Das Sprechen der Wände - Dankmar H. Isleib - E-Book

Das Sprechen der Wände E-Book

Dankmar H. Isleib

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Beschreibung

Der Autor, Ein Ex-Rockmusiker und Journalist, erzählt aus seinem Leben in Deutschland Ost und Deutschland West. 1.000 Tage verbrachte er als politischer Häftling in Zuchthäusern des Staatssicherheitsdienstes der DDR, bevor er im Sommer 1976 von der Bundesrepublik freigekauft wurde. 456 Tage davon saß Isleib unter verstörenden, zerstörenden Bedingungen in Einzelhaft. Der Staatssicherheitsdienst verfolgte den Autor auch dann noch, als er bereits im Westen angekommen war, denn die Stasi war und ist überall … Das Sprechen der Wände ist heute 2020 aktueller denn je, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung.

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Seitenzahl: 380

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Dankmar H. Isleib

Tausend Tage Stasi-Albtraum

Das Sprechender Wände

Die Namen der im Buch vorkommenden Personen sind

überwiegend verändert, um diese Menschen zu schützen.

Auch die Namen der Bands wurden verändert.

„Noch nie war in der rechtsstaatlichen Ordnung

der Bundesrepublik

die Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit

so tief wie derzeit.“

Prof Dr. Hans Jürgen Papier,

ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts,

Statement von 2018

VORWORT

Das ist ein biografischer Roman, ja! Doch meine ganz persönliche Geschichte ist nur ein Teil des Buches, das die Grausamkeit und Unmenschlichkeit der Machthaber in der sogenannten DDR beschreibt. Es ist in erster Linie ein politisches Buch, das den Stasi-Opfern eine Stimme gibt.

Rund 280.000 politische Häftlinge gab es während der Herrschaft der SED/Stasi zwischen 1960 und 1989 in Ostdeutschland. Das heißt, unter uns leben – wenn sie denn noch alle am Leben sind – rund eine Viertelmillion durch die SED-Chargen zerstörte Seelen.

Verratene, verkaufte, vergessene Seelen. 33.755 politische Gefangene wurden zu DDR-Zeiten an den Westen verkauft. Für Devisen, versteht sich.

Von den rund 200 Gefängnissen in der DDR galt die Strafvollzugsanstalt Cottbus – neben den berüchtigtsten wie Brandenburg-Görden, Bautzen, Bötzow-Dreibergen, Waldheim, Torgau, Hoheneck, Berlin-Hohenschönhausen und Berlin-Rummelsburg – bisher als unbedeutend. Vierjährige Forschungen des B.Z.-Redakteurs Dr. Tomas Kittan belegen aber, dass Cottbus die wichtigste politische Vollzugshaftanstalt in der Ära Honecker war, vor allem für versuchte Republikflucht.

Das „Zuchthaus Cottbus“, so nannten es viele Insassen, besaß den höchsten Anteil „Politischer“, etwa 80 Prozent. Die restlichen 20 Prozent waren Kriminelle und eingeschleuste Spitzel. In jeder Zelle lag wenigstens ein Krimineller. Die konnten durch Spitzeldienste ihre Haft verkürzen.

Im „Zuchthaus Cottbus“ konzentrierte die SED ihre Staatsfeinde – Schriftsteller, Schauspieler, Musiker, Ingenieure, Ärzte, Wissenschaftler, Pfarrer und Betriebsdirektoren sowie abtrünnige MfS-Mitarbeiter –, die kritische Intelligenz der DDR. Von hier aus wurden die meisten Häftlinge durch die Bundesrepublik freigekauft. Sozialistischer Menschenhandel. Auch mit diesen Cottbuser Devisen-Einnahmen in Höhe von insgesamt etwa 3,5 Milliarden DM im Zeitraum von 1964 bis Herbst 1989 versuchte die DDR ihre marode Wirtschaft zu sanieren.

Jeder für einen Staatsverbrecher (im Jargon der Mielke-Büttel) verantwortliche Stasi-Offizier hatte nur eine begrenzte Zeit, um einen „Fall“ zu lösen. Es musste im Sozialismus ja alles nach Plan gehen. Sagte der „Verbrecher“ nicht so aus wie gewünscht, musste vom verhörenden Offizier beim jeweiligen Vorgesetzten ein Antrag auf Fristverlängerung gestellt werden. Im Fall Isleib ganze sieben Mal (siehe Anhang)!

*** § 105. Staatsfeindlicher Menschenhandel. Wer es …

1. mit dem Ziel, die Deutsche Demokratische Republik zu schädigen;

2. in Zusammenhang mit Organisationen, Einrichtungen, Gruppen oder Personen, die einen Kampf gegen die Deutsche Demokratische Republik führen, oder, mit Wirtschaftsunternehmen oder deren Vertretern unternimmt, Bürger der Deutschen Demokratischen Republik in außerhalb ihres Staatsgebietes liegende Gebiete oder Staaten abzuwerben, zu verschleppen, auszuschleusen oder deren Rückkehr zu verhindern, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft.

Für mich kam die Einsicht zu spät!

Als ich im Juni 1992 einen Antrag auf Einsicht meiner Akte bei der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), der sogenannten Gauck-Behörde, stellte, passierten Dinge, die man bei größter Aufmerksamkeit – die immer angebracht war und ist, wenn man mit den Nachfolgern des Stasi-Systems verhandelte/verhandelt – als höchst merkwürdig bezeichnen könnte. Wie sonst sollte man es verstehen, wenn die Gauck-Behörde dem Isleib wenige Tage später ein ziemlich nervös klingendes Telegramm schickte (Anhang).

Die Behörde gab da einen Fehler zu, der mich äußerst misstrauisch machte. Sie schickten mir irrtümlich Unterlagen der Stasi über mich, von denen ich offensichtlich nichts wissen sollte. Weshalb nicht?

Hatte man da etwa den Bock zum Gärtner gemacht?

Gauck (IM „Larve“, lt. MfS-Offizier Terpe im „Terpe Dossier“) hatte fast ausschließlich Stasi-Offiziere in seiner Behörde angestellt mit der Begründung, dass nur sie die Akten dechiffrieren könnten. Diese Leute sichteten ganz ungestört brisante Akten. Glaubt wirklich jemand, dass diese Bande wichtige, sie selbst belastende oder die Geschichte erhellende Dokumente nicht vernichtet hat …

Seit der Wiedervereinigung sind exakt 30 Jahre ins Land gegangen. Um dem Nichtstun der Regierenden, also Frau Merkel und Co., entgegenzuwirken, hätte längst ein Zeichen gesetzt werden müssen. Niemand hat es getan. Bevor es zu spät ist und um den Opfern eine Plattform zu geben, lesen Sie, liebe Leserinnen und Leser dieses Buches, bitte aufmerksam auch meinen Aufruf am Ende des Buches …

I

Ist nicht meine Masche. Der Laden ist „in“. Da kann ich nicht drauf. Ja. Ich sitze schon gerne im Garten. Auch hin und wieder in dem einer Kneipe. Aber hier bin ich von Arschlöchern umgeben. Möchtegern-Playboys. Fühlt man. Ohne Worte. Weiß auch nicht, die gibt es halt überall, in jedem Land. Und dümmliche Miezen.

An sich nichts dagegen. Der Schwarzen am Nebentisch könnte ich gleich ... na ja, vielleicht in ihren dunkelroten, weichen, halb geöffneten Mund ... ja, ja, ja. Die machen es am besten!

Nee wirklich: Der Laden ist nichts für mich. Doch Lena steht drauf.

»Ich habe Hunger«, sagt sie, »lass uns was essen.«

Und Lena sitzt gern hier. Oft. Allein. Nur so. Will Leute sehen.

Ich bin zu viel unterwegs. Jetzt kann ich sie nicht mal anfassen, kann ihr rundes Knie nicht spüren. Zwischen uns dieser große, eisenbeschlagene Tisch. Graugrüne Gartenstühle, so zum Zusammenklappen. Und keine Tischdecke. Wie soll da Wärme aufkommen. Dieser Tisch!

Obwohl. Richtig schöner Sommerabend heute. Strahlt Ruhe aus. Die kann ich brauchen. Atme tief! Sauerstoff in Mengen. Frische.

»Dreh dich nicht um«, ruft Lena leise, doch mit leicht erhobener Stimme, die Eifersucht erkennen lässt. »Die wollen sicher ins Monti«.

Wahnsinn! Da geht die Sonne gleich wieder freiwillig auf. Und noch was ganz Anderes meldet sich. Hastig und gierig eilt mein Blick von Haarspitzen zu zarten Fesseln. Und wieder zurück. Zieht an, zieht aus. Nur nichts versäumen. Hey! Geht langsamer, Stuten! Langsamer, langsamer. Damit ich euren Hüftschwung besser kontrollieren kann. Scheißweiber!

Also die würde ich sofort. Die macht‘s bestimmt gut. Und die da könnte man sicher auch auf der Stelle. Nein, die nicht. Aber die! Jeder Schritt ein Abgang.

Vorbei sind sie. Was soll‘s, auch von hinten lässt sich so einiges machen. Schade. Sieben waren es an der Zahl; frisch und knackig. Sie gehen tanzen. Und dann?

Gesichter und Körper. Angezogen und nackt. Phantasie.

»Woran hast du gedacht?«

»Philosophisches. Was mit Tiefgang, Metaphern halt und so! Schopenhauer, Adorno, Bloch …«

Ich hatte anderes vor mir. Feuchtigkeit, Schweiß, gekräuselte Haare, ganz kurz frisiert, Lippen. Schneller Atem. Umarmung, Lachen, Liebe. Wollust.

Ich stiere auf Lenas Brüste. In der dünnen Bluse gefangen, zeichnen sie sich besonders deutlich ab. Das macht der Stoff. Er umspannt sie leicht und zart. Weich und behutsam. Nur nichts kaputt machen! Sie bewegen sich; bei jedem Atemzug. Richten sich auf. Beständig. Wissen, dass sie beobachtet werden. Genießen den Augenblick. Rund und fest. Da stehen sie. Die Knospen auch. Vielleicht ein bisschen zu groß. Geschmacksache.

Ich bin abwesend. Mein Blick durchdringt Lena und dennoch bin ich bei ihr. Intensiv. Das spürt sie. In meiner viel zu engen Jeans regt sich was.

Lena und die sieben Schönen.

Kann ihn nicht mal zurecht schieben. Keine Taschen.

Das Essen kommt. Rotkohl, der stark duftet. Nach Nelken, Zwiebeln, Äpfeln und Essig. Bratkartoffeln und kleine Fleischstückchen. Wie soll das heißen? Egal. Riecht gut. Kräftig und frisch. Wie Lena.

»Die Dunkelrote am Nebentisch, siehst du? Die lässt jeden ran«, murmelt Lena zwischen zwei Bissen. Mit einer feinen Spur von Geifer in der Stimme. »Die kenne ich. Ekelhaft. Findest du nicht auch? Irgendwie sieht man der das an, findest du nicht?«, wiederholt sie sich. »Sag schon!«

Bisschen Neid dabei. Bist selber nicht gerade von Pappe, meine Liebe! Was weiß ich schon von dir! Will auch nicht mehr wissen. Frauen. Das schönste Rätsel der Natur. Geliebt, gehasst. Gebraucht, missbraucht. Bewundert, benutzt, verachtet. Auf Händen getragen. Gierig und geil; leidvoll und langweilig. Häuslich und strebsam. Elegant. Scharf auf was, wen? Weiber …

Das musste ja kommen. Scheißladen, elender.

Ein Haarbüschel. Blond.

In den Bratkartoffeln! Ist wohl auch gerade „in“. Nicht bei mir. Ich spüre Hitze in mein Gesicht ziehen. Einfach so. Es reicht mir. Nun fange ich an zu brüllen. Alle sehen zu unserem Tisch. Ist viel los heute. Das Theater lohnt sich. Will aber kein Theater. Will nur vernünftiges Essen.

Lena, peinlich berührt, denn man kennt sie in ihrem In-Laden, wird ebenfalls purpurrot. Ich stehe längst auf meinem Gartenstuhl, halte Haarbüschel und Teller wie eine Trophäe hoch und schmeiße alles genüsslich auf den großen, eisenbeschlagenen Tisch. Ohne Tischdecke.

Wir gehen. Eisern umfasse ich Lenas Arm. Zahlen kann, wer will. Ich nicht!

Lena ist ganz still. Die Augen gesenkt. Sie schämt sich. Geht doch so gern hierher.

Im Nu sind wir am Buchberg, schon mitten im Wald. Wir haben noch immer kein Wort miteinander gewechselt. Sie trottet flinken Schrittes hinter mir her. Es ist nass, kalt und feucht. Und Spannung zwischen uns beiden. Ein eigenartiger Abend. Ich höre Lenas schnellen Atem und will ihre Hand fassen. Sie zieht sie mit einer knappen Bewegung weg. Musste ich wissen.

In den letzten Wochen ist vieles zwischen uns anders geworden. Die Spannung wuchs mit jedem Tag. Ich war nervös, überarbeitet. Doch wir waren viel zusammen. Öfter als sonst. Fast jede Nacht. Nachmittags, so gegen vier, da begann schon das schwer zu definierende Kribbeln. Jeden Tag. Meist hatte sie nur noch ein weißes Oberhemd an. Viel zu groß. Vom Vater. Und nichts weiter. Und sie roch so herrlich frisch. Wasser und Spuren von Seife. Scheu die ersten Berührungen. Das war so. Immer. Und Verlangen. Wahnsinniges Verlangen. Dabei hatte sie ständig Angst. Aus der Wohnung gab es kein Entrinnen ...

Frisches Wasser. Es fließt neben uns. Warum habe ich den Bach früher nie bemerkt? Wo waren meine Gedanken? Oder gehen wir heute einen anderen Weg? Er ist sehr schmal. Tannennadeln machen ihn weich, leise und glatt. Glatt. Grüne Frische. Die Nadeln duften. Ebenso frisch wie Lena. Nur anders. Erdiger.

Lena geht jetzt vor mir. Ich sollte sie von hinten nehmen. Schwein! Immer nur daran zu denken. Bei ihr kann ich nicht anders. Soll ich lügen? Mich belügen? Außerdem ist es meine Lieblingsstellung. Der weiche, gerade Rücken, die vollendete Taille, ihr gottverdammt herrlicher, wollüstiger Arsch. Weiß sie das eigentlich?

Hohe Tannen, weit gefächert, majestätisch und doch düster. Der steile Hang, links, kommt mir unbezwingbar vor. Zur Rechten wird der Bach immer breiter. Er ist in merkwürdig rostroten, erdig schimmernden Stein gehüllt. Der Bach. Mein Herz schlägt unregelmäßig.

Es schmerzt. Feuchtigkeit, Kälte, Unwohlsein.

Das Rauschen des Baches nimmt zu. Ich bekomme Angst vor den glitschigen, rostroten Wänden. Sie werden immer höher, türmen sich vor mir auf. Ich bin schon unter ihnen. Jetzt umzingeln sie mich. Und Lena. Glasklares, eiskaltes Wasser. Die Luft riecht nach Moder und Harz. Wo ist Lena?! Wo sind die Bäume? Hinter mir fällt der Weg ganz plötzlich ins Bodenlose ab. Nur nicht nach rechts schauen.

Wo ist denn nur Lena geblieben!? Dunkelheit. Woher kommt die enorme Dunkelheit. Stille. Habe ich sie verloren?

Umkehren. Suchen. Sofort! Außerdem ist es schon spät. Es ist wahnsinnig dunkel, tiefschwarz. Ich muss umkehren. Ich muss Lena suchen. Jetzt ist der Bach plötzlich wieder vor mir. Breit und wild. Kein Bach mehr, ein Fluss, ein reißender Strom. Ein Schlund. Wasser. Massen. Bedrücken. Kennt Lena eine Abkürzung? Das Wasser brüllt. Sie kann mich nicht hören. So ruf doch! Warum ruft sie nicht. Ich mache mir Sorgen. Brülle ich? Sorgen. Wie konnte das nur passieren?

Der Weg wird jetzt immer schmaler. Es bleiben die dunkelroten, glitschigen Wände. Und die Dunkelheit. Jetzt muss ich irgendwie da rüber springen. Unangenehm. Es gelingt mir. Doch mein Sprung führt direkt in eine Höhle. Konnte man nicht sehen. Oder ist das ein anderer Berg? Auch hier ist alles glitschig, nass und kalt. Schwarzgrau. Ich laufe schneller, komme ins Stolpern. ES lässt mich nicht mehr los.

Wo bin ich?

Umdrehen.

Los, dreh dich um!

Kehr einfach um!

Ganz matt erkenne ich hinter mir ein überdimensionales, graues Pferd. Es frisst Heu und lächelt mich dabei ganz ruhig an.

Steinernes Pferd. Heu.

Direkt vor mir erscheint ein stahlblauer Altar. Dunkelblaues, nasses, glänzendes, schweres Licht. Kalt. Eine eiserne Brüstung. Auf der Brüstung stehen zwei äußerst grazile Rehe. Wunderschön. Sie stehen sich gegenüber und blicken anmutig zu mir herab. Auch sie sind aus Stein. Warmes Grau und glatt, jedoch nicht unsympathisch. Ich möchte zu ihnen hinlaufen. Ob sie mir etwas sagen wollen?

Ein fürchterlich schmerzender Ton. Wie das vielfach verstärkte Singen einer Kreissäge mit tausendfachem Echo. Ein weißer, greller Lichtstrahl. Alles funkelt für den Bruchteil einer Sekunde wie hundert Millionen Diamanten. Ich stehe gebannt, muss einfach hinschauen. Das große, graue Pferd schmilzt dahin, kaut dabei. Und lächelt. Der Kopf wird immer schlanker, ganz oval, keine Augen mehr, löst sich in Nichts auf. Ich bin geblendet, will mich abwenden, kann mich jedoch um keinen Millimeter bewegen. Jetzt nimmt das glitschige Nichts wieder Formen an. Ich höre eine warme, beruhigende Stimme, die ich zu kennen scheine:

»Ich bin es doch, deine Lena! Komm zu mir und schenk mir deinen warmen Samen.«

Aus dem Pferd ist jetzt ein schön geformter, strahlender, von silbernen Lichtern eingerahmter Körper aus Alabaster geworden.

Lena.

Aber das Gesicht. Wo ist ihr Gesicht? Ich kann es nicht erkennen. Ich kann Lena nicht erkennen. Glitschiges, ovales, ekelhaftes, graues Etwas. Entsetzen. Doch. Doch, es ist Lena! Nur ihr langes Haar fehlt. Schweißgebadet, frierend und mit bleiernen Füßen stehe ich da. Mein Glied ist nicht steif, aber ich spüre ein wunderbares, unbeschreibliches Prickeln. Gleich ist es soweit. Die Gestalt kommt auf mich zu. Mit breiiger, hauchender Stimme höre ich im Hintergrund die Rehe. Sie wollen mir etwas ins Ohr flüstern:

»Hab keine Angst. Wir zeigen dir den Weg!«

Ich kann mich losreißen, beginne wie wild zu rennen. Einfach los, egal wohin. Nur weg.

Nur weg!

Schade, der Mädchenkörper ist verschwunden. Das große, graue Steinpferd steht wieder da und frisst Heu.

Und lächelt.

Irgendetwas zieht mich in die Tiefe. Rostrote Wände, kaltes Wasser, Tannennadeln, reißender Fluss, ein Kraftwerk. Schwarzgraue Höhle, glitschige Wände. Lena. Das Pferd. Rehe. Rostrote Wände. Ekel.

Es ist dunkel und still um mich herum. Nur die losen Holzbretter in meinem zu kurzen, zu schmalen Bett knarren. Ich friere, bin durchgeschwitzt. Es ist kalter Schweiß.

Januar.

Eine Decke zum Zudecken. Und zum Draufliegen. Sonst nur Holz. Der Hals schmerzt. Ich bin ein Kopfkissen gewöhnt. Was ist eine Daunenbettdecke? Schemenhaft kann ich das Waschbecken erkennen. Davor der kleine Tisch, der Hocker, das vergilbte Klo. Die Zelle stinkt! Mein Puls rast.

Scheißtraum!

Verdammter Traum!

Glitschige rote Wände …

Ich muss kotzen.

Das werden sie hören. Werden kommen und sich über meine Schwäche freuen.

Schweine.

Aber ich kann nicht leise kotzen. Das geht nun mal nicht! Macht immer Lärm. Dieses Würgen. Oh Gott, ist mir schlecht. Das war gestern schon so. Am grauenvollen Fraß allein liegt es nicht. Bin zu nervös. Mein Magen macht die Anspannung nicht mit. Immer nur Verhöre.

Verhöre, Verhöre, Verhöre.

Sie nennen es „Vernehmung“!

Ich friere ganz erbärmlich und muss kotzen. Sofort. Kotzen strengt bloß so fürchterlich an. Aber es erleichtert auch. Für den Moment. Also vorsichtig hoch, nicht atmen, Luft und Kotze anhalten und zum Klo. Deckel hoch, schnell!

Da sind sie schon. Wie die Geier. Lauschen nach jedem Geräusch. Klappe auf, Neonlicht an:

»Ist Ihnen etwa schlecht? Können wir Ihnen helfen?«

Was für eine dämliche Frage. Interessiert sie sowieso nicht. Scheinheilige Arschlöcher.

Obwohl. Angst haben sie schon. Ist unangenehm, wenn einer abkratzt. Bürokratenkram. Und dringt unter Umständen sogar an die Öffentlichkeit, gar in den Westen. Beschmutzt die reine Weste des Sozialismus. Beförderung ad acta. Also fragen wir ihn mal, geilen uns an seiner Schwäche auf und tun so, also ob es uns interessiert. Wenn er »nein« sagt, gut, wir haben unsere Pflicht getan! Kommt ins Protokoll.

Nun einen Schluck Wasser. Das tut gut. Warum bin ich nur so schwach!

Hätte ich doch eine zweite Decke.

Januar ist immer so kalt.

II

War das eine Woche!

Manchmal passiert in unserem läppischen Leben monatelang nichts Aufregendes und dann kommt alles auf einmal. Dann gibt es kein Luftholen, kein Nachdenken. Die alltäglichen Dinge tut man unbewusst, automatisch, versucht, seine Probleme zu ordnen, und erlebt nur Chaos in sich.

Silvester. Keine Zeit und zwei Frauen am Straßenrand.

Strahlende Augen die eine. Runde, feste Brüste unter der kurzen Kunstpelzjacke und die geliebten, leicht gewölbten Schenkel mit dem kräftig hervortretenden Dreieck in einer hautengen, braunen Samthose.

Flehende Augen die andere. Elegant wie immer. Ganz in Schwarz, hohe Stiefel, ein Pelzmantel. Eine Silhouette, die auffällt. Ich empfinde Mitleid. Ist Mitleid auch Liebe? Ist Mitleid noch Liebe?

Ich wartete auf die eine, die andere wartete auf mich. Für beide wäre ein klärendes Gespräch notwendig gewesen.

Silvester. Keine Zeit. Zwei Frauen.

Ich bin ein Armleuchter.

Oder bin ich stinknormal? Oder ein geiler Bock? Ich muss Schluss machen. Die flehenden Augen geben mir keine Chance.

Sie liegt neben mir, atmet flach, jedoch ruhig. Sie trägt noch meinen Namen. Meine Gedanken kreisen um uns. Unser merkwürdiges Leben. Die Ereignisse der letzten Tage passieren blitzartig Revue. In Sekunden tun sich Jahre gelebten Lebens auf. Ein anstrengendes Gespräch liegt hinter uns. Sie nimmt Schlafmittel, atmet flach, jedoch ruhig. Ich kann sie verstehen. Für Karin ging gerade eine Welt unter.

Ich bin so entsetzlich ausgelaugt. Möchte auch schlafen. Aber selbst der intensive Gedanke an ihre strahlenden Augen, ihre Wärme, das wunderschöne Dreieck der Begierde können mir keine Ruhe verschaffen. Ich höre ihre helle, glockenklare, gurrende Stimme, fühle ihre feuchten, gierigen Hände, die immer die Sprache der Liebe sprechen, immer in Sorge um mich sind. Hände können mehr, viel mehr als zupacken.

Und dann dieser Morgen.

Eisgrauer, trockener Januartag. Kein Tag in unserem wichtigen, unwichtigen Leben ist wiederholbar. Aber dieser? Wie werde ich ihn jemals wieder los? Wie kann ich die Erinnerung daran aus mir löschen? Kein Blackout. Es gibt kein Blackout. Alles ist klar vor mir. Jede Einzelheit. Immer. Wie lange wird es noch dauern?

Klopfen an meiner Mansardentür. Spinne ich?! Ihr könnt mich alle mal. Bin gerade eingeschlafen und habe die quälenden Gedanken verdrängen können.

Klopfen an meiner Mansardentür. Es frisst sich in meine Ohren, dringt in mein total unfrisches, denkfaules und zugleich sich quälendes, verwirrtes Gehirn. Mechanisch aufstehen. Bademantel überstreifen, Tür öffnen.

Zwei Unbekannte stieren mich an. Komische Sache.

»Sind Sie Herr Isleib, Dankmar Isleib? Ja? Dann ziehen Sie sich an! Sofort!«

Ich blicke in Ausweise, aus denen mich nichtssagende, kalte schwarz-weiße Lichtbilder, hässliche Augen im Halbdunkel anglotzen.

Staatssicherheitsdienst.

Ich verstehe nichts. Gar nichts. Oder doch? Halt! Ein Bekannter, Kollege, wurde vor wenigen Wochen verhaftet. Sollte das, sollte er der Grund für den hässlichen Besuch sein?

Die Herren sind zu viert. Einer im Garten. Einer im Treppenflur, zwei bei mir. Isleib. Musst verdammt wichtig sein!

»Beeilen Sie sich! Wir haben wenig Zeit. Sie müssen mitkommen. Zur Klärung eines Sachverhaltes. Frühstücken können Sie bei uns, los, Tempo!«

Waschen, rasieren, Schweißausbrüche. Zeit schinden. Gedanken ordnen. Mechanisch ziehe ich mich an; mein Verstand scheint im Eimer zu sein. Chaos türmt sich in mir auf.

Freunde warnen. Aber wie?

Wo ist meine Frau?

Der Liebsten eine Nachricht zukommen lassen.

Aber wie?

Die Bücher verschwinden lassen, das Westgeld. Und überhaupt. Ich kann so nicht gehen. Da muss noch so unendlich vieles geregelt werden.

Die Kerle mit den Robotergesichtern verfolgen jede meiner Bewegungen. Ich muss pinkeln. Dringend. Der starrt hin, als hätte er noch nie einen Schwanz gesehen!

»Soll ich einen Mantel mitnehmen?«

Januar. Kalt.

»Ist Ihre Sache.«

Na ja, wir fahren im Wagen, aber was ist, wenn ich zurückkomme ...? Wo ist der blöde Mantel. So, nun noch der Ausweis. Muss man in der Zone immer bei sich haben. Geld, der Krankenschein. Man kann ja nie wissen. Frisches Taschentuch. Hunger habe ich. Nervosität. Wie kann ich bloß eine Nachricht hinterlassen?

Lena, Karin.

Scheiße, verdammte Scheiße! Die lassen keine Sekunde von mir. Vier kalte, dumme, brutale Augen glotzen mich ununterbrochen an. Jeder Handgriff, jede Bewegung wird verfolgt, eingeordnet, abgeschätzt, begutachtet. Die haben Angst!

Treppe runter, Tür auf, abschließen. Die hintere rechte Tür des grauen Wartburgs steht schon offen. Einer links, einer rechts. Ich sitze in der Mitte. Dann der Fahrer und der Letzte. Scheint der Boss zu sein. Kann sicher mindestens seinen Namen fehlerfrei schreiben.

Schweigen.

Ich müsste mich jetzt konzentrieren. Auf die kommenden Verhöre vorbereiten. Geht nicht, denn ich habe keine Ahnung, was die von mir wollen.

Die Straße! Silvester – da standen sie beide. Keine zehn Meter voneinander entfernt. Und nun? Vorbei an den Neubauten. Die werden auch ewig nicht fertig. Läppisch, die bauen schon acht Jahre daran herum. Warmwasser gibt es noch immer nicht. Das kleine schwedische Heizkraftwerk steht nur provisorisch, weil das eigentlich geplante nicht fertig wurde. Geldmangel. Devisenmangel. Aber ein Lebensmittelgeschäft hat aufgemacht. Soll ja keiner verhungern. Nur: Was haben die dort in den Regalen, außer „sozialistische Errungenschaften“, wie Margarine auf chemischer Basis, stinkenden Weißkohl von der Kolchose, verseucht von Chemikalien, die sie zusetzen, damit er größer wird, der weiße Kohl, und pappiges Toastbrot, dem Westen abgekupfert und genauso wertlos wie dort. Ach so, die gammligen Grüne-Bohnen-Konserven nicht zu vergessen. Immer wieder und jeden Tag: Grüne Bohnen gibt es, die scheinen die Genossen Planer besonders zu mögen ...

Ahnungslos schauen die eintönigen Häuserfassaden auf unser Auto herab. Was wissen die schon von mir! Was wissen die Menschen, die hinter den genormten, armseligen Fassaden leben? Enge. Überall Enge. Auch im Kopf. Gerade im Kopf. Wollen sie überhaupt etwas wissen? Sind ihnen das Fressen, Vögeln, auf einen Trabant sparen, die Prämie im Kollektiv, die in Aussicht gestellte Neubauwohnung, alle zehn Jahre ein vierzehntägiger Urlaub mit dem FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) nicht wichtiger? Und dazu kommt die Angst.

Alle haben Angst.

Sehen weg, hören weg, wenn es um Wichtiges geht. Hören zu, wenn sie dich verpfeifen können.

Angst.

Hatten viele im Tausendjährigen, die Alten. Und nun gewöhnen sich die Jungen daran. Ist bequemer so.

„Sagte Vater auch immer …“

Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Was verbirgt sich dahinter? Schließlich hat doch jeder Staat seine Sicherheitsdienste. CIA, KGB, BND, MI5, MI6, Mossad, NSA, MfS. Wo ist der Unterschied.

Nein. Ich habe keine Angst. Ich habe kein schlechtes Gewissen. Warum sollte ich?!

Oh, wie einfach das klingt!

Verdammt, ich habe Angst! Angst vor dem Ungewissen. Angst um die Freunde, die Geliebte.

Und Karin.

Natürlich habe ich Angst um die Freunde um mich herum. Haben sie Karin auch geholt? Daran würde sie zerbrechen. Der Gedanke lässt mich nicht mehr los. Wenn sie sie nun ebenso geholt haben, wie jetzt mich? Schon vor mir? Sie muss früher raus. Schule. Ist es der Lada vor uns? Vier Stasitypen und eine heulende, zitternde, verängstigte, junge Frau? Nicht genug, dass ich ihr fortlief. Und wenn sie die anderen – Freunde, Bekannte – schon ebenso in ihren Fängen haben?

Karin … Noch ist sie meine Frau. Wenn auch nur auf dem Papier. Aber da ist ein gemeinsam gelebtes Leben. Da sind zehn Jahre Glück, Gleichklang, Unterdrückung, Kämpfe, Verstehen, Auseinanderbröckeln, Anekeln, Trauer und wiederum Verstehen. Vorgestern haben wir die Fronten geklärt. Nein, es wurde nicht mehr gebrüllt, es gab nicht einmal mehr Tränen. Geblieben sind kalte, nüchterne Absprachen über den Rest des gemeinsamen Lebens und dem Danach.

Und nun das: „Klärung eines Sachverhaltes!“ Klingt harmlos. Oder? Ein paar freundliche Fragen und man kann wieder gehen ...

Das hat Karin nicht verdient, das nicht. Niemand! Aber gerade Karin. Ich weiß, wie so etwas abläuft. Zumindest einigermaßen, denke ich. Sie ist jedoch nicht vorbereitet. Weiß von nichts. Rein gar nichts! Ist zu schwach, diesen Bestien zu widerstehen. Wird es genügen, dass sie von meiner Arbeit gegen den Staat nichts Genaues wusste? Wird man ihr glauben, der Lehrerin, der „sozialistischen Menschengestalterin“?

Ja, ich hatte mal Illusionen: Wissen wertfrei vermitteln. So hatte ich mir das früher vorgestellt. Der Traum von Gleichberechtigung, Leben ohne Zwänge. Alle Menschen sind gleich. Gerade in diesem Staat müsste das doch möglich sein. Dann sah ich die Lehrbücher, die eher Leerbücher hätten heißen müssen. Sah, wie der Unterricht abläuft. War das eigentlich bei mir, gleich nach dem Krieg, auch schon so hundsmiserabel gewesen? Wo finde ich meine Erinnerung? Waren die Lehrenden damals schon so grottenschlecht, so tendenziös, primitiv wie heute?

Die haben sie vor mir geholt. Ich weiß es. Wollen einen Vorsprung erarbeiten. Vorsprung wovon? Frauen sind leichter zu überlisten. Noch dazu in einer derart schwierigen Situation.

Schweiß bricht am ganzen Körper aus, Tropfen laufen über meine Stirn, über die Augen, die Nase, fallen auf meine Handrücken. Es ist verdammt heiß in dem Wagen. Links und rechts stumpfe Robotergesichter. Erfüllungsgehilfen des Systems. Nun kann ich mich nicht mehr an ihnen vorbeimogeln. Ohne sie läuft in diesem Staat nichts. Überhaupt nichts! Und es gibt sie überall. Ständig sind sie präsent. Ist das eigentlich nur in der Ostzone so? Sind die im Westen genauso? Sind die Typen um mich herum nur mir so unsympathisch, oder geht es allen anderen Menschen hier im Osten auch so wie mir? Ich weiß es nicht. Oh, wie ich sie hasse!

Nein. Nur das nicht. Hass macht blind, sagt man. Und Blindheit kann ich nicht brauchen. Ich darf mich jetzt nicht gehen lassen, darf keine Fehler machen. Dankmar, konzentriere dich! Ruhe! Schalte ab, bleib ganz cool!

Wenn ich nur abschalten könnte! In meinem beschissenen Hirn kreuzt sich momentan alles. Die Gedanken eskalieren, spielen verrückt. Energieströme laufen völlig konfus, zerschlagen die Ordnung, die uns meist gegeben ist, um Dinge in richtiger Weise voranzutreiben. Ich kann keinen Gedanken festhalten. Nichts ordnen, sortieren, zu Ende denken.

Eisgrauer Morgen.

Die Fahrt führt durch Dörfer, die ich kenne, führt über Straßen, die, grottenschlecht, ein Stück Heimat sind, streifen Plätze, die ich mag. Trotz des äußerlichen Verfalls. Der bucklige Asphalt rattert unter mir dahin; könnte ich mich nur an ihm festhalten. Schemenhaft nehme ich die kahlen Bäume wahr. Ich fühle mich so unendlich einsam und verloren. Ich möchte heulen, aber es sind keine Tränen da.

Ja hier, hier war es! Wie oft haben wir nachts auf dem Feldweg angehalten. Er führte in weite Kornfelder, war von der Landstraße aus schon nach wenigen hundert Metern nicht mehr einzusehen. Ganz still saß sie neben mir. Nur ihre feuchten Hände sprachen. Fast schon mechanisch lenkte ich den Wagen meist in den einsamen Weg. Einmal sind wir stecken geblieben. Schwerer, gefurchter, nasser Boden hatte den Wagen aufsetzen lassen. Er bewegte sich keinen Meter mehr. Panik. Wie sollen wir da unbemerkt wieder rauskommen? Ich muss nach Hause. Ich bin ein Schwein. Fremdgeher. Nein, stimmt nicht ganz. Karin weiß es schon lange. Aber es schmerzt sie jedes Mal mehr. Das weiß ich und tue es trotzdem. Immer wieder.

Lena, Geliebte ...

Wir erreichen die Bezirkshauptstadt. Werde ich sie heute wieder verlassen können?

Der Wartburg fährt langsamer, biegt in eine Seitengasse, hält mit „taa taa, ta taaa“ vor einem großen Holztor. Etwas Unlesbares steht in ehemals weißen Lettern an dem dunkelbraunen Tor. Soll ich nun lachen? Bin ich eine Mohrrübe oder ein Kohlrabi, eine Tomate oder nur ein dummer Kohlkopf? Hydraulisch öffnet sich das Tor. Uniformen, mit Maschinenpistolen im Anschlag, werden sichtbar. Eine hohe weiße Mauer, ein zweites Tor. Diesmal aus Eisen. Wieder Maschinenpistolen. Eine schmale Einfahrt, gerade breit genug für einen PKW, Stacheldraht, Elektrozäune. Ein Portal, silberne Mützen und Schulterstücke. Mehrere Männer in Zivil.

Das Empfangskomitee für einen Musiker.

Aussteigen, fünf breite Stufen, eine schwere dunkle Tür, ein noch dunklerer Gang. Wieder Uniformen, Maschinenpistolen, ein Glashäuschen. Summton. Die Tür rollt zur Seite, drei Stufen runtergehen. Halt! Schlüsselgeklapper. Ein leerer Raum. Kein Fenster, muffige Luft. Ein Tisch, drei Stühle, Uniformen, Maschinenpistolen und Männer in grauen Anzügen. Taschen ausleeren.

Ausziehen. Ganz! Schnell! Schneller!

Mit welchem Recht?

Das wusste ich alles. Theoretisch. Von Freunden, die überlebten. Dem Grauen entkamen. Das ist jetzt die Praxis. Schwerer, viel schwerer zu ertragen, als ich es mir hatte vorstellen können.

Zehn Hände vergewaltigen meine Sachen.

»Anziehen, mitkommen!«

Ich muss pinkeln. Die Angst.

III

Das erste Verhör ist das Schlimmste. Unerfahrenheit gegen kalte Routine.

Zimmer 16. Das habe ich, flüchtig, lesen können. Aber was nützt es? Ein etwa sieben Meter langer, sehr hoher, schmaler Raum. Durch das vergitterte Fenster fällt mein Blick auf einen kahlen Baum. Er ist so durchsichtig wie der nüchterne, vergammelte Raum mit den Ramschmöbeln. Hat aber den Vorteil, dass er von draußen nach drinnen schauen kann. Wenn er denn will und es seine Psyche nicht zu sehr belastet. Wir wissen es nicht. Der Baum sorgt dafür, dass wir atmen können ... Quer vor dem vergitterten Fenster ein hellbrauner, billiger Schreibtisch. Leer. Davor ein Mann.

Klein, dick. Vielleicht dreißig, oder ein wenig mehr. Grauer Anzug, hellblaues Hemd. Breiter, brauner Wollschlips. Stechende, wasserblaue, unruhige Augen. Zwischen ihm und mir ein langer, glänzender Konferenztisch aus Spanplatte. Hellbraun. Links und rechts von ihm rote Eisenstühle. Sechs. Nackt. Ohne Polster.

Auf der rechten Seite, von mir aus betrachtet, sitzt ein junger Typ. Uninteressiert. Borstige, schwarze, kurz geschnittene Haare, Augen, die einen nicht anschauen können. Ihm gegenüber, auf dem mittleren Eisenstuhl der linken Seite ein Genießer. Genießer seiner unerhörten Macht. Groß, breite Schultern, drahtig. Intelligenter, gefährlicher Gesichtsausdruck. Schmale Lippen, ein Strich. Mehr nicht. Ein gefährlicher Arsch. Jeder Einzelne ein Ebenbild des totalitären Systems. Man sieht es ihnen an, erkennt sie. Ich habe sie schon immer erkannt. Sie sind unverkennbar. Aber deshalb nicht minder gefährlich. Zynische, kalte, taxierende Augen. Verächtlich der Blick. Immer. Sie wissen um ihre Macht.

Unerfahrenheit gegen kalte Routine.

In der äußersten, entgegengesetzten Seite vom Schreibtisch aus betrachtet, steht ein Hocker. Blickrichtung Fenster und, zwangsläufig, in die kleinen, flinken Schweineaugen des Dicken am nackten Holztisch.

»Setzen!«

Eine unmissverständliche Handbewegung weist mir den Hocker als Sitzplatz zu. Welche Ehre. Ich darf mich setzen. Nun mustern mich drei Augenpaare erst einmal minutenlang. Ritual. Routine. Abschätzend. Verängstigen. Methode. Wen haben wir da vor uns? Wollen mich nervös machen. So ein Unsinn! „Das bin ich doch längst“, möchte ich ihnen entgegenschleudern, aber ich sitze einfach nur ganz still auf dem Hocker und schaue auf den Baum, in der Hoffnung, dass er mein Leid verstehen möge und mir Kraft für das Bevorstehende schenkt. Sechs Augen mustern mich nach wie vor eiskalt, verächtlich, ausgiebig, genüsslich, angewidert, erstaunt, befremdet.

»Sie sind Herr Isleib?«

»Was fragen Sie!«

»Antworten Sie gefälligst! Also: Sind Sie Herr Isleib? Dankmar Isleib, geboren am vierundzwanzigsten April Neunzehnhundertvierundvierzig …? Nicht dass uns hier eine Verwechslung vorliegt, Herr Isleib!«

»Ich bin krank. Das wissen Sie. Ich verlange einen Arzt und meine Medikamente. Sie waren in der Jackentasche. Mit meinem Krankenschein. Das muss erst geregelt werden, sonst läuft nichts«, entgegne ich den stumpfen Gesichtern, die mich noch immer anstarren, als käme ich vom Mars.

»Kennen Sie Fritz Mortz?«

»Stellen Sie mich einem Arzt vor. Wenn der bestätigt, dass ich vernehmungsfähig bin, können Sie fragen.«

Geplänkel. Sinnloses Geplänkel. Ich weiß, dass es völlig sinnlos ist, aber es beruhigt mich. Zumindest ein wenig. Wut. Angst bekämpfen.

Das Verhör kann beginnen.

Fritz Mortz ist ein Kollege aus unserem Institut. Wir sitzen, nein, wir saßen uns Schreibtisch an Schreibtisch gegenüber. Vor acht Wochen verschwand er. Zurück blieb sein Trabant auf dem staubigen Parkplatz des Instituts. Nur ein paar Tage. Dann verschwand auch der. Nachts.

Fritz, aha. Das ist ein erster Anhaltspunkt. Ich kann mich einpegeln. Trotzdem: Das ist nicht alles. Worauf wollen sie hinaus? Die kleinen grauen Dinger unter meinen langen Haaren beginnen zu arbeiten. Synapsen verbinden sich.

»Also, was ist?! Wie lange sollen wir noch auf eine Antwort warten!«

Der kleine Dicke wird laut. Der Stumpfsinnige guckt böse, der breite, intelligente Typ wendet sein Haupt in meine Richtung und verschießt mit den Augen tödliche Giftpfeile. Es geht ihnen nicht schnell genug. Und so soll es auch bleiben. Ich will, ich muss den längeren Atem haben. Egal, wie lange die „Vernehmung“ dauern mag. Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre … Reicht meine Kraft dazu? Am liebsten würde ich schon jetzt das Handtuch schmeißen. Aber wohin? Sie haben einfach die bessere Ausgangsposition.

Merde.

»Sie haben dem Mortz im Sommer vergangenen Jahres Ihren Wartburg geliehen.«

Feststellung.

»Wann genau war das?«

Von dieser Ecke weht der Wind. Stimmt, der Fritz hat sich mal meinen Wagen geborgt. Na, wenn das alles ist ...

Mortz fragte: »Kannst du mir mal dein Auto borgen. Heute. Nur für ein paar Stunden. So ab sechs. Ich will ein paar Sachen aus der Wohnung vom Krug holen. Der will am Wochenende weg.«

Vertrauen gegen Vertrauen. Sein Freund wollte abhauen. War in jenen Wochen in unserer Stadt sehr verbreitet. Ein Arzt nach dem anderen. Ingenieure, Facharbeiter, Künstler. Meist junge Familien, aber auch Singles. Abhauen – also von Deutschland nach Deutschland ziehen. Von Halle nach Hamburg. Von Berlin nach Berlin, von Dresden nach Dortmund.

Das ist verboten!

Das ist das größte Verbrechen in unserem „sozialistischen Heimatland“. Das ist Verrat am „Ersten-Arbeiter-und-BauernStaat“.

Abscheuliches Verbrechen!

Ein Kind vergewaltigen. Na gut. Eine Oma bestehlen, ihr die letzte Mark rauben, einen Kaufmann erpressen, na gut! Aber „Unsere Republik“ verraten?! In das absterbende, von Seuchen überzogene, modernde, stinkende, faulende kapitalistische System des Klassenfeindes gehen wollen? Das ist ein Verbrechen. Das größte!

Ausgestoßener, du! Bis ans Lebensende. Verrat am sozialistischen Vaterland. Nie wieder wirst du ein Bein auf die Erde bekommen. Bist gezeichnet, auch ohne Stern am Revers. Deine Nummer ist nicht auf deinem Arm tätowiert, deine Nummer kann jeder von deiner Stirn ablesen. Weil du gebrochen bist. Weil du ein Aussätziger der Gesellschaft bist. Weil du keinen einigermaßen ordentlichen Job mehr bekommst, weil du nur noch ein mieses Stück Dreck im Staub des sozialistischen Vaterlandes bist.

Vielleicht hast du einen Onkel in Köln, einen Bruder in Kassel? Oder du hast, durch Zufall, auf dem Bahnhof in Leipzig, während der Messe, ein tolles Mädchen aus Essen, einen eleganten Herrn aus Wiesbaden kennengelernt. Willst deinen von deiner Mutter geschiedenen Vater am Bodensee besuchen. Willst dich bei VW selbst davon überzeugen, wie sehr die Arbeiter im Kapitalismus ausgebeutet werden.

Verbrecher!

Oder du kannst den Druck nicht mehr ertragen. Die Parolen. Wohin du blickst, Parolen. Etwa: „Unser Sieg über den Kapitalismus stärkt den brüderlichen Kampf der unterdrückten Arbeiterklasse in den Ländern Afrikas!“ oder ähnlicher Schwachsinn.

Oder du hast Angst vor deinem Nachbarn.

»Kollege Isleib, morgen ist der Erste Mai. Sie haben noch keine Fahne draußen. Ich werde Ihnen eine bringen, damit Sie sich nicht schämen müssen. Sie wollen doch nicht den Klassenfeind stärken und unser Wohngebiet verunglimpfen!«

»Kollege Isleib, Sie haben schon wieder einen neuen Schrank gekauft. Können Sie uns sagen, woher Sie eigentlich so viel Geld haben?«, fragt scheinheilig der Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei, dessen Aufgabe es ist, in seinem Wohngebietsabschnitt alle wichtigen – und so etwas ist äußerst wichtig und staatszersetzend – Dinge und Veränderungen sofort zu überprüfen und an die nächst höhere Dienststelle weiterzuleiten.

»Kollege Isleib, gestern stand wieder ein Westwagen vor Ihrer Tür. Glauben Sie, wir merken das nicht? Glauben Sie, das ist für Ihre Frau gut? Wenn das die Schüler Ihrer Frau sehen! Damit untergraben Sie die Autorität einer Lehrerpersönlichkeit, einer sozialistischen Menschengestalterin, und schaden entschieden dem ideologischen Kampf gegen die Kriegstreiber!«

Ja, Angst. Angst, deinen Kindern deine Gedanken mitzuteilen. Ein Kindermäulchen plappert ja ganz arglos daher. Das könnte ein Lehrer hören. Ein unbedachtes Wort aus Kindermund, ein Witz über Ulbricht oder der Sohn ist nicht in der FDJ (Freie Deutsche Jugend), all das könnte die ganze Familie gefährden, Sanktionen nach sich ziehen. Unweigerlich!

Aber du willst frei sein. Willst dich nicht gängeln lassen. Willst Entscheidungen über dich, dein Leben, deine Familie, deinen Alltag selbst treffen. Aber das geht nicht. Schon die Gedanken an eigene Entscheidungen sind ein Verbrechen am Arbeiter-und-Bauern-Staat. Das Kollektiv denkt und lenkt. Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit. Sagte Marx. Murks! Wessen Notwendigkeit? Die des Staates? Des Individuums?

Hoppla! Was für ein Individuum?

Die immer gleichen Fragen hämmern auf mich ein. Stupide. Stunde um Stunde. Das ist Methode. Der Januartag ist grau, bleibt grau. Düster. Der Baum schaut mich an, reglos.

»Isleib, zum letzten Mal: Wann haben Sie Mortz den Wagen geborgt? Sagen Sie die Wahrheit! Wir wissen sowieso alles. Also Tag, Stunde, Monat. Isleib!« – Das „Herr“ ist im Verlaufe des endlosen Verhörs längst von ihrer Höflichkeitsliste gestrichen. »Seien Sie vernünftig. So, wie Sie sich verhalten, verschlechtern Sie nur Ihre Lage!«

Träume ich oder ist das Wirklichkeit? Ich kann das alles noch nicht glauben, habe irgendwie das Gefühl, ich habe mich in das falsche Kino begeben. Horrorfilme stehen nicht auf meinem Programm.

Der Mensch landet auf dem Mond. Der Mensch baut Computer, Atomkraftwerke und Automaten. Der Mensch verpflanzt Herzen, überträgt Fernsehsendungen, direkt aus Japan. Per Satellit. Der Mensch sucht nach Leben, nach Radioquellen im All.

Der Mensch sperrt Menschen ein. Weil sie von Halle nach Hamburg wollen. Wahnsinnige Wirklichkeit. 1974. Mitten in Europa. Im einstigen Deutschland.

»Ich will einen Anwalt haben. Ohne Anwalt sage ich nichts. Ich bin mir keiner strafbaren Handlung bewusst!«

Gut habe ich das gesagt! Wird die mächtig beeindrucken. Das mache ich nun auch schon seit Stunden. Anwalt sprechen! Als ob es das gäbe.

Ja, da gibt es einen. Nennt sich Rechtsanwalt. Ist aber wohl eher Linksanwalt. Professor Dr. Kaull, Berlin. Der schrieb mal ein Buch über Kriminalfälle in der Weimarer Republik. Ganz amüsant! Kaull bemängelt darin, dass es in der Weimarer Republik vorgekommen sein soll, dass ein Beschuldigter erst nach mehreren Stunden, gar Tagen, einen Anwalt seiner Wahl sprechen durfte. Sauerei, elende! Scheiß bürgerliche Demokratie, vergammelte Weimarer!

Wenn der Staatssicherheitsdienst seine Ermittlungen abgeschlossen hat, kann ich mir einen Anwalt nehmen. Wen, das ist ziemlich egal. Denn: Anwalt wird nur, wer sich für den Arbeiter-und-Bauern-Staat gebührend engagiert. Er vertritt schließlich sozialistisches Recht. Nicht irgendein Recht, menschliches Recht, nein, sozialistisches. Nun ja, wenn es sich bei mir um eine gute, positive sozialistische Menschenpersönlichkeit handeln würde, die sich hat verleiten lassen, die sich auf ihrem Weg zum wahren Sozialismus ein einziges, kleines Mal hat verführen lassen, dann könnte man es ja noch einmal versuchen. Mit Genossen der Partei versuchen, ihn wieder auf den rechten Weg zu bringen. Aber so? Einen gefährlichen Gegner „unserer Republik“?

Meine Antworten kommen automatisch. Sagen nichts aus. Gar nichts. Meine Gedanken sind woanders. Haben sich dem Verhör längst entzogen. Sie analysieren das politische Verhalten des Staates, seine Statthalter, mir in Form der drei Offiziere des MfS gegenübersitzend. Auf monotone Fragen, monotone Antworten.

Was schreiben sie nur dauernd in ihre weißen Blöcke? Ich sage doch gar nichts. Sie wollen damit verunsichern. Noch weiß ich das nicht. Methode. Einer rennt ständig geschäftig aus dem Zimmer, die Tür bleibt dabei halb offen; man hört Flüstern auf dem Flur. Dann kommt er wieder hastig in den Raum gerannt, geht zu den anderen, tuschelt ihnen etwas ins Ohr. Dann schreiben sie wieder. Alle drei. Taktik. Doch ich durchschaue sie bald …

Trotzdem nervt es. Das wissen sie. Ich bin ohnehin geschwächt, denn die Medikamentenvergiftung, von einer läppischen, falsch ausgeführten Zahnbehandlung herrührend, habe ich noch nicht überstanden. Vielleicht hatten sie ja dabei ja auch ihre Finger im Spiel. Wer weiß. Naivität auf meiner Seite. Sie wissen von meiner Schwäche und das freut sie. Auf ihren Gesichtern ist es deutlich abzulesen.

»Was wusste Ihre Frau davon? War sie bei der Übergabe des Autos dabei?«

Was heißt hier „Übergabe“! Ein Kollege leiht sich für ein paar Stunden ein Auto. Na und? Doch nun ist Karin im Spiel. Dann kann ich davon ausgehen, dass sie jetzt nicht Kinder zu sozialistischen Menschenpersönlichkeiten erzieht, sondern auch an diesem Ort irgendwo in einem der nüchternen und kalten Räume verhört wird. Aber ich möchte mir ein kleines Fünkchen Hoffnung bewahren. Auf dass sie es so machen wie in der allmächtigen Sowjetunion. Da holt man meist nur die Männer, lässt die Frauen zu Hause. Nein: Die Deutschen sind gründlicher. In allem viel gründlicher.

»Was ist mit meiner Frau? Warum lassen Sie sie nicht aus dem Spiel?«

»Die Fragen stellen wir!«, brüllt der Wortführer, der kleine Dicke mit den wässerigen Augen und eine rötliche Ader durchzieht quer seine flache Stirn und schwillt merklich an.

»Isleib, Sie wollten doch mit ihr abhauen! Wie der Krug!«

Die ersten Worte des jungen Schnösels mit dem fahrigen Blick und den stoppeligen Haaren. Das war eine Riesendummheit. Dem Dicken steht es förmlich ins Gesicht geschrieben, wie sehr er sich über den falschen Fahrplan seines jüngeren Kollegen ärgert. Soweit war man doch noch gar nicht. Ach wie schrecklich! Wir wollten die kapitalistisch denkende Drecksau doch erst aufweichen, fertigmachen.

Nun ist die Katze aus dem Sack.

Sie wollen mir „Republikflucht“ anhängen.

Was Dümmeres konnte ihnen nicht einfallen. Glauben die im Ernst, dass ich mich in meiner derzeitigen privaten Situation auf solche Sache einlassen würde?

Aber sie können anscheinend nur in diesen Kategorien denken. Für sie will jeder, der gegen ihren Staat ist, auch automatisch abhauen. Da lassen sie sich auf gar keine Diskussionen ein. Du bist gegen uns, also willst du auch weg. Das ist ihre Logik. Basta. Und deshalb haben wir die Mauer gebaut. Ach nein – die Kapitalisten wollten uns ausbeuten. Das konnten „wir“ nicht zulassen. Ich bringe da etwas durcheinander.

Ihr Angstsyndrom. Und ich kann sie verstehen.

Der kleine Dicke merkt, dass ich durch seine Frage Oberwasser bekomme. Ich sitze aufrechter auf meinem Hocker, die eingefallenen Schultern haben sich gehoben. Doch mein Selbstbewusstsein will er gar nicht erst aufkommen lassen und sagt mit seiner fiesen, mich immer mehr anekelnden, hellen, dünnen Stimme:

»Ihre Freundin, Herr Isleib, die Lena – ist sie doch, nicht? –, die können wir gleich mit dazu holen. Sie sehen ganz so aus, als ob Sie das möchten. Wir können das! Also sagen Sie uns endlich die Wahrheit. Machen Sie ihrem Herzen Luft. Ich sehe doch, wie Sie kaum noch an sich halten können. Oder deute ich das falsch und Sie wollen nur unter unserer Aufsicht einen flotten Dreier machen, Sie Perversling? Das können wir auch organisieren!«

Diese Schweine. Ihre Drohung ist ernst. Ich weiß, dass sie auch Lena hierher zerren können. Unsagbare Schmerzen durchdringen meine Brust. Sie müssen sehen, wie mein Herz schlägt. Genügt ihnen denn nicht meine Frau? Müssen sie mich zusätzlich noch damit quälen? Reißt mir einen Arm aus, schneidet mir ein Bein ab. Schlagt mich! Um alles in der Welt: Lasst Lena aus dem Spiel.

Da ist er. Der abgeklärte Schmerz einer langen Partnerschaft, Ehe genannt, gegen den unbeschreiblichen Schmerz einer blutjungen, frisch erblühenden Liebe.

Was zählt mehr?

Wir sind nun schon zwei Tage in Berlin. Wir geben Konzerte. Die Band ist gut drauf, gelöste Stimmung wie lange nicht mehr. Ein Gefühl von Ferien umgibt uns; dass macht die Sonne und das junge Frühlingsgrün. Ich telegrafiere Lena: »Bitte komm! Ich habe Sehnsucht.«

Ihre strahlenden Kulleraugen leuchten mir entgegen. Sie lacht mit uns. Irgendwie ist es diesmal anders. Irgendwie haben wir in diesen Tagen das Gefühl, das uns nichts und niemand mehr trennen kann. Wir schweigen und schmieden in unseren Gedanken Pläne. Liebe heißt das Wundermittel für unsere Seelen. Was zählen in glückseligen Momenten die vielen schlechten Menschen, die uns von Zeit zu Zeit umgeben. Was zählen da Politik, Stress, die Angst um die Zukunft. Selbst die so nahe und immer und überall in Berlin gegenwärtige Mauer wird zur bloßen Wand. Es gibt uns. Punkt. Wir haben Freunde. Punkt. Wir genießen den Moment. Wir lachen mit unseren Freunden, sind glücklich. Wir sitzen auf alten Parkbänken, liegen auf frischen Wiesen, atmen den Duft wunderschöner Blumen ein, lästern uns die Zungen wund, verarschen vorbeikommende Fußgänger. Wir essen tonnenweise Eis, heiße Würstchen und unser Gitarrist erzählt am laufenden Band schweinische Witze. Und Hans, unsere Intelligenzbestie, kommentiert sie. Er macht, so ganz nebenbei, seine Doktorarbeit über Verhaltensweisen von Kindern. Bei Verhaltensweisen und Psyche ist Freud nicht weit und der passt nun wirklich gut zu schweinischen Witzen und Sex. Finden wir.

Wir lieben uns täglich bis zur Erschöpfung. Morgens, mittags, nachts. Wo sich gerade eine Möglichkeit ergibt. Wir wohnen bei einem Freund; der kommt aus dem Wegschauen, Weghören gar nicht mehr raus. Es stört uns nicht.

Pläne. Lena wird bald ihr Studium aufnehmen. Hat das Glück, so wie Hans auch, aus einem Arbeiterhaushalt zu stammen. Die dürfen. Lena und Kunstgeschichte. Sie wird in die Tiefen der Leda, auch ohne Schwan, eindringen, die Formen der Nofretete erforschen, das Lächeln der Mona Lisa ergründen.

Bin ich auf meinem Hocker eingenickt? Wie lange habe ich in dieser Stellung geschlafen? Es können nur Sekunden gewesen sein. Mir kommen sie jedoch wie Stunden vor. Der Tag ist inzwischen zur Nacht geworden. Habe ich meine Erinnerungen geträumt, oder waren sie einst Wirklichkeit? Gespenstisch der Baum vor den Gittern. Er ist durch die grellen Neonleuchten des stickigen Raumes angestrahlt und wirkt unwirklich weiß und kalt. Doch der Baum ist frei. Stört er sich an der Ostzone, der Stasi, der sowjetischen Besatzungszone, die sich seit Jahrzehnten DDR nennt? Mein Gott, wie schnell schränkt sich der Begriff Freiheit ein, wenn man Gitter vor und hinter sich hat. Wenn man in Maschinenpistolen blickt, in kalte Roboteraugen.

Sie haben eine Pause gemacht. Das Verhör scheint sie mehr anzustrengen als mich. Etwa zwanzig Stunden sind nun schon vergangen und sie wissen noch immer nichts über mich. Nur das, was sie sich zusammenreimen. Die ersten Vernehmungsprotokolle sind abgetippt. Die sind von meiner Frau. Sagt der mit den Schweinsaugen. Es kann aber auch ein Bluff sein. Doch wozu bluffen? Haben die das nötig? Ich entscheide mich für JA. Die haben es nötig. Bitternötig, denn es gibt nichts, was wir verbrochen haben.

»Isleib, wie Sie sehen, war Ihre Frau weitaus vernünftiger als Sie. Jetzt sagen Sie uns mal die ganze Wahrheit über das Verleihen von dem Wartburg und Ihre Fluchtvorbereitungen, und dann können Sie dementsprechend wieder gehen. Meinen Sie, es macht uns Spaß, Sie hierzubehalten? Ihre Frau ist längst wieder Zuhause. Die wartet auf Sie. Vielleicht können Sie es mit ihrer Ehe ja noch mal versuchen.«

Ein Stein fällt mir vom Herzen. Aber nur für Sekundenbruchteile. Karin wieder zu Hause. Nein, das geht nicht. Die können sie nicht wieder ziehen lassen. Das macht keinen Sinn. Karin würde unsere Freunde benachrichtigen. Ja, das würde sie sicher tun. Sie warnen.

Du glaubst, was du glauben willst.