaner mit den Händen. Ishem dominierte das Gespräch. Er besaß ein enormes Wissen und sprach nebst Arabisch und Tashelhaït fließend Deutsch, Französisch, Englisch und Spanisch. Zu allem hatte er eine Meinung und gab sich stets Mühe, sich ausgewählt auszudrücken. Es gab nichts, das er nicht kannte, das er nicht schon erlebt hatte. Je mehr er trank, desto überschwänglicher wurde er. Nach dem Essen besorgten die Frauen sogleich den Abwasch. Alain und Ishem rollten neue Joints, während Badr und ich ein wenig auf den Gitarren improvisierten. Yves spielte Soli auf der Mandoline, Tarek klopfte auf einer Terbuka den Shäbi, den Rhyhtmus der hiesigen Volksmusik. Dann servierten Pierette und Nora einen Obstsalat, und Ishem bereitete den Tee zu. Er schüttete einige Löffel Grüntee in ein Aluminiumkännchen, wusch den Tee aus, goss Wasser nach und heizte das ganze auf einem Gasbrenner auf. Als der Tee zu sieden begann, stellte er das Gas aus. Er steckte einen Minzzweig hinein, fügte ein halbes Dutzend Zuckerwürfel hinzu und schenkte aus gut dreißig Zentimeter Höhe ein. Ein dünner grüner Strahl ergoss sich aus dem Schnabel und plätscherte präzis in das schlanke Glas, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. Kurz bevor das Glas voll war, senkte er die Kanne in einem Schwung. Er goss das Glas ins Kännchen zurück und wiederholte das Hin- und Hergießen ein paar Mal. Als es genug war, füllte er das erste Glas in ein zweites und dieses wieder zurück ins erste, gut ein Dutzend Mal. Auf der Oberfläche bildete sich ein seidiger Schaum, der bei jedem Umgießen ein wenig anwuchs. Ishems Gesicht leuchtete vor konzentrierter Feierlichkeit.

»Hörst du?«, sagte er zu mir. »Beim Umschenken muss das Plätschern einen ganz bestimmten Ton produzieren, nur dann entsteht der richtige Schaum. Das hier ist der echte Sahara-Tee.« Endlich füllte er auch die restlichen Gläser, und wieder floss der Strahl aus großer Höhe und produzierte ein luftiges Schäumchen. Ich wollte wissen, was es mit diesem Eingießen und Zurückgießen auf sich habe und weshalb er die Kanne beim Einschenken in die Höhe halte.

Ursprünglich stamme diese Prozedur von den Sahrawi-Nomaden, erklärte er. »Weißt du, der vom Wind verwehte feine Sand bleibt im Schaum hängen und vermischt sich so nicht mit dem Tee. Man löffelt ihn einfach weg. Und der Schaum zeichnet die Qualität des Tees aus.«

»Ach, das ist doch alles nur Gerede«, warf Yves ein. »Der wahre Grund liegt doch darin, dass die Leute ursprünglich keine Löffel hatten und der Zucker nur durch das Ein- und Ausgießen gemischt wurde. Und das Einschenken aus großer Höhe macht man schlicht deshalb, um den Tee abzukühlen.«

Ishem servierte die Teegläser. Auf seiner Miene lag ein Ausdruck der Missbilligung. »Bist du hier aufgewachsen?«, fragte er Yves. »Warst du schon mal in der Wüste? Ich meine richtig in der Wüste.«

»Nein«, sagte Yves gelassen. »Aber vielleicht können wir ja mal zusammen raus fahren? So richtig in die Wüste?«

Ishem machte eine Kunstpause, dann sagte er: »Und du glaubst also, dass erst die Franzosen den Löffel bei uns eingeführt haben?«

Yves entschuldigte sich und sagte, er habe ihn nicht beleidigen, sondern bloß seine Überlegung mitteilen wollen. Im Grunde genommen gefiele ihm die Prozedur ja sehr. In versöhnlichem Tonfall fragte er, welches denn der beste Tee sei, er suche schon lange danach. Die Auswahl hier sei so unendlich groß, so dass man sich gar nicht entscheiden könne. Ishem schien beschwichtigt, denn Yves’ Entschuldigung war aufrichtig und sein höflicher Ton zollte ihm Respekt. Er zeigte Yves die Packung mit der Sorte Tee, auf die er seit Jahren schwor. Yves notierte die Marke, dann verglich er den Teegenuss mit dem Kaffeegenuss in Europa. In den europäischen Läden gebe es genauso viele Kaffeesorten wie hier Teesorten. Pierette stimmte ihm zu und lobte im selben Atemzug die hiesigen Lebensmittel, die Vielfalt an Obst und Gemüse, und sie schwärmte vom frischen Fisch.

»Die Moules hier sind von erster Qualität«, sagte sie. »Sie wachsen auf den Felsen, nicht wie im Mittelmehr an Pfählen in der Nähe der Abwässer.«

Ishem erklärte, das Meer vor Sidi Ifni sei das reichhaltigste auf der ganzen Welt und mit dem besten Fisch, da der Meeresboden voll von bewachsenem Fels sei und nicht nur Sand wie beispielsweise unten in Dakhla. Bewachsener Fels liefere die beste Nahrung.

»C’est vrai ou non?«, fragte er Tarek. »Du bist doch der Experte hier.«

Tarek bejahte einsilbig, aber nicht unhöflich, stets respektvoll. Indes, es schimmerte durch, dass er nicht viel von Ishem hielt. Tarek wirkte lustlos und gelangweilt. Ishem indes schien übergroßen Respekt vor Tarek zu haben, mehr als vor allen andern. Vielleicht weil Tarek etwas Würdevolles und Großes ausstrahlte und unmöglich manipuliert werden konnte, und vielleicht weil er spürte, was Tarek wirklich von ihm hielt.

Nora kritisierte das Fleisch, das in Ifni verkauft würde, es sei zäh und habe einen starken Geschmack.

»Es kann ja nicht alles nur immer gut sein«, brummte Ishem, »nicht wahr? Ist Sidi Ifni etwa das Paradies oder was?«

Als hätte Nora den Startschuss gegeben, wurde plötzlich dieses und jenes kritisiert: die vielen Abfälle, der Mangel an ökologischem Bewusstsein, zu viel Plastik, zu viel von diesem, zu wenig von jenem, das eine gut, das andere schlecht. Yves sagte, er litte öfters unter Kopfschmerzen, und er habe gehört, anderen Leuten erginge es ähnlich, auch Einheimischen.

»Frag mal Nora!«, sagte Ishem, »sie hat die ganze Zeit Kopfschmerzen.«

»Ich habe nicht die ganze Zeit Kopfschmerzen«, erwiderte Nora giftig.

»Nein, natürlich nicht. Bloß die halbe Zeit.«

»Ohne dich hätte ich vielleicht überhaupt gar keine.«

Er sah sie finster an, für einen Moment stumm. Er begann einen Joint zu rollen und wandte sich an die Runde und gab eine Erklärung ab für die Kopfschmerzen: In Sidi Ifni gebe es ein einzigartiges meteorologisches Phänomen. Feuchte salzige Meeresluft vermische sich über der Stadt mit der trockenen Luft, die sich am gegenüber liegenden Hügel staue. »Die vermischte Luft hängt reglos wie in einem Kessel über der Stadt und lädt sich durch den Salzgehalt elektromagnetisch auf. Und das kann zu Kopfschmerzen führen.«

»Aber bläst hier nicht ständig der Wind?«, fragte ich. Er ignorierte mich vorerst und tat mit seinem Joint beschäftigt. Indes, es war in seinem Gesicht zu lesen, dass er nur ungern in Frage gestellt wurde. Und soeben war er von seiner Frau abgekanzelt worden. Seine Nerven schienen überreizt, und seine Sinne registrierten alles, was um ihn herum abging. Ständig las er zwischen den Zeilen, als fürchtete er sich vor Kritik. Er rollte den Joint zu, strich mit der Zunge über das Blättchen, schloss ihn, zündete ihn an, blies eine Wolke gegen die Decke und fixierte mich: »Seit wann bist du denn hier?«

»Zwei, zweieinhalb Wochen«, antwortete ich.

»Zwei, zweieinhalb Wochen, soso. Und diese zwei, zweieinhalb Wochen blies ständig der Wind, nicht wahr?«

»So weit ich mich erinnere, ja. Vor allem Nordwind.«

Ishem taxierte mich: »Du bist also zwei, zweieinhalb Wochen hier, es gibt ein wenig Nordwind, und du schließt daraus, dass das ganze Jahr über der Wind bläst?«

»Nein. Ich hatte damit nur andeuten wollen, dass mir die Erklärung vorhin mit diesem elektromagnetisch geladenen Luftgemisch ein wenig seltsam vorkommt.«

»Aha, seltsam«, sagte er mit kritischem Blick. »Du bist seit zwei, zweieinhalb Wochen in Sidi Ifni und weißt schon Bescheid darüber, was hier seltsam ist und was nicht? Schön.«

Ich zuckte mit den Schultern und bereute meinen Einwand. »Vermutlich hast du Recht«, sagte ich. »Und es ist ja auch egal.« Eine angespannte Stille herrschte in dem schmalen Raum, alle Augen auf mich und Ishem gerichtet. »Ich könnte mir vorstellen«, sagte ich zu Yves, »dass die Kopfschmerzen eher mit den vielen Mobiltelefonantennen zusammen hängen. Vielleicht liegt ja da der Grund für die elektromagnetische Aufladung der salzigen Luft, so eine Art Elektrosmog. Vielleicht in Kombination mit Ishems Theorie.«

»Ja, das könnte gut sein«, stimmte mir Nora zu. »So etwas habe ich auch schon vermutet.«

»Ich war auf dem Hügel da oben«, fuhr ich fort, »und sah mir die Stadt aus der Vogelperspektive an. Ich staunte, wie viele Antennen zwischen den Häusern und sogar auf den Dächern stehen.«

»Der Hügel heißt Boulalaam«, sagte Ishem, »so wie das Quartier. Al Alaam heißt auf Arabisch Fahne. In alten Zeiten schwenkte die Wache da oben die Fahne, wenn auf der anderen Seite eine Karawane gesichtet wurde.«

»Die Aussicht da oben ist fabelhaft«, sagte ich.

»Neulich haben sie da oben eine Leiche gefunden. Der Kopf lag abgeschnitten auf der Brust.«

»Nein!«, rief Pierette mit aufgerissenen Augen.

»Ja, davon habe ich auch gehört«, sagte Alain, der bekifft im Kissen hing und sich mühsam aufrichtete, um noch etwas anzufügen. Aber im selben Moment klingelte Ishems Telefon, das vor ihm auf dem Tisch lag. Keiner sprach weiter, als wollte es jeder vermeiden, Ishem zu stören.

»Ah, Roger, mon frère«, schrie Ishem überschwänglich ins Telefon. »Comment vas-tu? Bien? Tout bien? …« Es ging vorerst um nichts, bloß: wie geht’s, wo bist du, was machst du und so weiter. Aber plötzlich wurde Ishems Miene ernst. Er hörte konzentriert zu, dann antwortete er, er könne jetzt nicht darüber reden, er habe Gäste hier. Und sogleich wurde er wieder munter und lud Roger ein, hierher zu kommen, ein paar Musiker seien hier. »Oui, une petite fête, et les musiciens comme toujours. A toute à l’heure mon frère.«

Nora sah ihn fragend an: »Roger?« Ishem nickte. »Und? Wie sieht’s aus?«, fragte Nora mit einem Gesicht, als wartete sie seit Wochen auf eine bestimmte Antwort.

»Später«, sagte Ishem. Nora verzog den Mund und durchbohrte Ishem mit eisigem Blick. Er ignorierte sie und wandte sich an Alain: »Du hast also von der Leiche gehört?«

»Non, eh, oui«, stammelte Alain. Er konnte kaum mehr sprechen und murmelte etwas Unverständliches. Auch Yves, Badr, Chafida und Tarek hatten von der Leiche gehört, wussten aber nichts Genaues darüber. Das Ereignis lag schon eine Weile zurück.

»Ein Ritualmord«, sagte Ishem feierlich. »Bei den alten Berberstämmen war so etwas nicht ungewöhnlich. Alte Fehden endeten oft so. Mein Vater erzählte mir früher laufend solche Geschichten aus seiner Heimat.« Er deutete mit dem Kopf in Richtung Hügel. »Irgendwer scheint da zu einer alten Tradition zurück gefunden zu haben.«

»Du bist doch hoffentlich nicht Berber?«, sagte Yves ironisch.

»Natürlich bin ich Berber! Wir alle hier sind Berber! Tarek, Chafida, Badr. Aber mach dir keine Sorgen«, fügte er lachend an, als er endlich Yves’ Ironie erkannt hatte, »wir sind moderne Berber.«

»Ich bin Berberin vom Norden«, sagte Chafida zu mir, »ich habe andere Wurzeln und spreche Tamazight. Es gibt drei Berberdialekte: Tashelhaït, Riffi und Tamazight.«

»Aber es gibt auch Araber hier«, meldete sich Pierette mit schwankender Stimme.

»Sicher doch«, sagte Ishem. »Mbark beispielsweise ist Araber. Schade, dass er schon gegangen ist. Ein genialer Drummer! Aber weißt du«, fuhr er an mich gerichtet weiter, »ursprünglich war dies hier ein Berberland. Die Araber kamen erst im 8. Jahrhundert. Moulay Idriss, ein direkter Nachkomme vom Propheten Mohammed, war der erste König. Aber gewisse Leute sagen, dass Oqba Ibn Nafi der erste war, der …«

»Erzähl uns nicht schon wieder die Geschichte Marokkos«, sagte Chafida leicht genervt.

Ishem sah sie missbilligend an.

Yves sagte: »Aus was für einer Ecke stammt denn dein Vater, dass er dir Geschichten von abgeschnittenen Köpfen erzählt?«

»Amtoudi«, sagte Ishem säuerlich.

»Kennst du Amtoudi?«, fragte mich Pierette. »Es ist wunderschön.«

»Mein Großvater war Stammesführer in Amtoudi«, fuhr Ishem fort, nun an mich gerichtet. »Meine Familie besitzt noch ein Haus dort. Nora und ich könnten jederzeit dort hinziehen, wenn wir wollten, und ich wäre erneut Stammesführer.«

»Theoretisch«, warf Nora ein, deren bekiffte und betrunkene Augen kaum noch unter den Lidern hervor sahen. »Wenn es noch einen Stamm gäbe. In der Zwischenzeit regieren auch dort Fernsehen, Handy und Internet.«

»Niemand sagt, dass ich da ja wirklich hinziehen will«, sagte Ishem gekränkt. »Amtoudi liegt am Arsch der Welt.«

»Aber es ist wunderschön«, wiederholte Pierette.

»Und wieso kam deine Familie denn hierher?«, wollte ich von Ishem wissen.

»Mein Vater zog als Kind zu einem Onkel nach Sidi Ifni, um hier die Schule zu besuchen. Er wollte etwas aus sich machen.«

»Und du zogst in die Schweiz, um etwas aus dir zu machen?«, sagte Yves scherzhaft.

»Haha«, machte Ishem. »Weißt du was? Ich rate jedem Marokkaner ab, nach Europa zu gehen. Und übrigens sollten wir Marokkaner zurzeit sowieso den wirklich geplagten Flüchtlingen aus Syrien und der ganzen Horrorecke da drüben den Vortritt lassen. Die haben echt einen Grund. Aber wir? Und wozu? Wenn du mal dort im schönen Europa gewesen bist, lernst du dein eigenes Land wieder schätzen. Dort bist du ja eh nur zweite Klasse und die ganze Zeit mit deinen eigenen Leuten zusammen. Wozu also das ganze? Der Kohle wegen? Und dafür den ganzen Mist ertragen?«

»Mist?«, protestierte Nora. »Wer schwärmt denn die ganze Zeit von einem Club in Zürich? Von der großen Kohle, die da zu machen ist?«

»Mon dieu«, rief Chafida, »ihr seid beide so widersprüchlich! Ihr kritisiert dies und das, aber wenn es darum geht, euch gegenseitig fertig zu machen, dann schlägt der Wind auf der Stelle um, und ihr kritisiert das Gegenteil.«

»Sie sind sehr menschlich«, warf ich ein.

»Menschlich?«, rief Chafida. »Was ist daran menschlich? Bei euch vielleicht.«

»Der Mensch ist ein wandelnder Widerspruch«, sagte Ishem lakonisch. »Vor allem der Marokkaner.«

»Ishem«, sagte Yves, »mal ehrlich: Wo wohnst du denn lieber? Hier oder dort?«

Ishem fixierte ihn, dann begann er mit dramatischer Stimme: »Als Gott den Menschen schuf, präsentierte er diesen dem Teufel: ›Schau mal‹, sagte er zum Teufel, ›ich habe den Menschen erschaffen. Was hältst du von ihm?‹ Der Teufel verglich ihn mit sich selbst, und sofort ergriff ihn Eifersucht, denn der Mensch war offensichtlich besser als er selbst, gottähnlich.« Ishem sah abwartend in die Runde.

»Und die Moral der Geschichte?«, fragte Yves.

»Hätte der Teufel den Menschen nicht mit sich selbst verglichen, dann hätte er ein neutrales Urteil abgeben können. Der Vergleich aber verbitterte ihn. Der Vergleich ist des Teufels. Je mehr du vergleichst, desto schlechter geht es dir. Frag mal Nora, sie ist eine Spezialistin im Vergleichen.«

»Ich?«, schrie Nora.

»Jedes Ding hier wird mit der Schweiz verglichen, und in der Schweiz ist natürlich alles besser.«

»Ha, du solltest dich mal hören, wenn wir in der Schweiz sind.«

»Der Unterschied ist, dass ich in der Schweiz bloß gewisse Dinge vermisse, während du hier alles kritisierst. Du siehst ständig alles negativ. «

»Ja, das stimmt«, sagte Nora giftig. »Das einzig Positive bist du.«

Ishem wandte sich an mich: »Jedes Mal, wenn Nora ausgeht, kommt sie mit Kritik zurück, irgendwas Nerviges.«

»Aber du regst dich doch genauso auf, und zwar über dieselben Dinge«, protestierte Nora.

Ishem lachte: »Erst seit ich dich kenne. Seit du mich darauf aufmerksam gemacht hast. Du hast mich infiziert.«

»Bin ich also Schuld, ja? Zuvor noch warst du apathisch und gleichgültig allem gegenüber, so wie alle andern, nicht wahr?«

»Du findest also die Leute hier apathisch und gleichgültig?«, zischte Ishem. Nora sah weg, mit einer Miene des Überdrusses. »Ich glaube«, fuhr Ishem fort, »was du eigentlich sagen willst …«

»Sag mir nicht, was du glaubst was ich eigentlich sagen will!«, fuhr Nora scharf dazwischen.

»Was du eigentlich sagen willst«, sagte Ishem hartnäckig, »hat nichts mit Apathie und Gleichgültigkeit zu tun. Es ist unsere Mentalität. Aber die hast du ja bis heute noch nicht begriffen. Kein Wunder kriegst du es hier nicht auf die Reihe.« Ishem wandte sich wieder an mich, als hätte er mich zur Jury auserwählt: »Beispielsweise die Schuhmachergeschichte: Wenn du hier in Ifni beim Schuhmacher die Schuhe holen gehst, sind sie nie ganz fertig. Der Schuhmacher beendet die Arbeit in deiner Gegenwart. Er putzt und poliert sie noch, und du musst dabei zusehen und warten. Als wollte er dir demonstrieren, wie sorgfältig er arbeitet. Egal ob du nach zwei Tagen oder zwei Wochen hingehst. Für mich war dies normal. Nie hatte ich mir Gedanken darüber gemacht. Aber Nora nervt es, kann es nicht verstehen.«

»Und dann begann es auch dich zu nerven?«, fragte ich.

»Genau. Ich stand unter ihrem Einfluss.«

»Bist du eine Fahne oder was?«, fragte Nora höhnisch. »Weißt du was? Du hättest Sidi Ifni am besten gar nie verlassen sollen.«

»Wohingegen es bei dir egal ist, wo du bist. Du kritisierst alles, überall. Die Größe deines Herzens hängt von deinen Launen ab.« Und zu mir: »Ihre schlechte Laune hängt an ihr wie ein Wettertief, wo die Sonne nur selten durchs Gewölk zu scheinen vermag.«

»Oh, unser Poet«, giftete Nora. »Der verhinderte Künstler.«

Ishem sah bitter zu Boden und wollte gerade kontern, aber Chafida, deren Geduld am Ende schien, kam ihm zuvor:

»Könnt ihr das bitte später unter vier Augen austragen«, sagte sie. Und zu Yves: »Gehen wir? Ich bin müde.«

»Und was habt ihr denn an eurem eigenen Land auszusetzen?«, fragte Pierette in einem Tonfall, als wollte sie die Spannung zwischen den beiden auflockern. »Du, Ishem, an Marokko beispielsweise?«

Ishem schien froh über die Ablenkung. »Mein Land ist perfekt«, sagte er und lachte künstlich auf. »Nein, im Ernst, es gibt hier viel auszusetzen. Oder sagen wir so: Ein Marokkaner, der sein Land nie verlassen hat, toleriert sehr viel. Wenn er von Europa zurückkommt, sieht er alles mit neuen Augen.«

»Der Teufel, nicht wahr?«, sagte Yves.

»Genau. Zuverlässigkeit und Bürokratie beispielsweise. Dort perfekt, hier ein Alptraum. Hierzulande gilt kein Wort. Fünf Minuten können fünf Stunden heißen, und morgen kann in einer Woche sein. Und die Leute sind rückständig.«

»Findest du?«, sagte Yves.

»Er nervt sich ständig über diese Sache mit der alten Währung«, giftete Nora.

»Alte Währung?«, fragte ich.

»Der Rial«, sagte Ishem. »Das ist die alte Währung. Sie wurde damals von den Spaniern übernommen und 1912 vom Franc und dieser 1957 vom Dirham abgelöst wurde. Im Norden rechnen sie auch noch mit dem Duro, das sind fünf alte Pesetas oder zweieinhalb Dirham. Und ein Dirham sind zwanzig Rial. Viele Leute rechnen immer noch mit dem Rial. Auch mein Vater. So wie sein Vater, sein Großvater, sein Urgroßvater. Das ist typisch hier: Was schon immer war, ist gut und dauerhaft. Deswegen sind wir ein wenig rückständig.«