Sie kannten Richard Strauss - Christoph Wagner-Trenkwitz - E-Book

Sie kannten Richard Strauss E-Book

Christoph Wagner-Trenkwitz

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Beschreibung

Unbekanntes aus dem Familienarchiv "Von meiner ersten Jugend berichtet meine Mutter, dass ich auf den Klang des Waldhorns mit Lächeln, auf den Ton einer Geige mit heftigem Weinen reagierte." Dies ist die früheste musikalische Erinnerung von Richard Strauss, der, wie kaum ein anderer, durch sechs Jahrzehnte die deutsche und internationale Musik prägen sollte. Im Mittelpunkt dieser sehr persönlichen Lebensbeschreibung stehen die Erinnerungen des Enkels Christian Strauss, der den liebevoll-strengen Großvater und alternden Patriarchen sowie die Lebensumstände der Familie in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts beschreibt. Freunde, Künstler, Kollegen und Briefpartner von Richard Strauss kommen zu Wort und zeichnen das Porträt eines "Genies in Nahaufnahme", das mit Fotomaterial aus dem Familienarchiv ergänzt wird.

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Christoph Wagner-Trenkwitz

Sie kannten Richard Strauss

CHRISTOPH WAGNER-TRENKWITZ

Sie kanntenRichard Strauss

Ein Genie in Nahaufnahme

Mit 55 Abbildungen

Bildnachweis

Sämtliche Abbildungen innerhalb dieses Buches stammen – bis auf die Szenenfotos aus dem Deutschen Theatermuseum, München (13–15: Archiv Rudolf Betz und 41: Archiv Hanns Holdt) sowie 44: Sammlung Amalthea Verlag und 50: IMAGNO/Gerhard Trumler – aus dem Richard Strauss-Archiv, Garmisch-Partenkirchen.

Schutzumschlagabbildung: Richard Strauss und sein Enkel ChristianFrontispiz: Winterspaziergang in Garmisch

Bei den abgedruckten Briefen, Zitaten und Buchauszügen werdenOrthographie und Interpunktion des jeweiligen Originals beibehalten.

Besuchen Sie uns im Internet unter:www.amalthea.at

© 2013 by Amalthea Signum Verlag, WienAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Silvia Wahrstätter, vielseitig.co.atUmschlagabbildung: Archiv Dr. Christian Strauss,Garmisch-PartenkirchenSatz: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger& Karl Schaumann GmbH, HeimstettenGesetzt aus der 11/15 CambriaPrinted in the EUISBN 978-3-85002-746-5eISBN 978-3-902862-78-5

Inhalt

Vorbemerkung

»Nicht der Held aus seinem ›Heldenleben‹ «

Frühe Zeugnisse

»Sie wissen selbst am besten, wie viele Fehler ich habe«

Der Lebensmensch Pauline

Das Leben – eine Oper?

Die Affäre »Mieze Mücke«

Mein Großvater

Erinnerungen des Enkels Richard Strauss (1927–2007)

»Ich habe ›Robert der Teufel‹ nicht gesehen, aber Richard Strauss hat mir den Inhalt erzählt«

Der Enkel Dr. Christian Strauss im Gespräch

Exkurs: Kriegsende im Strauss-Schlößl

Marijke van Ebbenhorst Tengbergen

»... den werden sie nicht umblasen«

Zeugnisse von Literaten

»Morgens ist seine schlechte Zeit«

Künstler, Freunde, Künstlerfreunde

»... sonst hätte ich’s doch nicht komponiert!«

Aus den Erinnerungen von Manfred Mautner Markhof

»Wir kannten Richard Strauss«

Hans Hotter, Viorica Ursuleac u. a. im Gespräch

Wichtige Daten aus dem Leben von Richard Strauss

Literaturauswahl

Anmerkungen

Namenregister

Vorbemerkung

Diese Zeilen schulden den geneigten Leserinnen und Lesern eine Erklärung, was dieses Buch ist, oder noch besser, was es nicht sein will: Es handelt sich um keine vollständige systematische Biographie von Richard Strauss, daran besteht auf dem Buchmarkt kein Mangel, und das »Strauss-Jahr« 2014 wird wohl noch einige verdienstvolle Bände hervorbringen. Dieses Buch wird für Forscher, die mit Strauss’ Leben und Schaffen vertraut sind, wohl nur wenig Neues zutage fördern; dem interessierten Musikfreund aber soll es Einblicke in seine Persönlichkeit bieten – und zwar aus erster Hand, von Menschen, die ihn gekannt haben. Es muss nicht hervorgehoben werden, dass es sich um sehr subjektive Eindrücke handelt, doch vielleicht gelingen gerade dieser Sammlung von »Subjektivitäten« (Überlappungen, Widersprüche und Lücken wurden bewusst in Kauf genommen) einige plastische Momentaufnahmen des Meisters.

Neu geführt wurde ein Gespräch mit dem Enkel Dr. Christian Strauss, das durchaus als Herzstück dieses Buches zu verstehen ist. Ansonsten wurde der Band aus vorliegenden Quellen zusammengestellt, beginnend mit Strauss’ eigenen Lebenserinnerungen über private Briefe bis hin zu teilweise vergriffenen Werken (wie den Lebenserinnerungen von Manfred Mautner Markhof). In vielen Briefzitaten und Aussagen von Zeitgenossen konnte ich mich auf Kurt Wilhelms Bildbiographie »Richard Strauss – persönlich« stützen. Nach meinem (mittlerweile ebenfalls vergriffenen) Band »Durch die Hand der Schönheit. Richard Strauss und Wien« ist dies der zweite Annäherungsversuch an das Leben und Werk des Genies, für dessen Zustandekommen ich insbesondere der Familie Strauss Dank schulde: Erwähnt seien die geduldigen Gesprächspartner und großzügigen Gastgeber Christian Strauss und seine Frau Susann Baumgärtel-Strauss, Gabriele Strauss-Hotter für wertvolle Einblicke in das Garmischer Archiv und Unterstützung bei der Zusammenstellung des Bildmaterials sowie Madeleine Rohla-Strauss für die Initiative zu diesem Projekt und dessen ermutigende Begleitung. Mein Dank gilt auch Dr. Bernhard Struckmeyer für wertvolle Anregungen und die gründliche Durchsicht des Manuskripts.

Christoph Wagner-Trenkwitz,Wien im Oktober 2013

»Nicht der Held aus seinem ›Heldenleben‹ «

Frühe Zeugnisse

Was Bruno Walter auf die Frage meinte, ob Dirigenten »geboren« oder »gemacht« werden, trifft wohl auch auf musikalische Schöpfer zu: »First they are born, then they are made.« Richard Strauss, geboren am 11. Juni 1864 in München, war einerseits berufen und bestimmt, Musiker zu werden; dass aus ihm einer der größten »Tonsetzer« (wie man das damals noch nannte) aller Zeiten – und »nebenbei« ein international umjubelter Pultstar – geworden ist, hat er vielen Wegbegleitern zu verdanken ... und letztlich doch sich selbst. Die Karriereentscheidungen, die er in den ersten Lebensjahrzehnten traf, waren die richtigen; die Wahl der Partnerin fürs Leben – obwohl von vielen Seiten abschätzig kommentiert – ebenfalls. Als junger »Sensationsmusiker«, als reifer Komponist, für einige Jahre auch als Operndirektor stand Richard Strauss mitten in seiner Zeit und war doch ein Unpolitischer. Präzisieren wir: Er war so unpolitisch, dass er nicht merkte, wenn seine Handlungen ausgeprägte politische Folgen hatten. Weder seine Haltung zum Wilhelminismus noch jene zur Weimarer Republik scheint Beobachter von heute zu interessieren. Die Aufmerksamkeit für Strauss’ Stellung zum Nationalsozialistischen Regime hingegen – sprechen wir diesen Punkt nur gleich an – überwuchert jene für seine Musik. Auch diese Frage wird das Buch beleuchten; wenden wir uns zunächst aber den Prägungen seiner Kindheit und Jugend zu. So erinnert sich die um drei Jahre jüngere Schwester Johanna an ihn:

Richard war ein auffallend schönes Kind, ein Lockenkopf, lebhaft, mit sprühenden Augen, die aber auch, wie ein Kindheitsbildchen zeigt, verträumt und schwärmerisch blicken konnten.

Und dies notierte er selbst:

Von meiner ersten Jugend berichtet meine Mutter, daß ich auf den Klang eines Waldhorns mit Lächeln, auf den Ton einer Geige mit heftigem Weinen reagierte. Mit viereinhalb Jahren bekam ich den ersten Klavierunterricht [...]. Ich war aber immer ein schlechter Schüler, da das notwendige »Üben« mir immer wenig Spaß machte, dagegen habe ich gerne vom Blatt gelesen, um möglichst viel Neues kennen zu lernen.

Dies die frühesten Erinnerungen eines späteren Genies, damals noch Wunderkind. Einblicke in das musische Elternhaus gibt Strauss in seinen »Betrachtungen und Erinnerungen«. Der Vater Franz Joseph Strauss (1822–1905) war hoch angesehener Hornist im königlichen Hofopernorchester zu München. Ihn beschreibt der Sohn in gütigen Worten als einen typisch bayrischen »Sturschädel«. Auch der bedenkliche, aber aus heutiger Sicht nicht übertrieben zu bewertende »Konversations-Antisemitismus« klingt in Strauss’ Erinnerungen an:

Er war ein sogenannter Charakter. Er hätte es für ehrlos gehalten, ein einmal als richtig erkanntes künstlerisches Urteil jemals zu revidieren und war einer Belehrung meinerseits bis ins höchste Alter unzugänglich. [...]

1 Waldhornist Franz Joseph Strauss in jungen Jahren (Aquarell)

Mein Vater war sehr jähzornig: mit ihm zu musizieren war ein aufregendes Vergnügen. [...] Er hielt streng auf Rhythmus, wie oft schrie er mich an: »Du eilst ja wie ein Jude!« [...] Durch eine schwere Jugend war mein Vater im Charakter verbittert worden. Früh Waise geworden, kam er zu einem Onkel Walter in Nabburg, der dort Türmerdienste versah und ein harter, strenger Mann gewesen sein muß. Mein Vater mußte viele Nachtwachen für ihn versehen, während welcher er für sich ein wenig Latein betrieb. Zu Hause war er sehr heftig, jähzornig, tyrannisch, und es bedurfte der ganzen Milde und Güte meiner zarten Mutter, um das Verhältnis meiner Eltern, trotzdem es stets von aufrichtiger Liebe und Wertschätzung getragen war, in ungetrübter Harmonie verlaufen zu lassen. Wie weit allerdings die sehr empfindlichen Nerven meiner Mutter darunter wirklich gelitten haben, kann ich heute nicht mehr entscheiden. Meine Mutter mußte von jeher ihre Nerven derart schonen, daß sie, obwohl sehr poetisch veranlagt, wenig lesen konnte und Theater- und Konzertbesuche oft mit schlaflosen Nächten büßen mußte. Aus ihrem Munde kam nie ein böses Wort, und am glücklichsten war sie, wenn sie mit ihrer Handarbeit (Stickerei) beschäftigt, die Sommernachmittage still und einsam in dem hübschen Garten der Villa meines Onkels Pschorr verbringen konnte, wo auch wir Kinder nach Schulschluß uns einfanden und gewöhnlich die Sommerabende im Freien oder bei einer Kegelpartie zubrachten.

2 Der fünfjährige Richard

Die Mutter Josepha Strauss (1838–1910), geborene Pschorr, war eine sehr labile Persönlichkeit, ihre Angstzustände und Nervenzusammenbrüche erzwangen regelmäßig ärztliche Behandlung und wiederholte Einweisung in Nervenheilanstalten. Bemerkenswert, dass die Temperamentverteilung im Hause Richard Strauss später umgekehrt erscheinen wird; wiewohl gefestigt und robust, war Richard doch eher der stille und in sich gekehrte Teil, während die Ehefrau Pauline mit hysterischen Anfällen nicht geizte.

Jedenfalls war Vater Franz die treibende Kraft in der Ausbildung des Sohnes, er wachte auch über dessen oft unbeherrschte Art: »Sei mit Deinem raschen Mundwerk nicht zu vorlaut«, schreibt er an den Sohn. Und auch folgender briefliche Rat vom Oktober 1885 ist beachtenswert:

Gebe auf Deine Gesundheit acht und vergesse Deine Nase nicht und denke daran, daß Du viel mit Damen verkehren mußt.

3 Die Eltern mit Richard Strauss’ Sohn Franz (ca. 1904)

4 Der Abiturient

Die Schule erledigte Richard mit überdurchschnittlicher Intelligenz gleichsam nebenbei. Karl Welzhofer, Klassenlehrer im königlichen Ludwigsgymnasium München, beurteilte den Schüler 1875:

Wohl wenige Schüler gibt es, die in gleichem Grade Pflichtgefühl, Talent und Lebhaftigkeit in sich vereinigen. Sein Eifer ist sehr groß, er lernt ebenso gern als leicht. Was er leistet, macht ihm Freude und spornt ihn zu größerem Fleiße an. Seine Aufmerksamkeit beim Unterricht ist sehr groß, nichts entgeht ihm. Und doch kann er kaum eine Minute lang ruhig sitzen, seine Bank ist ihm ein sehr leidiges Ding. Ungetrübte Heiterkeit und Fröhlichkeit lacht ihm aus den blauen Augen Tag für Tag. Offenheit und Herzlichkeit liegen deutlich ausgeprägt in seinen Zügen. Seine Leistungen sind gut, sehr gut. Einen solchen Knaben muss jeder Lehrer lieb gewinnen, ja es ist fast schwer, keine Vorliebe zu verraten. Strauss ist ein angehendes musikalisches Talent.

Richard Strauss hat den aufbrausenden, aber im Grunde gütigen Charakter seines Förderers Hans von Bülow (1830–1894) in späteren Jahren mit dem seiner Frau Pauline verglichen. An und über seinen Schützling schrieb Bülow:

Zu Strauss’ Charakter habe ich ebensoviel Vertrauen als zu seinem Talent. [...]

Sie gehören zu den Ausnahmemusikern, die nicht von der Pike auf zu dienen nötig haben, die das Zeug haben, sofort einen höheren commandierenden Posten zu bekleiden. [...]

Der Anblick Ihrer Handschrift allein macht mich schon guter Laune. Sie haben immer etwas zu sagen, wenn Sie schreiben, sei es in Ihren Noten oder Buchstaben.

1885 wurde Richard Strauss, von Hans von Bülow gefördert, Musikdirektor der Herzoglichen Kapelle in Meiningen. Eine Glosse (über die sich Strauss sehr amüsierte) in der Sonntagsbeilage »Isaria« schilderte den jungen Kapellmeister und seinen Mentor:

Dr. Bülow spazierte auf der Bühne umher und musterte den Saal. Ein blasser, langhaariger Jüngling soll die Ouvertüre dirigieren. Er sieht aus, als ob er die jüngsten 14 Tage von neugeborenen Lämmern gelebt und dazu Karlsbader Wasser getrunken hätte. Der Herzog mit Gemahlin tritt in die kleine Loge und das Orchester beginnt. Herr von Bülow arbeitet in schwedischer Heilgymnastik, i. e. Oberkörperschwingungen, und der langhaarige Jüngling macht seekranke Bewegungen.

Die Augenzeugin Lilly Reiff berichtete von einer »Wildschütz«-Vorstellung in München 1887, dass Richard Strauss während des Dirigierens plötzlich gestockt habe und zusammengesunken sei. »War Ihnen nicht gut?«, fragte sie nach der Vorstellung besorgt. »Nein«, antwortete Strauss, »komponiert hab’ ich. Mir ist grad eine hübsche Melodie eingefallen, und die da oben können’s doch auch eine Weile ohne mich.«

Doch wenig später wurde es ernst mit der gesundheitlichen Krise. Das vom Vater ererbte Asthma kulminierte dank einer verschleppten Erkältung 1891 in einer schweren Lungenentzündung. Mit Unterstützung der wohlhabenden Familie Pschorr reiste Richard zur Heilung von November 1892 bis Juni 1893 durch Italien, Griechenland und Ägypten.

Als ich in Ägypten mit Nietzsches Werken bekannt geworden, dessen Polemik gegen die christliche Religion mir besonders aus dem Herzen gesprochen war, wurde meine seit meinem fünfzehnten Jahr mir unbewußte Antipathie gegen diese Religion, die den Gläubigen vor der eigenen Verantwortung für sein Tun und Lassen (durch die Beichte) befreit, bestärkt und begründet.

Der Schulfreund Friedrich Rösch schreibt 1893 an Strauss, der sich gerade in Ägypten aufhält und Schopenhauers und Nietzsches Ideen wälzte:

Du ahnungsloser Engel Du! Ob denn »der Wille wirklich erlöst sein wolle?« Eine solche Frage kann einem doch nur in einer Wüste entschlüpfen, bei 40° R. O dieser Sonne sengender Strahl ... Der Mensch kommt erst dadurch, dass er an seinem eigenen Willen unendlich leidet, die allerbittersten Erfahrungen macht (Erfahrungen, die Du in Deinem bisherigen Wohlstands-Dusel einfach nicht gemacht haben kannst), zu der Einsicht, dass der Wille der Urheber aller Leiden auf der Welt ist ...

5 Richard Strauss (ganz links) in Ägypten

Der einzige erhaltene Brief von Richard Strauss an seine Jugendliebe Dora Weis (1889) kündet tatsächlich von einer überaus sensiblen, »romantischen« Persönlichkeit:

Tatsache ist, dass mich Dein Brief mit der nun in unabsehbare Ferne rückenden Aussicht, Dich, meine süße Dora, wiederzusehen, tief betrübt und bewegt hat. Gott, was für hölzerne Ausdrücke für das, was ich empfinde ... Dem Künstler Strauss geht es wirklich gut. Aber kann denn kein Glück vollkommen sein?

Mit dem Leiden auf und an der Welt hat sich Richard Strauss jedoch nichtlange aufgehalten, folgte vielmehr dem Lebensprinzip des künstlerischen Egoismus, das Nietzsche ebenfalls gepredigt hat. Seine inneren Krisen und seine Leidenschaften (auch und vor allem die unausgelebten, ja sogar »Tod und Verklärung«) hat Richard Strauss in Musik umgemünzt.

Der französische Schriftsteller Romain Rolland (1866–1944) sah den Komponisten 1898 so:

Er ist groß, schlank, hat flauschiges Haar und einen weißblonden Schnurrbart. Blaß, helle Augen, runder Rücken und ein unsicherer Gang auf langen Beinen mit kleinen Füßen. Breite Schultern. Schöne feine lange gepflegte Hände, die aristokratisch wirken. [...]

Seine Art zu reden ist eher bäuerlich, seine Haltung nie straff. Das ändert sich beim Dirigieren. Das ist der andere Strauss, der in starker Spannung vor Konzentration vibriert. Sein Gesicht wird älter und härter, nichts von der sonstigen Freundlichkeit. Ein asiatischer Barbar, ein Hunne, blond mit fahler Haut.

Nach großen Erfolgen bleibt er liebenswürdig, höflich, einfach und natürlich. Nichts an ihm ist gekünstelt, keine bewussten Gesten, keine Pose. Er ist manchmal von fast kindlicher Schüchternheit. Daneben kann er voll Eigensinn und Gleichgültigkeit, ja Verachtung für andere Menschen sein.

Beim Sprechen zieht er oft Grimassen, macht einen schiefen Mund, besonders wenn er unzufrieden ist und ironisch wird. Bei Tisch sitzt er gelegentlich mit übereinandergeschlagenen Beinen und hebt den Teller bequem zum Munde. Er ißt dauernd Bonbons wie ein Kind. Zu Leuten, die er mag, ist er besonders herzlich. Leuten, die ihn nicht interessieren, hört er kaum zu, dreht ihnen halb den Rücken, fragt höchstens mal »Was?« und sagt geistesabwesend »Ach? Soso -.« In Gesellschaft scheint er mitunter mit offenen Augen zu schlafen.

Man merkt ihm das überschäumende Wesen nicht an, das in seiner Musik lebt. Er wirkt blass und ein wenig unsicher, ewig zweifelnd und unruhig. Ist nicht der Held aus seinem »Heldenleben«. »Ich hab nicht so viel Kraft und bin nicht für’s Kämpfen gemacht, ich habe nicht genug Genie, Willen und nicht die unerschütterliche Gesundheit. Ich ziehe mich lieber zurück und suche die Ruhe.« In ihm vereinen sich viele Charakterzüge, die ich nirgends sonst gesehen hatte. Sie scheinen mir typisch münchnerisch zu sein. Er ist ein wenig verwöhntes Kind und ein wenig Eulenspiegel.

Rolland hatte auch Gelegenheit, mit Richard Strauss über »Ein Heldenleben« zu sprechen. Es wurde diesem oft angekreidet, dass er – von der erwähnten symphonischen Dichtung op. 40 über die »Sinfonia domestica« bis zur Oper »Intermezzo« – viel Autobiographisches in seine Werke eingeflochten oder gar zum Zentrum derselben gemacht hat. Er reagierte entwaffnend, dass er sich und seine Familie nicht weniger wichtig nehme als Napoleon oder Alexander den Großen. »Am liebsten würde ich immerzu mich selbst komponieren.« Doch inwieweit sah er sich als »Held«? Romain Rolland hat er geantwortet:

Den Pfeil des Lebens hat Strauss nie höher geschossen als damals. Ich beschloss, ihn zu fragen. Ich wollte den Schlüssel für die Personen, besonders die Frau des Helden. Sie macht einen neugierig. Die einen hören eine perverse, andere eine kokette. Er sagte: Weder – noch. Ich habe meine Frau dargestellt. Sie ist sehr kompliziert, ein wenig pervers, ein wenig kokett, wechselt von einer Minute zu anderen. Der Held folgt ihr zu Anfang, nimmt den Ton auf, den sie sang. Sie entflieht immer wieder. Da sagt er: Geh du nur, ich bleibe. Und zieht sich in seine Gedanken, seinen eigenen Ton zurück. Da sucht sie ihn. Musikalisch ist dieser Teil ein langes Zwischenspiel zwischen den beiden Ausbrüchen des Anfangs und der Schlacht.

Der Biograph Kurt Wilhelm resümiert:

Aus allen Zeugnissen formt sich ein Bild in diesen Jahren: gutmütig und temperamentvoll, spöttisch und ironisch, bei Widerstand zornig und schnell versöhnt. Maßstab für alles ist die Reinheit der Kunst. Ärger bereiten ihm Unzulänglichkeiten. Schwächen werden resignierend toleriert, auf Dummheit und Intrigen prasseln Zornesausbrüche nieder. Auf Proben wahre Engelsgeduld. Bei Widersetzlichkeit ein Jupiter tonans.

»Sie wissen selbst am besten, wie viele Fehler ich habe«

Der Lebensmensch Pauline

Romain Rollands im vorigen Kapitel wiedergegebene Tagebuchprotokolle führen uns wie selbstverständlich zum Vorbild für die »Frau des Helden«, die Ehefrau Pauline Strauss. Sie wurde 1863 als erstes Kind des bayerischen Generals Adolph de Ahna und seiner Frau Marie in Ingolstadt geboren (wenngleich sie später mit Hilfe ihres Mannes ihr Geburtsjahr um volle elf Jahre nachverlegte). Im August 1887 lernten sie einander in der Pschorr-Villa in Feldafing am Starnberger See kennen. Strauss wurde ihr Musiklehrer und führte sie zu anspruchsvollen Rollen, von Hansel bis hin zu Isolde und Freihild in seiner Erstlingsoper »Guntram«.

Zwischen den Zeilen des folgenden Briefes scheinen Witz und Temperament der jungen Frau durch:

Feldafing, 22. August 1889

Geehrter Herr Capellmeister, mein lieber Maestro! Schönsten Dank für Ihre Karte, die mir die willkommene Nachricht bringt, daß Sie sich während des München-Aufenthalts meines brach liegenden Studiums annehmen werden, was ich mit großem Danke akzeptiere! [...] Gestern sang ich bei Herrn Vogl in Deixelfurt »Neue Freuden«, »Einsam in trüben ...«, »Euch Lüften ...«1. Wenn Sie ihn sprechen, Herr Capellmeister, bitte fragen Sie über mich, er war nämlich sehr entzückt, hauptsächlich über die Vortragsweise. Ich gab mir alle Mühe meinem Meister Ehre zu machen.

Auf der Nachhausefahrt erkältete ich mich leider, so dass mein Hals zur rascheren Gesundheitsförderung heute gewickelt ist, ein anerkannt angenehmer Zustand, man fühlt sich in die Biedermeierzeit zurückversetzt.

Hier ist es kühl, ein wonniger Landaufenthalt nur, sobald man heizt. Papa und Schwester Mädi grüssen Sie bestens. Bitte mich Frl. Johanna zu empfehlen.

Mit herzlichem Grusse Ihre ergebene Schülerin

Pauline de Ahna

Vielleicht lockt Sie ein verirrter Sonnenstrahl einmal heraus! –

Im November des Folgejahres war der Gesundheitszustand der jungen Gesangsschülerin wieder einmal angegriffen. Strauss gibt Gesundheitstipps:

Weimar, 19. 11. 1890

[...] Schonen Sie sich um Gotteswillen! Heisse Milch, Emser Wasser etc. etc. etc., damit Sie nächste Woche bestimmt auf dem Schlachtfelde siegreich dastehen und am 30.ten sind die »Meistersinger«!

Recht gute Besserung! Die herzlichsten Grüsse auch an Ihre verehrte Mutter

Ihr Richard Strauss

6 Klavierauszug von »Tristan und Isolde« mit handschriftlichen Regieanweisungen von Richard Strauss für Pauline

Bad Wörishofen 1891

Gleich nach Wagner kommt Kneipp,

was jener für’s Herz, ist der für’n Leib.

Der Musik Gegengewicht ist das Wasser,

merkt’s euch, ungläubige Thomasser!

Ein schöner Obergug ist wie ein Himmelsgruß,

ein feiner Rückenguß wie ein reiner Neptunskuß.

Was ich mit Doktoren schon Zeit verloren,

dafür nehm ich heut’ mich noch an den Ohren!

Montag Abend komm ich nach München,

dann studier ich Fräulein Paulinchen!

Daß der Menschheit Heil doch nur

liegt in der feinen Wasserkur.

Dienstag früh erste Lektion,

darauf freu ich mich heute schon.

Eifrig wird dann da studiert,

wie man Krampfhusten kuriert.

Schwesterlein grüsst, kommt erst Mittwoch nach Haus,

ich halt’s nicht mehr länger als morgen auch aus.

Aus Kniegüssen und Flohbissen

besteht all mein lächerlich Wissen,

mit Schulmeistergrüßen

wird Ihr junges Leben keiner versüßen.

Ihr herzlich ergebener

Richard Strauss

Die Sorge um des anderen Gesundheit wird bald (und für alle weitere Zukunft) Paulines Ressort. Sie wird den Gatten später zu täglichen Spaziergängen anhalten, tadelt aber auch schon in diesem Brief indirekt den nicht gesundheitsfördernden Lebenswandel des »Hof- & Schulmeisters«:

Seeshaupt, 22. Juni 1892

Geehrter Hof- & Schulmeister! Lieber Herr Strauss!

Ich mach halt meine ergebenste Danksagung erstens für die gestrige etwas rabiate Karte, zweitens für den heutigen g’schamichen Brief, Herr Staberl, und bitt’ Ihnen – nix für ungut – regens Ihnen nicht so auf! Es ist nur von weg’n der Xundheit! Meine Stimmung wäre in dem Ton fortzufahren, da Sie, lieber Herr Strauss, aber sonst einen schönen Begriff von der Wohlerzogenheit und dem feinen Benehmen Ihrer Ex-Schülerin bekämen und meine plötzliche Verwilderung am Ende gar dem alten und geschwisterlichen Umgang – unterstützt durch Frau Amélie Wurm’s zwerchfellerschütternde Witze und grob-gutmütige Manieren – zuschreiben, will ich eine Anstandspille schlucken und schauen, daß ich meine herzlichsten Grüße an Sie und Hannerl und an die Ihren in wohlgesetzter Rede und mit dem gehörigen Schwung – Sie wissen schon – vom Stapel lasse. Ihre gestrige Karte hat insofern genützt, daß mein Väterchen dieser Tage Anstalten trifft, ein Klavier zu bekommen und mir einen Musikschuljüngling verschreiben will. Doch zuerst muß das Klavier zu haben sein, und einstweilen bitte ich Sie – falls Sie Gelegenheit haben – mit Thuille betreffs eines Schülers zu sprechen! Vorläufig studiere ich an der »heiligen Elisabeth«, die furchtbar schwer ist – Intonation betreffend.

Nun lassen Ihnen, werter Herr Strauss, Papa und Mama sagen, daß, sollten Sie Lust und Laune haben, vom 5. Juli an auf eine Woche oder wie lange Sie wollen und die Eltern in Ihre Anwesenheit einwilligen, im Hotel Neuschwanstein unser Gast zu sein, Sie uns allen herzlich willkommen wären und auch auf Ihr leibliches Wohlergehen große Sorge verwandt würde. Ich habe mich hiemit des elterlichen Auftrages entledigt und bitte Sie, gestützt auf unsere Freundschaft, von der Einladung Gebrauch zu machen, sobald es Ihnen paßt, oder zu Ihrer Erholung, am Ende noch vor Reichenhall, vorteilhaft wäre. Also tun Sie was Sie wollen, lieber Herr Strauss, und seien Sie versichert, daß Sie uns allen die größte Freude machen würden Ihre Rekonvaleszenz zu beschleunigen. Daß Sie so sehr angegriffen und elend sind, ist leider nur zu begreiflich!

Daß die langweiligen Tage des Stilliegens bald vorüber sein würden, wenn ich so manchmal über den See nach München ein Stündchen schwimmen könnte, wäre doch ganz nett, obwohl ich mich furchtbar zusammen nehmen müßte, um die »dehors zu machen«, denn hier wird man doch ganz verwildert, das reinste Schiffermädel und Landkonfekt ...

Und nun recht gute Besserung, Herr Strauss, recht viel Geduld, denn dann geht’s am ehesten. Viele Grüße von Haus zu Haus, mit den besten Wünschen, in dankbarer Ergebenheit stets Ihre

Pauline de Ahna

Im Zuge der Endproben zu seinem »Guntram«, 1894 in Weimar, machte Strauss der Primadonna einen Heiratsantrag im Anschluss an einen handfesten Krach, den sie vom Zaun brach.

Auf einer der letzten Proben, wo ich Zeller unzählige Male abklopfen mußte, kam endlich Pauline im 3. Akt mit ihrer einwandfrei »gekonnten« Szene. Trotzdem fühlte sie sich unsicher und beneidete Zeller anscheinend wegen seinem vielen »Wiederholen«. Plötzlich hörte sie zu singen auf und frug mich: »Warum klopfen Sie bei mir nicht ab?« Ich: »Weil Sie Ihre Rolle können.« Mit den Worten »Ich will abgeklopft haben« wollte sie mir den Klavierauszug, den sie gerade in der Hand hatte, an den Kopf werfen, derselbe flog aber zur allgemeinen Heiterkeit dem 2. Geiger Gutheil (dem späteren Gatten der berühmten Gutheil-Schoder [...]) aufs Pult.

7 In der Wiener Villa unter dem PorträtPaulines

Die immerhin schon 31-jährige Braut in spe leitete nicht jugendliche Verschämtheit, sondern handfeste Sorgen um Fortsetzung der vielversprechenden Sängerinnenkarriere, als sie mit dem Jawort zögerte:

Weimar, 24. März 1894

Mein lieber Herr Strauss!

Das kommt ja alles wie ein Sturzbach; ich bitte Sie um Gotteswillen sich nicht so übermäßig zu freuen, Sie wissen selbst am besten, wie viele Fehler ich habe und sage Ihnen aufrichtig, es ist mir trotz allem Glücksgefühl, was mich überkommt, manchmal entsetzlich bang. Werde ich Ihnen das sein können, was Sie verlangen und was Sie verdienen? Darf ich nicht zuerst in Hamburg gastieren, um wenigstens voll Stolz meinem verehrten Lehrer auch einen schönen Erfolg aufweisen zu können? Leider wird’s aus der Montag-»Elisabeth« nichts. Kennen Sie mich denn nicht, und Ihre Eltern und Hanna kennen ja auch meine Launen; ach Gott, und nun soll ich plötzlich ein wahres Muster von Hausfrau werden, damit Sie sich nicht enttäuscht fühlen. Lieber Freund, ich fürchte es wird scheitern, und je mehr sich alles freut, desto gedrückter wird meine Stimmung. Von Papa ist’s nicht hübsch zu sagen, ich machte ihm Sorgen mit meinem Theaterleben; ich verstehe das nicht; bis jetzt ging alles glatt und würde es auch weiter gehen.

Wird das viele Dirigieren heuer im Sommer Sie nicht überanstrengen? Ach Gott, ich habe soviel Sorgen und Kummer. Haben mich denn Ihre verehrten Eltern lieb und Hanna, wenn sie nur wüßte, wie ich Ihnen von allem abrate. So schnell, lieber Freund, brauchen wir wirklich nicht zu heiraten; wenn sich jedes zuerst allein gewöhnen könnte, in seinem Berufe alles Glück zu finden; Sie in München, ich in Hamburg; bringen Sie bitte meinen Kontrakt mit; verzeihen Sie diesen Brief, aber ich bin von zwei Gefühlen – des Glückes und der Angst vor einem neuen Leben – so befangen, daß ich nur halb zurechnungsfähig bin. Bitte lassen Sie mich wenigstens hier noch recht viele Partien singen; das wird mir über manches hinweghelfen. Ich bin ungemein fleißig im Studium der »Freihild« mit Klatte und Gutheil; das größte Glück ist eben doch unsere Kunst, lieber Freund, vergessen Sie das nicht. Für heute kann ich nicht mehr. Nehmen Sie bitte gar nichts übel. An die teuren Ihrigen die ergebensten Grüße; ich küsse Ihrer verehrten Mama die Hand und bitte alle, Geduld mit mir zu haben.

Leben Sie wohl und werden Sie so glücklich, als Sie es verdienen. Ihre aufrichtige

Pauline de Ahna

Vier Monate nach der offiziellen Verlobung am Uraufführungstag des »Guntram« (10. Mai 1894) folgte die Eheschließung am 10. September in Marquartstein, wo die de Ahnas ein Sommerhaus besaßen.

Mutter Strauss begrüßte die Verbindung. Am 11. Juni 1894 hatte sie an ihren Sohn zu seinem Geburtstag geschrieben:

Ich kann Dir nicht sagen, lieber Richard, wie sehr ich mich über Deine Verlobung mit der uns so lieb gewordenen Pauline gefreut habe, wie sehr sie mir beim Wiedersehn gefallen hat. Ich mußte sie immer wieder ansehen und bin überzeugt, daß Du recht glücklich mit ihr wirst. Es wird Dir dann auch alle Unannehmlichkeiten in Deiner neuen Stellung in München erträglicher machen, da sie Dich durch ihr heiteres, kluges Wesen stets aufheitern wird und so liebevoll für Dich zu sorgen weiß.

Grüße die liebe Pauline und die ganze Familie de Ahna recht herzlich von mir.

Deine treue Mutter

Doch schon bald nach der Heirat traten auch mit Strauss’ Eltern Spannungen auf, für die sich der junge Ehemann wiederholt rechtfertigen musste:

Ich wäre glücklich, wenn meine fortdauernden Bemühungen, zwischen meiner Frau und meiner Familie ein gutes Einvernehmen zu erzielen, nicht von so geringem Erfolg gekrönt sind. Wenn ich Euch versichere, daß sie das redliche Bemühen hat, ihre kleinen, zum Teil recht harmlosen Fehler (die sie selber und ich am besten kennen) zu verbessern, daß ein elender erlogener Altweiberklatsch (wie der, auf Grund dessen ihr heute morgen so schlimme Vorwürfe gegen Pauline erhobt) genügt, um von vorneherein liebevolle Nach- und Einsicht für Pauline’s unüberlegte, heftige, zu burschikose, aber im Grunde seelengute kindlich-naive Art zu zerstören, frage ich mich, ob es nicht besser wäre, den Verkehr zwischen Euch und Pauline ganz aufzuheben. [...]

8 Die Hochzeit am 10. September 1894 in Marquartstein