Siebensteinthal - Sameena Jehanzeb - E-Book

Siebensteinthal E-Book

Sameena Jehanzeb

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Beschreibung

Welches Geheimnis versteckt sich in deinem Keller? Formwandler, Hexen, Geister, Dämonen … im Siebensteinthal trieben sie einst ihr Unwesen. So behaupten es zumindest die Legenden, die ein Heimatforscher in einem Buch zusammengetragen hat. Doch sind all die Geschichten wirklich nur Fiktion? Oder tummeln sich zwischen den unbescholten wirkenden Einwohnern des Siebensteinthals echte Monster? Als eine alte Dame plötzlich verstirbt, ist das der Auftakt zu einer Reihe von seltsamen und unheimlichen Ereignissen. Sieben verwunschene Orte, sieben mysteriöse Begebenheiten und eine zusammenlaufende Handlung führen in diesem Episodenroman durch die Schatten und Schrecken, die mitten unter uns lauern.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sameena Jehanzeb

Siebensteinthal

Der Ruf der Märchenlande, Band 2

Episodenroman

Besuchen Sie die Autorin im Internet:www.sameena-jehanzeb.de

Impressum:

Siebensteinthal

1. Auflage

Erstveröffentlichung im Oktober 2024

© Sameena Jehanzeb, Eifelstr. 4, 53119 [email protected]

Gesamtgestaltung & Illustration: saje design, www.saje-design.de

Lektorat: Maike Claußnitzer

Korrektorat: Maike ClaußnitzerDruck: bookpress, 1-408 Olstzyn (Polen)

ISBN: 978-3-98942-741-9

Alle Rechte vorbehalten.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG („Text- und Data-Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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www.sameena-jehanzeb.de/inhaltswarnungen

Weitere Werke der Autorin:

BRÏN

Frozen Ghosted Dead

Was Preema nicht weiß

Mehr aus Der Ruf der Märchenlande:

Runa. Eine kurze Geschichte vom Winterhof

Winterhof

Für mein Impostor-Syndrom.

Du kannst mir mal den Buckel runterrutschen.

Hinweis

Dieser Episodenroman ist keine direkte Fortsetzung meiner Novelle Winterhof und kann problemlos als alleinstehendes Werk gelesen werden. Er ist jedoch in derselben Welt angesiedelt wie Winterhof und greift vereinzelt Figuren und Ereignisse daraus auf. Wer keinerlei Spoiler erfahren möchte, sollte Siebensteinthal daher erst im Anschluss zu Winterhof lesen.

Die chronologische Erzählreihenfolge in dieser Reihe:

• Runa. Eine kurze Geschichte vom Winterhof

• Winterhof

• Siebensteinthal

Aus dem Vorwort von Anselm Hübner

Gesammelte Legenden aus dem

Siebensteinthal

Die Gründung des Siebensteinthals geht auf eine Zeit zurück, bevor es das geschriebene Wort gab. Viele Details zur Entstehung der einzelnen Ortschaften liegen daher nur teilweise überliefert vor oder sind gänzlich verloren gegangen. Über die Jahrhunderte hinweg haben verschiedene Gelehrte versucht, zusammenzutragen, was die Legenden und Erzählungen uns über das Siebensteinthal verraten können und es zeigt sich hierbei vor allem ein Befall der Ortschaften durch heidnische und dämonische Mächte. Dies bestätigt sich auch in einer der ältesten noch erhaltenen Schriften über das Thal. Hierin heißt es:

Sieben Steine, für sieben Orte.

Wolkenstein den Gefallenen.

Weißenstein den Wölfen.

Teufelsstein den Dämonen.

Quellstein den Hexen.

Rabenstein den Toten.

Kleinstein den Elfen.*

Großstein den Riesen.**

Von welchen Steinen genau die Rede ist, ist nicht hinreichend bekannt. Es wird davon ausgegangen, dass höhere Mächte sieben magische oder vielmehr heilige Steine in das Thal brachten, um das Treiben unheiliger Kreaturen einzudämmen. Die gesammelten Erzählungen in diesem Werk bezeugen die scheußlichen Gräueltaten jener Geschöpfe, deren Opfer auch meine eigenen Vorfahren wurden. Bis heute finden sich immer wieder Hinweise darauf, dass es derlei Kreaturen im Siebensteinthal noch immer gibt.

Anselm Hübner, im Januar 1903

---

*Anm. d. Autors:

Die Elfen von Kleinstein gelten als verschollen. In manchen Überlieferungen heißt es, sie wären nach dem großen Waldbrand von 1662 geflohen und hätten sich woanders angesiedelt. Aus anderen Quellen wird berichtet, sie seien vollständig ausgelöscht worden, nachdem Menschen das für Elfen tödliche Eisen nach Kleinstein brachten.

**Anm. d. Autors:

Über die Riesen wird gesagt, dass sie sich im Jahr 1417 in einen tausendjährigen Schlaf begaben, was für Riesen die durchschnittliche Dauer eines gewöhnlichen Schlafzyklus darstellt. Ihre Körperformen bilden der Legende nach das grenzgebende Gebirge im Südosten des Siebensteinthals.

1

Ein Buch verschwindet und niemand merkt es

Genickbruch durch fehlende Klebeenten. Das war Ayans Schlussfolgerung, nachdem der Polizeibeamte am Ende seiner Ausführungen angelangt war. Ausgerutscht auf dem Boden der gläsernen Duschkabine, deren Fertigstellung erst wenige Tage zurücklag. Ein haushaltsüblicher Vorfall. Hätte Erna Kafka – nicht verwandt mit dem bekannten Schriftsteller – diese unerfreuliche Wendung kommen sehen, hätte sie die umfangreiche Modernisierung ihres Hauses vielleicht noch einmal überdacht. Denn auch, wenn Ernas alte Badewanne aus Sicht ihrer Haushaltshilfe, und auch aus der ihres einzigen Neffen, eine verkalkte Zumutung gewesen war und die Klebeenten schon während seiner Kindertage jede Farbe verloren hatten, so war Ernas ranzige Badewanne eines nie gewesen: rutschig. Wäre Erna noch in der Verfassung gewesen, etwas dazu zu sagen, hätte sie ganz sicher über den Grund ihres Dahinscheidens gelacht. Es entsprach genau der Art von schwarzem Humor, der ihr gefallen hatte.

Als sich Ayan in dem alten Haus umsah, das so gar nicht mehr dem vertrauten Heim seiner Tante ähnelte, kamen ihm allerdings Zweifel, ob Erna noch so reagiert hätte. Vielleicht hatte sie ihre Persönlichkeit genauso radikal geändert wie die Einrichtung ihres Hauses. Ayan war sich noch nicht ganz sicher, ob es ihn froh oder traurig stimmte, dass Erna in den letzten Monaten derart gnadenlos ausgemistet und renoviert hatte, dass für ihn nach ihrem plötzlichen Ableben kaum etwas zu tun blieb. Oder etwas, das ihn an sie erinnerte. Nichts von dem, was er sah, passte zu dem, was seine Tante all die Jahre ausgemacht hatte. Was sie wertgeschätzt hatte. Ernas Inneneinrichtung hatte eine 180-Grad-Wendung über sich ergehen lassen müssen und präsentierte sich in dem Minimalismus eines schwedischen Möbelhauskatalogs. Jahrzehntelang hatte Erna ihr chaotisches, aber heimeliges Zuhause gepflegt, und nun, kaum eine Woche nach Abschluss der Renovierungen, würde sie die Radieschen von unten zählen. Wenn Ayan es nicht besser gewusst hätte, so hätte er dem alten Haus einen Akt der Rache unterstellt.

Fort waren all die abgenutzten Möbel mit ihren großen Blumenmustern. Der knarzende, fast schon antike Holzboden war importierten Großkacheln aus Italien gewichen und die vielen Bücher, die einst alle Wände bedeckt hatten, füllten entweder die Regale der örtlichen Bücherei oder aber den Container der städtischen Abfallentsorgung. Jahrzehntelang hatte sie sich geweigert, auch nur ein einziges Buch wegzuwerfen. Sie hatte sich nicht einmal von denen trennen können, die ihr nicht gefielen. Neben dieser Tatsache gab es nur noch eines, was Ayan mehr verstörte: die fehlenden Talismane über den Türrahmen und Fenstern. Was mochte seine Tante, die stets die Wichtigkeit dieser Gegenstände betont und ihm alles darüber beigebracht hatte, dazu bewegt haben, den Schutz ihres Heims plötzlich aufzugeben? Hatte das Haus aufgehört, Dinge anzuziehen wie das Licht die Motten? Hatte Erna selbst von jetzt auf gleich aufgehört, an die Dinge zu glauben, an die sie ihr Leben lang geglaubt hatte? Hatte sie aufgehört, sie zu sehen?

Wer Erna nicht kannte, hielt sie im ersten Moment für verschroben oder abergläubisch. Eine alternde Dame, die heidnische Symbole über Eingänge kritzelte und selbst geflochtene Figuren aus Zweigen und Blüten im Haus verteilte. Wer glaubte denn heutzutage noch an Hexen, Geister und all die anderen Kreaturen, die die Schatten bevölkerten?

Ayan rieb sich die Schläfen. Erna war für ihn mehr als nur eine Tante gewesen. Seine Mutter hatte er nie kennengelernt und seinen Vater … den hätte er lieber nie gekannt. Seine Familiengeschichte gehörte nicht zu den Themen, die man bei lockerleichter Unterhaltung auf den Tisch brachte. Und dennoch hatte Erna ihn, trotz der schwierigen Umstände, ohne zu zögern bei sich aufgenommen. Und nicht nur das. Sie hatte sich redlich bemüht, ihm ein richtiges Zuhause zu geben. Das bedeutete nicht, dass immer alles problemlos gelaufen wäre zu jener Zeit. Während sich Ayan nach einem gewöhnlichen Leben als gewöhnlicher Junge sehnte, hegte Erna eine tiefe Faszination für alles Übernatürliche und manchmal gingen die Pferde ein wenig mit ihr durch. Etwa dann, wenn sie Ayan von den Geschöpfen erzählte, die diese Welt betraten. Manche von ihnen kamen freiwillig, andere wurden aus ihrer eigenen Welt herausgerissen und gegen ihren Willen hierhergebracht. Die meisten waren bloß harmlose Besucher. Sie blieben unter sich und stellten keine Gefahr für die Menschen dar. Doch es gab durchaus Wesen, die mochten vor allem ihr Blut.

Ayan hatte all den Geschichten gelauscht und nicht wenige davon mit schlaflosen Nächten bezahlt. Die unheimlichen Erzählungen hatten ihn teilweise so nachhaltig verstört, dass sie ihm noch heute einen Schauer über den Rücken jagten und ihn misstrauisch in die Schatten blicken ließen. Gleichzeitig waren diese Geschichten und Momente, so sehr sie ihn mitunter gegruselt hatten, aber auch die ersten warmherzigen Erinnerungen an Tante Erna. Eine lebenslustige, etwas makabre Frau, die Ayan Geborgenheit und eine Form von Normalität geschenkt hatte. Sie erzählte ihm die Geschichten nicht, um ihm Angst vor den Schattenwesen zu machen. Sie tat es, damit er lernte, wie er sie im Zaum halten konnte.

An dieser Stelle würden manche sicher sagen, Tante Erna habe ihn mit ihren Hirngespinsten traumatisiert. Einem gerade einmal sechsjährigen Kind Dinge erzählt, die nicht altersgerecht waren. Und unter anderen Umständen hätte Ayan gewiss zugestimmt. Doch seine Familiengeschichte war keine gewöhnliche und die Kreaturen aus Ernas Geschichten nicht bloß Erfindungen. Es wäre sicher leichter und weniger furchteinflößend gewesen, die Welt hinter den Schatten und Spiegeln nicht zu kennen. Sich in wohliger Ahnungslosigkeit wiegen zu können, wie es den meisten Menschen vergönnt war. Doch das war das Privileg der Nichtsehenden, zu denen weder Ayan noch seine Tante gehörten. Sie sehen zu können bedeutete auch, von ihnen gesehen zu werden. Diese Wahrheit zu ignorieren, war gefährlicher als die Albträume, die ihn wegen der Geschichten ab und an heimsuchten.

Dass Erna die Schutzsymbole und Talismane aus dem Haus verbannt hatte, ergab für Ayan daher keinen Sinn. Was war in den letzten Wochen mit ihr passiert, dass sich ihr Verhalten so extrem verändert hatte? War sie krank geworden? Hatte sie eine Art plötzlich einsetzende und schnell voranschreitende Demenz entwickelt und vergessen, wozu sie all die Flechtpüppchen und Blütenkränze ins Fenster hängte? Ayan wünschte sich, er hätte noch ein letztes Mal mit ihr sprechen können, um all die ungelösten Fragen zu stellen, die ihm durch den Kopf gingen. Vielleicht hätte er ihr dann noch helfen können, bevor die fehlenden Klebeenten das unmöglich gemacht hatten.

»Hören Sie mir noch zu?«, fragte eine tiefe Männerstimme.

Ayan lenkte seinen Blick fort von den weißen Tapeten, den Bilderrahmen mit ihren abstrakten Fotografien darin, zurück zu dem Polizeibeamten, der ihn misstrauisch beäugte. »Entschuldigung. Es fällt mir gerade schwer, mich zu konzentrieren. Was wollten Sie wissen?«

»Wann Sie Ihre Tante zuletzt gesprochen haben.«

»Vor ein paar Wochen. Ich schaffe es nicht mehr so oft, sie zu besuchen, seit ich mein Kunstcafé in Weißenstein eröffnet habe.«

»Ein Kunstcafé. Heißt das, es gibt dort Live-Auftritte von Musikern?«

»Unter anderem«, gab Ayan zurück. »Es ist nicht auf Musik beschränkt.«

Der Polizist nickte. »Gab es jemanden, der ihre Tante regelmäßig besucht hat?«

»Nicht wirklich. Tante Erna lebte eher zurückgezogen und traf sich nur zu bestimmten Anlässen mit ihren Freundinnen aus dem Siebensteinthal. Wahrscheinlich war ihre Haushaltshilfe Martin derjenige, der sie am häufigsten sah. Er kommt einmal die Woche, um ihr bei der Hausarbeit zu helfen.«

»Martin Baum? Der wird gerade in der Küche von meiner Kollegin befragt. Zittert wie Espenlaub, der arme Kerl. Ist wohl das erste Mal, dass er eine verstorbene Person sieht.«

»Hat er sie gefunden?«, fragte Ayan.

»Hm-hm«, gab der Polizist als Bestätigung zurück.

Ayan sagte nichts mehr, schluckte bloß den Kloß herunter, der sich in seiner Kehle bildete. Verstorben. Erna war eine verstorbene Person. Bis zu diesem Tag hatte er Erna für unzerstörbar gehalten. Wie falsch er damit doch gelegen hatte. Es würde eine Weile dauern, bis er es wirklich glauben konnte.

Ayan nahm sich vor, selbst noch einmal mit Martin zu sprechen. Ihn zu fragen, ob er erklären konnte, was in den letzten Wochen und Monaten mit Tante Erna passiert war. Weshalb Ayan erst von der Renovierung des Hauses erfuhr, als er Erna besuchen wollte und an ihrer Stelle Handwerker antraf, die gerade dabei waren, das Innenleben des Gebäudes auseinanderzunehmen. Weshalb sie in der Zwischenzeit verreist war, ohne Ayan ein Wort davon zu sagen. Oder wieso seine darauf folgenden Anrufe meist direkt auf die Mailbox weitergeleitet wurden. Die wenigen Male, in denen es ihm gelungen war durchzukommen, beendete sie das Gespräch nahezu sofort wieder, weil sie allzu beschäftigt sei. Ayan fragte sich, ober er etwas getan hatte, um Erna zu verärgern, doch es kam ihm nichts in den Sinn. Lag es vielleicht daran, dass er seit der Eröffnung seines Kunstcafés so wenig Zeit für seine Tante aufbrachte? Hatte sie ihn ignoriert, weil sie sich von ihm ignoriert fühlte?

Aus Richtung des Badezimmers kamen metallische Geräusche, gefolgt von Schritten und Stimmen. Eine Sanitäterin und ihr Kollege schoben eine Fahrtrage durch die Tür. Darauf lag die unverkennbare Form eines menschlichen Körpers, verborgen unter einem weißen Tuch. Sie kamen auf Ayan zu, während sie die Haustür ansteuerten.

»Warten Sie!«, rief Ayan. Die Fahrtrage stoppte genau vor ihm. Eine Welle der Schwäche brachte ihn ins Wanken und Ayan spürte den stützenden Griff des Polizisten am Oberarm.

»Wird es gehen?«, fragte der Beamte.

Ayan nickte. »Wohin wird sie jetzt gebracht?«

»Zunächst einmal in die Rechtsmedizin. Auch wenn es sich um einen Unfall zu handeln scheint, muss die Todesursache bei einem nicht natürlichen Tod wie diesem final abgeklärt werden.«

»Darf ich sie noch einmal sehen, bevor Sie sie wegbringen?«

Die Sanitäterin und der Polizist wechselten einen Blick, dann nickte der Beamte ihr zu. Sie hob daraufhin das Leichentuch mit beiden Händen an und faltete es ein Stück zurück, sodass der Kopf der Verstorbenen sichtbar wurde.

Die vertrauten Gesichtszüge versetzten Ayan einen Hieb in die Magengrube und sein Blick fiel unweigerlich auf das dunkel verfärbte Hämatom, das auf Ernas Stirn prangte. Dort wo sie, der Aussage des Polizisten nach, während des Sturzes gegen die Armatur geknallt sein musste und dabei das Wasser der Dusche abgeschaltet hatte. Er stellte sich vor, wie Erna darüber lachte. »Sterben ist doch kein Grund, Wasser zu verschwenden!«. Es irritierte Ayan ein wenig, dass sich, selbst bei genauerer Betrachtung, nicht einmal die Spur eines Lächelns auf ihren Lippen fand. Er konnte sich an keinen Moment erinnern, in dem sie nicht auf die ein oder andere Weise gelächelt hatte.

Ayan runzelte die Stirn. Er blinzelte und kniff die Augenlider ein wenig enger zusammen. Wenn er sie wirklich ganz genau betrachtete …

»Das darf doch wohl nicht wahr sein«, sagte er mehr zu sich selbst, aber der Polizist musste ihn gehört haben.

»Stimmt etwas nicht?«

Ayan biss sich auf die Unterlippe. Plötzlich ergaben die Dinge mehr Sinn. Ernas Weigerung, seine Anrufe anzunehmen. Dass sie spontan verreiste, ohne ihm Bescheid zu geben. Auch die radikale Neugestaltung des Hauses erschien in einem gänzlich anderen Licht. Doch das war etwas, worüber er nicht mit dem Polizeibeamten sprechen konnte. Dinge, die zu ungewöhnlich waren, um sie mit dem Polizisten zu teilen.

Denn Erna war keine gewöhnliche Frau gewesen. Ayan war kein gewöhnlicher Mann. Und die Kreatur auf der Trage war nicht Erna Kafka.

»Nein. Ich habe es wohl nur bis jetzt nicht richtig wahrhaben wollen«, log Ayan. Denn was für seine halbdämonischen Augen offensichtlich war, blieb den menschlichen verborgen.

»Mein Beileid«, sagte die Sanitäterin und faltete das Tuch zurück über das Gesicht der falschen Erna.

Ayan sah der Gruppe nach, bis sie aus dem Haus und aus seinem Sichtfeld verschwunden war. Seine Gedanken kreisten. Neue Sorge wie auch Hoffnung keimten in ihm auf. Wenn es sich bei der Kreatur auf der Trage um einen Gestaltwandler handelte, was war dann mit der echten Erna passiert? Wann genau hatte das Faksimile Ayans Tante ersetzt und wo war die echte Erna abgeblieben?

Fragen, denen Ayan nachgehen musste.

Lauf, Rotkäppchen, lauf!

Bei vollem Mond erschEint das Biest.

Zähne fletschend, kraftvoll hastend.

Lauf, Rotkäppchen, lauf!

Keine Zeit zu rasten!

Doch ach, am Morgen liegt’s zerbrochen da,

armes Kind im roten Kleid.

Entstellt und kaum noch, was es eiNmal war,

Ein Rest von Fleisch und abgenagten Knochen.

– – –

Das Biest;

Frederik Hummel, 1853

Gesammelte Legenden aus dem Siebensteinthal

2

Rotröckchen

Scarlet drehte sich in elektrisiertem Eifer und warf das lockige Haar zurück. Das Licht der Klubbeleuchtung tanzte über die knallroten Pailletten ihres Kleides, während Scarlets Füße dem Takt der Musik folgten. Die Bässe vibrierten in ihren Adern und ließen sie das Leben in jeder Zelle ihres Körpers spüren. Scarlet glitzerte und funkelte wie ein Rubin. Weshalb sich verstecken, wenn man stattdessen auffallen konnte? Rot war ihre Farbe!

Während Scarlet über die Tanzfläche fegte, verschwendete sie nicht einen einzigen Gedanken an die Textbücher, die zu Hause auf ihrem Schreibtisch lagen und geduldig auf sie warteten. Im Gegensatz zu ihren Mitstudierenden. Die saßen vermutlich auch noch zu dieser späten Stunde fleißig über ihr Lernmaterial gebeugt da und bereiteten sich auf die anstehenden Prüfungen vor. Scarlet genoss stattdessen das Adrenalin und die Endorphine, die ihr durch die Blutbahnen rauschten. Lernen konnte sie morgen. In Vollmondnächten musste man tanzen! So hatte es schon ihre Urgroßmutter gemacht.

Scarlet drehte sich einmal mehr, warf ihre Hüfte erst links, dann rechts dem Bass entgegen. Sie war ein Sturm, der toben musste!

Doch plötzlich umklammerte jemand von hinten ihre Körpermitte und hielt sie so fest, dass Scarlet sich kaum noch bewegen konnte. Sie spürte einen leichten Stich im Rücken, doch bevor sie darauf reagieren konnte, pressten sich fremde Lippen auf ihren Hals und Zähne bohrten sich in ihr Fleisch. Scarlet schrie auf. Sie riss sich mit aller Gewalt los und wandte sich herum, doch da waren so viele zuckende und tanzende Leiber, die sich im wilden Rhythmus der Musik bewegten, dass sie nicht sagen konnte, wer davon sie gerade gebissen hatte.

Verärgert und angewidert fasste sie sich an die schmerzende Stelle und sah einzelne Tropfen Blut auf ihren Fingern. Ihre fluchenden Laute wurden von der Musik verschluckt. Fort war die gute Laune, all die ungezähmte Energie, mit der sie eben noch ausgelassen gefeiert hatte. Stattdessen bahnte sich Scarlet einen Weg durch die Klubbesucher, weg von der Tanzfläche. Durchbrochene Hautbarrieren waren nun wirklich ein Stimmungskiller.

Schweiß lief ihr den Rücken hinab, als sie die Menschenmasse endlich hinter sich ließ und in die Toiletten flüchtete. Kühlere Luft aus der Belüftungsanlage ließ sie frösteln. Vor einem der vielen Spiegel blieb sie stehen und betrachtete das Ausmaß der Verletzung. Nicht so schlimm, wie sie zunächst befürchtet hatte. Nur ein ringförmiger Abdruck, der sich in den nächsten Tagen vermutlich blau-violett verfärben würde. Dazu zwei Stellen, aus denen stecknadelkopfgroße Blutstropfen heraustraten.

»Mistmade«, knurrte Scarlet leise, zupfte ein paar Papiertücher aus der Box an der Wand, feuchtete sie an und tupfte sich über die Wunde. Als nach einer Weile kein neues Blut mehr heraustrat, zerknüllte Scarlet das Papier und warf es in den Abfalleimer. Genug getanzt für heute. Sie verließ die Toiletten und wollte geradewegs zur Garderobe gehen, als ihr auf einmal schwindelig wurde und sie sich an der Wand abstützen musste. Im selben Moment griff ihr jemand unter die Arme und half ihr, auf den Füßen zu bleiben.

»Alles okay mit dir?«, fragte eine Frau im schwarzen Outfit über das Unz-Unz der Musik hinweg. Blondes Haar umrahmte ihr Gesicht, während sie Scarlet besorgt ansah.

»Ich fühle mich nicht so gut«, gab sie zu.

»Zu viel getrunken?«

Scarlet schüttelte den Kopf. Sie trank nie Alkohol. In dem Moment erinnerte sie sich jedoch an den Stich in ihrem Rücken, nur eine Sekunde bevor die unbekannte Person sie gebissen hatte, und ihr kam ein unschöner Verdacht.

»Bist du mit Freunden hier? Soll ich jemanden herholen?«, fragte die Blondine weiter.

Scarlet verneinte. Sie war alleine gekommen, nachdem sich all ihre Freunde und Freundinnen dafür entschieden hatten, pflichtbewusste Studierende zu sein.

»Taxi«, murmelte Scarlet kaum verständlich. Sie schüttelte den Kopf in dem Versuch, den Schwindel zu vertreiben, doch das brachte die Welt bloß noch mehr ins Wanken. Ihre Augenlider fühlten sich mit jeder Sekunde schwerer an.

»Okay. Ich begleite dich nach draußen«, sagte die Blondine.

Scarlet nickte bloß. Zu mehr war sie nicht im Stande.

»Wie ist dein Name?«

»Scarlet.«

Die andere Frau lachte. »Du bist wohl wirklich ein Fan der Farbe Rot, was? Ich bin Anabell, aber du kannst mich Ana nennen.«

Scarlet wollte etwas erwidern, sie hörte jedoch nur sinnloses Gebrabbel aus ihrem Mund kommen. Mit Anas Hilfe stolperte sie vorwärts. Sie spürte die warme Luft einer Sommernacht auf der Haut, als sie den Klub verließen, und nahm den unangenehm künstlichen Geruch eines Duftbaums wahr, als sie in einen ihr unbekannten Wagen gesetzt wurde. Scarlet hörte Motorengeräusche, sah verschwommen Straßenlaternen und Hausfassaden, die bald Baumkronen und dichter Bewaldung wichen. Ihr Verstand drehte sich. Ihr kam in den Sinn, dass niemand sie nach ihrer Adresse gefragt hatte. Mit schlechter werdender Sicht warf sie einen Blick auf den Fahrersitz und erkannte Ana am Steuer, die fröhlich zu einem Song im Radio mitsang.

Ein Blinzeln.

Zweige, Äste, ein Sternenhimmel, der hier und da durch die Baumkronen blitzte.

Noch einmal blinzeln.

Rote Schuhe, die auf einem unbekannten Pfad zurückblieben.

Nässe.

Feuchtes Laub unter den Füßen.

Noch einmal blinzeln.

Eine Tür, die aufgestoßen wurde.

Glatter Stein unter den Füßen.

---ENDE DER LESEPROBE---