Willkommen, bienvenue, welcome! - Christoph Wagner-Trenkwitz - E-Book

Willkommen, bienvenue, welcome! E-Book

Christoph Wagner-Trenkwitz

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Beschreibung

It's all about Musical Die Volksoper Wien – die Wiege des Musicals in Österreich. Chefdramaturg Christoph Wagner-Trenkwitz erzählt aus erster Hand unterhaltsam von Probenpannen und Premierenfieber, Triumphen und Krisen, Showgirls und Bühnenstars. Im Februar 1956 produziert Marcel Prawy mit Cole Porters »Kiss me, Kate« den ersten Hit. Publikumserfolge wie »Porgy and Bess« (1965), »West Side Story« (1968), »My Fair Lady« (1979), »La Cage aux Folles« (1991) und »The Sound of Music« (2005) folgen. Mit Robert Meyer übernimmt 2007 ein Bühnenliebling die Direktion des Hauses. Seine 15-jährige Ära setzt mit nicht weniger als 22 Musicalpremieren, davon 15 Volksopern-Erstaufführungen, einen deutlichen Schwerpunkt im Genre Musical. Mit »Willkommen, bienvenue, welcome!« lässt Christoph Wagner-Trenkwitz sieben Jahrzehnte Musical an der Volksoper hochleben und erzählt alles, was Sie darüber wissen müssen. Mit Premierenverzeichnis und zahlreichen Abbildungen in Farbe

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Christoph Wagner-Trenkwitz

Willkommen, bienvenue, welcome!

Musical an der Volksoper Wien

Mit 112 Abbildungenund einem Premierenverzeichnis(Zusammenstellung: Rainer Schubert)

Besuchen Sie uns im Internet unter: amalthea.at und volksoper.at

© 2022 by Amalthea Signum Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Johanna Uhrmann

Umschlagabbildungen: Vorderseite: 2. Reihe v. l. n. r.: © Volksoper Wien/Johannes Ifkovits (Viktor Gernot, Drew Sarich in »La Cage aux Folles«), © Volksoper Wien/Dimo Dimov (Johanna Arrouas in »Guys and Dolls«), © Volksoper Wien/Barbara Pálffy (Ruth Brauer-Kvam in »Cabaret«), © Volksoper Wien/Johannes Ifkovits (Bettina Mönch in »Cabaret«); 1. Reihe v. l. n. r.: © Volksoper Wien/Barbara Pálffy (Christian Graf in »Der Zauberer von Oz«), © Volksoper Wien/Dimo Dimov (Herbert Föttinger, Robert Meyer, Katharina Straßer, Peter Matić, Lukas Perman in »My Fair Lady«), © Volksoper Wien/Dimo Dimov (Sigrid Hauser in »Guys and Dolls«); Rückseite: © Archiv der Volksoper Wien

Lektorat: Madeleine Pichler

ISBN 978-3-99050-224-2

eISBN 978-3-903217-97-3

Inhalt

Vorbemerkung

Die Ära Marcel Prawy 1956–1972

Kiss me, Kate (1956)

Wonderful Town (1956)

Annie, Get Your Gun (1957)

Porgy and Bess (1965)

West Side Story (1968)

Show Boat (1971)

Karussell (1972)

Sechs Direktoren – zwölf Premieren 1973–2007

My Fair Lady (1979)

Kiss me, Kate (1982)

West Side Story (1982)

Hello, Dolly! (1984)

Kiss me, Kate (1988)

La Cage aux Folles (1991)

Der Mann von La Mancha (1994)

Kiss me, Kate (1995)

Gigi (1999)

West Side Story (2001)

Anatevka (2003)

The Sound of Music (2005)

Die Ära Robert Meyer 2007–2022

My Fair Lady (2008)

Guys and Dolls (2009)

South Pacific (2010)

Hello, Dolly! (2010)

Die spinnen, die Römer! (2011)

Candide (2012)

Kiss me, Kate (2012)

Sweeney Todd (2013)

Der Zauberer von Oz (2014)

Der Mann von La Mancha (2015)

Kismet (2016)

Wie man Karriere macht, ohne sich anzustrengen (2017)

Vivaldi – Die fünfte Jahreszeit (2017)

Gypsy (2017)

Carousel (2018)

Wonderful Town (2018)

The Gershwins’ Porgy and Bess (2019)

Cabaret (2019)

Brigadoon (2019)

Sweet Charity (2020)

Into the Woods (2021)

Lady in the Dark (2021)

La Cage aux Folles (2022)

Premierenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Namenregister

Fett gedruckt sind Erstaufführungen an der Volksoper, im Gegensatz zu Neuinszenierungen und Wiederaufnahmen.

Vorbemerkung

Die Wiege des Musicals in Österreich stand an der Volksoper, wo im Februar 1956 mit Cole Porters Kiss me, Kate der erste Hit produziert wurde. Als man hier im Februar und März 2006 ausgiebig das goldene Jubiläum feierte, erntete man euphorische Pressestimmen: Eine Zeitung gab ihrer Kritik der Musical-Galas die Schlagzeile »Von Krise keine Spur«, eine andere begann den Bericht von der sehnsüchtig erwarteten Cage aux Folles-Wiederaufnahme mit dem Ausruf »Und wie sie lebt, die Volksoper!«. Das Musical galt zu diesem Zeitpunkt als Lebenszeichen eines der Krise »verdächtigen« Theaters.

Als Nachklang zu den Feierlichkeiten erschien im Herbst 2007 beim Amalthea Verlag mein Buch »Es grünt so grün …« Musical an der Wiener Volksoper, das dem ersten halben Jahrhundert der Musicalpflege gewidmet war. Der nun vorliegende Band bietet zunächst eine überarbeitete und stark geraffte Darstellung dieses halben Musical-Jahrhunderts, die in zwei Phasen geteilt wird: Die Ära des Pioniers Marcel Prawy dauerte (mit einer Unterbrechung) bis zum Jahre 1972. In dieser Zeit produzierte die Volksoper sieben Werke (inklusive der Oper Porgy and Bess, die als Spitzenwerk des amerikanischen Musiktheaters ebenfalls Beachtung findet). Die zweite Phase umfasst die nachfolgenden dreieinhalb Jahrzehnte, innerhalb derer sechs Direktoren amtierten und die ebenfalls sieben Neuzugänge brachte.

Der 15-jährigen Direktionsära Robert Meyers (zu deren Ende das vorliegende Buch erscheint) gilt der dritte, vollkommen neu geschriebene Teil. Zwischen 2007 und 2022 wurde mit nicht weniger als 23 Musicalpremieren, davon 15 Volksopern-Erstaufführungen, dieses Genre zu einer unerhörten Blüte geführt.

Musical an der Volksoper: Das bedeutet innerhalb von 70 Jahren (wenn wir die Zeitrechnung mit dem Porgy and Bess-Gastspiel 1952 beginnen) weit über 2000 Vorstellungen, darunter eine europäische Erstaufführung (Wonderful Town), sieben österreichische Erstaufführungen (Porgy, Kiss me, Kate, Show Boat, South Pacific, Brigadoon sowie die deutschsprachigen Erstaufführungen Annie, Get Your Gun und Carousel), drei Wiener Erstaufführungen (La Cage aux Folles, Der Zauberer von Oz, Gypsy) und eine Uraufführung (Vivaldi). Dem Textteil folgt ein Premierenverzeichnis, das der Vizedirektor des Hauses, Dr. Rainer Schubert, zusammengestellt hat; die dazugehörigen Besetzungen hätten den Umfang dieses Buches gesprengt und sind daher über den QR-Code auf Seite 241 abrufbar beziehungsweise in der E-Book-Version enthalten.

Die Väter des Musicals in Österreich: Marcel Prawy, Volksoperndirektor Franz Salmhofer, Bundestheater-Chef Ernst Marboe

Willkommen, bienvenue, welcome! soll zu Entdeckungen, aber auch zum Schwelgen in Erinnerungen einladen und dazu in Texten, Bildern und Zahlen eine klare Einsicht vermitteln: Musical in Wien ist ohne die Volksoper nicht vorstellbar, und umgekehrt ist dieses Haus ohne Musical nicht vorstellbar.

Christoph Wagner-Trenkwitz,im April 2022

Die Ära Marcel Prawy1956–1972

Große Taten sind nie Einzelleistungen, das wissen wir nicht erst seit Bertolt Brecht. Doch stets braucht es die unbeirrbare Leidenschaft eines Einzelnen, wenn Großes zustande gebracht wird. In unserem Falle war dies Dr. Marcel Prawy (1911–2003). Wenn er nie eine Staatsopern-Matinee moderiert, nie eine TV-Sendung gestaltet hätte, könnte er doch als Erstimporteur des Musicals einen festen Platz in der österreichischen Theatergeschichte beanspruchen.

Eines seiner Prägeerlebnisse findet im August 1943 in der 44. Straße, mitten in New Yorks Theaterdistrikt, statt. Im St. James Theatre läuft das neue Musical Oklahoma! von Rodgers & Hammerstein bereits seit über vier Monaten ausverkauft, da zieht vis-à-vis im Majestic Theatre eine betagte, aber muntere Dame ein. Die lustige Witwe erlebt am 4. August 1943 ihr fünftes »Broadway-Revival« mit dem Wunderteam Robert Stolz (der ja schon in der Premierenserie des Werkes am Theater an der Wien am Pult gestanden war), dem Choreografen Georges Balanchine sowie Jan Kiepura und Marta Eggerth in den Hauptpartien. Natürlich ist Prawy, Sekretär des Künstlerehepaares, Stammgast in der 44. Straße, und in ihm reift ein Plan: Wenn so viele Wiener Lieblinge mit einem wienerischen Lieblingswerk in New York reüssieren – warum sollte das US-Musiktheater nicht ebenso viel Resonanz in Wien finden? Gute alte Operette und gutes neues Musical in trauter Konkurrenz musste doch auch in der alten Heimat funktionieren …

Bis es dazu kam, sollte allerdings noch über ein Jahrzehnt vergehen. 1946 kehrte der »Military Civilian« nach Wien zurück, verdingte sich als Deutschlehrer im Radio, als Filmzensor, Gestalter von Wochenschauen und als Schallplattenproduzent. Im September 1952 begann Prawy im Kosmos Theater in der Wiener Siebensterngasse (das heute ein feministisches Theater beherbergt), das Publikum mit den lange verpönten Klängen aus der Neuen Welt bekannt zu machen. So singt Amerika, Dreißig Jahre amerikanische Operette, Von Show Boat bis South Pacific lauteten etwa die Titel der Shows, die sich großen Zulaufs erfreuten. Auch die österreichische Erstaufführung von Giancarlo Menottis Die alte Jungfer und der Dieb wurde im Oktober 1952 zustande gebracht. Ab Dezember hieß es Mit Musik durch Amerika, ein Programm, in das bald auch die von Prawy entdeckte Sängerin Olive Moorefield einstieg. Das Vorwort zum Programmheft der musikalischen »Gesellschaftsreise« schloss mit der Einladung: »Bitte, überlassen Sie sich der Führung Ihres ergebenen Reiseleiters Dr. Marcel Prawy«.

Eine Entdeckung: Olive Moorefield (hier als Bianca in Kiss me, Kate)

Wohin die Reise ging, konnte er selbst nicht ahnen. Im begeisterten Publikum saß eines Abends Ministerialrat Ernst Marboe, Leiter der Bundestheaterverwaltung, nach dessen visionären Ideen dem Musical an der Volksoper eine feste Heimstatt gegeben werden sollte. Als Mitstreiter von Franz Salmhofer, dem Volksoperndirektor der Jahre 1955 bis 1963, hat Prawy dies gegen enorme Widerstände zuwege gebracht.

Der Bühnenbildner Walter Hoesslin hat Prawys ansteckende Begeisterung so beschrieben: »Er war der große Anzünder – und alle haben für das Musical gebrannt.« Der allererste Feuersturm, mit dem Prawy das überraschte Theater an der Währinger Straße überzog, trug den Titel Kiss me, Kate.

Kiss me, Kate

Musik und Liedtexte von Cole Porter

Buch von Samuel und Bella Spewack

Deutsche Fassung von Günter Neumann und Marcel Prawy

New Yorker Premiere* am 30. Dezember 1948

Österreichische Erstaufführung an der Volksoper am 14. Februar 1956

Die österreichische Erstaufführung von Kiss me, Kate hat noch viel früher stattgefunden, als den meisten geläufig ist: Wolfgang Jansen wies in der Zeitschrift musicals (April/Mai 2006, Heft 118) nach, dass bereits im November 1949, elf Monate nach der New Yorker Premiere, im Wiener Palais Clam-Gallas eine Produktion des Werkes gezeigt wurde. Freilich handelte es sich um eine halböffentliche Veranstaltung im Rahmen eines Kulturclubs der US Army, der bis 1954 auch Marcel Prawy angehörte.

Nach zahlreichen Vorgesprächen mit Ernst Marboe wurde Prawy zunächst mündlich, am 19. April 1955 von der Direktion der »Staatsoper in der Volksoper« schriftlich beauftragt, »in Amerika die Vorbereitungen für die in der Spielzeit 1955/56 geplante Erstaufführung eines amerikanischen Musicals vorzunehmen, […] welches von Ihnen [= Prawy] in einer solchen Weise bearbeitet werden kann, dass es dem österr. Publikum nahe gebracht und dadurch möglichst der Erfolg in Wien gewährleistet wird. Die Direktion plant für diese Aufführung die ersten Kräfte der Staatsoper, Volksoper und des Burgtheaters, soweit sie für solche Aufgaben geeignet sind, einzusetzen, wo dies nicht der Fall ist aber entsprechende Externisten (auch Ausländer) heranzuziehen.« Prawys Position als Bearbeiter, Übersetzer und Produktionsleiter – obwohl dieser Begriff noch nicht gefunden war – wurde damit klar umrissen. Kiss me, Kate, die geniale Musikkomödie des Autorenehepaares Spewack und des Dichterkomponisten Porter, erscheint uns heute als logische Entscheidung für das Eröffnungsstück und war von Anfang an in der engsten Auswahl, gemeinsam mit Carousel, Wonderful Town, Guys and Dolls, Lady in the Dark (die später realisiert werden sollten) sowie Finian’s Rainbow, das bislang noch nicht an die Volksoper gefunden hat. Allerdings dauerte es bis November 1955, bis die Entscheidung für Kate feststand.

Prawy hielt sich im Frühjahr 1955 als Gast von Maria Jeritza in den USA auf, wo er Kontakte knüpfte und vertiefte. So traf er den Regisseur Hans Busch (Sohn des Dirigenten Fritz Busch), der für die Inszenierung des ersten Musicals favorisiert wurde. In Newark, New Jersey, im Hause der Jeritza, erreichten Prawy im Mai auch Krisensignale aus Wien: Es wurde bekannt, dass Volksoperndirektor Hermann Juch einen Wechsel an die Deutsche Oper am Rhein plante. »Erbitte eildrahten ob ich trotz demission juch vorbereitungen des musicals fortsetzen soll«, telegrafierte Prawy an seinen Mentor Marboe. Aus der Distanz ahnte er nicht, dass die elegante »Entfernung« Juchs von der Volksoper den Weg für das Musical freimachen sollte. Der Freund in der Bundestheaterverwaltung kabelte postwendend zurück: »Bitte Vorbereitungen für Musicals weiter fortsetzen herzlichst Marboe«.

In einem umfänglichen Schreiben vom 14. Mai 1955 an Ministerialrat Marboe legte Prawy einige grundsätzliche Ideen fest: »… dass wir anstreben müssen, jeden billigen Revuecharakter zu vermeiden und dass unsere Produktion eher den Charakter einer modernen Spieloper oder eines intimen Kammerspiels tragen muß. Etwa: Josefstadt in der Volksoper.« So bewusst sich Prawy auch war, dass sich mit der Einführung des amerikanischen Theaterstils eine Revolution anbahnte, so europäisch »gesittet« musste seine Wortwahl sein, um das Ereignis vorzubereiten. Als musikalischen Leiter hatte Prawy einen erstklassigen Mann im Auge: den 1905 in Karlsbad geborenen Österreicher Franz Allers – er war bei den Broadway-Premieren von Alan Jay Lerners und Frederick Loewes Brigadoon (1947) und Paint Your Wagon (1951) am Pult gestanden, der größte Triumph folgte 1956 mit My Fair Lady.

Mit dem folgenden Plädoyer rannte Prawy bei Marboe wohl offene Türen ein: »Kultivierte Unterhaltung ist nicht Barbarei! […] Warum darf auf dem Gebiet der leichteren Musik der Eiserne Vorhang um unser Land nicht aufgehen? Die Fledermaus und Nacht in Venedig sind unerreichte einsame Meisterwerke – aber die Welt ist nicht dabei stehen geblieben …«

Am 25. Mai 1955 meldeten die Zeitungen, dass Franz Salmhofer ab 1. September das Amt des Volksoperndirektors bekleiden werde, Prawys Eintritt als »Direktionsmitarbeiter […], der bereits mit der Vorbereitung moderner Singspiele, Operetten und Musicals für die Volksoper beschäftigt« (Die Presse) sei, stand rasch fest.

Kiss me, Kate war für mehrere deutsche Bühnen in der Saison 1955/56 angekündigt, deren Premieren Prawy abwarten wollte. Im Herbst machte er sich an die Kontaktaufnahme mit Künstler:innen wie Caterina Valente (deren Terminkalender sich als zu voll erwies) und Oskar Karlweis.

Erst Ende November 1955, nach der deutschen Erstaufführung von Kiss me, Kate im Frankfurter Börsensaal, fiel die Entscheidung. Die Aufführung mit Lola Müthel in der Titelrolle wurde von dem jungen Christoph von Dohnányi geleitet, der »einem achtköpfigen, bläserdominierten ›Solistenorchester‹ vor[stand], das ›in der Höhe auf einem seitlichen Balkon‹ untergebracht war und – angesichts des ungewohnten Materials – ›einige Mühe‹ hatte, die Überarbeitung des Materials von Hagen Galatis mit Verve zu spielen« (Jansen). Trotz der entstellenden Orchesterarrangements machte die Frankfurter Kate solche Furore, dass Berlin bereits vier Wochen später folgte (allerdings in einer noch armseligeren »orchestralen« Ausstattung mit bloß zwei Klavieren!), desgleichen Nürnberg (mit einer Neuorchestrierung von Peter Kreuder).

Die Besetzung stellte Marcel Prawy nach einem einfachen und doch so schwer zu realisierenden Prinzip zusammen: Wiener Publikumslieblinge wurden mit Gästen (auch aus Übersee) gemischt, darunter Brenda Lewis und Olive Moorefield.

Brenda Lewis war von 1945 bis 1967 Mitglied der New York City Opera, wo sie unter anderen Donna Elvira (Don Giovanni) sowie die Titelrollen in Marc Blitzsteins Regina und Jack Beesons Lizzie Borden (Uraufführungen 1953 beziehungsweise 1965) verkörperte. Durch acht Spielzeiten sang sie auch Hauptpartien an der Metropolitan Opera, von Musetta bis Salome. Ihre Broadway-Erfahrungen waren begrenzt: Im Frühjahr 1954 hatte sie in Sigmund Rombergs The Girl in Pink Tights mitgewirkt, 1964 sollte sie Teil eines veritablen Broadway-Flops werden: Albert Hagues Cafe Crown wurde nach nur drei Aufführungen abgesetzt. Die aus den Kosmos-Shows als Publikumsliebling hervorgegangene Moorefield (von Freunden zärtlich »Monkey« genannt, ein Spitzname, mit dem sie bisweilen auch Privatbriefe unterschrieb) bestätigte ihren Starruhm als Bianca (!) an der Volksoper aufs Schönste. Mitverantwortlich für die Stückwahl war ein Künstler, der auch als Paul »einschlug«. Prawy schildert die erste Begegnung mit ihm auf einer Amerikareise im Sommer 1955:

In Valley Forge, Pennsylvania, hatte ich einen Reifenplatzer. Da kam ein junger Schwarzer und fragte mich, ob er helfen könne. Er war als Mitglied des Reise-Porgy and Bess von 1952 in ganz Europa gewesen, konnte ein bisschen Deutsch und Tschechisch. Es war Hubert Dilworth, der spätere Manager von Leontyne Price. Ich fragte ihn, was er hier mache. Er antwortete, er spiele heute Abend Kiss me, Kate. […] Ich fuhr mit ihm in die Vorstellung, war davon begeistert, auch von ihm, und meinte dann: »Würden Sie jemals daran denken, nach Wien zu kommen und das auf Deutsch zu spielen?« […] Er hat nie gedacht, dass das wahr werden könnte.

Der Petruchio Fred Liewehr war nicht nur Publikumsliebling am Burgtheater, sondern auch ein an der Volksoper bestens eingeführter Operettenheld: Zwischen 1949 und 1954 hatte er nicht weniger als 112-mal den Symon im Bettelstudent gesungen und die Herzen des Publikums als Danilo, Graf von Luxemburg, Boccaccio und Eisenstein bezwungen.

Klaus Löwitsch, Brenda Lewis, Fred Liewehr

Das Leading Team sollte sich anders zusammensetzen als zunächst beabsichtigt: Allers stand wegen seines My Fair Lady-Engagements nicht zur Verfügung; statt ihm gewann Prawy einen Jugendfreund, der es als Leiter der New York City Opera zu großem Ansehen brachte und späterhin gern gesehener Gast an der MET wie an der Wiener Staatsoper wurde: Julius Rudel. Anstelle von Busch wurde der Choreograf Heinz Rosen – wie Prawy betonte, am Weihnachtstag 1955 – mit der Inszenierung betraut, was sich als Glücksgriff erwies. Der 1908 in Hannover geborene Rosen hatte seine Ausbildung bei Rudolf von Laban, Kurt Jooss und Victor Gsovsky erhalten. Seinen größten Erfolg hatte er mit seiner Choreografie zu Die Dame und das Einhorn (Libretto: Jean Cocteau, Musik: Jacques Chailly) 1953 im Münchener Gärtnerplatztheater verbucht. 1959 bis 1967 Ballettdirektor der Bayerischen Staatsoper, arbeitete Rosen auf internationalen Bühnen (in Österreich auch an der Staatsoper und bei den Salzburger Festspielen) sowie für den Film. Die Volksoper sollte ihm nach der sensationellen Kiss me, Kate auch die beiden folgenden Musicals, Wonderful Town und Annie, Get Your Gun, anvertrauen.

Ernst Marboe, dessen gewaltiges Arbeitspensum ihn auch regelmäßig zur Vorbereitung der Neuproduktionen in »seinen« Theatern führte, gab in seinen Tagebüchern plastische Schilderungen von den Vorbereitungen:

»11. Jänner. In Volksoper Probe von Kiss me Kate. Der Dirigent Rudel und der Regisseur Rosen machen einen netten Eindruck. Die Probenatmosphäre ist gut und es scheint, als ob ein frischer, jugendlicher Zug in die Volksoper gekommen wäre. Wollen wir hoffen, daß es so bleibt. Es kommen einige Arbeiter zu mir und sagen: Das ist etwas, wovon wir glauben, daß es dem Haus gut tut.

9. Februar. Nachmittag bei erster Orchesterprobe »Kiss me Kate«. In der Volksoper mangelt es stark an Disziplin und Organisation. Prawy hat den Produktionsapparat zweifellos nicht in der Hand. Salmhofer vertritt eine rückschauende Linie und ist im Augenblick stark von dem Tenor [Alexander] Pichler, sowie von [Kurt] Preger u. dgl., vielleicht auch von [Anton] Paulik beeinflußt.

13. Februar. Generalprobe von Kiss me Kate. Im Großen gut, der 2. Teil zu lang. Ich verlange nachher sofort Kürzung um mindestens 20 Minuten.

14. Februar. Am Abend Premiere »Kiss me Kate«. Großes Haus, blendende Stimmung. Ganz wenig Mißvergnügte. Frau Heilingsetzer [Gattin des späteren ÖVP-Finanzministers Eduard Heilingsetzer] findet Shakespeare beleidigt. [Adolf] Rott ist innerlich böse. Hoesslin sagt nachher, Rott kann es nicht ertragen, daß ein anderer Erfolg hat oder daß er nicht recht hat. Seine Vorhersage, daß das Musical ein Durchfall wird, weil er einmal in Berlin einen Durchfall mit Oklahoma [das Berlin-Gastspiel einer amerikanischen Truppe 1951] erlebt hat, ist zum Glück nicht eingetroffen. Nach Premiere mit Prawy, Lewis, Moorefield, Dilworth, Hoesslin, im Falstaff vis-à-vis von der Volksoper. Die Menschen sind untereinander beleidigt. […] es war notwendig, dieses Team zu ermutigen.«

Direktor Salmhofer war offenbar nicht dieser Meinung und blieb der Premierenfeier fern. Ausstattungschef Hoesslin verortete ihn im radikalen Anti-Musical-Lager: »Salmhofer sagte anfangs: Entweder das Musical oder ich!« Da der Direktor selbst Prawy als Mitarbeiter gewünscht hatte, ist dies nicht ganz glaubhaft. Die »neue« Musik liebte Salmhofer zwar gewiss nicht, doch schätzte er, wie jeder Direktor, den Erfolg, und Kate sollte sich als solcher herausstellen. Seine ambivalente Haltung lässt sich an einer Anekdote plastisch darstellen. So zitierte Salmhofer am Beginn der Kate-Proben Fred Liewehr in sein Büro: »Fredi, hör dir den Schmarren an, und so was sollst du singen!« Dann griff er in die Tasten und spielte, möglichst lieblos, die Walzerparodie »Wunderbar«. Noch während des rauschenden Premierenapplauses soll Salmhofer in Liewehrs Garderobe gestürmt sein und ausgerufen haben: »Was hab’ ich dir gesagt, Fredi: dein Triumph!«

Weiter mit Marboes Aufzeichnungen:

»16. Februar. Die Morgenzeitungen über Kiss me Kate überwiegend ausgezeichnet. Tschulik in der Wiener Zeitung etwas orthodox, Ulrich im Neuen Österreich etwas zurückhaltend, Arbeiterzeitung blamiert sich selbst, denn vor wenigen Tagen schrieb man dort ›Mich wird Käthchen nicht küssen‹, und heute sagt Hubalek, er läßt sich von Käthchen küssen.

17. Februar. Mit Salmhofer und Prawy konkrete Spielplanweiterarbeit. Prawy wird als Direktionsrat eingestellt.

19. Februar. In der Volksoper läuft Kiss me Kate ausverkauft.

25. Februar. In Kiss me Kate, wo [Sonja] Mottl[-Preger] erstmalig statt Brenda Lewis auftritt. Nachdem die erste Viertelstunde vorbei ist, kommt sie gut in Fahrt und liefert eine erstklassige Leistung. Noch nie hat es so viele Autos um die Volksoper gegeben. Wir sind praktisch täglich mit Kiss me Kate ausverkauft.«

Einen detailreichen Bericht über die (teilweise noch heute herrschenden) Probenbedingungen gab Julius Rudel im New Yorker Magazin Theatre Arts (Juni 1956), der hier auszugsweise wiedergegeben sei.

»… und niemand vermisste den Walzer«

Julius Rudel erzählt

[…] schließlich wurde ich in der Hochburg der Operette geboren und war mir der großen Kluft bewusst, die amerikanische Musical Comedy vom wienerischen Verständnis der Unterhaltungsmusik trennt – hier der Schwung des Dreivierteltaktes, dort der Swing Cole Porters, hier gemütlicher Witz, dort die beißende, idiomatische Komödie von Sam und Bella Spewack. Dies zu den Unterschieden der Form – aber es gab auch praktische Schwierigkeiten. […]

Es schien, als ob ich das exzellente Volksopernorchester niemals dazu bringen würde, Porters Musik zu spielen. Die Herren waren alle kooperativ, aber die Schwierigkeiten, den vollkommen neuen Musikstil zu bewältigen, erforderten mehr als ihren guten Willen. Zwischen 13 und 17 Uhr wird an diesem Theater nicht geprobt; abends ist dies auch nicht möglich, da Orchester und Sänger für den regulären Vorstellungsbetrieb zur Verfügung stehen müssen. Diese Probenbeschränkungen wurden durch strenge gewerkschaftliche Regelungen kaum erleichtert, die eine maximale Proben- und Aufführungszahl pro Monat festlegen. Deshalb sind die Musiker einem Rotationsprinzip unterworfen, mit dem Ergebnis, dass das Orchester bei zwei Treffen nie exakt dieselbe Zusammensetzung hat. Während der Probenzeit blieb ich recht höflich, wenn ich bei jedem Betreten des Orchestergrabens neue Gesichter sah. Doch ich werde niemals den Schock vergessen, als ich bei der neunten Vorstellung vor das Orchester trat und auf dem Konzertmeistersessel ein Herr saß, dem ich nie zuvor begegnet war!

Zum Teil wegen dieses verzwickten »Radels« erforderte die Show zwölf Orchesterproben anstelle der drei oder vier, die sie in New York gebraucht hätte. Der Umfang des Orchesters war fabelhaft. Es umfasste fünfundvierzig Männer gegenüber den vierundzwanzig bis sechsundzwanzig eines amerikanischen Musical-Orchesters, doch das war nur teilweise der größeren Streicherbesetzung zuzuschreiben. Während zum Beispiel ein amerikanischer Musiker zwischen Klarinette, Saxophon, Flöte und Oboe abwechselt, brauchten wir in Wien für jedes Instrument einen Spieler, und Saxophonisten waren tatsächlich rare Erscheinungen. Nicht nur musste ich Saxophonisten aus Tanzkapellen heranholen, ich platzierte auch mehrere Jazz-Musiker unter den Blechbläsern, um der Volksopernmannschaft bei den Jazz-Akzenten zu helfen. Dabei war es keine einfache Sache, Jazzer aufzutreiben. Wir probten mitten in der Ballsaison und die meisten von ihnen waren schon engagiert. […]

Brenda Lewis, Olive Moorefield und Hubert Dilworth […] haben wohl mehr für die Völkerverständigung geleistet als drei hochrangige Diplomaten es vermöchten. […]

Wir trainierten die Chorsänger, sich zu bewegen, während sie sangen, und die Ballettmitglieder, zu singen, während sie sich bewegten; das war für Wiener Verhältnisse eine Revolution, doch jeder Einzelne genoss sein Doppelleben außerordentlich.

Hatte Prawy die Regierungsstellen einmal überzeugt, amerikanisches Musical zu produzieren, geschah dies mit Pracht! Die Ausstattung war so üppig, dass dies bisweilen der Show in die Quere kam. Typisch für den Aufwand war die Dekoration für »Too Darn Hot« (»Viel zu heiß«). Die Nummer dauert etwa fünf Minuten (der tumultartige Applaus und das Trampeln, die jedes Mal auf sie folgten, nicht eingerechnet), und das Bühnenbild wird nirgends in der Show mehr verwendet. Am Broadway benützt man hier einen einfachen Hänger. An der Volksoper hatte man uns mit einer solide gezimmerten Holzwand versorgt, mit einem Aufbau und einer Feuerleiter, auf denen man mühelos spazieren konnte – die Tatsache, dass niemand darauf ging, war irrelevant. Immerhin tröstete uns der Gedanke, dass, wenn das Stück ein Misserfolg würde, wir alle in dieser Dekoration einige Zeit gratis wohnen könnten …

Um die massive Szenerie zu bewegen, brauchte es 95 Bühnenarbeiter, das war mehr Personal, als auf der Bühne stand. Trotz der riesigen Drehbühne und all diesen Arbeitskräften ging es in den Proben immer noch so langsam voran, dass ich zu einer List greifen musste, um die Dinge zu beschleunigen. Wann immer ich etwa dreißig Sekunden einer musikalischen Überleitung hatte, behauptete ich vor dem Regisseur und dem Ausstatter, ich hätte nur zehn Sekunden. Bei der Premiere waren die Kritiker dann überwältigt von dem, was sie als atemberaubendes Tempo der Show empfanden! […]

Ich habe keinen Zweifel, dass diese Kate-Produktion einen Einfluss haben wird auf die Art und Weise, in der zukünftig in Wien Stücke geschrieben und aufgeführt werden. Sie machte das Publikum mit dem Gebrauch vieler verschiedener Musikstile in einer Show, mit der sorgsamen gegenseitigen Durchdringung von Buch und Musik, mit einer durchgehenden Aufführung ohne längere Pausen, mit einem ständig bewegten und teilnehmenden, niemals herumstehenden Chor bekannt. Es fand hier eine grundsätzliche Revolution des Operettenstils statt, welche die Wiener überzeugte. […]

Bisweilen machten wir uns Sorgen über die Wirkung, die manche Stellen im Stück auf ein europäisches Publikum haben würden. Ein Beispiel dafür war der Song »Wunderbar«. Würden die Wiener es als Satire auffassen oder als ärmlich gemachten Walzer missverstehen? Wir versuchten es einige Male abzuändern, beließen es schließlich aber doch wie geschrieben – und ich berichte glücklich, dass die Wiener über sich selbst lachen können. Wir fürchteten auch, dass »I Hate Men« als »undamenhaft« empfunden würde, aber nach vielen Debatten und Experimenten brachte es Brenda Lewis genau wie in Amerika und erntete einen rauschenden Erfolg.

Fred Liewehr legte den Petruchio zunächst sehr ernsthaft an. Schließlich ist er auch einer der meistverehrten Schauspieler des berühmten Burgtheaters. Aber er legte zu und steigerte sich zu einer blendenden Leistung, mit der er allabendlich viele der Lacher auf sich ziehen konnte. Jedoch schreckte er lange davor zurück, der Hauptdarstellerin den Hintern zu versohlen. Die Lewis, Profi durch und durch, auch wenn es wehtut, überzeugte (oder provozierte?) ihn schließlich dazu. Liewehr war ebenso überrascht wie bestärkt vom Dröhnen zustimmenden Gelächters, sodass er ab sofort mit größter Hingabe seine Kate verdrosch. […]

Im Allgemeinen muss ich sagen, dass es beim Publikum keine Unterschiede gibt: Was amerikanische Zuschauer zu Applaus oder Gelächter animiert, bewegt auch die Wiener dazu. Wenn wir Buch und Musik original beließen (einige waren ja der Meinung gewesen, wir müssten uminstrumentieren, um den Klang sanfter und süßer zu machen), hatten wir Erfolg. Wo die Darsteller von den originalen Intentionen des Komponisten und der Autoren abwichen – wie im Falle der Gangster – reagierte das Publikum schwächer. […]

Ich sollte nicht schließen, ohne auf die Übersetzung einzugehen. Jeder fragt mich zuerst: Wie kann Kate eine Übertragung ins Deutsche überleben? Auch ich war zunächst skeptisch, aber als ich einige der Verse sah, die Marcel Prawy hergezaubert hatte, war ich überzeugt. […]

Alle drei Amerikaner brachten Teile ihrer Lieder auf Englisch, und wir waren sehr überrascht, dass Brenda Lewis mit »I Hate Men« im Original und in der Übersetzung gleich viele Lacher erntete. Es scheint, dass zehn Jahre amerikanische Besatzung den Wienern ausreichende Grundkenntnisse des Englischen vermittelt hatten, dass sie Zeilen wie »’Tis he who’ll have the fun and thee the baby« (»Er wird den Spaß haben, dir bleibt das Baby«) verstanden.

Kiss me, Kate an der Volksoper war ein überragender Erfolg in jeder Hinsicht. Die Ewiggestrigen, die sich gegen Prawy gestellt hatten, als er Musical mit staatlicher Subvention in Angriff nahm, sind jetzt damit beschäftigt, die enormen Kasseneinnahmen zu zählen. Der »barbarische Import«, der seit der Premiere im Februar rund drei Mal die Woche gegeben wird, erzielte nämlich oft genug volle Häuser bei erhöhten Preisen, […] und während ich diese Zeilen schreibe, wird angestrengt überlegt, welches amerikanische Musical im Herbst folgen könnte.

Die Kritiker, die während der ganzen Saison an der Staatsoper Dampf abgelassen hatten, verbrauchten all ihre Superlative für Kate. Einer begrüßte das Kommen des Musicals als Ereignis, das der Aufführung der ersten Offenbach-Operette in Wien gleichkam. Ein anderer jubelte: »Die Operette ist tot – es lebe das Musical.« Aber ich glaube, die Haltung des Wiener Theaterpublikums wurde am besten durch jenen Kritiker ausgedrückt, der schrieb: »Küss mich, Käthchen – wieder und wieder.«

Kate und die Gangster: Kurt Preger, Brenda Lewis und Helmut Qualtinger

»Ballettfreunde und Jazzfans, Operettenliebhaber und Revueanhänger gingen mit fliegenden Fahnen begeistert zum neuimportierten ›Musical‹ über«, jubelte der Stern zu einer Zeit, als man das Genre noch unter Anführungsstrichen nannte, und erklärte auch den nicht durchschlagenden Erfolg der beiden Gangster Helmut Qualtinger und Kurt Preger: »Viel zu dick wollten die Gangsterkomplizen in ihren Couplets auftragen, fand die Zensur. Darum fielen die Strophen über Proporzluftfahrt und Wiens Schneeskandal schon vor der Premiere unter den Tisch.« Mit »Zensur« war wohl der Produktionsleiter selbst gemeint, der auch andere Einwände gegen den prominenten Kabarettisten hatte: Prawy wollte Qualtinger nicht verzeihen, dass dieser in einer Zeitungskolumne über das Musical gespöttelt hatte – ab der Saison 1956/57 wurde die Rolle umbesetzt.

Es erübrigt sich, auf die Kritiken im Detail einzugehen – Kiss me, Kate war einer der raren, fast unwidersprochenen Triumphe: »Begeisterungsstürme um Cole Porters Kiss me, Kate …« hieß es im Bild-Telegraph, »Triumphaler Erfolg des ersten Musicals in Österreich« im Neuen Kurier, »Kiss me, Kate da Capo, da Capo, da Capo!« in der Presse. Hier stand auch zu lesen, dass Prawy »der eigentliche Held des Abends ist, und der triumphale Erfolg des ›Musicals‹ in der Volksoper ist sein Erfolg.« Dieser hallte in internationalen Blättern wie Opera oder Time wider und leuchtete umso heller vor dem düsteren Hintergrund einer Krise des Opernhauses am Ring, die Direktor Karl Böhm am 6. März 1956 zur Demission zwang.

In die Gratulantenschar reihte sich – leider nur brieflich – Cole Porter ein. Prawy wollte eine Gala-Vorstellung in Anwesenheit des Meisters ansetzen, was nicht zustande kam. Immerhin übersandte ihm der Komponist ein signiertes Foto, eines der Prunkstücke in Prawys Nachlass.

Die Kritik Rudolf Kleins in der Österreichischen Musikzeitschrift (1956, Heft 3) erörterte Grundsätzliches und stellte auch die Frage nach der Zukunft in den Raum:

Cole Porter grüßt den Produzenten von ferne.

Zum ersten Mal seit dem Gastspiel der Porgy-and-Bess-Truppe [1952] bekam man eine Regieleistung zu sehen, die hoch über allem steht, was man hierorts gewohnt ist. Heinz Rosen, der bekannte Choreograph, hat – zum Teil mit Kräften, denen dieser Stil vollkommen fremd war – einen Realismus auf die Bühne gezaubert, der sich kaum noch von dem des täglichen, notabene amerikanischen Lebens unterscheidet. Er durchdringt sogar die »Nummern«, also jene Teile des Werkes, die aus Formgründen den Realismus fliehen. Nicht zuletzt ist dieser Realismus […] auf die glänzenden Texte zurückzuführen. Und auf die hervorragenden Leistungen der Schauspieler.

Brenda Lewis aus New York war der Star […]. Ihr Spiel hat die Überzeugungskraft der großen Shakespeare-Darstellerin und auch der mittelmäßigen Schmierenkomödiantin, die die Rolle verlangt. Sie beherrscht das Deutsche ohne nennenswerten Akzent und singt zufriedenstellend. Und sie geht in ihrer Rolle auf, wie man es selten erlebt. Nicht weniger gefiel die Negersoubrette [!] Olive Moorefield, ein Hurrican an Lebenskraft, Übermut und Freude. Den beiden authentischen Musical-Spezialistinnen war Fred Liewehr ein gelehriger Schüler. Zeitweilig glaubte man tatsächlich, im Burgtheater zu sitzen. Die schwierige Rolle eines Tänzer-Schauspieler- Sängers hat Klaus Löwitsch zu voller Zufriedenheit (und als Debütant!) gemeistert. Schwächer waren dagegen Helmut Qualtinger und Kurt Preger als Gangsterpaar: es fehlte ihnen an Humor.

Die schwersten Aufgaben hatte das Ballett zu leisten. Es tanzte mit einer an Frenesie grenzenden Beschwingtheit nach der einfallsreichen Choreographie Dia Lucas. Unter der Führung des ebenfalls »importierten« Julius Rudel spielte das Orchester, als ob es in Brooklyn zuhause wäre. Den Zauber der farbenfrohen Bühnenbilder hatte Walter Hoesslin geschaffen.

In welcher Weise das Musical in Wien heimisch werden wird, ist noch nicht vorauszusehen. Werden weitere amerikanische Stücke gespielt werden, wird eine eigene Produktion aufgezogen? Der Anfang verlangt jedenfalls gebieterisch eine Fortsetzung.

Die Fortsetzung folgte, doch galt es zunächst, den Erfolg zu »verkraften«. Mit 61 Vorstellungen und 2 500 000 Schilling Einspielergebnis bei Produktionskosten von 500 000 Schilling war Kate der absolute Spitzenreiter der Saison 1955/56, der offenbar auch die Einspielergebnisse anderer Stücke mitzog. Prawy notierte: »Während Kiss me, Kate allabendlich ca. 45 000 Schilling bringt, ist der Besuch der Volksoper an den übrigen Abenden, Kiss me, Kate nicht mitgerechnet, vom Tagesdurchschnitt von 21 000 unter Juch auf 31 000 Schilling angestiegen.«

Der Erfolg war so nachhaltig, dass das Musical en suite bis Mitte Juli 1956 gespielt wurde. Im Mai präsentierte sich ein neuer Petruchio als Einspringer, der zu einem der größten Volksopernstars überhaupt reifen sollte: der 2013 verstorbene Peter Minich, der die Erstaufführung des Musicals in Graz gesungen hatte.

»Um Gottes willen, das traust du dich?«

Peter Minich erzählt

Die Grazer Erstaufführung von Kiss me, Kate fand am selben Tag wie die Wiener statt – aber sie begann eine halbe Stunde später, damit Wiens Recht auf die Erstaufführung nicht verletzt wurde. Schon im Mai rief mich Prawy zu einem Einspringen für Fred Liewehr als Petruchio. Ich sah mir mit meinem Vater eine Liewehr-Vorstellung an – er hatte einen gigantischen Erfolg. Mein Vater fragte mich nachher: »Um Gottes willen, das traust du dich?« Ich konnte nur kleinlaut antworten: »Ich hab schon zugesagt, jetzt muss ich!« Der Petruchio ist keineswegs einfach; man muss ihn gut spielen und singen – immerhin hat ein Eberhard Waechter in Köln mit dieser Partie keinen Erfolg gehabt!

Peter Minich und Sonja Mottl-Preger in Kiss me, Kate

Mit Helmut Qualtinger teilte ich bei den Proben eine Garderobe. Schon in aller Früh hat er mir Himbeergeist angetragen … ich lehnte ab. Irgendwie fand Qualtinger in die Rolle des Gangsters nicht hinein – er versuchte ohne Erfolg, gefährlich zu wirken.

Prawy ist allen leidenschaftlich auf die Nerven gegangen, weil er immer mit einem vollgekritzelten Schmierzettel bewaffnet herumgelaufen ist und jeden Punkt und Beistrich überwachte: »Du hast was ausgelassen, das muss langsamer sein …« Beim Lied des Petruchio, das nicht von vornherein so gut angekommen ist, habe ich das Publikum so weit gebracht, dass es den Szenenwechsel durchapplaudierte. Der überragende Erfolg der Produktion hat alle Nörgler mundtot gemacht. Auch Paulik, der nur vom »amerikanischen Dreck« gesprochen hatte, musste zähneknirschend den Triumph eingestehen.

Als Marcel Prawy 1991 seinen 80er in der Staatsoper feierte, bestand er darauf, dass ich das Lied des Petruchio singe – im Originalkostüm! Es war eine Prüfung, ob es überhaupt noch passt – ich habe die Prüfung bestanden.

Kiss me, Kate wurde auch »exportiert«. Am 8. August 1959 fand die italienische Erstaufführung unter dem Titel Baciami Caterina im Castello di San Giusto zu Triest statt, die italienische Fassung stammte von Prawy und Mario Nordico. Neben italienischen Darstellern wie Italo Tajo (Fred Graham) waren wesentliche Gäste aus der Wiener Produktion beschäftigt, so Mottl-Preger, Moorefield und Dilworth, es dirigierte Heinz Lambrecht, die Inszenierung stammte von Ernst Pichler. 1960 lief Prawys Einrichtung auch am Salzburger Landestheater, wobei eine Nebenrollenbesetzung hervorsticht: Den Inspizienten Ralph spielte Karl Merkatz. Im Juni 1961 produzierte Prawy Embrace-moi, Cathérine in Brüssel.

Die hundertste Kiss me, Kate in Wien wurde im Herbst 1960 gebührend gefeiert, wobei weder Brenda Lewis noch Hubert Dilworth zur Verfügung standen: »I must return to America with her October 9th«, ließ er Prawy wissen, wobei er seine neue Chefin Leontyne Price meinte.

»Käthchen küsste zum 150. Male«, meldete die Wiener Zeitung am 26. September 1965. Liewehr und Moorefield traten in alter Frische auf, Mottl-Preger war wieder die Kate, das Gangsterpaar mittlerweile bei Herbert Prikopa und Friedrich Nidetzky in guten Händen. Sie alle ernteten »lauten Beifall für die Jubiläumsaufführung in der Volksoper«, doch der bittere Nachgeschmack wurde nicht verschwiegen: »Vorbei freilich sind jene Zeiten, da man, wie einst im Feber [1956], eine neue Ära des musikalischen Unterhaltungstheaters im Zeichen des Musicals versprach, die Volksoper sogar ganz auf dieses Genre umstellen wollte. Nur Kiss me, Kate ist ein Serienerfolg geworden.«

Bis 1972 hielt sich die Kate im Repertoire der Volksoper, wohin sie erst ein Jahrzehnt später zurückkehren sollte; schon im Februar 1973 sicherte sich das Theater an der Wien Cole Porters Erfolgsmusical für 78 Vorstellungen.

Wonderful Town

Musik von Leonard Bernstein

Liedtexte von Betty Comden und Adolph Green

Buch von Joseph Fields und Jerome Chodorov nach ihrem Lustspiel My Sister Eileen sowie den Kurzgeschichten von Ruth McKenney

Deutsche Fassung von Marcel Prawy

New Yorker Premiere am 25. Februar 1953

Europäische Erstaufführung an der Volksoper am 9. November 1956

»Jedes amerikanische Musical enthält eine Prise New York. In vielen spielt die Weltstadt selbst eine Hauptrolle«, schreibt der deutsche Musical-Experte Günter Bartosch. In Leonard Bernsteins Wonderful Town (so wie in seinem neun Jahre früher entstandenen On the Town) ist dem »Big Apple« sogar die Titelrolle zugedacht.

Ein langes Schreiben Marcel Prawys an Ernst Marboe vom 19. Jänner 1956, einen knappen Monat vor der Kate-Premiere, reihte Wonderful Town auf einer Liste ehrgeiziger Projekte noch vor Weills Lost in the Stars und Lady in the Dark, Lerners & Loewes Brigadoon, Lanes Finian’s Rainbow und Rodgers’ & Hammersteins Carousel.

Der Reiz, erstmals auf dem europäischen Kontinent ein Bühnenwerk des von Prawy heiß verehrten Leonard Bernstein aufzuführen, hat wohl die Entscheidung begünstigt. Das Vorhaben provozierte auch ignorantablehnende Stimmen. Von wem dieser Satz wohl stammt: »Bernstein? Wie der Name schon sagt, wahrscheinlich a Freund vom Prawy aus der Emigration …« Prawy hat ihn stets mit grimmiger Wonne zitiert, aber nie dessen Urheber genannt.

Als Regisseur sollte Adolf Rott gewonnen werden – ein aussichtsloses Unterfangen, den erbitterten Musical- und Prawy-Feind auf die eigene Seite zu ziehen; als Dirigent setzte Prawy in der Liste vom Jänner 1956 beherzt ein: »Der Komponist«.

Vom ersten Musical-Triumph ermutigt, sandte Prawy denn auch am 21. März 1956 ein »Airmail« an Bernstein, dem er die enthusiastische Kate-Kritik aus Time beilegte: »Wir planen, die Serie mit WONDERFUL TOWN fortzusetzen und in der letzten Oktoberwoche 1956 Premiere zu haben. Lassen Sie uns bitte wissen, ob Sie prinzipiell unsere Einladung annehmen würden, die letzten Proben zu überwachen und einige Vorstellungen zu dirigieren. [Der Generalsekretär des Wiener Konzerthauses] Dr. Egon Seefehlner (den Sie kennen) würde sich mit einer Einladung für einige Symphoniekonzerte in derselben Zeit anschließen.« Mit gleicher Post ging ein Einladungsbrief an den Uraufführungsdirigenten von Wonderful Town, Lehman Engel. Weder Bernstein noch Engel sagten zu, auch Rudel war auf so kurze Sicht nicht verfügbar.

In der Regisseur-Frage schwenkte Prawy von Rott schnell auf Rosen um, ihm musste auch die tanzdurchsetzte Ode an New York liegen: »Diesmal keine Improvisation, sondern richtige große Arbeit«, schrieb Prawy am 26. März an Rosen und fügte augenzwinkernd hinzu: »Hoffentlich werden wir mit der richtigen großen Arbeit eben solchen Erfolg haben wie heuer bei der Improvisation …« Rosen empfahl den tschechischen Dirigenten Dalibor Brazda, »der in Prag eines Tages die [Porgy-] Vorstellung übernommen hat und die P. u. B. Tournee bis zum Ende dirigierte – weil er so außerordentlich gut war«. Im Juni 1956 wurde Brazda für die Einstudierung des Musicals gewonnen. Prawys Bemühungen um Tänzer der Ballets de Paris gipfelten immerhin in einem Gastspiel der Truppe mit deren Star Buzz Miller im April 1956 an der Volksoper, als Solotänzer in Wonderful Town agierten aber Julia Drapal und Dick Price. Von der Sängerbesetzung standen Moorefield (Eileen) und Dilworth (Goal) rasch fest. Parallel verhandelte Prawy unter anderen mit Walter Slezak für die Komikerrolle, die Wunschbesetzungen für die Hauptpartien lauteten natürlich Lewis (Ruth) und Liewehr (Baker) … never change a winning team!

Heinz Rosen, Feuer und Flamme für eine weitere Musical-Arbeit an der Volksoper, hegte anfangs Zweifel an der Stückwahl. Prawy holte wortreich zum Überzeugungsschlag aus: »Ein großer Teil des Erfolges von Kiss me, Kate liegt in der Tatsache, dass es in modernen Kleidern spielt und lustig ist, und das möchte ich unbedingt wiederholen.« Reif für den Musicalführer (und dank sprachlicher Unebenheiten nur noch plastischer) ist die Inhaltsdarstellung, mit der Prawy dem Regisseur Wonderful Town schmackhaft machte:

Es sind im Stück eine Fülle von Situationen, von denen ich glaube, dass es nach Ihrer Art, der aus dem Tanz geborenen Regie, schreit. Die Eröffnungsszene des Stückes zeigt eine Gruppe von Touristen, die von einem Fremdenführer durch die Gassen und Straßen des Künstlerviertels von New York geführt werden, wobei er ihnen typische Bohemièncharaktäre [sic!] vorführt (lebende Bilder, die sich in Tanz auflösen und wieder erstarren). – Urkomisch ist die Szene, wo die beiden Provinzmädchen am ersten Abend in der armseligen Künstlerbude in Pyjamas in einem Bett schlafen, von ihrer Heimat Ohio träumen und dabei ununterbrochen durch riesigen Krach gestört werden, weil man unter dem Zimmer gerade Sprengungen für eine neue Untergrundbahn durchführt. – Vollkommen einmalig ist das Finale des 1. Aktes, in welchem Ruth (Lewis) im Hafen von New York auf ein brasilianisches Schiff geschickt wird, um ein paar brasilianische Admirale [es handelt sich um Kadetten] über ihre ersten Eindrücke von Amerika zu interviewen. Da sie einander aus sprachlichen Gründen überhaupt nicht verstehen, artet das in einen wilden Congatanz aus, von dem sich niemand mehr retten kann. Sie wird von den Admiralen im Conga verfolgt und auf dem Wege vom Schiff zu ihrem Haus beginnt gewissermaßen die ganze Stadt, Conga zu tanzen, und in diesem wilden Congatrubel endet der 1. Akt. – Ganz reizend ist die Szene, wo Eileen (Moorefield) wegen verschiedener Exzesse im Polizeigefängnis landet und dort die Polizeibeamten so becirct, dass sie sie im Gefängnis bedienen wie im Luxushotel. – Großartig ist auch die Szene (»Swing«), wo Brenda Lewis auf der Straße bei vorübergehenden Passanten Reklame für ein Nachtlokal zu machen hat, und dabei eine ganze Straße zum Jazztanz bringt. – Sehr gut ist auch das wilde existenzialistische Finale im Nachtlokal im Künstlerviertel.

Während die Kate-Serie bis Mitte Juli lief, schmiedete Prawy bereits Pläne für die Saison 1957/58, arbeitete vor allem aber »Tag und Nacht am Buch« zu Wonderful Town und bemühte sich um die Besetzung. Nachdem sich die Wunschpaarung Lewis/Liewehr zerschlagen hatte, fand er in der Schwedin Ulla Sallert »eine sensationelle Frau genau diesen Stils« (sie wurde im Juli 1956 als Kate ausprobiert), was ihn nicht davon abhielt, auch mit Marika Rökk Kontakt aufzunehmen und weiter Brenda Lewis mit Textproben »from the great Prawy-Conga« zu umwerben: »To sing long forgotten operas by Mozart or make a grand operaham in Nevada when you could be the hit of Europe I consider a criminal stupidity.« Prawy schloss: »Come back, little Mistviech …«, und verlegte sich auf eine Hoffnung, die sich erfüllen sollte: »Then we will make Annie Get Your Gun with Brenda Lewis« (Brief vom 23. Juli 1956).

Balletteinlage mit Dick Price und Julia Drapal

Da als zweite Hauptdarstellerin Olive Moorefield ausersehen wurde, wandelte Prawy in seiner deutschen Bearbeitung die Schwestern aus Ohio zu einem Freundinnenpaar. Für den Baker kam vorübergehend Karl Schönböck in Betracht, man entschied jedoch für den deutsch-niederländischen Schlagerstar Bruce Low.

Mit Direktor Salmhofer blieb Prawy den Sommer über in dauerndem und herzlichem Briefkontakt. Am 3. August schrieb er: »Ich war bis vorgestern bei meiner Tante, Baronin Wurzian, in Kitzbühel und habe dort – meistens am Gipfel des Hahnenkamms – Wonderful Town bis auf gewisse Detailszenen fertig geschrieben. Ich fahre heute auf zehn Tage zu Rosen, um noch das Letzte festzulegen.« Er meldete das Engagement von Siegfried Arno (»Erinnern Sie sich noch an ihn, mit der großen Nase?«) für Appopolous, der ab September 1956 auch den ersten Gangster in Kate verkörperte. Salmhofer wurde auch darauf vorbereitet, »ein paar Überleitungsmusiken etc. zu verfassen – wir bringen Ihnen einen diesbezüglichen ›Wunschzettel‹ mit.«

Am 10. August wandte sich Prawy an den Komponisten Leonard Bernstein, der bereits der nächsten Uraufführung entgegensah: »I am keeping my fingers crossed for CANDIDE (I am very much interested in the german rights) and I hope that you do the same for our WONDERFUL TOWN. I am happy to report that the preparations look very promising. We hope that this shall turn out to be the greatest production the show has ever received.«

Prawys Entschlossenheit, »dass wir jetzt etwas auf die Beine stellen müssen, das Kiss me, Kate im Lichte der Geschichte nur mehr als ein halb vergessenes Embryo erscheinen macht«, sollte sich nicht umsetzen lassen. Ernst Marboe liefert eine Chronik der letzten Probentage:

»6. November. Generalprobe von ›Wonderful Town‹, von ½10 Vm. bis ¼8 Uhr abd. durchlaufend in der Volksoper. Die Gen.Probe zieht sich entsetzlich, es ist die erste durchlaufende Bühnenprobe und vieles ist zu lang und wenig wirkungsvoll. Ich bitte nachher Rosen, Prawy und Brazda in die Direktion (Salmhofer ist leider immer noch mit Nierensteinen krank) und kürze radikal eine halbe Stunde heraus.

7. November. Am Abend erste Durchlaufvorstellung ›Wonderful Town‹, vor geschlossenem Haus, Gewerkschaftsbund. Die Kürzungen haben sich als entscheidend herausgestellt, das Stück kommt stark und mit großem Beifall an. Es ist in der Story schwächer und weniger dichterisch als Kiss me Kate, aber in der Durchführung sowohl im musikalischen, als im Tempo, zweifellos stärker und zügiger.

9. November. Am Abend Premiere von ›Wonderful Town‹. Das Premierenpublikum ist immer etwas spröde. Im Grunde kommt das Stück gut an. [Finanzminister Reinhard] Kamitz, [Verkehrsminister Karl] Waldbrunner, [Unterrichtsminister Heinrich] Drimmel – pro, [Kulturstadtrat Hans] Mandl – contra. Mir gefallen einige schmierige oder ordinäre Stellen von Arno nicht und ich ersuche Prawy dringlichst, sie zu eliminieren.«

Wonderful Town ist als abwechslungsreiche »Show« gut angekommen, ohne sich das Heimatrecht einer Kiss me, Kate zu erwerben. Der Grandseigneur der österreichischen Musiktheaterkritik, Heinrich Kralik, setzte den Anfangserfolg nicht als Maßstab, sondern erkannte die Individualität des neuen Stückes: »Das Hübscheste und Überraschendste am neuen ›Musical‹ in der Volksoper liegt darin, daß es so ganz anders ist als das erste. […] Das Libretto verfährt […] schlechthin feuilletonistisch. […] Dazu kommt als wesentliches und entscheidendes Merkmal, daß die feuilletonistischen Pointen jeweils musikalischer Art sind. […] Und diese Musik hat Charme, Schwung und Einfall. Sie stammt von Leonard Bernstein, einem jüngeren, hochbegabten Komponisten, der neben seinen ›Musicals‹ auch gewichtige und gehaltvolle Symphonien schreibt. In seinen Einfällen halten Artistik und Volkstümlichkeit einander die Waage. […] Wie das Werk keine führende Handlung besitzt, so verzichtet auch die Aufführung auf Stars, auf führende Persönlichkeiten, und erzielt die stärksten Wirkungen aus dem animierten Zusammenspiel, aus dem glänzend organisierten bunten und fröhlichen Durcheinander. […] Eileen ist die charmante, grazile Olive Moorefield, die ihr sprühendes Naturtalent so klug zu nützen weiß. Ruth, ihre Freundin und Genossin bei den abenteuerlichen Erfahrungen, ist Ulla Sallert, ein stilleres und weniger prägnantes Temperament. […] Die Männerwelt wird am nobelsten durch Bruce Low vertreten – er wirkt zwar etwas steif, etwas hölzern, aber vielleicht liegt sein Charme eben darin, daß er keinen Charme zur Schau trägt –, am impulsivsten durch den sanguinischen Hubert Dilworth, am gemütlichsten durch Siegfried Arno. Von den vielen wohlgelungenen Episodenfiguren nennen wir Julia Drapal, die nicht nur tanzt, sondern auch ein Couplet vorträgt« (Die Presse).

Ulla Sallert im »Conga«-Trubel

Der Neue Kurier stimmte einen Lobgesang auf den Regisseur an: »Ein Rosen ohne Dornen. Seine Ideen en gros und en detail auch nur anzudeuten, würde eine Sonderausgabe nötig machen. Nur soviel: Er ist hier, stärker und brillanter noch als in Kiss me, Kate, ein effektkundiger Souverän der Szene, um naive Wirkungen ebenso wenig verlegen wie um raffinierte artistische Pointen.«

»Nach dem großen künstlerischen und finanziellen Erfolg von Kiss me, Kate hat sich die Direktion der Volksoper dem Musical verschworen, wie die Hausfrau immer wieder Palatschinken macht, wenn diese dem Gatten einmal geschmeckt haben«, bemühte die Weltpresse einen Vergleich aus der Küche. »Dabei kommt es aber auf die Füllung an. In Kiss me, Kate war das eine Idee und Shakespeare, in Wonderful Town gibt es aber keine Idee und von Shakespeare ist weit und breit nichts zu sehen. Das Ergebnis ist eine Monstershow, bei der keine Kosten und Mühen gescheut wurden.«

»New York besteht vor allem aus Wirbel«, titelte die Wiener Zeitung