Sie werden lachen. Mein Mann ist tot - Petra Sadkowsky - E-Book

Sie werden lachen. Mein Mann ist tot E-Book

Petra Sadkowsky

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  • Herausgeber: Knaus
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Dieses Buch stellt sich der Sterblichkeit und feiert das Leben

Ein Mann stirbt, plötzlich und unerwartet, stürzt an einem Ostersonntag vom Fahrrad und die Welt endet. Petra Mikutta erzählt diese Geschichte von ihrer Liebe und ihrem Verlust auf einzigartige Weise. In einem Buch, das keiner, der es gelesen hat, vergessen wird: Denn der jederzeit mögliche Tod und alles Schmerzliche, das die Autorin beschreibt, wird überstrahlt vom hellen, schönen Leuchten unserer Verbindungen zu denen, die wir lieben.

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Seitenzahl: 283

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Petra Mikutta

Sie werden lachen. Mein Mann ist tot

Ein Überlebensbuch

Knaus

Dylan Thomas zitiert aus: Elke Heidenreich, Tom Krausz, Dylan Thomas, München 2011.

Für meine Mutter

1. AuflageCopyright © der Originalausgabe 2015beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-15104-1www.knaus-verlag.de

Wish away nightmare, wish away nightmareYou got a light, you can feel it on your back.

Radiohead, Jigsaw Falling Into Place

EINSVierter Monat und der erste Tag.

Sie atmet. Sie lebt. Meine 22 Jahre alte Tochter schläft neben mir im Doppelbett. Sie hat mir das Gesicht zugewandt, zutraulich und trotzig sieht es aus, unfassbar jung. Ich berühre ihre Nasenspitze mit dem Zeigefinger. Es ist eine ängstliche Geste, denn ich fürchte diese gewaltige Liebe zu ihr.

Meine Tochter wird sterben.

Es besteht die Chance, dass ich ihren Tod erleben werde, vielleicht schon bald. Es ist möglich, dass, in einer Stunde oder jetzt, ihr Herz aufhört, zu schlagen, dass ihre Nasenflügel einfallen, dass ihre Finger und Füße gefrieren.

Zwar spricht die Wahrscheinlichkeit dagegen. Sie ist gesund und befindet sich mit ihrer Mutter in einem Wiener Hotelzimmer der gehobenen Kategorie. Aber ich habe das Vertrauen in das Wahrscheinliche verloren, denn ich habe genau das erlebt: den plötzlichen Tod eines gesunden, geliebten Menschen. So niederträchtig haben Statistik und Schicksal mich betrogen, dass ich beim Gedanken daran aufhöre, zu atmen.

*

Mein Mann starb am Ostersonntag, vor gut vier Monaten, ziemlich genau um 19 Uhr. Ich trat zögerlich in die Pedale meines Hollandrads und schlingerte auf dem Radweg herum, denn ich hielt den Lenker nur mit einer Hand. Mit der anderen versuchte ich, online eine Personenwaage zu ersteigern. Sie sollte der erste Schritt zu einer schmaleren Hüfte sein.

Wenige Kilometer entfernt radelte er. Etwa zur selben Zeit, als es mir ohne Absteigen gelungen war, das supercoole Retro-Stück in Knallorange einem zähen Mitbieter vor der Nase wegzuschnappen, explodierte im Körper meines Mannes eine Zeitbombe.

Nein, kein Vogel, der aufkreischte, kein Donner aus heiterem Himmel, nicht einmal ein Autohupen oder ein plötzlicher stechender Schmerz, etwa in der Wade. Der Geist meines Mannes schickte kein Zeichen, wie ein halbwegs anständiger Geist in Romanen oder Filmen, und ich hatte keine Ahnung, nicht die leiseste. Ich war in dem Moment vielmehr sehr zufrieden mit mir. Schlau war ich gewesen. Ich hatte den Handy-Timer gestellt, um das Auktionsende nicht zu verpassen.

Ich trat kräftig in die Pedale, denn ich wollte mich so schnell wie möglich in seine Arme werfen, Freude teilen, Küsse verschenken. In höchstens zehn Minuten würde ich ihm die Auktionsgeschichte erzählen. Er wäre stolz auf mich.

Wir waren getrennt zu seinen Eltern unterwegs, denn wir leisteten uns zwei Adressen, 15 Fahrradminuten voneinander entfernt. Nach dem Osterbesuch würden wir gemeinsam nach Hause fahren, zu ihm vermutlich, denn die Strecke war kürzer.

Ich wich einem Rettungswagen aus, der zur Hälfte auf dem Fahrradweg parkte und ihn blockierte. Die Warnlichter blinkten, die Türen waren geschlossen, der Motor schwieg. Ich hatte keinen Verdacht und machte mir keine Gedanken.

Nur noch drei, vier Minuten, eine leichte Steigung, dann wäre ich bei ihm, endlich.

Ich vermisste ihn. Gegen drei Uhr hatten wir uns in meiner Wohnung verabschiedet, mit einem langen Kuss an der Tür, nach einem Frühstück im Bett.

Als er weg war, wechselte ich Laken und Bezüge, denn nach den Feiertagen würde mir der Job keine Zeit mehr für Hausarbeiten lassen. Ich skypte mit den Kindern und lackierte die Zehennägel. Zweimal telefonierten er und ich. Besorgst du Blumen? Bist du in der Badewanne?

Ich hörte es am Telefon, wenn er in der Wanne lag. Seine Stimme klang dann, als würde er durch eine Gießkanne sprechen. In der Badewanne konnte er am besten nachdenken, da kamen ihm die besten Ideen.

Wir redeten kurz über seine Arbeit, ein neues Projekt, schickten Küsse durch winzige Mikrofone.

Vier Stunden ohne ihn, eine Ewigkeit, so kam es mir vor. Gleich, im Haus seiner Eltern, würde sie enden.

Aber sein Rad lehnte nicht an der Garagenwand.

Mein Handy schmetterte den Klingelton Sherwood Forest, eine fröhliche Jagdfanfare. Sie kündigte den Beginn der Ewigkeit an.

Die Zeit nagt so langsam an ihr, dass sie sich nach vier Monaten genauso ewig anfühlt wie am ersten Tag.

*

Meine Tochter ignoriert die Berührung ihrer Nasenspitze, wie sie auch die Sonne nicht bemerkt, die sich in den Spalt zwischen Wand und Vorhang gedrängelt hat.

Ein weiterer neuer Tag ohne meinen Mann.

Ich kann ihn nur noch nachts treffen. Im Schlaf umarmen und küssen wir uns, wir reden und lachen, worüber, kann ich nicht einmal sagen. Themen und Sätze sind nicht wichtig.

Ich kann seine Stimme hören, seine Haut und sein Haar riechen. Ich spüre seinen Atem und lasse mich in seine blauen Augen fallen.

Fast jede Nacht verbringen wir zusammen.

Jedes Mal, früher oder später, gehen wir spazieren, über Berge, durch Wüsten, nie am Strand. Und dann verliere ich meinen Mann in einer Nebelwand. Manchmal verschwindet er vor meinen Augen, obwohl die Luft klar ist und es kein Versteck weit und breit gibt.

Ich bin fassungslos, es kann nicht sein, dass ich ihn nicht mehr sehe.

Hey, wo bist du?

Ich rufe, bis die Stimme versagt. Ich laufe, bis der Schweiß rinnt und die Muskeln verkrampfen. Ich balle eine Faust, Fingernägel bohren sich in die Handflächen. Beine, Brust, Haaransatz, alles tut weh.

Darum schluchze ich. Ich presse dabei die Augen fest zusammen, damit ich nicht aufwache und dadurch die einzige Chance vertan ist, ihn zu finden.

Ich bleibe stehen und recke das Kinn, denn wenn er nirgendwo auf der Erde ist, muss er oben sein, über den Wolken, im Himmel.

Komm zurück. Hör auf mit dem Versteckspiel. Bitte.

Er bleibt verschwunden.

Der Puls rast. Ich ersticke.

Ich schnappe nach Luft.

Jedes Aufwachen seit seinem Tod schmeckt nach Panik und Salz.

Ich starre auf Wände, Leuchten, Bettdecken, meinen nackten Fuß. Ich drehe den Kopf nach links, wo mein Mann liegen sollte, ich lausche.

Seit vier Monaten Stille.

Seit vier Monaten schrecke ich aus Träumen und verstehe nicht, wo ich bin. Eine Welt ohne meinen Mann, wie soll die sein? Wer bin ich darin?

Die Welt ohne meinen Mann ist eine Matrix.

Die Matrix ist ein ziemlich genauer Nachbau der Welt, wie sie war, vor seinem Tod. Einige Winkel sind geschwärzt und für mich tabu. Zum Beispiel unser Lieblingsrestaurant oder unser Park oder die Nordsee, in die ein dicker Kapitänsbär die Asche meines Mannes versenkt hat.

Und jedes Glitzern des Meeres wird uns fortan an den Verstorbenen erinnern, brummelte er, nachdem er die Urne über die Reling des Ausflugskutters ins Wasser gelassen hatte.

Ich verachtete ihn für diese ausgesprochene Blödigkeit. Während der Rückfahrt hielt ich an dem Gefühl der Verachtung fest. Es bedeckte die Verzweiflung und half, sie zu ertragen.

Eine Möwe begleitete das Schiff. Sie half auch.

Jetzt ist die Matrix ein verdunkeltes Wiener Hotelzimmer.

Ich existiere darin als Avatar. Mein früheres Ich liegt erstarrt und von Sinnen in einem gläsernen Kokon im Labor eines wahnsinnigen Wissenschaftlers.

Mein Avatar ist nicht blau und feenhaft wie im Hollywoodfilm, sondern sieht mir zum Verwechseln ähnlich. Er ist etwa zehn Kilo leichter, laut meiner knallorangefarbenen Waage, und imitiert mich ziemlich perfekt. Er hat, wie meist, verquollene Augen und fühlt sich an wie nach zwei durchzechten Nächten.

Die Stimme ist leiser, der Blick weicher, der Gang langsamer. Mein Avatar ist unbeholfener in seinen Bewegungen und Gefühlen.

*

Meine Tochter schlägt die Augen auf und sieht mich prüfend an.

Ich muss etwas zu ihr sagen, aber etwas anderes als den Gedanken, der seit dem Tod meines Mannes am lautesten ist. Du darfst nicht vor mir sterben, du nicht auch noch. Der Satz würde sie erschrecken.

»Guten Morgen, mein Schatz. Hast du gut geschlafen?«

»Nein.«

»Hast du schlecht geträumt?«

»Nein.«

»Hast du schlechte Laune?«

Sie seufzt, dreht sich auf den Rücken und fixiert die Decke.

»Was hast du denn?«

»Mama, ich glaube, ich kann nicht mehr neben dir schlafen.«

Wir haben immer in Doppelzimmern übernachtet, wenn wir zusammen verreist sind. Ein Urlaub werde mir guttun, hatte sie nach der Seebestattung im April gesagt, und dass sie mich im Sommer begleiten werde.

Jetzt, Ende Juli, bin ich im vierten Monat Witwe.

Wie eine Schwangerschaft erlebe ich das Witwesein als Zustand der Erwartung. Ich erwarte, »I’m expecting«, heißt es auf Englisch, ein neues Leben. Es heißt, es dauere ein Jahr, mindestens, bis der surreale Zwischenzustand der Trauer endet und es beginnen kann.

Wie fühlt sich Trauer an? Meine Trauer ähnelt einer schweren Grippe. Aber zu Kopf- und Gliederschmerzen, Mattigkeit, Übelkeit, Appetitlosigkeit und der Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, kommen Mutlosigkeit, Verzweiflung, Panik, Selbstmitleid, Wut und Gleichgültigkeit.

Meine Trauer fühlt sich an wie eine schwere Grippe, während sich zugleich eine Psychose anbahnt.

Meine Trauer ist Seelen-HIV. Der Virus, der mich befallen hat, ist der Tod meines Mannes. Er ist nicht heilbar und potenziell tödlich.

Ich rechne damit, zu überleben, den Erreger jedoch lebenslang in mir zu tragen.

Vielleicht bleiben chronische Beschwerden, vielleicht verschwinden sie. Eine Freundin, deren Mann vor neun Jahren gestorben ist, hat erzählt, dass sie oft wochenlang schmerzfrei sei, und dann, ohne erkennbaren Anlass, fühle es sich an wie am ersten Tag, kein bisschen besser. Aber sie wisse, dass der Schmerz ende, und sie glaube, dass einem das Leben nicht mehr aufbürde, als man ertragen könne.

»Es kommt in Wellen. Die Täler werden mit der Zeit flacher, die Abstände der Kämme größer. Denk an die Wehen«, sagte sie.

»Ruhig atmen, die Kopfhaut entspannen, versuchen Sie, zu lächeln«, sagte die Hebamme damals, als ich schrie, das könne nicht sein, bestimmt sei etwas falsch mit mir oder mit dem Baby, denn solche Schmerzen, unmöglich, dass die Natur sich so etwas Barbarisches als Normalfall ausgedacht haben könnte.

Die Erinnerung an den Wehenschmerz vergeht. Was bleibt, sind das Glücksgefühl über das Kind und die Gewissheit, dass sich die Qualen gelohnt haben.

Falls die Trauer ebenfalls ein glückliches Ergebnis haben sollte, ist das für mich so wenig vorstellbar wie eine fünfte oder elfte Dimension, die theoretisch existieren. Vieles auf dieser Welt, das meiste, kann ich mir nicht vorstellen, eine Giftschlange als Haustier zu halten, die Anzahl der Sandkörner, den Moment, in dem aus Sperma und Eizelle Leben entsteht, den Tod.

Meine Unwissenheit ist beunruhigend und tröstlich. Sie gibt mir die Hoffnung, dass alles möglich ist, auch, dass ich wieder glücklich und unbeschwert leben kann, dass ich nachts von niedlichen Kätzchen träume und lächelnd aufwache und mich auf den Tag freue.

*

»Schnarche ich, mein Schatz? Kann sein, dass meine Nase verstopft ist.«

»Nein.«

»Was ist es dann?«

»Du weinst. Du weinst die ganze Nacht.«

Wenn meine Tochter mein Weinen hört, bedeutet das, dass meine Träume die Grenze zur Wirklichkeit überschreiten können.

Ich erschrecke, weil ein Teil von mir daraus schließt und hofft, nein, daran glaubt, dass sich mein größter Traum erfüllen kann.

In diesem Traum kommt mein Mann zurück.

Ich schließe die Wohnungstür auf, und da sitzt er, wie immer etwas seitlich auf dem Sofa, bereit, jeden Moment schnell aufzustehen, und strahlt mich an.

Nach Feierabend lasse ich den Blick über den Parkplatz des Büros schweifen. Da entdecke ich seinen Wagen. Mein Mann sitzt hinter dem Steuer und winkt mir zu.

Ich gehe ans Telefon, als hätte es geklingelt: Ja? Und er antwortet: Hast du mich vermisst?

Stundenlang stehe ich am Fenster und halte Ausschau.

Trauer macht mich verrückt.

Ich will ihn nach seiner Meinung über den Anfang einer Geschichte fragen, die ich schreibe, und beginne, seine Nummer zu wählen.

Ich hole Geld aus dem Automaten, aber ich vergesse die Scheine im Ausgabeschlitz. Die Frau, die nach mir an der Reihe ist, kommt hinter mir hergelaufen und drückt mir vierhundert Euro in die Hand. Ich schäme mich.

»Das tut mir leid, mein Schatz.«

»Das muss dir doch nicht leid tun, Mama. Verstehst du denn nicht. Mir tut es leid. Du tust mir so leid, dass es mir wehtut. Ich kann das nicht mehr aushalten.«

»Nein, nein, um Himmels willen. Ich will dir nicht wehtun. Ich buche ein zweites Zimmer. Wir können auch nach Hause fahren.«

Ich umarme sie. Wie damals, als sie mein Baby war, schmiegt sie sich an mich.

Seit drei Jahren lebt sie in Holland, ich in Hamburg. Mein Mann fuhr ihren Umzugswagen. Wir drei auf dem Vordersitz. Er und meine Tochter vertieft in Fachsimpeleien über Kunst und Filme, die Metiers der beiden. Ich vertieft in Muttersorge und egoistische Vorfreude auf mehr Zeit, die ich mit meinem Mann verbringen können würde. Wir wollten reisen. Wir hatten Pläne.

Meine Nase in ihrem Haar. Ich küsse ihren Scheitel. Ihr Körper bebt.

»Ich vermisse ihn auch so sehr. Ich liebe ihn doch auch, Mama.«

So eine kleine Stimme. Ihre Tränen auf meinem Arm. Meine Tränen auf ihrer Stirn, darunter Freudentränen über das Präsens, das seine Gegenwart bestätigt: Ich liebe ihn doch auch, nicht, ich habe ihn doch auch geliebt.

Die Liebe verschwindet nicht mit dem Tod. Das Geliebtwerden verschwindet.

So geht das nicht.

Wir setzen uns aufrecht hin. Ernsthaftes Weinen verlangt nach einem geraden Rücken, der vor und zurück, hin und her wippen kann. Und die Nase verstopft nicht so leicht wie im Liegen.

Wir erfinden Töne und Geräusche für die Katastrophe.

»Das reicht nicht«, sagt sie schluchzend.

»Was meinst du?«

»Wir müssten mehr sein. Wir brauchen mehr Stimmen. Er verdient einen gewaltigen Chor, nicht nur ein dünnes Duett. Zehn, zwanzig Leute sollten um unser Bett herum sitzen und mit uns weinen und mit leiden.«

Ich starre auf den dunkelgrau gestrichenen Estrichboden des Hotelzimmers.

Dort knien alte Frauen in schwarzen, weiten Röcken aus grobem, billigem Wollstoff. Graue Strähnen fallen aus schwarzen, unter dem Kinn gebundenen gehäkelten Tüchern.

Wie Moslems beim Gebet heben und senken die Gestalten ihre mageren Arme, während sie jaulen und in einer kehligen Sprache jammern.

Das Leid und Mitleid sind so groß, dass sie die Wirklichkeit sprengen und nur als Kunstform Ausdruck finden können, als Klage-Happening. Weltweit ist die Tradition verbreitet, bei uns formaler, als Requiem. Betroffene dürfen nicht mit auf die Bühne, sondern sitzen im Publikum und müssen sich beherrschen.

Der Gedanke an eine Bühne für meine Trauer, auf der ich ein Theater veranstalten kann, so laut und hässlich und schockierend wie möglich, gefällt mir.

»Ja, ein gutes Dutzend Klageweiber. Das kann ich mir gut vorstellen. Und schaden würde es sicher nicht.«

»Hey, Mama, das ist eine Marktlücke in Nordeuropa. Wir gründen ein Start-up, wir casten und vermitteln Klageweiber und werden wahnsinnig reich, mit www.klageweiber.com.«

Da ist es, das Gelächter, dem ich mich wehrlos und dankbar ausliefere. Es ist ein Schmerzmittel und Psychopharmakum, das sofort wirkt.

»Das würde ihm gefallen, klageweiber.com.«

»Stell dir Klagemänner vor.«

Das ist sein Stichwort. Ich höre ihn einstimmen. Ich lausche auf das vergnügte, haltlose Lachen, das aus meinem Mann herauspoltert, und kreische vor Schmerz und Freude.

Wie lebendig er noch ist. Wie viele Bilder und Szenen mit ihm ich im Laufe eines Tages immer noch erlebe. Fünf Jahre und drei Monate durfte ich mit ihm verbringen. Ich will, dass er weiter bei mir ist, ich will nur nicht, dass es sich anfühlt wie Folter.

Aber hätte ich die Wahl, ihn nicht gekannt zu haben und darum auch nicht zu leiden, ich würde mich, ohne zu zögern, sofort wieder für ihn entscheiden.

»Er ist jede Träne wert.«

»Ist er.«

Meine Tochter schnäuzt sich, steht auf und lässt die Sonne ins Zimmer. Dann schlüpft sie in ihre Sandalen und schlurft zur Tür hinaus.

Sie kommt mit zwei Tassen Kaffee zurück und sagt, dass ein zweites Zimmer oder nach Hause fahren völliger Quatsch sei.

»Auf ihn, gut soll er’s haben!«

Wir heben die Becher und stoßen an.

»Es ist schön mit dir, Mama. Es ist nur so anstrengend, dass er tot ist.«

Es ist anstrengender als alles, was ich bisher erlebt habe.

Und nichts hat mich darauf vorbereitet.

ZWEIDer Todestag.

Wer hat ihm dieses Nachthemd angezogen? Winzige lila Blüten, Hunderte, drängeln sich allein auf dem linken Ärmel. Sollen das Astern sein? Der Stoff ist Baumwolle. Das ist gut. Aber das Asternmuster, wer hat sich das ausgedacht? Es ist unmöglich. Es ist eine Beleidigung.

»Dieses Hemd, bitte ziehen Sie meinem Mann dieses Hemd aus.«

Der Mann, den ich bitte, trägt einen weißen Kittel. Der Stoff ist zwar zu steif für jemanden, der im Bett liegt, aber das Weiß ist viel besser.

»Kann mein Mann nicht etwas Einfarbiges, etwas Weißes angezogen bekommen, aus weicher Baumwolle?«

Der Mann, den ich frage, hat große blaue Augen, die aus dem Schädel drängen wie bei einem Karpfen. Er schaut mich an. Ich verstehe nicht. Auch als ich vorhin aus dem Taxi geklettert bin, hat er wirr geredet. Er war vor mir aus der Nacht gewachsen, hat mir eine fleischige rote Hand entgegengestreckt und gesagt:

»Herzliches Beileid.«

Was hatte er damit gemeint?

Seinen Händedruck hatte ich wie eine Auszeichnung erhalten, er hatte mich herausgehoben und mich auf ein Podium gezerrt.

Es musste sich um einen Irrtum handeln.

Die Stimme aus meinem Telefon, die darum gebeten hatte, ins Krankenhaus zu kommen, war sie seine Stimme gewesen? Sie hatte keine Antwort gegeben auf die Frage, was geschehen ist.

»Folgen Sie mir, bitte«, antwortete er nach dem Händedruck. Er öffnete die Glastür in die Notaufnahme. Dahinter würde sich alles aufklären.

Hinter der Tür erstreckte sich ein Gletscher, so hell, dass ich nichts erkennen konnte, und es war so kalt, dass die Beine zitterten, die Zähne aufeinanderschlugen und der Atem in der Lunge brannte.

Ich folgte dem Geräusch der Schritte vor mir. Endlos ging es durch gleißendes Licht, schnell und steil bergauf, und als ich keinen Meter mehr geschafft hätte, blieb der Mann vor einer spaltbreit geöffneten weißen Tür stehen und sagte:

»Geht es?«

Ich beugte mich nach vorn und stütze mich auf den Knien ab, wie nach dem Joggen. Dann sank ich in die Hocke und lehnte mich an die Wand. Der Raum drehte sich. Stimmen rutschten um Oktaven ab, Wörter verschwanden in der Tiefe.

»Ja«, sagte ich.

Aus der Tür krochen Dunkelheit und Stille wie Schlangen. Ich rührte mich nicht. Sie kamen auf mich zu und wickelten sich mir um den Brustkorb. Ich hatte keine Chance. Ich ergab mich.

»Wollen Sie ein Beruhigungsmittel?«

Ist er verrückt? Er kennt mich nicht. Woher weiß er, welches Beruhigungsmittel ich vertrage? Woher weiß er, dass ich keine Medikamente nehme, die in Wechselwirkung damit treten könnten? Woher weiß er, dass ich keinen allergischen Schock von seinen Beruhigungsmitteln bekomme? Und warum soll ich mich beruhigen?

Ich bin ruhig.

Ich denke klar.

Die Enge um die Brust ist eine milde Panikattacke, harmlos, wenn ich gleichmäßig atme. Ich muss. Ich muss jetzt für meinen Mann da sein. Er liegt auf der Intensivstation. Er hat etwas Ernstes. Ich muss ihm beistehen.

»Nein, danke, kein Medikament. Ich gehe jetzt zu meinem Mann.«

Der Gletscherboden beginnt zu schwanken, als ich aufstehe, und er ist glatt. Ich taste mich auf einer Eisscholle vorwärts bis zum Eingang der Höhle. In der Mitte steht ein Altar, und darauf liegt er. Er schläft.

»Mein Liebster.« Ich flüstere, ich darf ihn nicht wecken. Er muss sich ausruhen.

Ganz entspannt liegt er auf dem Rücken, mit geschlossenen Augen, die Lippen berühren sich leicht. Sie sind rissig. Er wird durstig sein nach der Radtour.

Seine Stirn ist warm. Ich küsse sie vorsichtig, dann seinen Mund. Wie weich seine Haut ist. Ich streichle sein Haar. Es ist frisch geföhnt. Es duftet nach seinem Parfum.

Natürlich. Er hat gebadet, bevor er losgefahren ist.

Ich halte seine Hand. Er vertraut mir ihr Gewicht an. Sie ist schwer und zärtlich.

»Mein Liebster.«

Meine Stimme klingt, als spräche ich mit einem Baby.

Er ist so hilflos.

Er soll sich sicher fühlen. Er soll keine Angst haben. Er braucht meinen Schutz und meine Liebe. Er braucht einen Schluck Wasser.

»Können Sie bitte ein Glas Wasser bringen?«

Ich küsse die Hand und lege meine Wange an seine. Sie ist angenehm kühl, aber seine Finger sind kalt, viel zu kalt. Er hat nie kalte Finger, und jetzt friert er.

Kein Wunder, die Luft ist eisig. Ich zittere.

Gibt es denn hier keine Heizung?

Ich küsse seine Fingerkuppen. Sie sind schneeweiß.

Seine nackten Füße sind gefroren, die Zehen steif. Das Laken reicht von der Hüfte bis zum Knöchel.

»Können Sie bitte noch eine Decke bringen?«

Ich lege die Sohlen an meinen Bauch, um sie zu wärmen. Ich ziehe das Laken tiefer und decke die Füße zu.

»Und haben Sie vielleicht eine Wärmflasche?«

An der Wand lehnt eine Plastiktüte. Seine blaue Windjacke quillt aus ihr heraus. Daneben liegt ein klobiges Bündel. Es ist der in braunes Papier eingewickelte Strauß, das Mitbringsel für den Osterbesuch.

Ich weiß, wo er die Blumen gekauft hat. Er hat es mir bei einem unserer Telefonate erzählt, dem letzten, dem vorletzten?

Aber ich weiß nicht, wie er die Blumen auf dem Fahrrad transportiert hat. Hat er sie auf den Gepäckträger geklemmt, oder hat er sie in der Hand gehalten? Steckten sie in der Plastiktüte, die jetzt prall mit seiner Kleidung gefüllt ist? Wahrscheinlich. Ich muss es aber genau wissen, und die Antwort kann nur er mir geben. Dazu muss er aufwachen. Er muss aufwachen. Er muss aufwachen. Er muss aufwachen.

Er muss aufwachen.

Ich lasse ihn schlafen, natürlich. Auf einer Intensivstation wird niemand einfach so geweckt.

Ich weiß, dass er die Blumen bei den Blumenganoven gekauft hat. So nennt er die Ladenbesitzer. Es handelt sich um drei oder vier grobschlächtige Männer um die fünfzig, die aussehen, als hätten sie Freiheitsstrafen verbüßt. Sie sehen jedenfalls überhaupt nicht aus, als verdienten sie ihr Geld, indem sie Blumensträuße verkaufen. Kübelpflanzen haben sie auch im Sortiment, Oliven, Kletterrosen, Lorbeersträucher, Bambus, Zitronenbäumchen.

Es interessiert meinen Mann, wie diese Männer auf die Idee gekommen sind, einen Blumenladen zu eröffnen. Alles, was absurd scheint, weckt sein Interesse.

Er hat ein Talent, Sinn im Sinnlosen zu entdecken. Die Blumenganoven, sagte er einmal, können zum Beispiel, im Gegensatz zu zarten Floristinnen, ziemlich mühelos übermannshohe Bäume und Zentnersäcke voller Blumenerde zu den Autos ihrer Kunden schleppen.

Ich vertiefe mich in das Asternmuster des Krankenhemds und finde nicht die kleinste Spur eines Sinns.

Nichts macht Sinn in dieser Höhle, die ein Krankenzimmer ist, vor diesem Altar, der ein Krankenbett ist, bei dem sich auf Knopfdruck die Lehne verstellen lässt: Soll ich meinen Mann etwa aufrichten?

Die Füße werden unter dem Laken nicht warm. Ich decke sie auf und küsse sie und massiere sie. Auch das hilft nicht, nichts hilft.

In der Plastiktüte müssen die Socken sein. Ich leere den Inhalt auf dem Boden aus. Sie sind nicht dabei.

Alles ist zerknittert. Ich streiche die Hose glatt, so gut es geht.

Die Hose ist wenige Wochen alt.

Wir machten einen Einkaufsbummel. Meistens kaufen wir nichts.

Wir bummeln, um nebeneinander herzugehen und gemeinsam auf die Welt zu blicken.

Ich entdeckte die Hose im Fenster einer Männerboutique, an einer magersüchtigen Puppe mit vorgestreckter Hüfte und gespreizten Beinen.

Die Hose saß weit und bequem am Bein, nicht zu tief am Bund, und das dunkle Blau passte perfekt zu der Augenfarbe.

»Das ist ein blöder Schnöselladen, und die Hose passt mir nie«, hat mein Mann gesagt, aber ich probiere sie trotzdem an, dir zuliebe.

Die Hose passte perfekt.

Mein Mann sagte, nun hätte er noch einen Grund mehr gefunden, mich zu lieben, mein gutes Augenmaß.

Wir haben beide viele Gründe gefunden, einander zu lieben.

Das T-Shirt meines Mannes hatte ich von einer USA-Reise mitgebracht. Ich war beruflich unterwegs gewesen und hatte es versäumt, nach einem passenden Geschenk für ihn zu suchen. Ein weißes Hemd einer US-Marke in guter Qualität war mir als eine annehmbare Notlösung erschienen.

Wie hatte ich mich mit einer annehmbaren Notlösung für ihn zufriedengeben können?

Jemand hat das T-Shirt zerschnitten. Vom Bund bis zum Kragen klafft ein Riss. Ein zweiter Schnitt, im Neunzig-Grad-Winkel dazu, zertrennt beide Ärmel.

Die Vorderseite des T-Shirts besteht jetzt aus vier Teilen, die sich aufklappen lassen, raffiniert.

Wo das Herz wäre, sind drei stecknadelkopfkleine Blutflecken.

Warum? Was ist passiert?

Das T-Shirt ist zerstört, endgültig. Die beiden Schnitte lassen sich nicht unsichtbar zusammennähen.

Wenn sie sichtbar bleiben, ist das T-Shirt ein anderes. Es wird nie mehr sein, was es einmal war.

Ich falte es auf und zusammen, auf und zusammen und knülle es in meine Handtasche.

Ich rette es.

»Hier, bitte, nehmen Sie das«, sagt der Mann im weißen Kittel und reicht mir ein Glas Wasser und zwei Pillen.

Ich trinke das Wasser und stecke die Pillen in meine Jackentasche.

Die Pillen müssen ein Placebo-Mittel sein. Denn hätten sie eine Wirkung, dann hätten sie auch Nebenwirkungen, dann dürfte er sie mir nicht ohne Voruntersuchung oder zumindest eine Befragung geben.

Nehmen Sie regelmäßig Medikamente ein? Haben Sie eine chronische Erkrankung? Sind Sie schwanger? Das ist zwar unwahrscheinlich in meinem Alter, aber er müsste mich fragen.

Er fragt mich nichts.

Das heißt, dass die Pillen nicht wirklich sind, und das heißt, dass alles nicht wirklich ist. Es kann nicht wirklich sein. Es kann nicht sein, dass mein Mann auf diesem Bett auf dieser Intensivstation liegt, ein lila geblümtes, knielanges Hemd trägt und tot ist.

Bisher hat es mir keiner gesagt.

Ihr Mann ist tot.

Bisher hat mir nur ein Fremder mit Karpfenaugen sein herzliches Beileid ausgesprochen. Und jetzt will er mir ein Beruhigungsmittel geben, das keines ist.

»Gibt es hier irgendwo eine Vase?«

Ich rette die Blumen.

Mein Mann hat so kalte Füße. Er hat nie kalte Füße. Und ich kann seine Socken nicht finden.

Ich kann ihn nicht retten.

Verzeih mir.

Verzeih mir, dass ich nicht bei dir war, als du vom Fahrrad gefallen bist.

Verzeih mir das T-Shirt. Verzeih mir alles.

Das Bett ist zu schmal, um mich zu ihm zu legen, aber ich dränge mich mit meinem Stuhl so dicht an ihn wie möglich. Ich flüstere in sein Ohr, dass alles gut wird.

»Wir haben alles versucht. Er ist vom Fahrrad abgestiegen. Er hat selbst den Krankenwagen gerufen. Er war ansprechbar, als der Notarzt ankam. Er saß auf dem Trottoir. Die Pupillen waren unterschiedlich groß. Ganz plötzlich sackte er zusammen. Er konnte nicht reanimiert werden. Wir haben alles versucht. Sie sollten jetzt gehen.«

»Hatte er Schmerzen?«

»Es ging sehr schnell.«

»Hatte er Schmerzen?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Hatte er Schmerzen?«

»Es wäre besser, wenn Sie heute Nacht nicht allein wären«, sagt der Mann.

Ich nicke.

»Gibt es jemanden, den Sie anrufen wollen? Eine Freundin, die bei Ihnen bleiben kann?«

Ich nicke.

»Das ist gut. Ich rufe Ihnen ein Taxi.«

*

Ich stehe vor meiner Wohnungstür, allein. Ich will keine Freundin bei mir haben. Ich will meinen Mann.

Ich fürchte mich davor, aufzuschließen. Ich fürchte mich vor der Tatsache, dass er nicht zu Hause sein wird, dass er nie mehr zu Hause sein wird.

Ein Messer im Herz, das aus drei Buchstaben besteht.

Nie.

Nein. Nein. Nein.

Vor wenigen Stunden hat er sich im Flur die Schuhe geschnürt, vor der Holztruhe. Ich lege mich im Dunkeln auf die Stelle, seitlich, die Knie ans Kinn gezogen, damit ich mich umarmen und an mir festhalten kann.

Die Luft verflüssigt sich. Welche Kraft es kostet, sie in mich hineinzusaugen. Dabei entsteht ein lautes Tiergeräusch. Es gehört nicht zu mir, es ist mir unheimlich. Darum setze ich zwischen den Zügen so lange wie möglich aus.

Aus mir fließen Tränen und ein Wimmern, während ich die Pillen aus meiner Jackentasche pule, die aussehen wie zerkaute Papierkügelchen, während ich aufstehe, ins Schlafzimmer gehe, die Kügelchen auf den Nachttisch lege, während ich ins Bad gehe und die Zähne mit der Zahnbürste meines Mannes putze, während ich eines seiner Haare aus der Bürste zupfe und es aufesse, während ich in den Flur gehe, während ich dort sein gerettetes T-Shirt aus der Handtasche ziehe und meine Nase darin vergrabe, während ich mich auf den Fußboden knie und das zerschnittene Vorderteil auf und zu klappe, während ich aufstehe und ins Schlafzimmer gehe, während ich das Kissen meines Mannes gegen meins austausche, es ihm aufschüttle und seine Decke zurückschlage, während ich in die Küche gehe und ein Glas Wasser trinke, während ich zurück ins Schlafzimmer gehe, mich angezogen auf dem Rücken auf meiner Seite des Betts aufbahre wie eine Tote, während ich das T-Shirt knete und ohne Gedanken, ohne Gefühle sofort einschlafe.

DREITag eins.

Ich werde die Augen nicht öffnen. Der blaue Himmel vor dem Fenster, ich könnte ihn nicht ertragen. Und erst recht nicht das Vogelpärchen, das neuerdings morgens auf dem Laternenmast gegenüber sitzt. Die Tauben nicken einander minutenlang zu, bis das Männchen auf das Weibchen springt. Dabei schlägt er wild mit den Flügeln, während sie sich reglos unter ihm duckt. Ich würde verzweifeln, wenn ich die Szene mitansehen müsste.

Und die kahlen Zweige der Bäume am Straßenrand, sie wären mir zuwider, weil ich weiß, dass sie sich in wenigen Wochen grün färben.

Ich lasse die Augen zu. Da ist keine Finsternis.

Ein dunkelviolettes, schweres Seidentuch, das jemand gegen eine Kerzenflamme hält: Das ist es, was ich sehe, eine feine Struktur, Pixel, die Rauten bilden, Paisley- und Pepitamuster. Dahinter Lichtinseln, um sie auszumachen, muss ich mich konzentrieren.

Ich gehe auf die Lichtinsel zu, die mir am klarsten erscheint, und lasse sie nicht aus dem Blickfeld schweben. Das ist nicht einfach, denn sie wabert wie eine tote Qualle in einem Meer, über dem ein Orkan tobt.

Es macht nichts, dass ich bei dem Anblick seekrank werde, denn ich liege ja im Bett und kann nicht fallen. Wenn ich würgen muss, atme ich mit offenem Mund tief ein. Die Übelkeit vergeht schnell.

Ich lasse mich nicht beirren und komme nicht vom Weg ab. Wenn ich torkele, halte ich an und warte, bis ich wieder im Gleichgewicht bin, und dann gehe ich weiter.

Jetzt bin ich nahe genug, um zu erkennen, dass die Lichtinsel die Form einer Spirale hat. In ihrem Zentrum leuchtet ein besonders heller Fleck. Darauf gehe ich zu.

Ich bin nicht verrückt, und wenn schon. Das ist jetzt unwichtig.

Da sind Gesichter. Sie brauchen mich nicht zu interessieren. Ich habe keine Angst vor ihren eingefallenen Schläfen und den leeren Augenhöhlen. Die Fratzen bedrohen mich nicht. Sie interessieren sich genauso wenig für mich, wie ich mich für sie interessieren sollte.

Nein, der, den ich suche, er ist nicht darunter, da bin ich ganz sicher.

Wer sind die Wesen? Sie sind Produkte meiner Sinnesorgane und Gehirnströme und genauso wirklich und unwirklich und verstörend und wundersam wie alles andere in meinem Leben. Sie kommen mir bekannt vor.

Natürlich, die Nagelbilder, die in den 80er-Jahren modern waren. Jemand oder eine Maschine hat Hunderte Nägel in ein Gitter gesteckt. Man muss es vor sich aufstellen, sodass die Nägel waagerecht liegen und eine ebene Fläche bilden. Mit ein wenig Kraft lassen sie sich eindrücken, mit der Hand, dem Fuß, falls man beweglich genug ist, mit der Pfote eines gutwilligen Hundes, wenn man einen hat, oder mit dem Gesicht. In dem Fall muss man, wie ich jetzt, die Augen geschlossen haben.

Das Metall auf der Haut ist ein angenehmes Prickeln, ich erinnere mich. Woran noch? Richtig, ein Nagelbildgitter stand in der Küche auf dem Fenstersims, damals, in der WG, in dem besetzten Abrisshaus. Ein Schäfer ließ seine Tiere auf der Wiese dahinter grasen. Morgens hat ihr Blöken mich geweckt. Ich habe mich im Bett aufgesetzt, eine Zigarette geraucht und ihnen zugehört. Ich war so jung, jünger, als meine jüngere Tochter heute ist.

Das Geräusch der Nagelbilder. Es ist kaum möglich, nicht zu grinsen, wenn die Köpfe nachgeben und die Stifte dabei eifrig rattern. Sogar in der Erinnerung daran verziehe ich die Mundwinkel. Ich spüre, wie die Lippen über die Schneidezähne gleiten.

Neben dem Fensterbrett mit dem Nagelbild stand ein riesiger Gärbehälter aus Glas, eine Blase gefüllt mit gelber Flüssigkeit. Wer war eigentlich auf die Idee gekommen, Honigwein anzusetzen? Egal. Da: ein lautes, einmaliges Klatschen hohler Hände. So hörte es sich an, als das Glas platzte. Die Küche lag in der ersten Etage. Monatelang regnete es Honig durch die Holzbalkendecke in mein Zimmer im Erdgeschoss. Als hätte mich das stören können, in meinem Jahrzehnt des Staunens und Lachens.

Jetzt lächele ich schon wieder, das ist gut. Ich lenke meine Gedanken zurück zum Nagelgitter. Ich drücke mein Gesicht hinein, langsam, die Berührung ist angenehm wie eine Massage. So, das genügt. Und jetzt?

Jeder einzelne Nagelkopf hat in unterschiedlichem Maß nachgegeben. So ist ein negatives Relief von der einen Seite entstanden und, klar, ein positives von der anderen. Es ist meine Totenmaske, und ich kann sie von beiden Seiten betrachten, auch aus der Perspektive der Toten. Von beiden Seiten sieht die Maske friedlich und ein wenig heiter aus. Wenn ich das Bild hochhebe und schüttle, löst es sich mit einem Prasseln auf.

Genauso wie Nagelbilder, die sich auflösen, sehen die Gesichter aus, die meinen Weg zum Mittelpunkt der Lichtinsel säumen. Und auch sie lassen sich durch Schütteln vertreiben. Sie irritieren mich, darum schüttle ich sie fort, schüttle sie ab, ich schüttle den Kopf und den ganzen Körper, bis sich Tropfen auf der Stirn sammeln. Hauptsache, ich lasse die Augen geschlossen und verliere den Zielpunkt nicht aus dem Visier.

Die Gesichter gehören Unbekannten. Ich muss mir keine Mühe geben, Ausschau nach meinem Mann zu halten. Ich gehe weiter, nur noch ein wenig, ich darf mir ruhig Zeit lassen, wenn es anstrengend ist.

Dann bin ich am Ziel. Ich habe es tatsächlich geschafft.

Ich habe die erste wache Stunde des ersten Tags überlebt und bin nicht tot.

Ich bin nicht tot.

Ich schlage die Augen auf. Da sind meine Hände, mein Fuß, der unter der Bettdecke herausschaut. Das zerschnittene T-Shirt mit den Blutstropfen liegt neben mir.

*

Die Welt sieht aus wie die Welt, die es nicht mehr gibt. Ein perfektes Trugbild. Ich werde lernen, mich darin zurechtzufinden. Sie wird mir gefallen, diese neue Welt, das ist der Plan.

Mein Spiegelbild zeigt mich ruhig und gefasst. Mit einer Sonnenbrille sieht niemand die fremden Augen. Ich rufe eine Kollegin im Büro an, die eine Freundin ist, bei der ich sicher sein kann, dass sie mir Fragen ersparen wird.

»Mein Mann ist gestorben, gestern. Ich komme erst am Freitag wieder. Gibst du bitte allen im Büro Bescheid? Ich brauche drei freie Tage.«

Da. Es ist gesagt. Gut gemacht.

Ich starre auf den Hörer in meiner Hand.