Sieben Tage in Schweigen - Stephan Bielfeldt - E-Book

Sieben Tage in Schweigen E-Book

Stephan Bielfeldt

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Beschreibung

Eine kleine Gruppe von vielleicht zehn bis dreißig Menschen findet sich zusammen, um mehrere Tage in stiller Meditation zu verbringen. Alle Geschlechter, Ethnien und Glaubensrichtungen sind dabei gleich willkommen. Hohes Alter und körperliche Beeinträchtigungen sind kein Grund, auf diese Form der Meditation zu verzichten. Hier einfach nur in dieser Halle sitzen, still atmen, den Körper fühlen, das Licht sehen, die Menschen um uns herum wahrnehmen. Wer oder was müssen wir dazu sein? Niemand Bestimmtes. Es genügt einfach, in diesen Strom von erstaunlicher Lebendigkeit einzutauchen, ungetrennt darin aufzugehen, ohne etwas zu wollen oder zu vermissen. Wenn trennende Gefühle nicht mehr da sind, ist Verbundenheit an ihre Stelle getreten.

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Seitenzahl: 156

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Für Toni

Inhalt:

Vorwort

Danksagung

Einführung

Erster Abend

Tag 1: Was ist Meditation?

Tag 2: Emotionen

Tag 3: Ich-Struktur und Verbundenheit

Tag 4: Was trägt uns?

Tag 5: Konflikt und Entscheidung

Tag 6: Gewahrsein im Alltag

Nachwort

Buchempfehlungen und Kontakte

Bibliografie

Vorwort

Vor vielen Jahren nahm ich an einem Workshop für „Non Violent Communication" teil. Dort spielte man kleine Szenen nach, bei denen man in seinem Alltag regelmäßig in emotionale Schwierigkeiten geraten war. Es ging darum zu üben, nicht den gelernten Impulsen (z.B. andere zu beschuldigen) zu folgen, sondern zunächst die eigene Befindlichkeit, die genau im jeweiligen Moment besteht, auszusprechen.

Im Laufe dieses Workshops stellte sich heraus, dass den meisten Menschen völlig unklar war, was sie im Augenblick wirklich fühlten. Stattdessen beschrieben sie häufig ein komplexes Paket aus Emotionen, Konzepten und Reaktionsmustem, das im jeweiligen Moment sprach und handelte. Wie kann man etwas ändern, wenn man nicht wahmimmt, was „ist"?!

Diese Möglichkeit, herauszufinden, was „ist", stellt Stephan Bielfeldt in seinen Vorträgen in den Mittelpunkt. Meditieren heißt bei ihm, in Respekt und Würde gegenüber sich selbst und den Anderen still zu werden und ein Schauen zu kultivieren, durch das wir uns besser kennen lernen, das uns zufriedener macht und beglückt. In der ihm eigenen klugen, unaufdringlichen Weise vermittelt er eine Atmosphäre von Intensität und Wachheit.

Immer wieder weckt er Neugier, statt fertige Antworten zu geben, und regt an, auf Entdeckungsreise zu gehen, ohne zu wissen, was es zu entdecken gibt. Mit Wissen und Klarheit untersucht er die Herausforderungen, die für uns entstehen, weil wir genetisch verankerte Wesen sind, die aber dennoch zu Veränderung fähig sind und für unser Tun auch Verantwortung übernehmen können. Er zeigt auf vielfältige und kreative Weise, wie wir durch Meditation die vielen Widersprüche, in denen wir leben, wahmehmen und den neuen Sichtweisen, die sich dadurch auftun, vertrauen können. Man spürt das eigene Erleben, aus dem heraus er spricht, und die Freude, seine Meditationserfahrung mit Anderen zu teilen.

Dagmar Apel

März 2021

Danksagung

Ich möchte meiner Frau Sabine danken, die mich in der Meditationsarbeit von der ersten Meditationswoche an begleitet hat. Sie war in unzähligen Gesprächen über die Meditation und dieses Buch eine unverzichtbare Ansprechpartnerin. Auch hat sie mich, nachdem sie die Transkripte der auf Tonträger aufgenommenen Vorträge dieses Buches geschrieben hatte, überzeugt, dass diese Vorträge in ein Buch gehören. Ohne diese Ermutigung und ihre beständige Unterstützung wäre dieses Buch nie entstanden.

Mein Dank gilt auch meinem Freund Joachim Stüben für die vielen guten Hinweise zu Inhalt und Form dieses Buches. Sein professionelles Lektorat war für mich eine große Hilfe. Außerdem bedanke ich mich bei Ute Thiesen aus Hamburg, die Joachim beim Korrekturlesen kompetent unterstützt hat.

Marianne Simmelbauer möchte ich für ihre Hilfe beim Transkribieren danken. Rainer Simmelbauer und Walter Rapf danke ich für die stimmungsvollen Fotografien.

Danke auch an Dagmar Apel für das schöne Vorwort. Ihr Optimismus bezüglich dieses Buches hat mir gutgetan.

Allen, die im Springwater Center lehren und arbeiten, gilt mein Dank. Auch nach dem Tod von Toni Packer ist Springwater mein wichtigster spiritueller Ort.

Die Meditationswoche, die in diesem Buch beschrieben wird, fand im Seminarhaus Schlagsülsdorf statt. Danke an alle Menschen, die uns dort so gut untergebracht und bewirtet haben.

Mein besonderer Dank gilt den vielen Menschen, die in den Meditationswochen und Gruppentreffen meine Meditationsangebote wahrgenommen haben. Oft denke ich, ich habe durch ihre praktische Mithilfe, aber insbesondere durch ihr Vertrauen und ihre Offenheit mehr von ihnen bekommen als sie von mir. Es macht mich froh, dass ich mit diesem Buch ein wenig davon zurückgeben darf.

Einführung

„Eine ganze Woche nicht reden? Das kann ich mir nicht vorstellen." Diese Worte höre ich immer wieder, wenn ich von meinen Meditationswochen berichte.

Wenn man etwas überhaupt nicht kennt, blüht die Fantasie, und das Nicht-Gewusste wird mit den eigenen Vorstellungen ausgeschmückt. Wie ist es aber wirklich, eine Woche in Schweigen zu verbringen, und warum tut man so etwas? In diesem Buch habe ich mir das Ziel gesetzt, Menschen, die noch nie meditiert haben, genauso wie solche, die schon in vielen Traditionen Meditationserfahrung gesammelt haben, in diese besonders freie und nicht traditionsgebundene Form der stillen Meditation einzuführen.

Die äußere Form ist schnell beschrieben: Eine kleine Gruppe von vielleicht zehn bis dreißig Menschen findet sich zusammen, um mehrere Tage in Stille zu verbringen.

Alle Geschlechter, Ethnien und Glaubensrichtungen sind dabei gleich willkommen. Das Alter spielt ebenfalls keine Rolle. Hohes Alter und körperliche Beeinträchtigungen sind kein Grund, auf diese Form der Meditation zu verzichten. Je nach körperlicher Konstitution und eigenen Vorlieben können die Teilnehmenden ihre Meditationspraxis so gestalten, dass es zu keiner körperlichen Überforderung kommt.

In der Regel sind es mindestens vier und höchstens zehn Tage, die in Stille verbracht werden. Benötigt wird dazu ein ruhig gelegenes Haus, in dem es möglich ist, die gesamte Zeit in Stille zu verbringen. Das bedeutet: Im ganzen Haus und auch draußen im Gelände wird geschwiegen. Meditiert wird gemeinsam in einem größeren Raum. Aber auch außerhalb der gemeinsamen Meditation, d.h. beim Essen, beim Ruhen, bei Spaziergängen, wird die Meditation in Schweigen fortgesetzt.

Das gemeinsame Meditieren findet im Sitzen statt. Im Gegensatz zu vielen Traditionen werden aber keine Sitzhaltungen vorgeschrieben. Gesessen wird auf Stühlen, Bänkchen oder auf Kissen am Boden. Jeder wählt die für sich am besten geeignete Position und kann diese auch wechseln. Eine Sitzhaltung ist gut geeignet, wenn sie ein anstrengungs- und schmerzfreies Sitzen über lange Zeit ermöglicht und auch die Wachheit unterstützt. Hilfe wird gerne gewährt, damit die Teilnehmenden eine gute Sitzposition finden, aber am Ende müssen alle ihre eigenen Erfahrungen machen, um eine oder mehrere gute und funktionierende Sitzhaltungen für sich zu finden. Über den Tag werden ca. zwölf gemeinsame Sitzperioden von 25 Minuten angeboten. Dazwischen gibt es jeweils fünf Minuten stilles Gehen in der Meditationshalle oder draußen. Nach drei oder vier solcher Sitzrunden gibt es längere Pausen, zum Beispiel zum Essen, zum Ruhen oder zum Spazierengehen.

Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wird größtmögliche Freiheit gewährt. Außer der Übereinkunft, die Zeit in Stille zu verbringen und andere Teilnehmer so wenig wie möglich zu stören, sind alle Angebote frei wählbar. Das bedeutet: Jeder entscheidet für sich selbst, ob er an einer Sitzrunde teilnehmen möchte oder an anderen Angeboten, auf die ich noch zu sprechen komme. Ich lege Wert darauf, dass besonders auf die Bedürfnisse des eigenen Körpers geachtet wird, dass Ruhen, Bewegung und gemeinsame stille Meditation nach den eigenen Bedürfnissen frei gewählt werden.

Nicht nur das Schweigen ist mir wichtig, sondern auch eine besondere Achtsamkeit in der Zeit außerhalb des gemeinsamen Sitzens, zum Beispiel beim Essen. Die Meditation findet fortwährend statt, so dass beim Essen z.B. ein klareres Bewusstsein dafür entsteht, wie viel man isst, wie schnell man isst und wie es schmeckt. Es geht nicht darum, die Zeit in Askese und Verzicht zu verbringen, sondern im Gegenteil, gerade die kleinen Dinge wie das Essen und stille Spaziergänge bewusst und in Meditation zu erleben und zu genießen.

Auch wenn den Teilnehmenden wenig vorgeschrieben wird, gibt es doch tägliche Angebote. Einmal am Tag findet ein Gruppengespräch statt. Ich biete außerdem Einzelgespräche an und halte täglich einen Vortrag. Diese Angebote sind ebenfalls optional. Es ist also möglich, wenn man das will, die ganze Woche ohne ein einziges gesprochenes Wort zu verbringen.

Was macht man während der langen Sitzmeditation und den anderen Stunden, die man in einer Schweigewoche verbringt? Die Antwort ist ausgesprochen schlicht: zuhören, gewahr werden. Es geht darum, präsent zu sein, ganz im Hier und Jetzt zu verweilen, eine innere Haltung, die Toni Packer „Gewahrsein" genannt hat. Ohne etwas auszuschließen, von Moment zu Moment, alles, was sich entfaltet, bewusst wahrzunehmen, ohne etwas hinzuzufügen. Damit ist alles gesagt und gleichzeitig nichts, denn Meditation muss gelebt werden. Was man darüber sagt, mag interessant sein und auch anregend, aber ohne Meditation wirklich zu praktizieren, intensiv und auch mit angemessenem Zeit-Einsatz, bleibt sie ein Gegenstand theoretischer Reflexion.

Über diese recht einfache äußere und innere Form zu hören, vermittelt noch niemandem, der es nicht selbst kennengelernt hat, worum es in so einer Meditationswoche wirklich geht. Noch nie habe ich es erlebt, dass jemand am Ende seiner ersten Woche gesagt hat: „Ja, es war genau wie ich es mir vorgestellt hatte." Letztlich muss jeder wirklich Interessierte das Wagnis eingehen und die praktische Meditation für sich selbst ausprobieren.

Diese Meditationsform ist kein unzugängliches Mysterium. Es ist durchaus möglich, auch mit Worten darauf zu deuten, worum es im Kern geht. Das versucht dieses Buch. Ich möchte dazu anregen, sich ganz spielerisch und experimentell der Meditation zu nähern. Ist es also möglich, Meditation schon während des Lesens oder in den Lese-Pausen zu erfahren? Wie geht das? Es ist uns allen möglich, innezuhalten und des aktuellen Moments gewahr zu werden, zumindest für eine kurze Zeit. Wir sind dann im Hier und Jetzt, spüren unseren Körper und können schauen, welche Gedanken und Gefühle zu dem gerade Gelesenen aufsteigen. Wenn wir uns beim Lesen Zeit lassen und solche Momente immer wieder einmal ermöglichen, dann ist das Meditation während des Lesens, so wie ich es meine.

Die Bücher und Vorträge von Toni Packer, die diese Meditationsform entwickelt hat, und auf die ich im letzten Kapitel noch näher eingehen werde, sind zu diesem Zweck geschrieben. Beim Lesen stellt sich bei mir spontan ein meditatives Gefühl ein. Nicht nur mir scheint es so zu gehen. Oft kommen Menschen zu mir und berichten, dass sie die Lektüre spontan zur Meditation angeregt habe und dass sie sich dieser Meditation jetzt intensiver widmen wollten.

In diesem Buch möchte ich meine eigenen Vorträge sprechen lassen. Es sind sieben Vorträge, die 2016 in einer Meditationswoche von mir gehalten wurden. Die bearbeiteten Tonaufnahmen sind in den nachfolgenden Kapiteln wiedergegeben.

Ich habe diese Form gewählt, weil ich nicht theoretisch über die Meditation und deren Inhalte schreiben, sondern die Worte wiedergeben möchte, die während und aus der Stille der Meditation heraus entstanden sind. Bei diesen Vorträgen handelt es sich nicht um Theorie, sondern um gelebte, in Sprache gegossene Meditation. Es ist mein Wunsch und meine Hoffnung, dass dieses Buch meditativ gelesen wird. Es ist als eine Einladung gedacht, mit mir zu meditieren.

Das Buch soll also nicht in erster Linie Informationen vermitteln, sondern ganz unmittelbar das intuitive und emotionale Verstehen ansprechen, das uns Menschen wunderbarerweise gegeben ist. Auch wenn sich das Wort „verstehen" von Verstand ableitet, geht wirkliches menschliches Verstehen, das auch zum Handeln führt, immer über unsere Gefühle. Es geht also insbesondere um das Erfühlen des Geschriebenen.

Wenn dieses Buch zum Verständnis beiträgt, welche Bedeutung stille Meditation für das eigene Leben haben kann und darüber hinaus noch Menschen anregt, sie in der Praxis zu erproben, wäre mein Ziel schon erreicht.

Erster Abend

Oktober 2016

Wenn wir neu an einem Ort ankommen oder wenn wir, wie die meisten Teilnehmer, nach einem Jahr Abwesenheit wieder zu einem Retreat hier zusammenkommen, dann müssen wir uns erst einmal orientieren. Selbst wenn wir uns an die Örtlichkeit und einige Teilnehmer erinnern, erst einmal ist alles wieder neu. Und für neue Teilnehmer sind auch die Regeln neu und die meisten Menschen, denen wir hier begegnen. Wir reagieren dann meist mit einem Gefühl von Fremdheit und gespannter Aufmerksamkeit. Das ist vielleicht anstrengend und sogar ein wenig unangenehm, aber es schärft die Sinne, macht wach und erleichtert es, einen frischen Blick auf alles zu werfen. Die innere Haltung: „Was ist hier los?" ist ein guter Anfang. Mit dem Schwung der ersten Aufmerksamkeit können wir jetzt und hier gleich weiterfragen: "Warum bin ich eigentlich hier? Warum möchte ich eine ganze Woche in Stille verbringen?" Ja, warum möchte ich überhaupt in Stille mit anderen hier meditieren? Was geht mir gerade durch den Kopf, wenn diese Frage aufgeworfen wird? Könnt ihr das in euch selbst einmal anschauen? Welche Gedanken bewegen uns gerade jetzt? Sind da Erwartungen, Vorstellungen, Wünsche? Möchten wir etwas erreichen? Vielleicht möchten wir etwas loswerden. Oder einfach nur Ruhe finden, weil wir vielleicht viel Zeit in Unruhe und Stress verbracht haben. Und dann stellen wir uns vor, wie wir uns hier beruhigen und bald schon wieder wohlfühlen. Bilder aus der Vergangenheit steigen auf, mit Situationen voll Harmonie und Zufriedenheit. Ja, da möchten wir wieder hin.

Ist das nicht erstaunlich? Wir Menschen sind immer voll von Erwartungen, Wünschen, Vorstellungen. Ob wir hier das erste Mal oder schon zum zehnten Mal herkommen. Wir haben immer eine Vorstellung, was uns erwartet, und stellen dann später meistens fest, dass es anders gekommen ist, als wir am Anfang gedacht haben.

Also, was ist diese Arbeit? Können wir frisch beginnen? Hier jetzt schauen, in all diese Ideen und Vorstellungen, die uns durch den Kopf gehen? Beantworten wir Fragen sofort und fällen Werturteile? „Ja, das wird klappen, nein, das wird nicht funktionieren..." Können wir dem ganzen inneren Durcheinander einmal zuhören, das alles einmal frisch ansehen? Im Hier und Jetzt einfach beginnen? Das ist uns doch allen möglich, zumindest für Momente.

Warum kommen wir hierher? Was sind eigentlich die Besonderheiten von so einer Woche? Das Wichtigste, was mir dazu einfällt, ist der freie Raum und die freie Zeit, die geboten werden. Es ist die Möglichkeit, miteinander und trotzdem allein zu sein. Allein, aber nicht im Sinne von einsam. Wenn wir einsam sind, ist das etwas anderes, wir sehnen uns nach Gemeinschaft. Aber hier sind wir in Gemeinschaft und dennoch für uns. Wir können hier ungestört im Moment verweilen und schauen. Alles, was wir hier kreiert haben, das Schweigen, das stille Miteinandersein, der Raum, den wir für uns haben, ein ruhiges Zimmer an einem Ort mit viel Natur, in der wir still spazieren gehen können. Gutes Essen, das wir nicht selbst kochen müssen. Das sind die hilfreichen Bedingungen, die uns wertvollen Freiraum geben. Eine offene, freie Atmosphäre, die zum Gewahrwerden einlädt, in der wir hinreichend Zeit und Raum haben, um alles, was von Moment zu Moment geschieht, anzuschauen.

Gönnen wir uns selbst diesen Freiraum? Das können wir uns fragen. Wir können uns selbst wieder einengen und beschränken. Also schaut selbst: Fühlt ihr euch frei? Achten wir auf den Freiraum der anderen? Wir sind keine Ansammlung von Einzelpersonen, die für sich allein Zeit im Retreat verbringen, sondern eine Gemeinschaft. Wir alle schaffen zusammen entweder eine stille, friedliche, weite Stimmung, ein stilles, offenes Miteinander, oder wir können uns trotz allen Schweigens doch auf die Nerven gehen, indem wir geistig abwesend sind, dem anderen die Tür vor der Nase zuschlagen und was sonst noch alles bei fehlender Aufmerksamkeit passieren kann. Können wir von Moment zu Moment schauen, wie wir miteinander umgehen? Stellt sich hier eine gemeinsame stille Aufmerksamkeit ein? Wir können das wahmehmen.

Es muss kein Gefühl der Trennung aufkommen, obwohl wir uns nicht „Guten Morgen!" sagen und „Hallo!" und „Auf Wiedersehen!" Wir begrüßen uns nicht und verabschieden uns nicht, und trotzdem sind wir miteinander. Oft spüren wir sogar eine Verbundenheit, die stärker ist, als wir sie im Alltag erleben, obwohl wir dort so viele Begegnungsrituale und Höflichkeiten austauschen. Verbundenheit durch einfaches, aufmerksames und stilles Dasein mit den anderen. Schaut, ob sich das hier einstellt und wie ihr dazu beitragen könnt.

Wenn wir zu zweit auf einem Zimmer sind, spüren wir dann, dass die andere Person anwesend ist? Was sie vielleicht gerade braucht? Lassen wir das Licht unnötig an und wühlen in unseren Plastiktüten geistesabwesend vor uns hin? Oder sind wir einfach mit dem anderen Menschen und sehen, er oder sie ruht schon, und wir verhalten uns entsprechend leise. Das ist eine Frage des einfachen Wach- und Gewahrseins, einer stillen Verbundenheit mit dem anderen. Wir schauen uns hier nicht in die Augen, normalerweise lächeln wir uns nicht an, wenn wir aneinander vorbeigehen. Und trotzdem können wir miteinander sein. Können wir uns wohlfühlen, ohne uns ständig in die Augen zu schauen? Probiert es aus! Findet heraus, ob ihr z.B. die Vorstellung habt, ihr seid unhöflich, wenn ihr nicht zumindest mit den Augen grüßt, und beobachtet eure inneren Erwartungen. Wenn z.B. jemand nach unten schaut, kommt vielleicht sofort ein Gedanke auf wie: "Oh, der ist wohl depressiv oder völlig abwesend." Das sind alles nur Vorstellungen, die oft mit der Befindlichkeit unseres Nächsten nichts zu tun haben. Können wir einander Freiraum lassen, nicht grüßen, auch nicht mit den Augen und trotzdem mit dem anderen Menschen sein, wenn wir ihm begegnen? Das ist eine sehr schöne, freie Art miteinander zu sein. Wenn eine größere Anzahl von Menschen zusammenlebt, gibt genau dieses Verhalten den Freiraum, ganz für sich zu sein, um ungestört im Innen und Außen zu erkunden, was von Moment zu Moment geschieht.

Darum geht es hier. Uns nicht gegenseitig in unserem Freiraum einzuschränken. Alles, womit wir andere zum Reagieren und Handeln veranlassen, wegzulassen. Einfach nur gemeinsam hier miteinander zu sein. Ohne Verpflichtung. Können wir das so verstehen, annehmen und sogar genießen? Auch wenn wir selbst vielleicht gerade völlig in Gedanken versunken sind und Stille und Zufriedenheit sich nicht einstellen wollen, weil wir so voll von innerer Unruhe sind. Hier haben wir die Möglichkeit, einfach still damit zu sein. Niemand stört uns in der Betrachtung unserer inneren Zustände. Niemand will etwas von uns. Wir haben die Möglichkeit, das, was gerade da ist, ob das jetzt angenehm ist oder unangenehm, frei für uns zu erkunden.

Oft werde ich gefragt, ob ich nicht eine gute Übung kenne, wie man zur Ruhe kommt und die Gedankenflut loswird. Frei zu erkunden, was gerade in diesem Moment geschieht, ist, so wie ich es sehe, keine Übung, und zur Ruhe zu kommen ist schön, wenn es geschieht, aber nicht direktes Ziel dieser Meditation. Es geht hier darum, Ziele, die wir haben, als Ziele und Antriebe zu erkennen, aber nicht darum, Ziele zu verfolgen. Wichtig ist erst einmal das Bedürfnis, ruhig zu werden, zu sehen, ohne sich in dem Streben nach Beruhigung zu verstricken. Es ist ein Kern dieser Meditationsarbeit, das eigene Üben und Streben zu beobachten, um zu verstehen, was es bedeutet und bewirkt. Oft sind wir uns gar nicht bewusst, dass wir uns gerade anstrengen, um etwas zu erreichen.

Weil Ziele selbst Gegenstand der Aufmerksamkeit sind, gebe ich keine Ziele vor und entsprechend auch keine Übungen, um sie zu erreichen. Weder die Beobachtung des Atems noch bestimmte Konzentrationsübungen sind also im Programm. Das bedeutet aber nicht, dass ich solche Übungen grundsätzlich ablehne. Von einigen Übungen weiß ich aus eigner Erfahrung, wie hilfreich sie sein können, um überhaupt in einen geistigen Zustand zu kommen, der es einem erlaubt, gegenwärtig zu sein. Wer von euch damit gute Erfahrungen gemacht hat, möge sie also gerne hier im Retreat anwenden, und wenn ihr eure Erfahrungen damit teilen wollt oder Fragen dazu habt, bringt sie bitte in die Gespräche. Das Thema „Übung" ist ein Schlüsselthema in dieser Meditationsarbeit.