Sie behandelten uns wie Tiere - Célia Mercier - E-Book

Sie behandelten uns wie Tiere E-Book

Célia Mercier

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Beschreibung

ugust 2014, die Jesidin Sara steckt gerade mitten in den Vorbereitungen zu ihrer Hochzeit, als IS-Soldaten ihr Dorf im Irak überfallen. Sie ermorden alle Männer und nehmen die Frauen und Kinder mit. Die jungen Mädchen werden allesamt von ihren Müttern getrennt und von den islamistischen Terroristen als Sexsklaven missbraucht. Sara hat bei dem Angriff drei ihrer Brüder und ihren Vater verloren. Gemeinsam mit ihren Schwestern ist sie gefangen genommen. Gewalt wird zum Teil ihres Lebens. Nach Wochen des Leidens und der Angst gelingt ihr schließlich die Flucht nach Kurdistan und später nach Frankreich. Was aus ihrer Familie geworden ist, weiß sie bis heute nicht. Sie behandelten uns wie Tiere erzählt die Geschichte dieser mutigen Frau, die sich heute ganz offen gegen den IS stellt. In aller Öffentlichkeit, in Zeitungen und im Fernsehen klagt sie den IS an und nimmt jede Gelegenheit wahr, für eine Welt ohne Terrorismus zu kämpfen.

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Seitenzahl: 177

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

Originalausgabe

1. Auflage 2017

© 2017 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

© der Originalausgabe: Éditions Flammarion, Paris, 2015

Die französische Originalausgabe erschien 2015 bei Éditions Flammarion unter dem Titel Ils nous traitaient commes des bêtes.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Martin Bauer

Redaktion: Petra Holzmann

Umschlaggestaltung: Verena Frensch, München

Umschlagabbildung: tandem/shutterstock.com

Satz: inpunkt(w)o Haiger, www.inpunktwo.de

ISBN Print 978-3-86882-808-5

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-054-1

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-055-8

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Am Anfang …

Eine Kindheit im Sindschar

Ein endloser Krieg

Ein verliebter Junge

Asads Abenteuer

Der letzte Sommer

Die Männer in Schwarz

Der Weg in die Berge

Nadirs Geschichte: Die Männer von Kocho

Sie rauben die Kinder!

Miriams Geschichte: Vom Emir ausgesucht

Ein zerbrechlicher Schatten

Samias Geschichte: Das Martyrium der jungen Mädchen

Die Rückkehr der Buben

Ein schlimmer Kerker

Asads Geschichte: Warten

Das nächste Mal

Miriams Geschichte: Babur, der Grausame

Eine Eisenstange

Miriams Geschichte: Verzweifelte Flucht

Ein seltsamer Traum

Die Rauchsäule

Blut im Schuh

Die Kuppel eines Heiligtums

Unsere Nachbarn, die Verräter

Die Abwesenheit

Das Gesicht meiner Schwestern

Epilog

Anhang

Zeugenaussage von Amina Saeed

Zeugenaussage von Nada

Vorwort

Ein fensterloser Rohbau mit nackten Betonwänden. Eisig dringt die Winterluft in jeden Winkel, durch Plastikplanen und Kartons, die Sara1 und ihre Familie halbwegs gegen die feuchte Kälte schützen sollen. Sara, eine junge Frau von 29 Jahren, trägt einen langen beigefarbenen Rock und eine dicke Jacke sowie einen Baumwollschal um den Kopf, um sich warm zu halten. Sie bereitet Tee für ihre Tanten, Cousinen und ihren Bruder. Etwa zwanzig Menschen leben hier zusammengepfercht, die einzigen Überlebenden einer großen, in alle Winde zerstreuten Familie. In Decken gehüllt sitzen sie um einen Kerosinkocher, die Kinder warten, bis sie mit dem Baden dran sind. Na ja, baden: Notdürftig reinigt man sich in einem Bottich mit lauwarmem Wasser in einer winzigen Toilette am Eingang des Hauses. Eines der Kinder ist die zweieinhalbjährige Ester. Sie hat ein fröhliches Gesicht und ist dick in rosa Kleidung eingemummelt.

Wie jeden Tag will Ester ihren Vater Servan anrufen. Ihre Tante Sara reicht ihr ein ausgeschaltetes Handy. Die Kleine hält es sich ans Ohr: »Hallo, Papa! Wann kommst du wieder? Wann küsst du mich wieder auf die Augen? Du fehlst mir!«

Servan liegt seit August in einem Massengrab am Rande von Kocho. Doch die Familie spielt der Kleinen weiter Theater vor. Ein Stück, an dessen Ende alle Männer gesund wiederkehren, in der das Leben dort wieder weitergeht, wo es zuvor unterbrochen wurde. Jeder klammert sich an eine verrückte, irrationale Hoffnung. Den ganzen Tag hofft man auf Neuigkeiten über das Dutzend Familienmitglieder, das der Daesch entführt hat. Manchmal rufen die Frauen und Mädchen an. Wenigstens leben sie noch, doch sie werden an verschiedenen Orten gefangen gehalten, als Sexsklavinnen des Kalifats.

Berivan, Saras Tante, schluchzt in zwei dicke Decken gehüllt: »Mein Mädchen, ich will mein Mädchen zurück. Seve, meine Süße, wo bist du?« Diesen Sommer wurde Seve ihrer Mutter entrissen. Sie ist zwölf Jahre alt. Sie wurde verkauft, wie ihre Cousinen. Traurig seufzt Sara: »Berivan isst nicht mehr, sie ist schon völlig abgemagert.« In diesem Haus, in dem die Geister der Abwesenden spuken, hat niemand Appetit, niemand schläft nachts gut. Kedschal, eine andere Tante, klagt: »Hätten sie uns doch nur umgebracht, anstatt unseren Töchtern das anzutun!« Im Hintergrund läuft der Fernseher und berichtet live vom Krieg. Nachrichten, Kampfszenen, Waffendonnern, Videoclips zu Ruhm und Ehre der Peschmerga, der Kurdenmiliz im Irak. Manchmal erfüllt auch ein Klagechor das Haus. Die Frauen brechen unvermittelt in Tränen aus, klagen gemeinsam und schreien ihre Verzweiflung hinaus. Der Schmerz bricht in Wellen über sie herein, schnürt ihnen die Kehle zu und lässt sie betäubt, stumpf zurück. Warum hat man sie in diese Hölle gestürzt? Warum hört der Albtraum nicht auf? Wer soll eine derart grausame Folter überstehen? Die Warterei auf Neuigkeiten oder andere Zeiten zermürbt alle.

Der Rohbau steht auf einem matschigen Hügel, von hier sieht man bis zum Horizont Flüchtlingszelte. Denn Sara und ihre Familie sind nur einige wenige Flüchtlinge von eineinhalb Millionen, die vom Krieg auf die Straßen Kurdistans geworfen wurden, die flohen, um ihr Leben zu retten. Jetzt leben sie in Notunterkünften. Für die Jesiden, eine religiöse Minderheit Kurdistans, begann die Tragödie im August 2014, während der Sommerferien. Die ganze Welt kennt die surrealen Bilder, die damals überall in den Nachrichten zu sehen waren. Bilder von einem Exodus biblischen Ausmaßes, Bilder verstörter Menschen, die über staubige Wege irren; Frauen, Männer, Kinder, die in Todesangst vor den Kämpfern des Daesch (der sich selbst gerne Islamischer Staat nennt) flüchten.

Unter der sengenden Sonne der Provinz Ninive versuchen Jesiden, ihr nacktes Leben zu retten, indem sie in die ihnen heiligen Sindschar-Berge fliehen. Doch die Schwächsten unter den Zehntausenden Flüchtlingen sterben. Nach drei, vier, fünf Tagen gibt es nichts mehr zu essen, nichts mehr zu trinken. Mütter schlitzen sich die Adern auf, um ihren Kindern etwas Flüssiges bieten zu können. Es gibt keinerlei Schutz vor der Sonne. Die Babys verenden, eines nach dem anderen, die Alten legen sich zum Sterben in den Staub. Die Toten werden auf die Schnelle mit groben Steinen bedeckt, das war’s. Die Berge schlossen sich wie eine Falle um ein ganzes Volk – bis zum mutigen Eingreifen der syrischen Kurdenmiliz YPG, die, von amerikanischen Streitkräften unterstützt, den Jesiden einen Korridor ins türkische Kurdistan öffneten. Auf diejenigen, die dem Daesch in die Hände gefallen sind, warten der Tod oder die Gefangenschaft in den blutigen Klauen einer fanatischen Sekte. Männer werden massenhaft hingerichtet, mit Kopfschüssen. Oder sie werden von Bulldozern lebend begraben. Die Frauen werden gefangen gehalten und als Sex-Sklavinnen verkauft wie Vieh. Sie sind Kriegsbeute und dienen der Motivation der Truppe.

Die Gemeinschaft der Jesiden lebt in der Region Sindschar und umfasst etwa 600.000 Mitglieder. Seit Jahrhunderten trotzen sie den Widrigkeiten des dortigen Lebens, 73 Massaker wurden nach ihrer Zählung im Lauf ihrer langen Geschichte bereits an ihnen verübt.

Im Sommer 2014 erleben sie das 74. und grausamste von allen. Wieder einmal werden die Jesiden wegen ihrer Religion verfolgt, eines uralten und einzigartigen Glaubens. Der Jesidismus hat seine Wurzeln im antiken Persien. Jesiden glauben an einen Gott an der Spitze eines Rats von sieben Engeln, von denen Melek Taus, der Engel in Pfauengestalt, Gottes Liebling ist.

Woher kommt so viel Hass gegen eine friedliche Gemeinschaft, die in einer abgelegenen Region ihre Felder bestellt und Schafe züchtet? Die Fanatiker des Islamischen Staats betrachten Jesiden als Teufelsanbeter, Untermenschen, die bekehrt oder umgebracht gehören.

Die Tragödie ist keineswegs beendet, noch immer befinden sich Tausende Menschen in der Gefangenschaft des Daesch. Die Frauen, die ihren Häschern entwischen konnten, erzählen Horrorgeschichten: von Mädchen, die verkauft oder verlost werden, von Massenvergewaltigungen in verlassenen Häusern.

»Die Männer des Daesch nahmen sich vor, keinem Mädchen seine Unschuld zu lassen«, erklärt eine junge Aktivistin, die etliche Zeugenaussagen gesammelt hat. »Was aber nicht bedeutete, dass sie verheiratete Frauen in Ruhe ließen.« Etliche Mädchen wurden mehrmals weiterverkauft. Wer sich sträubte, wurde an alte Männer weitergereicht. Und wer zu fliehen versuchte, wurde zusammengeschlagen. Einige Frauen wurden mit Stromstößen umgebracht. In den Nächten suchen Albträume die Überlebenden heim. Einige von ihnen ließen sich mit dem Rest ihrer Familie in Dohuk nieder, einer irakischen Provinz des autonomen Kurdistans. Hier befinden sie sich in Sicherheit vor den Kämpfern des Kalifats. Die 1,3 Millionen Bewohner der Provinz wurden von dem Ansturm des Daesch verschont, doch inzwischen leben dort auch 800.000 Flüchtlinge, zum Großteil Jesiden, in Rohbauten und endlosen Zeltstädten. Wann werden sie in ihre Dörfer zurückkehren können? Sie wissen es nicht. Und was sollten sie dort auch noch? Regiert von irakischen Politikern, die sie im Stich gelassen, und umgeben von ihren arabischen Nachbarn, die sie verraten haben? Die meisten Jesiden wollen das Land verlassen, hier sehen sie keine Zukunft mehr für sich. Ihr Volk ist ermordet oder in alle Winde zerstreut, ihre alte Kultur liegt am Boden, die Familien sind auseinandergerissen.

Im Kulturzentrum Lalisch, das sich der Pflege der jesidischen Kultur widmet, versuchen zahlreiche Aktivisten, die Verbrechen gegen die Jesiden zu dokumentieren. Von Flüchtlingslager zu Flüchtlingslager, von Dorf zu Dorf ziehend, befragen sie ehemalige Gefangene, sammeln Berichte, nehmen Zeugenaussagen auf, tragen Fakten zusammen. Für die Zukunft unverzichtbares Material: Die kurdische Regierung hat ein Komitee eingesetzt, das den Genozid an den Jesiden vor die internationalen Gerichtshöfe bringen soll.

Saras erschütternde Geschichte, die hier im Buch durch die Aussagen weiterer Opfer ergänzt und belegt wird, zeugt vom teuflischen Plan des Daesch, ein ganzes Volk auszulöschen. Jetzt sollen endlich die Stimmen gehört werden, die diese unfassbare Barbarei anklagen.

Célia Mercier2

1AlleVornamenderOpferwurdengeändert.

2 Célia Mercier ist Journalistin und Buchautorin. Sie hat lange als Korrespondentin der Tageszeitung Libération in Pakistan gearbeitet, ebenso in Afghanistan und Indien. 2015 reiste sie wiederholt in den Irak, um über die Lage der Jesiden zu berichten.

Einleitung

Wenn ein Daesch-Mann vor mir stünde, würde ich ihn nicht mit einer Kugel ins Gesicht töten. Ich würde ihn ganz langsam sterben lassen, ich würde ihn so leiden lassen, wie er mein Volk leiden ließ. Wenn ich könnte, würde ich in die Berge gehen, um unseren Männern im Kampf zu helfen, vielleicht ihnen Munition bringen. Ich weiß zwar nicht, wie man kämpft, doch ich würde gerne mitmachen. Nachts liege ich schlaflos da und denke an meine kleine Schwester Jasmin, unsere Jüngste. Sie konnte noch nicht mal ihre Kleidung selbst waschen, so verwöhnt war sie. Heute hält sie ein IS-Mann in Mossul gefangen. Vorher war sie nach Syrien gebracht und dort verkauft worden. Gelegentlich erreichen wir sie per Telefon. Ich weiß nicht, was sie erlitten hat, und sie erzählt es mir nicht. Ich weiß, dass sie zu fliehen versucht hat. Doch sie haben sie wieder geschnappt.

Die Menschen unseres Dorfes haben alles versucht, um den Frieden zu bewahren. Als der IS unsere Waffen verlangte, gaben wir sie ihm. Als er unser Gold verlangte, gaben wir es ihm. Doch am Ende schonten sie niemanden. Ich denke oft an die Männer unseres Dorfes. Der IS hätte sie gefangen nehmen können, keiner von ihnen hatte etwas verbrochen. Die Kämpfer des Kalifats versprachen uns bei ihrem Gott, dass niemand zu Schaden kommen werde. Doch das war gelogen. Sie waren kalt wie Stein, sie ließen sich nicht einmal von den Tränen junger Mädchen rühren. Eine alte Frau, die sie anflehte, erschlugen sie fast mit einer Eisenstange. Wenn man so etwas mit eigenen Augen gesehen hat, kann man nicht mehr aufhören zu weinen. Das sind keine Menschen, das sind Tiere.

Das Schicksal, das die jesidischen Frauen erlitten haben und noch erleiden, versetzt mich in Angst und Schrecken. Ich denke dabei an die gefangenen Frauen von Tal Afar und Mossul. Ich weiß noch, was für einen Anblick sie boten, als sie als Vergewaltigte in unser Gefängnis zurückkamen! Stille Tränen liefen ihnen die Wangen hinunter, es war schockierend.

Anfangs teilten die Männer des Kalifats den verheirateten Frauen mit: »Sex mit euch ist haram (verboten, abstoßend).« Doch hinterher scherte sie das nicht mehr, sie befriedigten ihre Lust auch an Ehefrauen. Sie entrissen Müttern ihre jungen Söhne. Alle heulten und schluchzten, doch die Kämpfer schlugen die Mütter und nahmen ihnen ihre Söhne weg. Wohin sie sie brachten, sagten sie nicht. In unserem zweiten Gefangenenlager gab es nichts zu essen. Die Kleinkinder heulten unablässig. Wenn Mütter die Wärter um etwas zu trinken für ihre Kinder baten, verspotteten die Männer sie. Das Ausmaß ihrer Barbarei lässt sich mit Worten gar nicht beschreiben. Ihre Ideologie ist völlig pervers. Wie kann man nur so grausam sein? Und all ihre Verbrechen begehen sie im Namen ihrer Religion.

Während meiner Gefangenschaft litt ich fürchterlich. Unablässig musste ich an meinen Vater denken, an meine Mutter, Brüder, an alle Mitglieder meiner Familie. Erging es ihnen vielleicht noch schlechter als mir? Mein lieber Vater, der so sehr auf seine Gesundheit achtete, wie würde er die Gefangenschaft durchstehen? Ich legte mich auf die Seite; in dieser Position machte mein Vater immer sein Mittagsschläfchen. Ich hing den Zeiten nach, als ich ihm beim Packen half, wenn er verreisen musste. Damals legte ich ihm seine schönsten Kleidungsstücke in den Koffer und hoffte immer, er möge nur schnell wiederkommen.

Mein Verlobter, der Mann, den ich liebte, hat ebenfalls überlebt. Doch momentan kann ich mir nicht mehr vorstellen zu heiraten. Mein Herz ist leer. Ich wünsche mir auf dieser Welt nur noch, meine Familie wieder in die Arme zu schließen. Mit ausgebreiteten Armen bete ich morgens und abends zur Sonne und bitte darum, dass meine Familie gesund wiederkehrt. Werden wir eines Tages wieder friedlich auf dem Boden unserer Vorfahren zusammen leben können?

Am Anfang …

Am 10. Juni 2014 fiel die irakische Stadt Mossul in die Hände des Islamischen Staats. Die öffentlichen Lautsprecher brüllten: »Islamischer Staat, Daulat Islamiya!« Tausende Kämpfer der Organisation waren, unterstützt von anderen Dschihadistengruppen, in Mossul eingefallen, der mit zwei Millionen Einwohnern zweitgrößten Stadt des Landes. Wie versteinert saßen wir vor dem Fernseher. Wir konnten es nicht glauben. Mein Vater meinte, die irakische Armee hätte uns verraten und einfach die Flucht ergriffen. Jetzt mussten wir uns auf das Schlimmste gefasst machen. Der Daesch bestand aus Sunniten, die die irakische Regierung als proschiitisch ablehnten. Sein Ziel war die Errichtung eines Kalifats. Es hieß, die Kämpfer des Daesch rekrutierten sich aus Saddam Husseins ehemaligen Truppen und aus Dschihadisten. Die Christen Mossuls verließen die Stadt in heller Panik. 500.000 Einwohner flüchteten Hals über Kopf, alles hinter sich lassend.

*

Wir lebten unweit von Mossul und machten uns große Sorgen. Unser Dorf Kocho liegt in der Provinz Ninive, an der Grenze zum autonomen Kurdistan, unweit der fruchtbaren Tigris-Ebene. Dort kam ich im Haus der Familie zur Welt, an einem Frühlingstag. Damals gingen die Frauen zum Gebären noch nicht ins Krankenhaus. Die Frauen mussten ganz schön was aushalten, eine Schwangerschaft folgte der nächsten. Viele Frauen hatten zehn, zwölf, vierzehn Kinder. Zwischen den Schwangerschaften bildete sich der Bauch gar nicht mehr zurück, sodass insbesondere ältere Frauen aussahen, als wären sie ständig hochschwanger. Meine Tante Kedschal, die kleine Schwester meines Vaters, und eine Hebamme standen meiner Mutter bei der Geburt bei. Meine Tante dachte sich auch meinen Vornamen aus. Sie sagte meinem Vater: »Sara gefällt mir sehr gut, der Name passt prima zu diesem kleinen Püppchen. Ach, ist die süß!« Zur Feier meiner Geburt verteilte meine Familie Schokolade und andere Süßigkeiten im Dorf. Und am siebten Tag opferte meine Mutter ein Huhn, um Gott zu danken. Im gleichen Jahr feierten wir meine Taufe, in Lalisch, einem heiligen Ort der Jesiden. Neben der Weißen Quelle goss mir ein Priester Wasser über die Stirn und machte mich so zum Mitglied unserer Glaubensgemeinschaft.

Obwohl unsere Region umkämpft und ziemlich lebensfeindlich ist, kommen, wie zum Trotz, in unserer Gemeinschaft weiter Kinder zur Welt. Die Tragödie des kurdischen Volkes besteht darin, dass es kein eigenes Staatsgebiet besitzt. Unsere Nation wurde von den Europäern auseinandergerissen, zwischen dem Irak, der Türkei, Iran, Syrien usw. aufgeteilt. Folglich ist unsere Geschichte vom Widerstand geprägt: Widerstand gegen die Unterdrückung durch autoritäre Regimes, die unsere Kultur am liebsten ausgelöscht hätten. 1970 versprach uns Saddam Hussein ein autonomes Kurdistan im Nordirak. Doch er hielt sein Versprechen nicht, stattdessen verfolgte er uns nach Kräften. Und ich gehöre innerhalb des kurdischsprachigen Gebiets im Norden des Irak wiederum einer Minderheit an: Ich bin Jesidin.

*

Hier, im Norden des fruchtbaren Halbmonds Mesopotamiens, der Wiege der Zivilisation, hier, wo die Schrift erfunden wurde, glauben wir an eine der ältesten Religionen der Welt. Jesiden gab es lange vor Juden, Christen oder Muslimen. Unser Kalender geht 6.765 Jahre zurück. Unser weltliches Oberhaupt ist der »Mir« (Prinz), unser spirituelles Oberhaupt Baba Schaich. Eine eigene Kaste beschäftigt sich ausschließlich mit religiösen Angelegenheiten: die »Scheiche«. Sie vermitteln zudem bei Konflikten zwischen Familien. Auch die »Pire« kümmern sich um Glaubensstätten, Heiligtümer und den Erhalt der Gotteshäuser. Sie sind unsere Priester. Die Scheiche und die Pire stehen an der Spitze der Hierarchie. Wir, die »Murid« (Laienkaste), stellen den Großteil des Volks. Wir folgen den Scheichs, unseren spirituellen Anführern. Wir verehren Elemente der Natur: Sonne, Mond, Feuer und Luft. Am heiligsten ist uns die Sonne, Symbol für das göttliche Licht, das alles erleuchtet. In ihre Richtung wenden wir uns beim Beten. Auch die Sindschar-Berge sind uns heilig, sie sind unsere Mutter, sie beschützen uns. Im Frühling sind sie wunderschön, ein Meer von Blättern und Blüten. Die Luft duftet, am Himmel steht die Sonne – in dieser bezaubernden Landschaft vergisst jeder seine Sorgen. Überall blüht der Klatschmohn, und unser Herz singt.

Ich interessiere mich sehr für Religion und bin sehr gläubig. Nach dem Tod meines Großvaters, ich war noch ganz klein, gab mir Mama eine Perle aus weißem Lalisch-Ton, das Symbol unseres Glaubens. Der Tod meines Opas bekümmerte mich sehr, ich umklammerte die Perle in meiner Hand und weinte. Unser Priester erklärte mir, dass der Leib zwar verfalle, die Seele aber in einem anderen Körper weiterreise. War man böse, wird man als Tier wiedergeboren. Hat man aber gut und gerecht gelebt, wird man als Mensch wiedergeboren, bis die Seele am Ende geläutert ist.

In meiner Religion ruft man Gott, »Xwede«, vor jeder Mahlzeit und zum Beistand in schwierigen Situationen an. Man ruft auch Scheich Adi an, einen Mensch gewordenen Engel und großen jesidischen Heiligen. Allerdings bete ich selten. Mama sagte, solange man anderen nichts Böses zufügt, brauche man nicht zu beten. Beten diene nur dazu, Sünden zu büßen.

Wir haben sehr viele eigene Rituale, unser freier Tag ist der Mittwoch. Mein Lieblingsfest findet Mitte April statt: der Rote Mittwoch, unser Neujahr. An diesem Tag feiern wir die Erschaffung der Welt, den ersten Lichtstrahl der Sonne am Himmel. Einen Tag zuvor pflücken die Kinder wilden Klatschmohn in den Wiesen. Daraus bereiten sie am Morgen eine Paste aus Blütenblättern, Eierschalen und Erde. Diese Paste streichen wir auf die Frontgiebel unserer Häuser. Die Frauen kochen harte Eier, die danach kunstvoll in allen Farben bemalt werden und den Planeten Erde symbolisieren. Danach ziehen die Kinder von Haus zu Haus, wünschen allen Nachbarn ein gutes neues Jahr und bekommen bemalte Eier geschenkt. Die ganze Familie frühstückt zusammen auf einer Wiese und wirft die Eierschalen zu Boden, um die Erde zu segnen. Hinterher gehen wir zum Friedhof und ehren unsere Toten.

Am Ende des Winters, im März, feiern wir auch das kurdische Neujahr Newroz. Die Menschen strömen ins Gebirge und picknicken im Gras. In den Straßen tanzt man zu den Rhythmen traditioneller kurdischer Musik, man grillt im Freien und entzündet Freudenfeuer. Auch auf das Ida-Ezi-Fest freue ich mich immer. Ezi ist ein heiliger Name Gottes. Vor dem Fest gibt es eine dreitägige Fastenzeit. Das Fasten beginnt um fünf Uhr morgens, wenn es noch dunkel ist, und währt bis zum Sonnenuntergang. Angehörige der Priesterkaste fasten bis zu zwölf Tage lang, allerdings unterbrochen von Festen. Das Fastenbrechen wird im großen Kreis begangen, man lädt Nachbarn ein, die Schokolade und andere Süßigkeiten mitbringen. Die Menschen wünschen einander schöne Festtage und dekorieren ihre Häuser.

Unser Oberpriester erzählte uns von der Erschaffung der Welt. Er hat unsere zwei heiligen Bücher studiert, das Buch der Offenbarung und die Schwarze Schrift. Er gehört der Kaste der Pire an, er ist weise und hoch angesehen. Seine Worte faszinierten mich immer. Am Anfang schuf Gott, Xwede, die weiße Perle und einen Vogel. Er legte ihm die Perle auf den Rücken, wo sie 40.000 Jahre blieb. Dann blies Gott auf die Perle und sie zersprang in unzählige Stücke. Das größte Stück wurde zur Sonne, die anderen verwandelten sich in Sterne und Wolken. Als sie sich abregneten, entstand das Meer. Gott schuf sieben Engel und gab ihnen ein Boot, damit sie das Meer in alle Richtungen befahren könnten. Die Erde entstand, als er Lalisch, unsere heilige Stätte, ins Meer warf. Die sieben Engel gingen am Ufer Lalischs an Land. Unserem Glauben zufolge waren die ersten Nachkommen Adams schon Jesiden. Einen der sieben Engel, Melek Taus, verehren wir als wichtigen Mitschöpfer der Welt; sein Symbol ist der Pfau. Im Anfang sprach Gott zu Melek Taus: »Ich bin der einzige Gott und du verneigst dich vor niemandem außer mir.« Dann schuf er Adam, hauchte ihm eine Seele ein und befahl den Engeln, vor dem Menschen niederzuknien. Alle gehorchten, außer dem Engel in Pfauengestalt. Er protestierte: »Herr, du hast uns angewiesen, niemanden außer dir anzubeten! Warum sollte ich vor Adam auf die Knie gehen?« Beeindruckt von Melek Taus’ Loyalität erhob Gott ihn zum obersten der sieben Engel.