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Dankmar H. Isleib

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Beschreibung

Der Autor, Ex-Rockmusiker und Journalist, hat die Thriller-Trilogie 666-PERFEKTION DES BÖSEN im Jahr 1999 begonnen … Die Welt geht zum Teufel. Die vier apokalyptischen Reiter scharren längst nicht mehr mit den Hufen, sie sind losgelassen. Unsere Welt stürzt in Chaos. Seuchen, Überbevölkerung, Hunger, Kriege, die massive Zerstörung unserer Umwelt bedrohen die Erde. Die schlimmsten Waffen aber sind die Technologien des 21. Jahrhunderts – Robotik, Gentechnik und Nanotechnologie. Selbst Einzelne oder kleine Gruppen können diese Waffen missbrauchen. Oder tun sie es bereits …? Die CORONA-Krise als Synonym dafür …? Dieses Szenario beschreibt der Autor Dankmar H. Isleib in seiner Thriller-Trilogie "666-Trilogie – Perfektion des Bösen" so düster, dass einem das Blut in den Adern gefriert. Der Allmachtswahn treibt eine Handvoll Superreiche, die unseren Planeten längst unter ihrer Kontrolle haben, dazu, die Welt, wie wir sie kennen, mittels kreuzgefährli-cher Technologien zu demontieren und zu beherrschen. Ihre Handlanger: Skrupello-se, geldgierige Politiker, Wissenschaftler und Geschäftemacher. Ein wilder Tanz Gut gegen Böse beginnt. Hinter dem Bösen stecken Geheimbünde, uralte Religionen und die mystische Tradition der Zahlenkabbala. Alles Fiktion oder doch Wirklichkeit? Das kann jeder für sich entscheiden.

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Seitenzahl: 415

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DANKMAR H. ISLEIB

SIE TÖTEN DICH.

BUCH ZWEI: GENTECHNOLOGIE

666-TRILOGIE – PERFEKTION DES BÖSEN

THRILLER

Alle Namen und Personen der Handlung sind frei erfunden. Eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden Personen sind unbewusst geschehen; Namen der Zeitgeschichte rein zufällig möglicherweise richtig.

Artikel 5 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zur Meinungsfreiheit: Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

Der Autor nimmt das Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz) UrhG in Anspruch.

Einleitung zur Trilogie 666-Perfektion des Bösen

Die Technologien, die in den atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen des 20. Jahrhunderts Anwendung finden, waren und sind weitgehend militärischen Charakters und wurden in staatlichen Forschungseinrichtungen entwickelt. In deutlichem Gegensatz dazu handelt es sich bei Gentechnik, Nanotechnologie und Robotik um kommerziell genutzte Technologien, die fast ausschließlich von privaten Unternehmen entwickelt werden. In unserer Zeit eines triumphierenden Kommerzialismus liefert die Technologie – unter Zuarbeit der Wissenschaft – eine Reihe nahezu magischer Erfindungen, die Gewinne unerhörten Ausmaßes versprechen. Aggressiv folgen wir den Versprechen dieser neuen Technologien innerhalb eines entfesselten, globalisierten Kapitalismus mit seinen vielfältigen finanziellen Anreizen und seinem Wettbewerbsdruck.

Da wir ständig neue wissenschaftliche Durchbrüche erleben, müssen wir uns erst noch klarmachen, dass die stärksten Technologien des einundzwanzigsten Jahrhunderts – Robotik, Gentechnik und Nanotechnologie – ganz andere Gefahren heraufbeschwören als die bisherigen Technologien. Vor allem Roboter, technisch erzeugte Lebewesen, und Nanoboter besitzen eine gefährliche Eigenschaft: Sie können sich selbstständig vermehren. Eine Bombe explodiert nur einmal, aus einem einzigen Roboter können viele werden, die rasch außer Kontrolle geraten.

Was war im zwanzigsten Jahrhundert anders? Natürlich bargen die Technologien, die den nuklearen, chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen zugrunde lagen, gewaltige Potenziale und die Waffen stellen eine ebenso große Gefahr dar. Aber zum Bau von Atomwaffen benötigte man zumindest in der Anfangszeit seltene – tatsächlich sogar nahezu unerreichbare – Rohstoffe und ein durch Geheimhaltung geschütztes Wissen; auch der Bau biologischer und chemischer Waffen verlangte einigen Aufwand. Die Technologien des einundzwanzigsten Jahrhunderts – Genetik, Nanotechnologie und Robotik – bergen dagegen Gefahren, die sich in ganz anderen Dimensionen bewegen. Und am gefährlichsten ist wohl die Tatsache, dass selbst Einzelne und kleine Gruppen diese Technologien missbrauchen können. Dazu benötigen sie keine Großanlagen und keine seltenen Rohstoffe, sondern lediglich Wissen.

Zitat:BILL JOY – Ex Chef Scientist und Mitgründer von SUN MICROSYSTEMS, Entwickler bahnbrechender Mikroprozessorarchitekturen wie SPARC, picoJAVA, Jini und MAJC sowie Solaris für ORACLE. Die Silicon Valley-Ikone Bill Joy hat sich bereits 2003 aus dem Geschäft der Software-Entwicklung zurückgezogen ...

Robotik, Gentechnik

und Nanotechnologie

machen den Menschen

zur gefährdeten Art

Bill Joy, Computer-Genie und Ex-Chefscientist

von >Sun Microsystems<, USA

Vorwort

In fast allen (alten) östlichen Lehren der Religionen und der Wissenschaften ist die Rede von einem unterirdischen Reich, das, angeblich, unter dem Himalaya-Gebirge angesiedelt sein soll. Als der noch vor Lemuria und Atlantis untergegangene Kontinent Hyperborea die Hochkultur auf der Erde war und dessen Bewohner nach einem Ausweg für ihr untergehendes Reich suchten, seien sie in die Erde, in ein unterirdisches Reich gegangen. Ihr Repräsentant auf Erden sei der Dalai Lama.

Wenn man die Kraft des Dalai Lama betrachtet, obgleich er dem zahlenmäßig sehr kleinen Volk der Tibeter, 3,6 Millionen Einwohner, angehört, möchte man meinen, es sei etwas Wahres an dieser Behauptung. Wenn man dann noch sieht, wie das Zwei-Milliarden-Volk China durch seine Führer mit aller Macht seit Jahrzehnten verzweifelt, und letztlich ohne Erfolg, versucht, die Tibeter auszulöschen, sollte man – spätestens jetzt! – stutzig werden.

Sehr stutzig.

Agarthi Lama, der Vertreter der wahren und positiven geistigen Macht Asiens, ist ein unscheinbarer, gütig ausschauender Mann. Alterslos, so scheint es. Seine enorme Ausstrahlung, gemeinhin mit Charisma bezeichnet, was nur einen Teil der Kraft widerspiegelt, die von einem Wissenden dieser Qualität ausgeht, ist so groß, dass er leuchtet. So wissen es die Lamas, Böns (Mönche) und andere geistige Führer der positiv gepolten Welt, die ihn erleben und mit ihm arbeiten.

Von innen her strahlt.

Sichtbar.

Energie pur.

Mer-ka-bah.

Dass er in diesen Tagen mehr als je zuvor zu tun hat, um die Wirrungen der Welt in den Griff zu bekommen, wissen seine Verbündeten. Wie wichtig den Rotchinesen das kleine, aus ihrer Sicht rückständige, Volk der Tibeter ist, wie viel Angst sie vor den wenigen Menschen haben, konnte man an den 2008 niedergeschlagenen Protesten anlässlich der Olympischen Spiele in Peking und der nun noch größeren Unterdrückung der Mönche Tibets erleben.

Dem Dalai Lama und seinen Freunden stehen schwere Entscheidungen bevor. Noch sind sie uneins, wie sie das Chaos bändigen können, das sich zuerst in Gedanken, dann in pervertierten Handlungen vieler Wissenschaftler der Computer-, Gen- und Nanotechnik in den USA, Europa und Teilen Asiens breitmacht. Sie arbeiten an zwei verschiedenen Lösungen. Aber nur eine wäre für die Erde gut.

Sie setzen auf einen Jungen.

I

Verzweiflung, Tod und Liebe.

Völlig konsterniert verließ Franco die Messehalle. Unfähig, ein Wort zu sagen, unfähig, seine Gedanken zu ordnen. Es war inzwischen weit nach Mitternacht und er irrte noch immer in der trostlosen Weite der Sächsischen Schweiz, unweit Dresdens, umher; der Regen hatte längst wieder begonnen, hackte ihm in stetig wachsendem, lauter werdenden Stakkato widerlich depressive Rhythmen in den aufgeweichten Schädel. Rhythmen, die ihn vollends aus dem Gleichgewicht warfen.

Schluss machen. Ich muss Schluss machen. Sie liebt mich nicht. Sie liebt mich nicht. Ich muss Schluss machen. Was für ein Scheißleben!

Schluss, Schluss, Schluss!

Ein kakophonischer Beat hämmerte erbarmungslos seit scheinbar Jahrmillionen diese abscheuliche und auf sein Versagen anspielende Botschaft in sein Hirn, zerstörte den kläglichen Rest seiner seit Jahren mehr und mehr angefressenen, zutiefst verletzten Seele. Das Trommelfeuer der Regentropfen, so schien es, machte sich lustig über Franco, den hässlichen, kleinen, italienischen Rotschopf ohne Liebe. Ohne Kraft. Ohne die Kraft zu lieben. Besser: ohne die Kraft, seine Liebe der Geliebten zu vermitteln.

Er hatte auf ganzer Strecke versagt.

Stand vor Stella, war ihr physisch nah wie nie zuvor, konnte ihren Atem spüren, die Furcht in ihren Augen lesen und war dennoch unfähig, auch nur ein einziges Wort an sie zu richten. Hat sie mit seinen großen, schwarzen, so intensiv blicken könnenden Augen nur angeschaut. Einfach nur angeschaut. Ohne ihr etwas sagen zu können. Stumm. Dabei quoll sein Herz über. Seine Seele hungerte – und hatte er nicht tausend Mal mit ihr geredet? Stumm. Ja. Er wollte reden. Von sich. Über sie. Mit ihr.

Leere.

Nichts als Leere.

Dabei bereitete ihm Jonathan doch einen eleganten Teppich, indem er ihn, Franco, Stella im ersten Chaos des Erkennens des großen Unglücks – besser eines unglaublichen Verbrechens – als „wichtigen Helfer in der Not“ vorstellte. Aber vielleicht war es der falsche Ort, der falsche Zeitpunkt, der falsche Spruch. Nun ja, Franco machte Stella auch keinen Vorwurf. Nur sich selbst. Aber wie hätte er reagieren sollen?

„Hi, I’m Franco. Nice to meet you. Let me tell you something very seriously: I love you! More than two years right now. You don’t know it. But I know it. It’s a shame, that some girls died just few seconds before ...“

Lächerlich.

In dieser Situation, in einer Anspannung, wie sie – Gott sei’s gedankt! – nur wenige Menschen im Leben erfahren müssen, sagt man stets nur das Falsche. Also war sein Verhalten schon okay, redete er sich ein, während der Regen seine Trauersymphonie fortsetzte und das Werk des Bewässerns des ohnehin schweren Ackerbodens jetzt im Beat eines ultraschnellen, harten und unpersönlichen Techno-Songs zu vollenden versuchte.

In der Fremde, allein, ohne Aussicht auf die so dringend benötigte Zuneigung, beschleunigte Franco das Tempo seiner Schritte, bis er zu rennen begann. Er nahm den ätzenden, hyperschnellen Beat des starken Herbstregens auf.

Laufen, bis ich zusammenbreche. Laufen, bis ich begreife. Laufen, bis das Chaos mich überholt, mich vernichtet und damit den Girls näherbringt, die durch meine Schuld ermordet wurden.Ja, ermordet. Ermordet. Ermordet. Meine Schuld!

Laufen, bis ich zusammenbreche.

Das war seine Devise. Ein Kampf gegen den Tod seiner Seele. Er wollte ihn aufnehmen, wusste aber nicht, wie er das anstellen sollte. Ausgedörrt seine Gedankenwelt. Fokussiert auf den für ihn unfassbaren Mord an fünf jungen Mädchen. Eine Tat, die Stella gegolten hatte und die Gott nicht verhindern konnte. Nur zu verändern vermochte, indem er anderes Leben opferte. Stella schonte?

War es so? Warum? Wo liegt der Sinn? Ist ein Leben mehr wert als fünf? Wo seid ihr gewesen, Engel? Wo seid ihr gewesen, Gnome, Elfen, oder welch‘ andere, höhere Wesen der göttlichen Hierarchie dafür verantwortlich zeichnen sollten! Bedeutet Weiterleben Schonung oder Strafe? Welche Mächte! Karma. Meine unendlich große Liebe lebt und ich renne in den Tod. Für den Tod. Gegen den Tod. Mit dem Tod.

Für meinen Tod.

Bitte.

Geliebter Tod!

Bitte lass mich sterben!

Franco Mignello verlor mit jedem Meter, den er durch den aufgeweichten Boden des Feldes lief – die Stadt lag tausend Lebensjahre hinter ihm –, zusehends mehr und mehr die Kontrolle über sich. Das grausame Ereignis brachte seine verletzte Seele zum Hyperventilieren, brachte sie zum Zerreißen, wollte sie bewusst unbewusst zerplatzen lassen. Wie die Träume, seine unwahren schönen, wahren grässlichen, sehnsuchtsvollen, nach Liebe schreienden Träume. Die bunten Seifenblasen, die immer größer werdend vor ihm dahinflogen und einfach zerplatzten, als ob nichts gewesen wäre. Den Regenbogen mitnahmen, der nicht vorhanden war. Der nur in seiner Fantasie, in der flüchtigen Schönheit einer von der Sonne bestrahlten Seifenblase für Sekundenbruchteile in ihm aufleuchtete. Träume, die er über all die Jahre geträumt hatte und mit seiner Stella eines Tages auszuleben gedachte. Sie zerbarsten vor dem Hintergrund des unfassbar widerlichen Geschehens.

Lasst mich endlich los, lasst mich einfach auf den Regenbogen aufspringen. Mit ihm ins Nirwana. Eine Fata Morgana. Gewiss. Meine Fata Morgana. Meine Lebenstäuschung. Geliebter, ekelhafter, schöner, strahlender, grausamer Regenbogen.

Wie schon wenige Stunden zuvor, wurde er erneut durch das unaufhörliche und nervige Klingeln des iPhones in seiner Gesäßtasche aus seiner katastrophalen, zutiefst negativen und sich selbst verachtenden Stimmung gerissen. Das penetrante Klingeln wollte ihn aus seiner Depression zerren. Das war die Aufgabe des ätzenden, altmodischen Klingeltons eines Telefons aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Ihn aufwecken. Aber Franco dachte nicht daran, das kreischende Ding herauszuziehen und den Screen zu berühren und so zu tun, als sei er guter Dinge. Er beschleunigte das Tempo des Laufes noch und raste in einer kaum zu überbietenden Todesverachtung gegen sich selbst dem finsteren Nichts entgegen.

»Weglaufen. Das Einzige, was noch Sinn macht!«, zischte Franco unhörbar dem Ding an seinem Hintern entgegen, um es dann doch – es lagen zwischen dem ersten Klingelzeichen und dem Berühren des grünen Symbols sicher etliche Kilometer schlammiger Feldweg und Jahre des Nachdenkens – aus der Jeans zu ziehen.

Das Leben hatte gesiegt.

Die Neugier, zu wissen, was noch kommt, wenn man schon tot ist, war größer. Automatisch gab der Restverstand seines im Allgemeinen so fabelhaft arbeitenden Gehirns den Befehl an den rechten Arm, die Hand: „Telefon rausziehen, Taste drücken, hallo sagen“.

»Si!«

»Ich bin es, Franco, Jonathan. Wo bist du!? Alle Welt sucht dich! Du bist so plötzlich und schnell verschwunden, dass niemand auch nur den Hauch einer Chance hatte, dich festzuhalten. Franco! Wir machen uns Sorgen. Ich dachte, du wärst zurück in das Hotel gefahren. Aber dort warst du nicht. Es ist gleich fünf Uhr früh! Sorry, ich konnte mich nicht vorher melden, denn die Polizei stellte Fragen über Fragen. Wir hatten alle Hände voll zu tun. Ich musste mich um Stella kümmern. Sie ist nicht mehr sie selbst. Wir brauchen dich hier, denn du warst es, der die Girls engagierte. «

»Lasst mich einfach in Ruhe, bitte, lasst mich«, wollte Franco in das Telefon brüllen, aber es kam nur ein unverständliches Winseln zwischen seinen Lippen hervor. Seine Vitalität war dahin. Franco hatte seinen Körper überfordert. Überspannt. Der Bogen zerbrach; die Saite riss. Knacks! Er schlug, ohne jegliche Kontrolle über seinen Körper, seinen Geist, sein Herz, seine verwundete Seele, in den Schlamm. Gesicht nach unten. iPhone im Schlamm vergraben.

Aus.

II

Ein Bauer mit Durchblick, der hilft.

Ein Bauer, der trotz des miserablen Wetters die letzten Herbstkartoffeln dem schweren Acker entreißen wollte, fand, als er mit seinem Arbeitsgerät – einem kleinen Traktor und einer zweispurigen Kartoffelerntemaschine, die im Laufe der Jahrzehnte schon etliche Tonnen des köstlichen Gemüses aus der Erde gezogen hatte – den nur sehr mäßig getrockneten Feldweg entlang fuhr, einen großen, dreckigen Klumpen mit einem kleinen Rotschopf; zwischen Feuerball und Altgold in die Müdigkeit des frühen Tages schimmernd, der wie tot inmitten des furchigen Weges lag. Fast wäre er in dem kalten Morgennebel, der die Dunkelheit des entstehenden Tages noch unterstützte, es war Sechsuhrdreißig, über den leblosen und völlig verschmutzten Körper gerollt. Doch die Instinkte, Lebendes vor sich zu haben und es auch zu spüren, funktionierten noch und der Bauer sprang von seinem weiter träge vor sich hin tuckernden Diesel und drehte den Rothaarigen um. Was für ein Gesicht!, durchfuhr es ihn. Ihn blickten, umrahmt von halb getrocknetem Blut und Mengen von schwarzem, fettigem Lehm, zwei unglaublich intensive, leuchtende Augen an, so schwarz wie die gerade vergehen wollende Nacht.

»Na schön, Sie leben ja.«

Mehr konnte er angesichts des strahlenden Elends nicht hervorbringen. An Einsamkeit gewöhnt, verschwendete er keinen Gedanken darauf, warum ihm der verdreckte, sichtlich verwirrte, unglaublich leidvoll/eindringlich schauende junge Mann keine Antwort gab. Der Bauer nahm ihn auf. Wie einen Sack Kartoffeln: Eine Hand oberhalb des Hinterns, sich im Gürtel der Jeans festkrallend, die andere verschwielte Hand fast zärtlich den Kopf haltend – so legte er den Typen auf die blecherne Sitzbank der Erntemaschine und deckte den kleinen Feuerkopf mit der Pferdedecke zu, die ihn vor der feuchten Kälte des bedächtig beginnenden Tages schützen sollte. Setzte sich wortlos auf seinen Traktor und drehte vorsichtig um, sobald es das Terrain zuließ.

Franco erwachte aus seiner selbst gewählten Isolation, die dem Zustand eines Komas gleichkam, erst am späten Nachmittag des darauffolgenden Tages. Verwundert schaute er sich in dem Raum um, der ihn umgab: alles in Weiß, sparsam, unpersönlich. Zu seiner Rechten ein Gestell, eine Flasche, eine Flüssigkeit. Ein Schlauch, der in seinen Arm zu führen schien, Pflaster. Zu seiner Linken ein Mann in Weiß. Brille, Mundschutz, ihn aufmerksam musternd. Und Jonathan. Einen weißen Kittel übergestreift. Jonathan. Sein Bezugspunkt. Der einzige Grund, die Isolation, dass selbst gewollte Koma aufzugeben. Sich dem Freund zuwenden. Wichtig. Denn die Augen hielt er geöffnet, seit der Bauer ihn fand und hier, dem seinem Zuhause nächst liegenden Krankenhaus, mit den Worten ablieferte:

»Den hab‘ ich bei meinen Kartoffeln gefunden.«

Das war alles, was sie wussten. In der kleinen Klinik in einem Vorort der sächsischen Metropole. In der sieht es noch so aus wie 1990, bemerkte der den Rotschopf abliefernde Bauer, in dem Jahr als man die so genannte ‘DDR’ an die Bundesrepublik Deutschland verkauft hatte. Für mehr als 2.800 Milliarden DM – ging es dem Bauern weiter durch den Kopf. Er rechnete noch immer in DM, meinte aber Euro.

Gegen diesen beachtlichen Preis, der noch immer Jahr für Jahr um gut 350 Milliarden Mark steigt, um erforderliche Neuinvestitionen und die Zinsen der aufgelaufenen Staats-Start-Investitionen der ersten fünfzehn Jahre notdürftig abzudecken, um das marode System des Ostens dem industriellen Westniveau in etwa anzugleichen, waren die lächerlichen Summen, die zum Freikauf politischer Gefangener während der Ulbricht-Honecker-Ära aufgewendet wurden, wirklich ‘Peanuts’. Um mit dem ehemaligen Chef der größten deutschen Bank zu sprechen, der diesen Ausdruck benutzte, als es um den geringfügigen Verlust der Bank von circa Zweikommafünf Milliarden DM aus einem Immobiliengeschäft ging. Ist ja auch nicht viel, wenn ein Vorstand der gleichen Bank nur 70 Millionen Abfindung erhält, wenn man ihn, nach wenigen Jahren ziemlich nutzloser, kostspieliger Tätigkeit für das Unternehmen, dann irgendwie wirklich nicht mehr gebrauchen kann.

2.800 Milliarden Mark. Ausgegeben für siebzehn Millionen Menschen, die nicht verkauft werden wollten. Ein Pro-Kopf-Preis von 164.705 DM. War es das wert? Kinder und Greise, Rentner und Kranke, zwei Millionen SED-Mitglieder und dreihunderttausend STASI-Mitarbeiter einbezogen?! Und – fast frei Haus on top, aber nur fast!! – rund Einskommafünf Millionen IMs, Inoffizielle Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes. Spitzel, die jeden und alles bespitzelten. Bruder, Mutter, Vater, Geliebte, Ehemann, Tochter, Opa, Freund, Arbeitskollegen, Feind, Mitgenossen. Den Hund des Nachbarn, die Ziege des LPG-Vorsitzenden. Die alles und jeden abhörten. Die hunderttausende und aberhunderttausende von Wanzen setzten, im Schlafzimmer – mit Vorliebe, denn man war ja zuallererst auch geiler Voyeur, gevögelt wurde schließlich immer und besonders im Osten, weil man ja nichts Anderes hatte!! –, in der Küche – gefressen wird immer –, auf dem Klo – geschissen wird immer –, im Auto – gefahren wird immer –, im Büro – gefaulenzt wird immer –, der Datsche – gesoffen wird immer ...

Und für ein landschaftlich zum Teil zwar schönes, aber vergammeltes, weil durch Umweltsünden zerstörtes, winzig kleines Stück Land. Verglichen mit dem großen Bruder, der ehemaligen Sowjetunion, den USA oder auch nur Bolivien, Brasilien. Von anderen Ländern wie Australien nicht zu reden. Die sowjetische Besatzungszone: Kaputtgewirtschaftetes Agrarland ohne nennenswerte Industrie. Ein wahrhafter Akt der Nächstenliebe. Und ein genialer Schachzug der Genossen der STASI und der Arbeiter-&Bauernpartei, der SED ...

Denn was sonst gab es für den Kapitalismus dort zu holen? In Ostdeutschland. Das den Russen gehörte. Oder genauer: der russischen Nomenklatura. Die wiederum ein paar Familien in N.Y. und London gehört. Die man, seit der Oktoberrevolution anno 1917, in eigener Verwaltung, in eigenem Besitz hielt. Ein Experiment. Kommunismus. Mal sehen, wie so was funktioniert. Brüder und Schwestern ...

Nach Belieben regiert. Kontrolleure eingesetzt, abgesetzt. Das Volk verbannt,

verbrannt,

vernichtet,

verachtet,

vergewaltigt,

verlacht.

Ja, auch Kollegen Genossen, Glaubensbrüder. In Mengen. Und immer wieder das Volk. Das dumme. Neununddreißig Millionen allein unter einem gewissen Stalin. Wie hießen sie noch alle? Trotzki, Chernoff, Martoff, Schuanov, Andropov, Roshal, Bogdanoff, Goryeff, Lieber, Zwezdin, Zagorsky, Kamhoff, Zinovjeff, Ganezky, Kradek.

All die Jungs und viele mehr, die im Auftrag ihrer Herren in N.Y. und London für sie Russland vom Zaren befreiten, um endlich größeren Besitztum im Osten ihr Eigen nennen zu können. Und die heute durch die neuen Generationen vertreten wurden und werden, wie Chruschtschow, Gorbatschow, Jelzin, Schirinowski, Beresowski, Grushinsky, Schewardnadse, etc., etc. ... Und all die Neureichen, die unter Jelzin und Putin im Auftrag ihrer Herren aus Washington, New York, London zu dem wurden, was sie sind – junge Milliardäre, die einem Ziel folgen. Michail Fridman, Chodorkowskij, der nicht spurte und in Sibirien eine Zeit verbringen durfte, Herr Wekselberg, Wladimir Potanin, Michail Prochnow, Leonid Newslin, Michail Brudno, Wladimir Dubow, Platon Lebedjew, Pjotr Awen, Alexeij Mordashow, Wladimir Lissin, Elena Butarina und ihr Mann Jurij Luschkow, Wagit Alekperow, Igor Setschin, Sergej Iwanow, Wladimir Lissin. Fast alle kommen sie aus dem Dunstkreis von Jelzin und Putin, die Jungen in Russland, meist um die Vierzig. Und der Putin zog sich den Hardrock-Fan Dimitri Anatoljewitsch Medwedew heran. Eine blasse Figur, die tut, was Putin ihr aufträgt, der nun wieder selbst das Ruder an sich gerissen hat, der neue Zar von eigenen Gnaden. Oder Michail Prochorow, gerade 48 Jahre, Alibi-Präsidentschaftskandidat und 13,2 Milliarden Dollar schwer.

Wie kann man da schon Milliardär sein? Sie waren Agenten in Ostdeutschland, Bonzen in Moskau, Leningrad und geben dem Fürsten Prozente, der sich nun zum Zaren gekürt hat. Der hat noch immer nicht genug, der Putin. Man sagt, er sei der Reichste im Lande mit über vierzig Milliarden Dollar Privatvermögen. Vermutlich ist es die dreifache Summe, die er sich unter den Nagel gerissen hat. Und wer in den letzten Jahrzehnten nicht spurte, kam in den Knast. Oder hat sich nach Israel, Frankreich, England, in die USA abgesetzt und sogar nach Deutschland und Zypern! Sie sitzen überall und verdienen auf Kosten des Volkes, durch unglaubliche Korruption, durch Betrug, durch ‘Freunde’, die ihnen das Geld zum Kauf der Ressourcen und Firmen liehen – woher sollte ein Roman Abramovitsch, Waisenkind, mit damals nicht mal Mitte Zwanzig, eine Milliarde Dollar gehabt haben, um den Ölkonzern Sibneftegas an sich zu reißen? Die Tochter Jelzins, Tatjana, hatte es ihm angetan und der Beischlaf mit ihr. Hieß es seinerzeit von Insidern. Immer wohlwollend von ihren Herren in New York, London und Tel Aviv bezahlt, beobachtet und gelenkt, verdienen sie selbst Milliarden, die sie sich letztlich mit ihren Bossen teilen. Müssen ...

Er hatte viel erlebt, der Bauer, seit er sein Ich verleugnen musste, aus Angst wieder in irgendeine Gefangenschaft genommen zu werden. Aber der ehemals gefeierte Superprofessor für politische Geschichte und Philosophie an der Humboldt-Universität in Ostberlin wusste, dass das, was er dachte, der Wahrheit entspricht. Jahre seines Lebens hatte er Studium und Studien gewidmet und war fündig geworden. Auch wenn ihn die meisten für verrückt erklären. Auch das ein Teil des Systems des Verfälschens.

... Oder für/gegen wen war dieser Aufkauf, diese Aufgabe eines kleinen, unbedeutenden Territoriums inszeniert worden, fragte er sich? Für oder gegen ‘die Deutschen’. Wer sind sie? Was wollen sie? Welchen Zweck erfüllen sie? Die Deutschen. Böses, überflüssiges Volk. Muss gedemütigt werden. Muss zusammenbefreit werden. Um es zu schwächen. Der Westen war schon viel zu stark und autark geworden. Trotz des Dicken aus der Pfalz, der einer der Ihren war und ihnen mit Haut und Haar nicht nur hörig war, sondern ihnen gehörte. Schachzug. Aus Angst. Kontrolle ist alles. So war es ein Einfaches und nach außen Glaubhaftes für die dummen Mitläufer. „Wir haben durch unsere Demonstrationen die Bonzen in Berlin dazu gezwungen die Grenzen aufzumachen!“ Naives Volk. Ja, so haben DIE die Deutschen wieder in den Griff bekommen. Einen Dämpfer verpasst. Geschwächt aus Angst.

Angst? Angst. Wovor?

Nein, nein – keine Angst!

»Ich habe keine Angst mehr«, rief er laut in die unfreundliche Morgenstimmung, als er die Klinik verließ, von niemandem gehört. Ein Mann wie unser Professor Dr. habil. Dr. rer. nat. A. Bauer kennt keine Angst mehr, nachdem ihm alles genommen wurde, was er liebte.

Nichts vom dem gelogen. Nichts erfunden. Wahrheiten. Tatsachen. Verschwiegen, das ja. Aber: Es ist bekannt und wird benannt ...

Damit beruhigte er sich wieder, zwang seinen immer aktiven, angespannten Geist wenigstens einmal abzuschalten.

Nur nicht verrückt werden! Das würde denen so passen. Mein Leben ist schön, verpfuscht. Schön, aber verpfuscht. Dank der STASI, den Politikern, die auch heute unser schönes Land vernichten. Ein neues Pferd haben sie vor den Karren gespannt. Angela Merkel. Ich kannte sie noch als kleine Studentin. Immer brav, immer gehorsam den Genossen folgend. Auch heute. Erhält ihre Befehle. Marionette. Aber dass sie mich vernichten, das gelingt ihnen nicht! Dachte es und spuckte voller Verachtung auf den Boden.

Die Ärzteschaft der altmodischen, kleinen, recht armselig wirkenden Klinik, vergessen vom Fortschritt, war bemüht herauszufinden, wer denn ihr Patient mit den intensiven, leidenschaftlichen und intelligenten, schwarzen Augen sei. Mit Erfolg, denn der Rothaarige war vorgestern Nacht in der Messehalle gesehen worden, in der wenige Minuten vor seinem Erscheinen, nach einem Rockkonzert der US-Sängerin Stella Henderson, fünf junge Mädchen durch einen Anschlag mit Sprengstoff ums Leben gekommen waren, der, so war durch alle Medien gegangen, der Rocksängerin gegolten haben soll.

Jonathan musterte eindringlich seinen Chef, der ihm längst zum Freund geworden war. Und stellte fest, dass Franco Mignello, der abgedrehte junge Mann aus Verona, intelligent, erfolgreich in seinen Jobs, aus megareicher Industriellenfamilie, eigenartig verändert wirkte. Noch in der fürchterlichen Nacht des vergangenen Montags sah er vor sich einen unverbrauchten, unverdorbenen, ja fast naiven Typen, der so alt aussah, wie er war, knapp einundzwanzig Jahre, der seiner großen Liebe – aufmerksam/erfolglos – hinterherhechelte. Sie behütete, beschützte. Sie umsorgte, wenn auch aus einer sehr fernen Nähe. Der das Unheil, das dem Star widerfahren könnte, förmlich roch. Ohne zu fragen half. Ständig. Beständig. Das Gras wachsen hörte, mit seinen Panik-Prognosen leider immer öfter Recht bekam und bei allem Stress stets zurückhaltend, vornehm und schlicht war. Anständig. Zutiefst anständig. Kein herkömmlicher Stalker. Ein seltenes Geschöpf in einer ziemlich heruntergekommenen Welt, in der nur der schnelle Reichtum, der Übernachterfolg, der Einsatz von Ellenbogen und eben Geld, Geld, Geld zählte. In der Waffenhändler und Zuhälter, Immobilienhaie und Börsenmakler, Drogenhändler, Banker, Versicherungskaufleute und korrupte, korrumpierbare Politiker weit mehr galten als Maler, Gärtner, Architekten, Fliesenleger und Astronomen, Krankenschwestern, Fräser und Designer, zurückgezogen lebende Philosophen, Musiker, Schriftsteller, Künstler und Visionäre, die nicht jeder Mode nachgaben.

III

Jutta malt Schwänze.

Jutta weinte. Weinte still in sich hinein. Die Augen halb offen, verklärt, voller Tränen und in eine Weite schauend, die man physisch hätte messen können. Eine kosmische Weite. Doch tatsächlich saß sie allein auf dem kargen, zu einem Bett verwandelten Teil ihres loftartigen Ein-Zimmer-Apartments im Sachsenwald, einem bevorzugten Wohnviertel der Bankenstadt Frankfurt am Main. Eine CD lief. Prince Cheb Mami. Arabischer Pop. Geheimnisvoll, melancholisch, kraftvoll, würdevoll. Nicht dieser Hitparadenmist, den die Sender vierundzwanzig Stunden landauf, landab dudeln und damit die Kids zu unsensiblen Ungeheuern machen. Richtig gut abgehende Musik. Ein Mix aus dem Underground der schwarzen Musik, vereint mit dem Groove der nordafrikanischen Wüste und der Elektronik westeuropäischer Musiker.

Der große, lang gestreckte Raum wirkte eher wie das Studio eines ziemlich ausgeklinkten Malers oder Bildhauers. Männlich, hart, doch zugleich sinnlich. Unaufgeräumt in chaotisch-genialer Weise. Überall Fotos, Bilder, Skulpturen. Staffeleien, auf denen angefangene Gemälde, Fragmente einer düsteren, erotischen Welt zu sehen waren. Riesenschwänze in Knallblau auf grellem Gelb. Leuchtfarbe. Schwänze mit Augen; mit trauriger Miene, halb schlaff, gerade explodierend. Gemalt in Öl, präzise und anatomisch perfekt. In einer im Sinne des Wortes malerischen Umgebung, die man nur als bizarr bezeichnen konnte. Mal saß so ein Superriesenschwanz auf einem Baum, schaute melancholisch, so schien es, auf eine verschneite Landschaft. Mal hatte ein Sechzig-Kilo-Fisch ihn – den Schwanz eines Mannes – quer in seinem Maul und schwamm auf einer Wiese gegen den stark anschwellenden Strom, breiter als der Amazonas, der wiederum die Fortsetzung eines Wasserfalles war, der aus einer überdimensionalen Vagina schoss. Ein anderes Bild, unfertig wie die meisten oder eben exakt so gewollt und fertig, da ein Teil der circa drei mal zwei Meter großen Leinwände immer weiß blieb, unberührt, jungfräulich, zeigte eine Geigerin. Bronzefarben, langbeinig, breitbeinig, nackt, die mit einem – überdimensionalen – dunkelgrünen Schwanz in der Rechten, der sich als Geigenbogen betätigte, das Instrument malträtierte und sich zugleich der Freude eines Orgasmus hingab und goldgelben Samen aus sich herauskatapultierte. Mitten ins staunende Publikum, das mit offenen Mäulern an der Bühnenkante des imaginären Konzertsaals der Geigerin zu lauschen schien. Oder zu warten. Auf den Orgasmus?

Keine Schränke, kein Tisch; Sessel, Sofas? Fehlanzeige in dem Loft. Nur Farben, Werkzeuge; ein paar Klamotten lagen – fast konnte man meinen, sie seien nach Beuysscher Art als Bestandteil der bizarren Kunst bewusst so hindrapiert – über Skulpturen, die ebenfalls männliche Erotik in einer Weise darstellten, wie es selbst die nicht gerade prüden Inder in ihrer langen Tradition erotischer Kunst verwundert hätte. Wie kann man hier leben, wohnen? Noch dazu als junge Frau!?, würde sich ein Besucher erstaunt, befremdet, neugierig fragen.

Aber es gab in dieser Nacht keinen Besucher.

Auch in den anderen Nächten des Jahres nicht. Nur Jutta, die weinte. Nackt saß sie auf dem schwarzen Laken des schwarzen Lackblocks, der als Bett diente. Eine Matratze konnte man nur vermuten; aber vielleicht war die weinende Schönheit ja eine Yogi.

Warum habe ich ihn verloren. Warum gab er mir nicht eine Nacht. Die eine Nacht; nur eine einzige Nacht!

Das fragte sich nun schon seit Stunden, vielen Stunden, Jutta, die langbeinige Schöne, in Gedanken versunken, ihr Bauchnabelpiercing mit einer dauerhaften Bewegung misshandelnd, als hätte sie einen der überdimensionalen, gemalten Schwänze zwischen ihren schlanken Fingern.

Die Augen. Nie werde ich diese Augen vergessen können. Ich muss Augen malen. Nur noch Augen.

Augen. Ja.

Morgen fange ich damit an.

Miami. Strand. Ocean Drive und diese Augen.

Nie mehr Schwänze.

Augen werden es sein. Seine wundervollen, intensiven, strahlenden, leuchtenden Augen. DIE sind es, die ich liebe. Und Schwänze. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin. Aber ab jetzt zählt nur noch seiner. Er fühlte sich großartig an. Er schmeckte gut. Wie Vanillepudding. Ich mag Vanillepudding. Und er war viel imposanter, als ich es bei dem kleinen, hässlichen, sommersprossigen Typen aus Italien hätte vermuten wollen.

Die Nacht fing sie und ihre wild-melancholischen Gedanken ein, umhüllte die nackte Schönheit im Loft; Prince Cheb Mami verstummte. Nur das Surren des Kühlschranks war zu hören.

Wohnen konnte man hier nicht.

IV

Rückblick auf ein apokalyptisches Szenario, HU – der heiligste aller

Laute, Stella im Wachkoma

und SAHE, die mit Musik & Liebe

Hilfe bringt.

Keine achtundvierzig Stunden später blickte Jonathan in reife, wissende Augen. In das Gesicht eines erwachsenen Mannes, der, scheinbar, die Hälfte seines Lebens bereits überschritten hat. Und dennoch irgendwie ganz jung wirkte. Der Schock des Erlebten musste tief, sehr tief in ihm sitzen. Franco schaute Jonathan in einer Weise an, dass ihm, dem harten, in Kämpfen erprobten Mann, die Tränen in die Augen schossen. Er ging die zwei Schritte zu Francos Bett, beugte sich zu dem kleinen Häufchen Elend hinunter und drückte es an sich. Warm und herzlich. Wie ein älterer Bruder den geliebten Junior begrüßt, wenn dem Schicksalhaftes widerfahren war. Und es war Unfassbares, Grausames verübt worden, das auch er noch längst nicht verarbeitet hatte.

Die fragenden Augen verunsicherten Jonathan. Durfte er ihm alles erzählen? Details? Würde der gealterte Junge, der junge, reife Herr, das ganze Ausmaß schon heute verkraften? Er setzte sich zu Franco auf die Bettkante, verscheuchte den noch immer wartenden Arzt mit einer unauffälligen Handbewegung und begann:

»Ich fange bei dem an, was dich am meisten interessiert. Nachdem du völlig überstürzt und panischen Blickes aus der Halle gerannt bist, brach auch Stella vollends zusammen, noch bevor sie sich dir wieder zuwenden konnte. Mit der Tapferkeit einer ganz großen Seele hatte sie die etwa dreißig Minuten, die zwischen der Explosion und deinem Verschwinden lagen, überstanden. Natürlich wusste sie in dem Moment, als wir die sehr eigenartig klingende Explosion hörten, dass sie, nur sie mit diesem brutalen Anschlag gemeint sein konnte. Und Stella war sich von der ersten Sekunde an sehr sicher, dass es die Mädchen getroffen haben musste. Wir, ihre persönlichen Bodyguards Mick und Alberto, bildeten noch auf der Bühne ein Schutzschild um sie. Dazu drei weitere Bodyguards, die ich spontan, aus einer diffusen Ahnung heraus für Dresden zusätzlich organisieren konnte, weil ich denen vertraue. Sie klammerte sich nach diesem widerlichen Geräusch der Explosion völlig verkrampft an mich und sagte „Jonathan, das galt mir!“ Dann schrie sie völlig verzweifelt: „Die Girls! Mein Gott, die Girls sind in meine Garderobe gegangen! Ich habe sie vorgeschickt, damit sie dort auf mich warten und den Champagner öffnen!“

Wir mussten die in Panik geratene Stella mit Gewalt zurückhalten, damit sie nicht kopflos in das Zentrum des Chaos lief. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch gar nicht, was eigentlich wirklich geschehen war. Mir war nur klar, dass es sich um eine Explosion handeln musste. Erfahrung. Es klang zwar nicht wie eine Bombe, deren mögliche Sounds ich recht gut kenne, auch nicht wie Plastiksprengstoff. Aber gefährlich, verdammt hässlich!«

Jonathan reagierte auf Francos hilflosen Blick:

»Ja, Franco. Am unterschiedlichen Sound einer Explosion kann man erkennen, um welche Art von Sprengstoff es sich handelt und wie viel benutzt wurde. Ich stand etwa zehn Meter hinter der Bühne, direkt an dem großen Zwischentor, das zum Flur der Garderoben auf der rechten Seite der Halle und den Catering-Räumen auf der linken Seite führt. Der dumpfe, fast zischende, lang gezogene, düstere Knall kam von der rechten Seite. Und während Mick und Alberto mit ihren riesigen Körpern sofort Stella umklammerten, die anderen Jungs sie weitläufiger absicherten, lief ich zum Ort der Explosion. Das Bild, das sich mir bot, war grauenvoll. Mit dem jetzigen Wissen kann ich dir ziemlich genau schildern, wie sich alles abgespielt haben muss. «

Jonathan wischte sich mit dem Handrücken fahrig kalten Schweiß von der Stirn, so sehr nahm ihn die Berichterstattung an seinen Freund mit.

»Der oder die Attentäter müssen während des Konzertes trotz der beiden Security-Leute, die den Gang zu den Garderoben bewachten, irgendwie in Stellas Garderobe gelangt sein. Wie, ist noch immer ein Rätsel, denn wir hatten vor der Tür zwei weitere, dem Auftrag gemäß bestens geschulte und ebenso gut ausgerüstete Top-Leute postiert, die sich nicht von der Stelle bewegt haben. Es waren sorgfältige Sicherheitsmaßnahmen, äußerst ungewöhnlich für ein Rockkonzert – sie haben nichts genützt. Der/die Täter haben ein völlig neues Material verwendet. Ein so gut wie unsichtbares Pulver, fast durchsichtig, ein wenig graubraun schimmernd, das einfach auf den Fußboden gestreut wurde. Möglicherweise hat man es über die Lüftung mit einem Schlauch hineingeblasen, der bis zum Boden reichte. Aber ob es so war und wie sie es anstellten, das wissen wir noch nicht. Wir können nur vermuten. Dieses Pulver reagiert auf ein bestimmtes Gewicht. Tritt man mit mehr als zehn Kilogramm auf nur ein einziges Körnchen des feinen Materials, das wirklich wie Staub aussieht, gibt es eine Kettenreaktion von Explosionen – deshalb auch der lang anhaltende, dumpfe, gedämpft wirkende Ton – und verwüstet alles, was sich ihm entgegenstellt. Man kann die Dosierung ziemlich genau berechnen. In Stellas Garderobe war sie so hoch dosiert, dass es drei der Mädchen innerhalb von Bruchteilen von Sekunden komplett zerrissen hat. Regelrecht zerfetzt. Die beiden Letzten, die den Raum betraten, sind an der Druckwelle gestorben. Es hat ihre Lungen zerrissen. Und dann die Tür nach außen gedrückt. Einer der Security-Männer war auf der Stelle tot, der zweite ist noch immer nicht vernehmungsfähig und ebenfalls schwer verletzt. Da die Garderobe über keine Fenster verfügt, ein reiner Betonkäfig ist und nur eine sehr klein dimensionierte Klimaanlage hat, konnte sich die Druckwelle ausschließlich in Richtung Tür ausdehnen. Es gab kein Entrinnen. Für nichts und niemanden. Du weißt, was das heißt.«

Jonathan drückte Francos Hand, dass sie schon schlohweiß war. So sehr nahm ihn die Situation noch immer mit.

»Keiner konnte das voraussehen. Keiner sich ein derart apokalyptisches Szenario vorstellen. Wir hatten alle Sicherheitsmaßnahmen nach bestem Wissen, mit großer Sorgfalt getroffen. Dennoch muss es ein Leck in unserer Sicherheitskette gegeben haben und dieses Leck hat sechs, vielleicht sieben Menschen das Leben gekostet. Schlimmeres ist mir in meiner beruflichen Vergangenheit noch nicht widerfahren. Wir haben es mit einer skrupellosen, vor keiner noch so widerwärtigen Tat zurückschreckenden Spezies zu tun, die die Bezeichnung ‘Mensch’ nicht verdient.«

Franco lag regungslos da, die Augen geschlossen, Tränen flossen über seine Wangen.

»Ich habe das Krankenhaus, in das dich ein Bauer, der dich auf dem Feld fand, brachte, hermetisch abriegeln lassen. Denn ich fürchte auch um dein Leben. Es kann nicht sein, dass die nicht wissen, wer ihrem Begehren, Stella auszulöschen, nun schon so lange erfolgreich im Wege steht. Stella liegt in einer Spezialklinik für Psychiatrie und angrenzende Fachgebiete. Sie befindet sich in einer Art seelischen Komas. Völlig desolat, nicht ansprechbar. Ähnlich dem deinen. Das sagte mir vor wenigen Stunden Marek Bergfield, ihr Manager, der keine Sekunde von ihrer Seite weicht und sich als treuer Freund erweist. Auch er ist um Jahre gealtert und hat Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, wie sie nicht einmal Billyboy Clinton in seinen besten Jahren zuteilwurden. Also mache dir bitte darüber keine Sorgen. Sie ist in jeder Beziehung in guten Händen. Außerdem kam ihre Mutter schon gestern Mittag aus New York an. Mit Julios 727. Auch sie ist bei Stella im Krankenhaus.«

Franco drehte sich zur Seite, stöhnte wie ein verwundeter Hund. Es war ein langer, Jonathan das Herz zerreißender Schluchzer. Beängstigend, laut, animalisch und doch auch zutiefst menschlich.

Jonathan setzte erneut behutsam an: »Du brauchst mir nichts zu sagen, ich sehe alles. Du kannst fragen, wenn du möchtest. Aber bitte glaube mir, es gibt im Moment nichts zu tun, was nicht bereits eingeleitet worden wäre. Nur noch eines. Vielleicht baut es dich ein wenig auf: Stella hat sich in den Minuten nach dem Unglück großartig verhalten. Nach dem Überwinden des ersten Schocks, der Panik, der auch sie sich nicht entziehen konnte, begann sie zu helfen. Einfach so. Sie war nicht Fräulein Superstar, nicht ängstlich, nicht zickig. Nicht mal um sich selbst besorgt, was jeder hätte verstehen können. Sie schüttelte die Bodyguards ab, handelte wie eine erfahrene, rigoros durchgreifende Oberschwester, die ihre wohldurchdachten, professionellen Anordnungen erteilt. Bevor die Notärzte mit ihren Teams zur Stelle waren, eilte sie mit dem Bühnenarzt und zwei Schwestern des DRK in die zerstörte Garderobe und kümmerte sich um das noch lebende Mädchen und die beiden Security-Männer. Schnell mussten wir leider alle erkennen, dass wohl jede Hilfe zu spät kommen würde, aber sie kniete nieder, versuchte mit dem vielleicht überleben könnenden und nicht total zerfetzten Mädchen zu reden, Mund-zu-Mund-Beatmung zu machen und mit ihrer Anwesenheit, ihren ohnmächtigen Versuchen Leben zurückzubringen, irgendwie das Furchtbare zu lindern. Ein Anblick, der mich zutiefst berührte und der sie für mich in einem anderen Licht erscheinen ließ. Denn du weißt, dass ich während der Tournee einiges gesehen habe, was diesem Eindruck konträr entgegensteht. Als ich Stella, sie war schon in einem tranceähnlichen Zustand als sie dir gegenüberstand, danach zu einem Krankenwagen führte – sie war dem völligen Zusammenbruch, der sich wenig später einstellte, schon sehr nahe –, fragte sie mich: „Wer war der Rothaarige mit den wunderschönen Augen? Muss ich ihn kennen? Diese Augen möchte ich wiedersehen.“ Dann brach sie vollends zusammen und befindet sich seitdem in dem Zustand, den ich dir gerade zu schildern versuchte.«

Franco schaute in eine bildlose, düstere Welt voller Töne, die nur er zu erkennen, zu hören schien. Den Blick in eine Weite und undefinierbare Tiefe gerichtet, die Jonathan spüren konnte. Und Franco suchte diese Tiefe und Weite in sich selbst. Er horchte in sein Ich hinein. Abstrakter Klang erfüllte den Raum. Ein Klang, so fein, dass er für ein menschliches Ohr nicht hörbar, nicht sichtbar war. Saute-e Sarmad, wie die Sufis ihn nennen. Sarmad – Berauschung, denn die Seele wird frei von irdischer Macht, irdischen Zwängen. Grenzenloser Klang, Anahad in den Veden genannt. Es ist Raum in uns und Raum umgibt uns. Die irdischen Töne sind zudem begrenzt, abgegrenzt. Sichtbare Frequenzen. Überall in der Natur. Sie äußern sich in Materie, in Farben, in Klängen. Nicht so der abstrakte Klang. Er ist außerhalb des mit unseren äußeren Sinnesorganen Fassbaren. Erkennen, aus welcher Richtung der Klang kommt. Wenn man das schafft, kennt man den Weg. Seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Mysterium des Klangs ist das Mysterium des Universums.

Alles ist in uns und einige wenige Menschen können lernen, haben die Sensibilität in sich, zu Hu zu gelangen.

Dem Heiligsten aller Laute.

Fast hatte es den Anschein, dass Franco Jonathans Anwesenheit gar nicht wahrgenommen habe. Doch dann, es waren mindestens zwanzig Minuten der völligen Stille in dem nüchternen Krankenzimmer vergangen, wandte er seinen so intensiven Blick auf den Besucher. Ihre Blicke kreuzten sich, denn Jonathan beobachtete den Zustand des Jüngeren während der langen, schweigsamen Zeit mit großer Sorge, und beide wussten in dieser Sekunde, dass sie ab jetzt und zukünftig nicht mehr zu trennen sein würden. Es hatten sich zwei Seelen getroffen und zueinander gefunden. So, wie die viel zu Seltenen, durch nichts zu zerstörenden, großen Freundschaften zwischen zwei Menschen sind. Da bedarf es keiner zusätzlichen Worte. Da macht es ‘klick’ – wie bei jeder Form großer Liebe – und eine unbeschreibliche Nähe, Vertrautheit ist da. In ergreifender Schlichtheit und Vollkommenheit.

Man weiß es einfach. Alles. Ist für den anderen da.

Ohne zu fragen.

Immer.

Jonathan erhob sich. Glücklich, denn er wusste, auch wenn sein Freund nichts zu sagen vermochte, weil ihm der Schmerz noch immer die Kehle zuschnürte, dass Franco in Kürze wieder der sein wird, den er immer bewundert hatte. Das sagte ihm der Blick in die großen, schwarzen, voll kosmischer Tiefe leuchtenden, erleuchteten Augen.

Sie strahlten. In ihnen sah man Musik. Klang, Licht.

Wie tausend Sonnen.

Licht, Kraft. Energie. Töne.

Leben.

Stella lag, Luftlinie etwa zehn Kilometer von Francos Aufenthaltsort entfernt, nahe dem Dresdner Zwinger, auf den sie hätte schauen können, wenn sie denn wollte, apathisch in einem Raum, der mit der nostalgisch/armseligen DDR-Nüchternheit des sterilen Plattenbau-Krankenzimmers der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts Francos nicht zu vergleichen war. Es umgaben sie wohltuend warme Farben. Gespachtelt die Wände, warmes Licht die Lampen und auch das von draußen einfallende Licht, das sich durch die übergroßen Jugendstilfenster in das Zimmer schob und sich in den schwer fallenden Seidengardinen brach, obwohl es draußen trüber Herbst war. Die Sonne machte, nur für Stella, Überstunden; eine geschmackvolle Einrichtung, in der das bequeme King-Size-Bett eher wie ein Fremdkörper wirkte. Blumenarrangements wohin das Auge blickte und ein dem Raum sich anschließender Wintergarten, in dem gemütliche, naturfarbene Korbmöbel standen. In ihm hingen zwei Kopien von Cézanne und Chagall, die sich dekorativ in das Gesamtbild einfügten. Der Kamin zu ihrer Rechten, ebenfalls mit orangefarbenen Jungendstil-Ornamenten eingefasst, verbreitete nicht nur eine angenehme, wohlige Wärme; die Scheite knisterten ein Lied des Verstehens, schienen für Stella komponiert. Die Stuckdecke des großen Raumes war liebevoll restauriert; aus den Ecken blickten goldene Engel auf die Patientin herab, die von dem gediegenen Ambiente nichts mitbekam.

Dennoch beschützten die Engel den Rockstar.

Ungefragt. Schutzengel halt.

Sarah Henderson, Stellas exzentrische Mutter, saß seit nunmehr vierzig Stunden auf einem Sessel ihrer Tochter gegenüber, die bislang nicht zu erkennen gegeben hatte, dass sie ihren Besuch überhaupt bemerkte. Auch Stella hielt, ähnlich wie der ihr fast unbekannte Franco, die Augen geöffnet, schien mitten im aktiven Leben zu stehen, nachzudenken, aber es war absolut keine Reaktion von ihr zu erhalten. SAHE, so der Künstlername von Sarah Henderson, der berühmten New Yorker Malerin des Abstrakten, hatte sich, kurz nachdem sie in der Privatklinik, die einst Professor Manfred von Ardenne gründete, angekommen war, eine kleine Stereoanlage kommen und CDs besorgen lassen, von denen sie wusste, dass etliche Songs daraus zum Liebsten gehörten, was ihre Tochter mit Musik verband. Sorgfältig suchte sie die Songs aus, die nun, abwechselnd, ganz leise aber beständig in Stellas Ohren drangen, um ihre Seele zu berühren. Stunde für Stunde. Sarah hoffte, über eine Therapie des Erinnerns, des Verbindens mit elementaren, großen und schönen Ereignissen beim Erforschen von Musik, Stella aus ihrem Koma reißen zu können. Töne, Klänge, Musik sind das Erste, was Kinder aufnehmen. Lange bevor sie sprechen können. Sprache ist aus Musik entstanden. Ist heute, nach kosmisch langer Entwicklungszeit, die simplifizierteste Form von Musik. Je komplexer Sprache wird, umso mehr verschließt sie sich dem Ton, hat im Laufe der Zeit ihren eigentlichen Rhythmus verloren, die weichen, harmonischen Schwingungen, obwohl ihre Ursprünge in der Musik liegen und keine Sprache existieren könnte, ohne Musik zur Grundlage zu haben. Aber Sprache hat ihre Flügel abgegeben, ist zum Ratio von Verständigung geworden. Oft zum Unverständnis verwachsen, verkrüppelt.

Doch der Zauber von Musik hat eine unvergleichliche Wirkung auf unsere Seelen. Musik macht uns die materielle, physische Welt attraktiv. Musik macht uns intelligenter, aufnahmefähiger, weicher, sensibler und menschlicher, denn sie vereint wie nichts Anderes in der Natur, Harmonie, Rhythmus, kosmisches Geschehen, Energie, Wellen, Töne, Individuelles, Künstlerisches, Emotionales, Großes und Kleines in sich. Sie regt das Denken an, die Kommunikation, das Miteinander, das Speichernde. Wie viel Melodien haben wir in uns! Unsere Seele wird ungebunden, frei. Sie fängt an große Sprünge zu machen, zu träumen, zu jubilieren, wenn sie auf Musik trifft, die sie berührt. Und Musik heilt. Klang, Wellen, Rhythmen, Zyklen, Energie – alles geht bis in unsere Zellen. In jede einzelne. Kommunikation auf feinstofflicher Ebene.

Klänge heilen.

Darauf setzte SAHE.

Um Stella aus ihrer Gefangenschaft zu reißen. Um sie in das Leben zurückzuführen, das ja für uns Menschenkinder nicht nur aus negativen Erlebnissen, Belastungen besteht. Natürlich war ihr bewusst, dass es ein schwieriger, möglicherweise langwieriger Prozess werden würde, denn die hohe Sensibilität ihrer Tochter ließ Ereignisse wie die vom vergangenen Montag besonders tief und schmerzhaft in ihrer Seele verweilen. Aber sie wollte aufpassen, dass sie sich dort nicht verankerten, keine Wurzeln schlugen. Hoffte, dass sie sie über die Schönheit, die Kraft, die Einmaligkeit von Tonfolgen, genannt Melodien, von ineinander verschachtelten Tonsprüngen, genannt Harmonien, von Zeitfolgen, Wiederholungen bestimmter Wellenlängen, die auf und gegen und vor allem miteinander agieren, genannt Rhythmus, der von Stella geliebten Musik, alles Tötende, Zerstörende wieder zu vertreiben vermochte.

Man musste dem Negativen positive Energien entgegensetzen. Denn wer Musik wirklich liebt, der wird durch sie geheilt werden. Musik erreicht alle Gedankengebäude des Menschen. Sie erreicht aber nicht nur seine Gedanken, seine Seele, das Herz, sie erreicht auch den gesamten physischen Körper. Alles schwingt in Rhythmen. Passen die gehörten Rhythmen, die Wellenformate der Melodien zu dem eigenen individuellen Schwingungsmuster, entsteht Heilung. Der Charakter des Menschen weckt seine ganz persönlichen musikalischen Neigungen; die gehörte Musik steht in direkter Ambivalenz zu seinem ICH. Beide können sich gegenseitig beeinflussen. Das heißt, je feinfühliger ein Mensch veranlagt ist, umso subtiler kann auch die Musik werden, die er aufzunehmen vermag. Nun glaubt man ja gemeinhin, dass Rockmusik diese Subtilität vermissen lässt. Das mag stimmen, wenn man Rockmusik oberflächlich betrachtet, dafür keinen Sensus in sich trägt, sie vollends zu erfassen. Aber auch in der Rockmusik, vom Rhythmus beherrscht, gibt es immense Unterschiede. Und Sarah hatte mit der ihr eigenen Erfahrung des Betrachtens der Tochter über die Jahre des Erwachsenwerdens Songs ausgesucht, von denen sie durch die unbeschreibbaren Bande des Mutter-Tochter-Verhältnisses instinktiv und ohne Einschränkungen sicher war, dass sie Stella helfen würden. Dass sie der Schlüssel sein könnten, um diesen Zustand des Dahindämmerns, des Leidens, des sich von der lebendigen, physischen Welt trennen wollenden Teils in Stella aufzulösen. Dass sie sich einfangen ließ, auch und gerade von dem kraftvollen Rhythmus der Songs.

Das Genie drückt seine Empfindungen und Gefühle in seiner Musik aus, ohne dass es Worte dazu benötigt. Musik als universale Sprache, ja, vielleicht auch gesungen, ohne dass die Worte eine existenzielle Bedeutung erlangen. Intuitiv erfassen, was uns berührt. Die innere Welt, die nur die Seele mit ihrem musikalischen Auge erkennen kann, wieder zum Leuchten bringen.

„Take off my shield - carry my sword - I won’t need it anymore - find me a sky - give me wings - frozen and broken but free - tell them I’m all right - I’m coming home - tell them I’m all right - I am alone - this war is over - I’m coming home - take off my shame - bury it low - I won’t need it anymore - find me the sun - give me it whole - melt all the chains in my soul - tell them I’m all right - I’m coming home - tell them I’m all right - I am alone - this war is over - I’m coming home - take off my pain - carry me slow - I won’t fight here anymore - tell them I’m all right - I’m coming home - the war is over ...“

Melissa Etheridge, „This War Is Over“.

This war is over.

Kaum waren Sarahs Tränen durch die Kraft des wunderschönen Songs der Freundin ihrer Tochter getrocknet worden, mit dem sie sich vermutlich zum Teil auch selbst therapieren, beruhigen wollte, ging die schwere, übergroße Tür zu dem harmonischen, als schön zu bezeichnenden Raum auf und es standen zwei recht unterschiedlich aussehende Männer im Zimmer. Jonathan und Franco.

»Hallo. Ich bin Jonathan. Wir haben telefoniert. Ich rief Sie Montagnacht aus der Konzerthalle an, um Sie zu bitten, zu Ihrer Tochter zu kommen«, wandte sich der in Diensten Franco Mignellos stehende Ältere der beiden Eindringlinge an Sarah Henderson.

»Und ich bin Franco Mignello. Ein Freund. Sie wollte meine Augen wiedersehen, deshalb bin ich hier«, ließ der kleine, sehr blass und hilflos aussehende junge, aber gleichzeitig älter, reifer wirkende Typ mit den Feuerlocken und zu reifem Blick seine warme Stimme erklingen, dabei mit beiden Zeigefingern auf die Objekte des Begehrens zeigend, und Sarah mit diesen, in seiner für Fremde völlig ungewohnten Intensität strahlenden Augen anschauend.

Sarah erhob sich aus dem Sessel, konnte ihrerseits den Blick nicht von dem kleinen Mann in abgewetzter Jeans und zu großem Pullover nehmen, den sie um etliche Zentimeter überragte. Sie kam wie in Trance auf ihn zu, umarmte ihn inniglich, hielt ihn fest, als seien sie eine Ewigkeit befreundet.

»Die Etheridge wird Stella helfen«, versuchte Franco seine Verlegenheit zu überspielen, denn ihm war die Umarmung der eleganten, blendend aussehenden Frau, die nicht verhehlen konnte, die Mutter der singenden Schönheit zu sein, äußerst peinlich. Er fühlte sich in ihren Armen wie ein Kind. Irgendwie zog er Parallelen zu seiner Mutter. Und doch nicht. Er fühlte sich wie ein erwachsenes Kind, das Begehren hätte entwickeln können. Denn die erotische Kraft, die von Sarah Henderson ausging, war auch für ihn, selbst in dieser so schweren Situation, unverkennbar. Wieder einmal wurde er knallrot, ohne dass es jemand wahrnahm; seine Sommersprossen übertönten die kräftige Farbe der restlichen, von den Pigmentflecken verschont gebliebenen Haut seines Gesichts – also nicht mehr als dreißig Prozent. Und das fiel nicht weiter auf.

»Ja, das hoffe ich auch«, antwortete ihm Stellas Mutter, blickte unvermindert anhaltend in Francos wunderschöne dunkle Augen, die auf sie intensiv und beruhigend wie ein glasklarer, tiefer Waldsee wirkten. Mystisch. Und die nach morgenfrischen Tannen dufteten, so empfand sie. SAHE hielt Francos Hände in den ihren und es strömten im Wechsel Kräfte, die sie beide sehr deutlich spürten. Die ihnen sagten, dass sie sich verstehen würden, dass sie einander helfen werden.

»Sind Sie einer der Helfer beim Konzert gewesen?«, fragte Sarah Franco und drehte sich hilfesuchend zu Jonathan um, weil sie wohl annahm, dass der schüchterne junge Mann, der so gar nicht in ihr Bild eines Bühnen-Roadies oder Security-Mannes passte, ihr darauf keine Antwort würde geben können.

»Es ist etwas komplizierter«, antwortete Jonathan sehr gefühlvoll, da er sensibel genug war zu erkennen, dass Franco diese Frage in der Tat nicht angenehm war. »Franco Mignello ist Italiener, ein Freund, den ihre Tochter nicht kennt, ihm dennoch einiges, nein, sehr viel zu verdanken hat. Das wird Sie verwirren, aber es lässt sich aufklären. Wenngleich jetzt vielleicht nicht der geeignete Augenblick ist, das ausführlich zu erläutern, denn wir sind hierhergekommen, um zu versuchen, Stella zu helfen. Wie Sie auch, gnädige Frau.«

»Sagen Sie Sarah zu mir, Jonathan, Franco. Ich weiß, dass Stella Ihnen ihr Leben verdankt. Ich fühle es, ohne dass Sie es mir bestätigen müssen. Und ich kann Stella verstehen, wenn sie diese Augen wiedersehen will!«

Wieder nahm sie Francos Hände in die ihren. Führte sie zu ihren Augen, dann legte sie auch ihre feingliedrigen Finger behutsam auf Francos Augen, bedeckte diese für eine Sekundenewigkeit, zog sie weg, beugte sich ein wenig zu ihm herab und küsste ihn auf seine schwarz glänzenden Diamanten: