Was Preema nicht weiß - Sameena Jehanzeb - E-Book
SONDERANGEBOT

Was Preema nicht weiß E-Book

Sameena Jehanzeb

0,0
7,49 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

EINE HOMMAGE AN DAS LEBEN! Wenn deine Reise am Ende beginnt, wohin mag sie dich führen? Manche Tage fangen mieser an als andere. Besonders solche, an denen man schwerelos und ohne nennenswerte Erinnerungen in einem weißen Nichts aufwacht. Preema Anand sind nur zwei Dinge geblieben: ihr Name und die Gewissheit, dass die Welt untergegangen ist. Doch kurz bevor ihr Verstand dem Wahnsinn verfällt, trifft sie auf weitere Überlebende, die sich auf eine vermeintlich idyllische Lichtung mitten im Nirgendwo gerettet haben und Antworten in wilden Theorien suchen. Je dringlicher auch Preema die Geheimnisse ihrer Umgebung und die ihrer eigenen Vergangenheit zu ergründen versucht, desto deutlicher wird, dass ihre Erinnerungen gefährlicher für sie sein könnten als die grauen Schemen, die die Überlebenden heimsuchen…

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Sameena Jehanzeb 

Was Preema nicht weiß

 

Besuche Sameena Jehanzeb im Internet:www.sameena-jehanzeb.de

 

 

 

Ebenfalls erschienen:

BRÏN

Winterhof

Runa. Eine kurze Geschichte vom Winterhof

Frozen Ghosted Dead

 

Impressum:

Was Preema nicht weiß2. Auflage

© Sameena Jehanzeb, 2020Eifelstr. 4 | 53119 [email protected], Illustration: saje design, www.saje-design.deLektorat, Korrektorat: Maike Claußnitzer 

ISBN (Print): 978-3-96698-306-8

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Dieser Roman enthält Themen, die bei manchen Menschen negative Reaktionen auslösen können. Eine Auflistung dieser Themen kann über den aufgeführten QR-Code oder durch Direkteingabe im Browser abgerufen werden:

www.sameena-jehanzeb.de/inhaltswarnungen

E-Book Piraterie richtet großen Schaden für die betroffenen Autoren und Autorinnen an. Besonders dann, wenn sie ihre Bücher in Eigenleistung selbst finanzieren und veröffentlichen. Darum wird dieses E-Book von wirfinden.es betreut.
Mit dem offiziellen Kauf dieses Buches unterstützt du nicht nur mich als Autorin, sondern aktiv auch den Kampf gegen die unrechtmäßige Verbreitung von Romanen. Vielen Dank dafür!

 

 

Manchmal zerbricht unsere Welt.

Manchmal werden wir von ihr zerbrochen.

 

In Erinnerung an meinen Vater Hashim

(1952 – 1989)

Heute • 13. April 2036

 

Die Welt endete am 13. April 2036 mit ohrenbetäubendem Getöse, einem allumfänglichen Verlust der Orientierung und einer so tiefgreifenden Furcht, dass sie einem den Verstand in tausend Scherben brach. Preema Anand erinnerte sich nicht daran, was genau geschehen war. Zu klein und weit verstreut waren die Splitter, die einst ihr Erinnerungsvermögen ausgemacht hatten. Aber an die Schreie und das Weinen erinnerte sie sich und an die Angst … Oh ja, an die Angst erinnerte sie sich sogar überdeutlich. Auch jetzt noch steckte ihr das blanke Entsetzen in den Knochen, ließ sie am ganzen Körper zittern und ihre Haut unangenehm kribbeln. Alles brannte und juckte, doch so sehr sie sich auch kratzte, es wollte nicht aufhören. Der Schock saß wohl einfach zu tief und veranlasste ihre Synapsen dazu, wilde Signale aus allen Rohren zu feuern.

Alles war so verdammt schnell passiert. Wenn sie sich bloß daran erinnern könnte, was dieses alles tatsächlich bedeutete. Das Maß an Gewalt und Zerstörung, das plötzlich auf Preema eingewirkt hatte, war zu intensiv gewesen, zu verstörend, als dass sie begreifen konnte, was ihr im Detail widerfahren war. In ihrem Kopf herrschte eine große Leere und darüber lag die Erinnerung an einen Schmerz, wie sie ihn sich niemals hätte vorstellen können. Da waren außerdem schwammige Bilder von fallenden Sternen und violetten Blitzen am Himmel, von grellen Lichtern, die sie blendeten. Da war auch die Erinnerung an eine gewaltige Erschütterung, gefolgt von einem Sturz, der endlos zu sein schien. Alles war wirr und bruchstückhaft und gab Preema mehr Rätsel auf, als Antworten zu liefern. Nur ein einzelner Gedanke schälte sich klar aus dem Chaos heraus: Das ist das Ende. Die Welt hatte aufgehört zu existieren.

Angesichts dieser wenigen, aber doch recht eindeutigen Informationen, die Preema durch den Kopf schwirrten, hätte sie nach allen Regeln der Logik tot sein sollen. Es gab keine vernünftige Erklärung dafür, dass sie noch lebte. Dennoch trieb sie, unversehrt und höchst lebendig, irgendwo im Nirgendwo umher. Und mit Nirgendwo meinte sie einen Ort, der so absolut leer war, dass ihr Körper nicht einmal einen Schatten warf.

Als Preema im ersten Moment aufgewacht war, hatte sie gedacht, dass sie vielleicht in einem Krankenhaus sei. Doch das hatte sich schnell als Irrtum erwiesen. Zunächst glaubte sie, das Desinfektionsmittel riechen zu können, doch im nächsten Moment war der Geruch wieder fort. Alle Gerüche waren fort. Preemas Aufenthaltsort war noch steriler als steril und auch sonst stimmte nichts mit dem Erscheinungsbild eines Krankenhauses überein. Einfach alles um sie herum war vollkommen weiß. Das Oben, das Unten, jede Richtung, in die Preema sich wandte, bot denselben monotonen Anblick. Es schien keine Wände zu geben, keinen Anfang, kein Ende. Sie war der einzige Mensch, ja das Einzige, was überhaupt an diesem Ort existierte. Da war nichts als die unendliche Leere, die Preema aus allen Richtungen umgab.

Die Weiße war in ihrer makellosen Vollkommenheit beunruhigend. Sie stach Preema in die Augen und gab ihr das Gefühl, erblindet zu sein. Sie hatte stets angenommen, Blindsein bedeute, dass alles schwarz wäre, doch nun musste sie erkennen, dass ein vollkommen leerer Raum zu demselben furchteinflößenden Eindruck führte und darüber hinaus auch noch Kopfschmerzen hervorrief, die an Intensität nicht zu überbieten waren. Preemas Nerven waren nur deshalb noch nicht mit ihr durchgegangen, weil sie immerhin sich selbst sehen konnte und ihre Augen folglich in Ordnung sein mussten. Sie sah den gewohnt warmen Braunton ihrer Haut, der vor dem unnatürlich hellen Hintergrund jedoch dunkler denn je hervorstach. Die langen Strähnen ihrer Haare waberten um ihren Körper und bewegten sich, wie schwarzbraune Geister, um ihre Schultern. Darüber hinaus war Preema ganz und gar nackt. Das erschien ihr seltsam, sie wusste bloß nicht, weshalb.

Ihr entblößter Körper war gewiss nicht das einzig Denkwürdige, denn Preema schwebte. Sie hatte die Knie an die Brust gezogen und die Arme locker um die Beine gewickelt. Wie ein Kind im Leib seiner Mutter trieb sie schwerelos in diesem gewaltigen Nichts umher. Es war ein befremdliches, schwindelerregendes Gefühl und Preema wollte, dass es aufhörte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Verständlich, wenn man sich in Erinnerung rief, dass die Welt untergegangen war. Was auch immer das nun eigentlich bedeuten mochte, denn Preema war schließlich noch hier.

Ein reißender Strom aus Fragen und Gedanken brach harsch und unerwartet über sie herein. Was war das für ein sonderbarer Ort? Wie konnte etwas wie dieser weiße Raum existieren, der keinen Anfang und kein Ende besaß? Was war mit der Welt geschehen? Weshalb trieb Preema in einem schwerelosen Nichts umher? Wie war es möglich, dass sie schwerelos umhertrieb? Und weshalb war sie alleine? Sie konnte doch nicht die Einzige sein, die überlebt hatte. Irgendwer musste sie schließlich gerettet haben. Oder entführt. Der Gedanke drängte sich ihr ungebeten auf. Aber weshalb sollte man sie entführen? War sie reich? Wichtig? Nein, weder das Eine noch das Andere fühlte sich richtig an.

Man sollte meinen, all diese Fragen wären bereits beunruhigend genug gewesen, doch die unangenehmste Frage, die Preema im Kopf herumgeisterte, war die, wer sie eigentlich war. Bis auf ihren Namen wusste sie kaum etwas über sich selbst. Ihr Verstand war genauso leergefegt wie der Raum, in dem sie sich befand. Sie wusste mit Sicherheit, dass da unzählige Erlebnisse und Informationen in ihrem Gedächtnis gespeichert sein sollten, doch woher sie diese Gewissheit nahm, konnte sie wiederum nicht erklären. Preema hatte das Gefühl, eine dicke, bleierne Tür stünde zwischen ihr und ihren Erinnerungen, ja, ihrer gesamten Persönlichkeit. Nicht weit entfernt und dennoch unerreichbar. Vielleicht hatte sie sich eine Gehirnerschütterung zugezogen. Bei einem Weltuntergang konnte so etwas schon mal vorkommen. Litt sie womöglich unter einer Amnesie? Erinnerte man sich an die Bedeutung des Wortes Amnesie, wenn man eine solche hatte? Preema lachte über sich selbst und fasste sich an die Stirn. Sie würde jemanden finden müssen, der ihr dabei half, all diese und noch viele weitere Fragen zu beantworten.

»Hallo? Kann mich jemand hören? Ich könnte etwas Hilfe gebrauchen!«, rief sie laut hinaus. Doch der weiße Raum schluckte ihre Stimme und verhinderte, dass ihre Rufe in die Ferne getragen wurden. Kein Hall und kein Echo begleiteten ihre Worte. Niemand antwortete ihr.

In Preemas Kopf drehte sich alles und sie schmeckte die ersten Anzeichen der Übelkeit auf der Zunge. Sie brauchte Boden unter den Füßen und das nicht im metaphorischen Sinne. Sie wusste vielleicht nicht, wie lange sie schon hier war, aber sie konnte auch nicht ewig ziellos umhertreiben und nichts tun. Wenn niemand kam, um ihr zu helfen, musste sie diesen Part eben selbst in die Hand nehmen.

Vorsichtig, als hätte sie Angst, eine unsichtbare Seifenblase zum Platzen zu bringen, streckte sie ihre Arme und Beine aus. Mit den Händen tastete sie voraus, hinunter und zu jeder Seite. Sie drehte sich ungeschickt um sich selbst und kämpfte darum, Halt zu finden. Doch so weit Preema die Hände auch ausstreckte, ihre Finger wollten keinen Kontakt mit irgendetwas herstellen und ihr Körper fand ebenso keine Balance. Sie kam sich vor wie ein Wurm, der ins Wasser gefallen war und verzweifelt versuchte, an die Oberfläche zu schwimmen. Ihr Kopf schien noch dazu in Watte gehüllt zu sein und die Augen waren so schwer, dass sie stets eine halbe Sekunde zu spät den Befehlen des Gehirns gehorchten.

Vermutlich, dachte sie, habe ich bloß die Orientierung verloren.

Das Unbehagen gewann dennoch schnell an Substanz und machte Preema nervös. Sie konnte doch nicht wirklich schwerelos sein. Sicher war sie keine Expertin, was die Gesetze der Physik anging, aber sie wusste, dass die Schwerelosigkeit nur außerhalb der Erdatmosphäre existierte. In der Schwerelosigkeit zu treiben hätte bedeutet, dass Preema sich nicht mehr auf der Erde befand, und das war völlig unmöglich. Weltuntergang hin oder her, Menschen existierten nicht im luftleeren Raum, und dass es hier Luft gab, stand wohl außer Frage. Um ganz sicher zu gehen, atmete sie dennoch einmal tief ein und wieder aus. Sauerstoff: check. Auch wenn ihr die Luft etwas schal und das Atmen schwieriger als üblich erschien.

Sie schloss die Augen, während sie sich von den unsichtbaren Händen tragen ließ. In ihrem Kopf summte es wie in einem Bienenstock, ihre Haut fühlte Dinge, die gar nicht da waren, und ein permanenter Schmerz hatte es sich direkt hinter ihren Augen bequem gemacht, wenn auch nicht mehr so stark wie in den ersten Momenten nach ihrem Erwachen. Als sie die Augen schließlich wieder öffnete, sah sie, wie eine Strähne ihres Haars seitlich an ihr vorbeitrieb. Sie schien Preema hämisch zuzuwinken. Was für ein absurder Gedanke.

Du bist nicht schwerelos. Das ist völlig unmöglich, ermahnte sich Preema zur Vernunft. Etwas stimmte nicht mit ihrer Wahrnehmung, das war die einzig vernünftige Erklärung. Haarsträhnen konnten nicht winken und Menschen konnten nicht schweben.

Entschlossen schob sie alle Fragen und Merkwürdigkeiten beiseite und versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Sie lauschte ihren eigenen Atemgeräuschen und bemühte sich, die leisen Ängste zurückzudrängen. Sie war traumatisiert, daran bestand kein Zweifel, und höchstwahrscheinlich lag darin die Erklärung für ihre derzeit unerklärliche Lage. Was ihr auch zugestoßen war, es hatte sie mächtig aus der Bahn geworfen.

Ruhig atmend begann sie sich das Gefühl der Schwerkraft in Erinnerung zu rufen. Ein Gefühl, das sie schon ihr ganzes Leben lang begleitete und das so tief in ihrem ganzen Sein verwurzelt war, dass nicht einmal der Weltuntergang es vergessen machen konnte. Das Gefühl von Füßen auf festem Boden, die Vertrautheit, an den Untergrund gebunden zu sein. Ein untrennbarer Pakt zwischen Körper und Schwerkraft, der sowohl im Leben als auch im Tod noch galt. Mochte die Seele auch fliegen lernen, der Körper würde auf ewig mit dem Grund verbunden sein. Es sei denn, jemand schießt dich mit einer Rakete in den Weltraum … Unsinn. Konzentriere dich, Preema!

In ihrem Geist visualisierte Preema den Boden. Schlicht und einfach. Simple, graue Fliesen, wie die in ihrem Badezimmer. Sofort spürte sie ein Lächeln auf den Lippen. Granitgraue Fliesen im Badezimmer. Nicht gerade eine weltbewegende Erinnerung, aber eine, die ihr Hoffnung machte. Sie erinnerte sich plötzlich an den genauen Farbwert und die etwas raue Beschaffenheit der Oberfläche. Sie erinnerte sich auch daran, wie kühl sich die Kacheln unter ihren Fußsohlen anfühlten, wenn sie nach einer heißen Dusche aus der Kabine hinaustrat. Die Eckdaten ihrer Persönlichkeit waren irgendwo, Preema musste nur einen Weg finden, an sie heranzukommen. Doch eins nach dem anderen. Die Erinnerungen liefen ihr schließlich nicht davon. Hoffte sie wenigstens.

Preema schloss einmal mehr die Augen und machte sich so lang wie möglich. Sie stellte sich vor, wie sich ihre Zehen in den Boden drückten, wie ihr Gewicht auf den Fersen und Fußballen ruhte. Sie konzentrierte sich auf die starre Unnachgiebigkeit der Fliesen und darauf, wie es sich anfühlte, im Einklang mit der Schwerkraft zu sein.

»Komm schon. Komm schon!«, flüsterte sie sich ermutigend zu, während ihre Zehen in der Leere stocherten. Plötzlich berührten sie etwas. Preema jauchzte in einer Mischung aus Schreck und Freude und riss die Augen auf. Da war er, der Boden, genauso, wie sie es vermutet und erwartet hatte. Mit einem Mal spürte sie das Gewicht ihres Körpers wieder, während sich ihre Füße fest auf soliden Grund hefteten. Für ein paar Sekunden drehte sich in ihrem Kopf alles so schnell, dass sie glaubte zu stürzen, dann aber merkte sie, wie die Welt wieder ins Lot kam, wie sich ein Oben und ein Unten etablierte und ihr die Haare auf die Schultern und über den Rücken fielen. Preema drückte die Zehen in den Grund, sprang ein paar Mal vorsichtig auf und ab, nur um sich zu vergewissern, dass auch wirklich alles mit rechten Dingen zuging.

Die Schwerkraft hatte sie wieder!

Für einen Moment glaubte Preema, den grauen Fliesenboden ihres Badezimmers tatsächlich sehen zu können. Die Erscheinung verschwand jedoch, sobald sie direkt hinsah, und ließ nichts zurück als den weißen Raum. Nun, auch wenn er optisch nicht vom Rest zu unterscheiden war, hatte sie den Boden doch gefunden, da würde sie auch alles andere noch aufspüren. Die Wände mussten schließlich irgendwo sein, und wo es Wände gab, gab es auch Türen, und wo es Türen gab, gab es auch einen Ausgang. Entschlossen setzte sich Preema in Bewegung.

 

Für eine ganze Weile lief Preema ziellos umher. Sie konnte nicht mit Gewissheit sagen, wie lange sie durch den weißen Raum irrte. Sie hatte keinen Anhaltspunkt dafür, wie spät es war, doch es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Niemand begegnete ihr und nirgends fand sich auch nur eine einzige Wand, Säule oder irgendetwas anderes, das auf ein tragendes Element hinwies. Physikalisch betrachtet mindestens fragwürdig. Je länger ihre Suche andauerte, desto mehr Zweifel machten sich in Preema breit. Immer wieder suchte sie ihre Umgebung ab und rief in die Ferne. Doch wie zuvor antwortete ihr nur die Stille. Eine Stille, die ihr zunehmend unheimlicher wurde. Preema rannte und rannte, ohne müde zu werden, die Szenerie aber wollte sich einfach nicht ändern. Die Weiße dehnte sich erbarmungslos aus, unendlich wie ein Universum ohne Sterne, und gab nichts von ihren Geheimnissen preis. Bewegte sie sich überhaupt vorwärts oder trat sie auf einem riesigen, unsichtbaren Laufband auf der Stelle, wie ein Hamster in seinem Rad?

Hoffnungslos sank Preema schließlich auf die Knie, auf einen Boden, den sie nicht sehen konnte, und vergrub das Gesicht in den Händen. Die Weiße schluckte auch ihr leises Weinen und ihre Verzweiflung. Es gab keine Wegweiser, keine Hinweise auf die Lösung dieses undefinierten Rätsels, und es gab niemanden, den sie um Hilfe bitten konnte. Was war das nur für ein furchtbares Spiel? Was erwartete man von ihr? Welchen verborgenen Hebel musste sie umlegen, damit es endlich weiterging? Irgendwohin. Hauptsache weg von hier. Raus aus dem weißen Raum.

»Hallo!«, brüllte Preema noch einmal wütend in die Leere. »Verdammt nochmal! Zeigt euch! Was wollt ihr von mir?« Sie hatte genug. Genug von der Einsamkeit, genug von der Weiße. »Ist denn niemand hier? Bitte«, wimmerte sie ohne jede Hoffnung. Noch immer fühlte sich niemand bemüßigt, ihr zu antworten.

War irgendetwas hiervon überhaupt real? War sie vielleicht in einem Traum gefangen? Es fühlte sich nicht an wie ein Traum. Es war auf eine absurde Weise zu normal. Träume fühlten sich anders an. Dennoch kniff sie sich in den Arm und zuckte angesichts des zwickenden Schmerzes zusammen. In Träumen spürte man keinen Schmerz, da war sie sich halbwegs sicher. Schmerzen und der Tod weckten einen auf, war es nicht so? Sie kniff sich noch einmal, etwas fester, doch bis auf ein unangenehmes Pochen an der malträtierten Stelle erreichte sie damit nichts.

»Ihr wollt mich doch auf den Arm nehmen«, sagte sie zu niemandem im Besonderen und lachte aus purer Verzweiflung. Sie malte sich aus, wie es sein würde, den Rest ihres Daseins in dieser trostlosen Leere zu verbringen. Mit nichts zur Gesellschaft als sich selbst, bis sie verhungert, verdurstet oder einfach nur wahnsinnig geworden war. Wie lange mochte das dauern?

Ihre Füße schienen plötzlich durch den Boden zu sinken, das Schwindelgefühl meldete sich zurück und sie glaubte zu spüren, wie auch die Schwerkraft sie erneut verließ. Preema stieß einen erstickten Ton aus.

»Was geschieht mit mir?«

Sie presste die Handballen auf die Augen, sog scharf die Luft ein – wieder und wieder – und doch schien nicht mehr Sauerstoff in ihren Körper zu gelangen. Sie war in einem Albtraum gefangen und der Wahnsinn reckte gierig die Arme nach ihr. Ihr Boden verlor mit jedem Atemzug an Festigkeit, aus den Augenwinkeln sah sie, wie ihre Haare langsam aufstiegen und erneut zu schweben begannen.

»Aufhören. Aufhören!«, befahl sie sich selbst in ihrer heraufziehenden Panik und schlug sich mehrfach gegen die Stirn. Sie versuchte sich zu beruhigen, betrachtete ihre Hände, studierte die vertrauten Bahnen der Arterien und Venen, die durch ihre Haut schimmerten, und die vielen feinen Härchen darauf. So viele Härchen. Wie viele es wohl waren? Preema sank in sich zusammen und begann zu zählen. Haar um Haar, Haar um Haar. Ihr Körper wippte sanft vor und zurück, während sie ihrer eigenen Stimme lauschte. Eins, zwei, drei … zehn, zwanzig, dreißig …

Nach einer Weile schlug ihr Herz wieder ruhig in ihrer Brust und der Boden fühlte sich wieder fest und solide an. So, wie es sich für einen Boden gehörte.

Heute

Schisch-schusch, machte es irgendwo und Preema horchte auf. Es war das erste Geräusch an diesem Ort, das nicht von ihr selbst ausging. Schisch-schusch, erklang es noch einmal.

»Hallo?«

Schisch-schusch.

Es war ein weicher Ton, ähnlich Papierblättern, die übereinander geschoben wurden, nur lauter und ein klein wenig stockend am Schluss. Vielleicht auch eine Hydraulik, eine ziemlich kleine. Eine Tür? Hoffnung machte sich breit.

Schisch-schusch.

Preema drehte sich um sich selbst. Inzwischen wunderte es sie nicht mehr, dass es auch diesmal keinen Anhaltspunkt dafür gab, wo sich die Geräuschquelle in diesem endlosen Raum befinden mochte. Das andauernde Fehlen jeglicher Hinweise nährte ein leise dahinsimmerndes Gefühl der Verärgerung, welches schließlich in einem frustrierten Aufschrei gipfelte.

»Schon gut, schon gut«, zwang sich Preema zur Ruhe. Sie versuchte zu spüren, was sich vor ihren Augen verbarg. Doch so sehr sie sich auch bemühte etwas wahrzunehmen, da war kein archaischer Instinkt, der sich meldete und ihr die Superkraft verlieh, Gegenstände oder andere Menschen aufzuspüren. Es wäre schön gewesen, wenn sich wenigstens das Zupfen einer Ahnung gemeldet hätte. Irgendetwas. Das Einzige, was sie jedoch spürte, war ein Zeh, der einfach nicht aufhören wollte zu jucken. Soviel zu ihrer Intuition. Genauso unbrauchbar wie ihr Gedächtnis. Preema blähte die Wangen auf und entließ die Luft langsam durch die Lippen.

»Na schön, dann reißen wir eben noch ein paar Kilometer mehr herunter«, murmelte sie vor sich hin und setzte sich wieder in Bewegung. Denn welche Wahl hatte sie schon? Es musste schließlich irgendwo einen Ausgang geben.

Flop-flop-flop-flop.

Kaum hatte sie sich wieder auf den Weg gemacht, überraschte der weiße Raum sie mit dem nächsten eigenartigen Geräusch. Preema blieb stehen.

Flop-flop-flop-flop.

Was war das nun wieder? Wie zuvor, schien auch dieses Geräusch von überallher gleichzeitig zu kommen. Nach kurzer Überlegung kam Preema zu dem Schluss, dass sie dieses Geräusch immerhin kannte. Theoretisch jedenfalls, denn was genau es war, wollte sich ihr dann doch nicht offenbaren, und so verfluchte sie ihren Verstand einmal mehr dafür, dass er sich derart beharrlich weigerte, normal zu funktionieren.

Flop-flop-flop-flop.

»Hallo?«, rief sie ungehalten in den Raum. »Hier ist doch jemand!«

»Hey!«, rief die Stimme eines Mannes plötzlich zurück und Preema zuckte vor Schreck so heftig zusammen, dass sie sich auf die Zunge biss und Blut schmeckte. Sie fluchte leise. »Hey, hier unten!«, rief der Unbekannte wieder.

Preema schaute hinunter, doch da war niemand, der zu ihr aufblickte. Alles war weiß wie zuvor und ohne jede räumliche Wirkung.

»Das andere Unten!«, lachte er. »Entschuldige. Von deiner Warte aus bin ich wohl oben.«

»Was denn nun? Oben oder unten?«, schimpfte Preema und warf schnaubend die Arme in die Luft. Wie sollte man sich vernünftig über den ersten Kontakt zu einem anderen Menschen freuen, wenn der Spielchen trieb und sie an der Nase herumführte?

»Sowohl als auch«, rief der Fremde. Er klang amüsiert, was Preema erst recht auf die Palme brachte.

»Ich bin wirklich nicht zum Scherzen aufgelegt.«

»Dann ist deine Zündschnur entweder sehr kurz oder du bist schon länger hier draußen, als es gut sein kann.«

»Beides!«, gab Preema barsch zurück.

»Schau nach oben!«

Preema tat, was die Stimme verlangte, und sogleich stockte ihr der Atem. Denn zwei Dinge faszinierten sie. Zum einen war da zunächst einmal dieser andere Mensch. Ihn nach der langen Zeit im weißen Raum zu sehen, erzeugte eine Welle der Freude und Preema gab ein untypisches Geräusch von sich, das dem eines aufgeregten Welpen glich. Sie sprang beinahe ebenso euphorisch von dem einen auf den anderen Fuß, quiekte vor Glück und winkte zu dem Mann hinauf. Vergessen war der Ärger, denn noch niemals hatte sich Preema so sehr darüber gefreut, einen anderen Menschen zu sehen, schon gar nicht einen völlig Fremden. Vermutete sie zumindest.

Die zweite Faszination galt der Tatsache, dass der Mann kopfüber an der unsichtbaren Decke hing, ganz ohne irgendwelche Hilfsmittel zur Befestigung. Preema war sich sicher, dass das nicht normal war. Während sie zu ihm hinaufblickte, blickte auch er zu ihr herauf, denn für ihn musste es so erscheinen, als wäre sie über ihm. Es war absurd. Der Mann spazierte an der Decke entlang, als wäre es das Normalste der Welt, auf dem Kopf zu stehen. Das Geräusch, das Preema zuerst nicht hatte zuordnen können, entpuppte sich nun als die Sohlen seiner Sandalen, die bei jedem Schritt gegen seine Fersen klatschten. Flip-Flops!, fiel es ihr schlagartig wieder ein.

»Bist du real?«, fragte Preema zweifelnd.

»Das will ich doch sehr hoffen«, antwortete der Unbekannte und lachte laut. »Wie geht es dir da oben … ich meine dort unten … oder … wie auch immer!« Wieder lachte er und seine gute Laune sprang auf Preema über wie ein freundlicher Virus.

»Wenn ich ehrlich sein darf, ich hatte schon bessere Tage«, rief sie zu ihm hinauf … oder hinunter. Es war kompliziert. »Du kennst nicht zufällig einen Weg, der aus diesem Hamsterrad hinausführt?«

»Von einem Hamsterrad weiß ich nichts, aber einen Weg hinaus kenne ich zufällig doch«, rief der Mann zurück.

Mit dieser Antwort hatte Preema, trotz aller Hoffnungen, nicht gerechnet. »Ist das dein Ernst? Mach bitte keine Witze. Ich irre hier seit einer Ewigkeit umher und habe dieses endlose Nichts mehr als satt.«

»Es wird schnell langweilig, nicht wahr?« Der Ausdruck auf seinem Gesicht war pure Heiterkeit. Wie konnte er so fröhlich sein, nach dem, was mit der Welt geschehen war?

»Kann man so sagen«, antwortete Preema und nickte.

»Magst du dich vielleicht zu mir gesellen?«

»Zu gerne, ich weiß bloß nicht wie ich das anstellen soll.« Preema kicherte. Sie fühlte sich auf einmal selbst albern und fröhlich, als hätte sie einen Schwips. Es musste daran liegen, dass sie über alle Maße erleichtert darüber war, nicht mehr alleine zu sein. Die Glücksgefühle schienen ihr aus allen Poren zu fließen, so dass sie den Weltuntergang für eine Weile völlig vergaß. »Wie komme ich zu dir rauf?«

»Das ist leicht. Reich mir deine Hand!« Der Mann reckte seine eigene Hand Preema entgegen, doch zwischen ihnen lagen sicher zehn Meter Abstand. So würden sie nicht weiterkommen.

»Versteckst du vielleicht irgendwo eine Leiter?«

»Du brauchst keine Leiter. Spring einfach zu mir heru… ich meine hinauf.«

Springen? Über eine solche Distanz? Das hätte Preema nicht einmal geschafft, wenn sie Profisportlerin gewesen wäre, und ihr kleines Hüftgold verriet, dass das sicher nicht der Fall war. »Keine Chance!«, rief sie entgeistert. »Das ist viel zu weit.«

»Die Dinge sind hier nicht so, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Die Entfernung ist in Wahrheit viel geringer. Spring! Glaube mir, du wirst mich erreichen!«

Preema schnalzte mit der Zunge. Sie vermutete einen Trick oder aber einen Scherz auf ihre Kosten. Andererseits hatte sie hier schon genug Seltsames erlebt, um nichts mit Sicherheit ausschließen zu können.

»Wehe du lachst mich gleich aus!«, warnte Preema in verspieltem Ton. Dann machte sie sich bereit, nahm die Hand des Fremden ins Visier und sprang. Sie drückte sich mit aller Kraft ab und reckte die Hand so weit von sich fort, bis sie das Gefühl hatte ihr Körper dehne sich aus wie der von Elasty Girl. Schon wieder so eine nutzlose Information. Danke für nichts, liebes Gehirn.

Zu Preemas völliger Überraschung stieg sie allerdings immer höher und höher hinauf, bis ihre Hand die des Mannes berührte und er seine Finger fest um ihre schloss. In dem Moment, da sich ihre Hände berührten, verlor Preema die Orientierung und sie hatte das Gefühl, zu fallen. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, fiel sie wie ein nasser Sack auf ihren Retter. Er versuchte noch sie aufzufangen, doch Preema traf ihn so ungünstig, dass er chancenlos zu Boden ging und unter ihr liegend ein leises »Au« von sich gab.

»Bin ich gerade auf dich gefallen? Das ist doch nicht möglich«, sagte sie perplex.

»Hier ist fast alles möglich. Hallo übrigens, ich bin David«, gab er buchstäblich erschlagen von sich.

»Hi, ich bin Preema.«

»Freut mich dich kennenzulernen, Preema.«

Er hatte Mühe, zu sprechen, was, wie Preema nun klar wurde, darauf zurückzuführen war, dass sie mit vollem Gewicht auf ihm lag und ihm die Luft abschnürte. Noch dazu war sie vollkommen nackt. Nicht, dass das eine Rolle spielte, wenn Menschen kopfüber an einer unsichtbaren Decke entlangliefen. Ihre Scham hatte Preema ohnehin ebenso vergessen wie ihr Leben. Es störte sie außerdem nicht, nackt zu sein, und falls es David aufgefallen war, schien es ihn nicht zu kümmern. Irgendwo im Hinterkopf wusste Preema, dass ihr das eigentlich hätte verdächtig erscheinen müssen, sie war jedoch zu erleichtert und zu glücklich, nicht länger die einzige Existenz in diesem endlosen weißen Raum zu sein. Sie war nicht mehr alleine. Alles andere war nebensächlich. Fürs Erste jedenfalls.

»Entschuldige«, sagte sie, kletterte von dem jungen Mann herunter und stellte sich aufrecht hin. »Das war ein wenig aufdringlich von mir.«

»Ich wurde schon von härteren Dingen getroffen«, gab David heiter zurück und ließ sich von Preema auf die Füße helfen.

»David, du ahnst nicht, wie froh ich bin, dich zu sehen. Ich irre schon so lange allein umher, dass ich kurz davor war, den Verstand zu verlieren. Weißt du, wo wir hier sind? Kannst du mir sagen, was passiert ist?«, fragte sie ihn, doch er spielte unsicher an seinem Ohrläppchen und schüttelte dann den Kopf.

Er war jünger als Preema. Vielleicht Mitte zwanzig, hatte etwas zu langes, blondes und lockiges Haar und helle, aber derzeit sommerlich goldbraune Haut. Wahrscheinlich verbrachte er viel Zeit in der Sonne. Oder besser gesagt, er hatte sicher viel Zeit darin verbracht, als es noch eine Sonne gegeben hatte oder einen Strand, an dem man liegen, ein Meer, in das man hinausschwimmen konnte. Seine Kleidung bestärkte den Eindruck, denn die bestand nur aus einer grellbunten Bermudashorts, einer Holzkette um den Hals und natürlich den Flip-Flops, deren sonst nervtötendes Klatschgeräusch Preema zurzeit wie die schönste Symphonie erschien. In der Not fraß der Teufel nicht nur Fliegen, er lauschte offenbar auch dem Sound von Flip-Flops.

»Ich bin vermutlich nicht viel schlauer als du«, antwortete David mit einem nachdenklichen Blick. Seine Stimme war tief und ruhig. »Meine Erinnerungen sind etwas lückenhaft. Eben noch genieße ich meinen Urlaub, sitze am Strand und nippe an meinem Cocktail. Auf einmal dreht sich alles und das Nächste, was ich sehe, ist der weiße Raum. Erinnerst du dich daran, wie du hergekommen bist?«

»Nein, kein Stück«, antwortete Preema unzufrieden. »Ich habe selbst nur ein paar bruchstückhafte Erinnerungen an den letzten Moment, bevor ich hier aufgewacht bin. Zumindest glaube ich, dass das der letzte Moment war. Aber so leer, wie mein Gedächtnis ist, könnte das auch ein Schnipsel von vor zehn Jahren sein.«

David nickte mit einem beunruhigend verständnisvollen Ausdruck. »Das kommt mir sehr bekannt vor.«

»Dann erinnerst du dich auch an nichts?«

»Ich erinnere mich an einiges mehr als noch zu Beginn, aber nicht an alles. Vor allem nicht an das, was mich hergebracht hat.«

Preema sprach es nicht aus, doch zwei Menschen, die beide an Gedächtnisverlust litten, waren für ihren Geschmack einer zu viel, um Zufall zu sein.

»Was hältst du von einem Tapetenwechsel, Preema? Du hast sicher Lust auf eine etwas vielfältigere Umgebung.«

»Oh ja, bitte!«, gab sie zurück.

»Kannst du den Wegweiser schon sehen?«

»Wegweiser?«, fragte sie verwundert.

»Also nein. Das habe ich mir schon gedacht. Komm, ich zeige dir, wo es langgeht.« David schaute sich einen Moment um, offensichtlich suchte er etwas. Preema konnte sich nicht vorstellen was das sein mochte. Was sah er, was sie nicht sah?

»Aha«, rief er zufrieden, lief ein paar Schritte, änderte die Richtung und war plötzlich verschwunden.

»David!«, rief Preema erschrocken. Sein Kopf wurde wieder sichtbar, als er hinter der unsichtbaren Wand hervorblickte. »Was …?«

»Kommst du?«, fragte er unschuldig.

»Aber …«, begann Preema und wusste dann doch nicht, was sie eigentlich sagen sollte. Also lief sie eilig auf Davids schwebenden Kopf zu, der gleich darauf wieder verschwand. Preema streckte die Hand aus und suchte nach der Wand. Sie konnte einfach keinen Unterschied sehen. Keine Kante, keinen Schatten, gar nichts. Dann aber trafen ihre Finger auf einen kühlen Widerstand. Nicht richtig fest, eher ein wenig gummiartig. Zu Preemas Überraschung verschwand ihre Hand, sobald sie die Kante umgriff. Ein unbedeutender und dennoch surrealer Anblick.

»Man könnte meinen du würdest doch ganz gerne hierbleiben.« David lugte erneut grinsend hinter der Wand hervor.

»Himmel, nein. Ich habe nur Schwierigkeiten, zu verstehen, wie das möglich ist. Wie kann es sein, dass ich so lange hier herumgeirrt bin, ohne auch nur einmal auf eine Barriere zu stoßen? Ganz eindeutig gibt es hier Wände, auch wenn ich sie nicht sehen kann. Und wieso kannst du sie sehen? Stimmt etwas nicht mit meinen Augen?«

Davids Grinsen wurde breiter. »Deine Augen sind in Ordnung. Es dauert bloß eine Weile, bis man die Wände und Durchgänge wahrnimmt. Sie sind überall, man muss aber erst lernen, worauf es zu achten gilt.«

»Ich kann doch nicht so präzise jedes Hindernis im weißen Raum versehentlich umgangen haben«, protestierte Preema kopfschüttelnd.

»Die Wände hier sind schlau und sie sind nicht fix an einen Ort gebunden. Sie sind da, aber nicht immer solide, verstehst du?«

»Nein«, gestand sie geradeheraus. Wieder lachte David.

»Sie sind … hm … Es ist nicht so, dass sich die Wände bewegen würden. Sie sind, wo sie sind, aber sie sind nicht immer im selben Raum wie wir. Manchmal muss man warten, bis sie erneut erscheinen, und oft sind wir nur im falschen Moment an der richtigen Stelle.«

»Versuchst du, mich auf den Arm zu nehmen?«, fragte sie ganz ernst.

David seufzte. »Nein, auch wenn es verrückt klingt, es ist, wie es ist. Das Ganze richtig zu erklären ist schwierig. Ich verstehe es ja selbst kaum. Du wirst aber mit der Zeit feststellen, dass es noch wesentlich verrücktere Dinge gibt als Wände, die nur manchmal da sind.«

»Ich muss nicht alles verstehen. Bring mich bitte nur von hier weg, um die anderen Probleme kümmere ich mich später.«

»Das mache ich mit Freuden. Hier, nimm meine Hand, damit du mir nicht verloren gehst«, sagte er mit dem Elan eines Abenteurers. Preema ergriff die Hand, die er ihr anbot, und folgte ihm und dem Flop-flop-flop seiner Schuhe nur zu gerne.

Er führte sie zielsicher von einem Gang in den nächsten, wobei für Preema alles gleich blieb. Sie konnte ihrem neuen Wegbegleiter nur vertrauen, während sie versuchte wahrzunehmen, was er wahrnahm: das Schimmern einer Durchgangskante, eine Markierung am Boden, einen schmutzigen Pfad, irgendetwas. Doch es blieb alles schneeweiß. David aber folgte Wegen, die gut sichtbar vor ihm lagen. Schwach schimmernden Wegweisern, wie er erklärte, die sich Preema scheinbar noch nicht zeigen wollten. Stattdessen zählte sie ihre Schritte, in der Hoffnung, ein Muster zu erkennen, doch schon kurz darauf hatte sie alle Schrittzahlen wieder vergessen und war sich unsicher, ob sie zuletzt nach links oder rechts abgebogen waren. War sie schon immer so vergesslich gewesen?

Die Zeit tickte weiter vorbei, ohne eine Spur von sich zu hinterlassen. Preema hatte keine Ahnung, wie lange sie schon umherliefen, doch alles war besser, als alleine und ohne jede Perspektive in dem weißen Raum gefangen zu sein.

»Wir sind da.«

»Wir sind da?« Die Enttäuschung in ihrer Stimme war unverkennbar. »Aber hier ist doch nichts.« Sofort überkam sie der schreckliche Gedanke, dass David ihr nur etwas vorgemacht hatte und sie weiterhin in dieser endlosen Weite festsaß. Dass sich David selbst vielleicht so sehr nach einem Ausgang sehnte, dass er ihn sich herbeiphantasierte.

»Hier, du kannst den Durchgang anfassen.« Er legte seine Hand auf die weiße Leere und Preema tat es ihm nach.

Der Widerstand war da, die Oberfläche schien etwas wärmer zu sein als die vorherigen Wände und nun erkannte sie auch hier und da das zaghafteste Schimmern feiner Linien. Sie breiteten sich wie ein filigranes Spinnennetz unter ihrer Handfläche aus.

»Der erste Moment, nachdem sich der Durchgang öffnet, wird dich vielleicht ein wenig überfordern. Deine Sinne müssen sich erst wieder an die Existenz einer Umwelt gewöhnen. Aber ich bleibe bei dir und fange dich auf, falls du die Orientierung verlierst. Bist du bereit?«

Was mochte sich hinter diesem obskuren Portal befinden? Der Ausgang aus einer Theaterkulisse? Ein Parkplatz vor einem gigantischen Lagerhaus? Die Trümmer einer verwüsteten Welt?

»Ich bin bereit«, antwortete Preema. Sie hatte keine Ahnung, ob das der Wahrheit entsprach, sie würde jedoch auf keinen Fall freiwillig noch länger im weißen Raum bleiben. Alles war besser, als hier draußen zu verweilen und vom Leben ausgesperrt zu sein.

Sie spürte, wie David gegen die unsichtbare Barriere drückte und diese ein Stück nachgab, wie eine weiche Membran. Für einen kurzen Moment leuchteten all die feinen Haarlinien darauf hell auf, dann stoben sie blitzförmig auseinander und waren verschwunden. Unter ihren Handflächen begann sich ein Loch zu bilden. Es wurde größer und größer, bis es groß genug war, dass ein erwachsener Mensch hindurchpasste. Preema riss die Augen auf, als sie plötzlich die vielen Farben sah.

Gerüche strömten ihr entgegen und Klänge. Vogelgezwitscher und das beruhigende Rascheln von Baumkronen im Wind, Wasserfälle. Pflanzenhalme schwangen auf der anderen Seite sanft hin und her. So viele unterschiedliche, geschäftige, lebendige Klänge. Farben und Schatten! Preema stieß einen Freudenschrei aus und atmete tief ein. Ein vage vertrauter Duft drang in ihre Nase ein und füllte ihre Lungen. David kletterte durch die Öffnung und Preema folgte ihm aufgeregt. Ihre Füße landeten prompt auf kühler Erde und saftig grünem Gras. Sie erinnerte sich an Gras und an ein Mädchen, dessen rotblondes Haar vor dem Hintergrund der grünen Wiesen herausstach wie ein Leuchtfeuer.

Und plötzlich war sie da, die erste Erinnerung daran, wer Preema Anand war.

Damals • 27. August 2005

Es hätte ein perfekter Samstagmorgen sein können. Vögel zwitscherten von den Ästen der Bäume herunter, Hummeln und Bienen wechselten geschäftig summend von einer Blüte zur anderen oder flogen schwankend und schwer beladen zu ihren Nestern zurück. In der Luft lag der Duft von frisch geschnittenem Gras. Wie jede Woche, und stets zur selben Zeit, schob Andreas Wenke seinen Rasenmäher mit stoischer Ruhe und selig lächelnd über den Rasen. Es spielte für den Mann wohl keine Rolle, ob das Gras überhaupt Gelegenheit hatte nachzuwachsen, denn er wich nur dann von seinem üblichen Terminplan ab, wenn es regnete oder stürmte. Die Nachbarschaft hatte sich längst damit abgefunden, dass der Samstagmorgen dem Rasenmähermann von nebenan gehörte. Die einen malten zur Entspannung Mandalas aus, Andreas Wenke mähte seinen Rasen.

Eine warme Decke tiefer Glückseligkeit lag über dem Viertel, erschaffen von der Freude der Menschen, die zwei Tage lang der Arbeit fernbleiben und stattdessen in der Sommersonne baden durften. Die älteren Kinder stromerten derweil fern der Aufsicht eines Erwachsenen durch die Siedlung, genossen die schulfreie Zeit und ihre wachsende Unabhängigkeit. Wochenenden im Sommer waren für alle ganz besonders schöne Tage und nur die hartgesottensten Zyniker vermochten es, keine Freude an einem sonnigen Sommerwochenende zu empfinden. Nun, Zyniker und natürlich Nicole Grebe und Preema Anand, die sich derzeit lautstark dem teuersten Gesetz der modernen Zivilisation widersetzten und den Frieden des Wochenendes ohne jede Scham zerstörten.

Die Stimmen der beiden Mädchen schnitten schrill durch die friedlich dahinträumende Nachbarschaft und schlugen Vögel, Katzen und sämtliche Nager im Umkreis von hundert Metern in die Flucht. Ihr Geschrei schaffte es sogar, das Knattern und Rattern des Rasenmähers zu übertönen. Dessen Motorgeräusche gerieten kurz aus dem Takt, als sein Steuermann vor lauter Schreck eine scharfe Kurve ins Gras zeichnete und damit das perfekte Linienmuster einer ganzen Dekade ruinierte. Andreas Wenke schaltete den Rasenmäher unplanmäßig ab und fluchte, als er das krumme Malheur in seinem Vorgarten erblickte. Die Kinder kümmerte Andreas Wenkes zerstörtes Rasenmuster freilich wenig. Sie hatten viel größere Probleme und kreischten weiter so laut, wie es ihre Lungen hergaben. Der Zorn eines Kindes war schon schlimm genug, der Zorn zweier Kinder … Mögen die Götter aller Völker Gnade walten lassen!

Nicole und Preema klammerten sich seit mehreren Minuten aneinander, als hinge ihr Leben davon ab, und hätte man sie danach gefragt, so wäre genau das auch der Fall gewesen. In ihrer noch jungen Welt war das, was sie gerade durchlebten, durchaus von einer zutiefst dramatischen und einschneidenden Tragweite. Wie alle Kinder, die irgendwann erwachsen wurden, würden sie mit der Zeit den Blick auf dieses Ereignis ändern und feststellen, dass es weitaus größere Katastrophen im Leben gab. Doch an diesem Punkt waren die beiden Mädchen noch nicht angelangt und so protestierten sie in aller Form gegen das Unrecht, das hier und heute geschah. Sie hatten sich inzwischen längst gegenseitig die Schultern nass geweint und heulten kaum verständliche Worte in die Halsbeuge der anderen. Aber Nicole und Preema kannten einander besser als Schwestern und verstanden sich auch ohne Worte.

»Nicole, wir müssen los!«, rief Patrick Grebe, Nicoles Vater. Er stand unter Zeitdruck, war verärgert und hatte für das Drama der beiden Kinder längst jedes Verständnis verloren. Seit die Mädchen erfahren hatten, dass Nicoles Familie in ein neues Haus umzog – auf die andere Flussseite, was dem Ende der Welt gleichkam –, herrschte ein unheiliger Krieg zwischen den Kindern und Nicoles Eltern.

»Ich hasse euch!«, schrie Nicole ihre Eltern zum wiederholten Male an und wie zuvor verstärkte sie ihren Griff um Preema dabei ein bisschen mehr.

»Ich auch! Böser Baba Grebe!«, kreischte Preema in feinstem Glasschneider-Sopran hinterher.

»Jetzt macht nicht so ein Theater!«, schimpfte Herr Grebe, dessen Worte in einer stressigen Situation wie dieser immer ganz eigenartig und unverständlich wurden. Normalerweise hätten Preema und Nicole das sehr amüsant gefunden, wenn er so lustig sprach, doch nicht heute.

»Daran ist nur dieser hässliche Gnom schuld!«, schimpfte Nicole zurück.

»Hör auf, deine Schwester einen Gnom zu nennen!«

»Niemals!«, hielt Nicole dagegen.

Die beiden Kinder waren wütend und verletzt, weil ihre Freundschaft auf so rüde Weise und selbstverständlich gegen ihren Willen beendet wurde. Sie fühlten sich von Nicoles Eltern verraten. Wer oder was gab Erwachsenen das Recht, einfach umzuziehen und das Leben ihrer Kinder zu zerstören? Wieso hatte niemand gefragt, was Preema und Nicole davon hielten, dass sie künftig nicht mehr nebeneinander wohnen durften?

Schuld an der ganzen Misere war der neue Familienzuwachs, um den Nicole wahrlich nicht gebeten hatte. Das versicherte sie Preema, die Angst davor hatte, von einer echten Schwester ersetzt zu werden, immer wieder. Nicht nur, dass Gnomi, wie Nicole und Preema den kleinen Neuzugang vom ersten Moment an nannten, seit drei Monaten Tag und Nacht heulte und schrie, jetzt zogen die Grebes auch noch um, weil die Wohnung für vier Personen angeblich zu klein war. Gnomi konnte ja im Keller schlafen, wenn sie mehr Platz brauchte, da würde Nicole auch das dauernde Geschrei nicht mehr hören müssen. Von der Idee wollten die Eltern jedoch nichts wissen und schimpften stattdessen noch mit Nicole, dass man so nicht mit seiner Schwester umgehen dürfe. Aber einfach so umzuziehen und Nicoles und Preemas Leben zu ruinieren, das war offenbar in Ordnung. Gemein war gar kein Ausdruck für diesen unverschämten Vorstoß.

»Zarah!«, rief Nicoles Vater. »Hättest du wohl die Güte, deine Tochter an dich zu nehmen? Die Umzugshelfer warten darauf, dass ich ihnen die Türe im neuen Haus aufschließe.«

»Ich komme nicht mit!«, schimpfte Nicole aus voller Lunge. »Ihr könnt mit dem Gnom umziehen, aber ich bleibe hier bei Preema! Preemas Zimmer ist sowieso viel schöner und Papa Anand hat be…«

»Und wenn ich dich knebeln und fesseln muss, junge Dame, du setzt dich jetzt in dieses verdammte Auto!«, brüllte Herr Grebe dazwischen, während er versuchte, die beiden Kinder auseinanderzubekommen. Ihre kleinen Hände und Arme waren erstaunlich stark und unnachgiebig, so dass seine Versuche, Nicole wegzutragen, zu einer ungewollt komischen Szene ausarteten, die garantiert so manchen Nachbarn heimlich amüsierte. Tahir Anand, der oben hinter dem Schlafzimmerfenster stand und sich das Ganze nur aus der Entfernung ansehen konnte, schmunzelte jedenfalls halb vergnügt und halb wehmütig. Er würde Nicole vermissen, die inoffizielle zweite Tochter, die so oft und selbstverständlich in der Wohnung der Anands herumlief oder dort übernachtete, dass er manchmal vergaß, dass sie die Tochter von jemand anderem war. Er war sich sicher, dass es den Grebes mit Preema nicht viel anders erging. Die beiden Elternpaare hatten längst akzeptiert, dass ihre Töchter glaubten, zwei Mütter und zwei Väter zu haben, und alle Erklärungsversuche ignorierten.

Eng wie das Band zwischen Preema und Nicole folglich war, waren die beiden Kinder fest entschlossen, Herrn Grebes Pläne zu vereiteln. Bisher waren sie damit auch ausgesprochen erfolgreich, doch plötzlich spürte Preema die Hände ihrer Mutter auf den Schultern – diese Verräterin! – und klammerte sich instinktiv noch energischer an Nicole. Sie würde ihre Freundin nicht gehen lassen. Niemals!

»Preema! Beti, komm jetzt«, sagte Zarah Anand mit jener strengen Stimme, von der sie nur in besonderen Momenten Gebrauch machte. Dies war solch ein Moment und an jedem anderen Tag hätte der Tonfall gereicht, um Preema – und Nicole – sofort gehorchen zu lassen, doch nicht heute. Heute war ein Tag, an dem alle Regeln außer Kraft gesetzt worden waren.

»Geh weg! Geh weg, Mami ji!«, brüllte Preema wütend. Sie strampelte und trat wild um sich, wand sich wie ein glitschiger Fisch in den Armen ihrer Mutter.

»Preema …«

»Nein! Nein! Nein!«

Die beiden Elternteile schafften es nur mit vereinten Kräften, ihre Töchter voneinander loszureißen. Das Gekreisch der Kinder wurde noch lauter, was niemand für möglich gehalten hätte, und es hätte auch niemanden überrascht, wenn die Nachbarn die Polizei gerufen hätten. Zum Glück wussten alle in der Straße, wie unzertrennlich die beiden Mädchen waren, und wunderten sich über das Drama daher kaum. Sie hatten es vermutlich sogar kommen sehen.

Preema und Nicole waren auf den Tag genau fünf Jahre, sieben Monate und siebenundzwanzig Tage alt. Sie waren am selben Tag, im selben Krankenhaus, im Abstand von exakt drei Minuten und dreizehn Sekunden geboren worden. Sie gehörten zu den ersten einhundert Millenniumskindern, die am 1. Januar im Jahr 2000 geboren worden waren, und auf der Neugeborenenstation lagen sie in ihren Bettchen nebeneinander. Auch wenn sie sich daran nicht mehr selbst erinnern konnten, so hatten es ihnen ihre Eltern doch oft erzählt. Die Mädchen liebten diese Geschichte. Sie gab ihnen das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein.

Von den ersten Atemzügen an also bis hin zum heutigen Tage waren Nicole und Preema miteinander aufgewachsen, denn auch die Wohnungen ihrer Eltern lagen zufällig direkt nebeneinander auf demselben Stockwerk eines Mehrfamilienhauses. Sie teilten sich sogar einen großen, durchgehenden Balkon, der einst durch einen Sichtschutz in der Mitte getrennt worden war. Den Sichtschutz allerdings hatten Nicole und Preema im Alter von drei Jahren niedergerissen und das Ansinnen der Eltern, ihn zu reparieren, war von den beiden starrköpfigen Töchtern jedes Mal aufs Neue zerstört worden. Am Tage ihrer Geburt schien das Schicksal selbst Nicole und Preema vereint zu haben und jeder, der versuchte, sich ihnen in den Weg zu stellen, würde es bereuen. Nun aber sollten sie getrennt werden und das bloß aus dem einen Grund, dass Nicoles Eltern in einer absurden Laune beschlossen hatten, dass noch ein Kind her musste. Ein Schwesterchen für Nicole, dabei hatten Nicole und Preema längst die Schwester, die sie wollten, ineinander gefunden. Wie kamen die Grebes bloß darauf, dass ein neues Baby Preema einfach ersetzen könnte? Nein, dieses ganze Projekt ›Gnomi‹ war nicht in Ordnung, fanden die beiden Mädchen, und sie hätten nichts dagegen gehabt, wenn die Grebes das plärrende Ungetüm dem Storch zurück in den Schnabel gestopft hätten, der so frech gewesen war, Gnomi in Nicoles Zuhause abzuladen.

Während das Getobe und Gezeter in einer lauten Schallwelle schneidender Töne weiter durch die Straße rollte, alles Getier mit Selbsterhaltungstrieb verscheuchte und dafür jeden Nachbarn auf die Straße oder zumindest ans Fenster lockte, unternahmen Preema und Nicole einen letzten Versuch, das Unabwendbare doch noch zu verhindern. Nicoles Vater aber hob seine Tochter von den Füßen und das Mädchen reckte die Arme verzweifelt nach Preema. Preema wiederum wehrte sich so gut sie konnte gegen den Griff ihrer Mutter, die den Arm unnachgiebig um Preemas Körpermitte gewickelt hatte. Die Kinder bekamen ihre Hände ein letztes Mal zu fassen und zogen so fest aneinander, dass ihre Eltern ein Stück vorwärts stolperten und beinahe mit den Köpfen aneinanderstießen. Einen Moment später wurde die Verbindung jedoch endgültig zertrennt. Nicole rief ihrer Freundin zu, dass sie Preema niemals vergessen werde. Dann war sie plötzlich fort, verschwand kreischend im vollgepackten Wagen ihrer Eltern und hämmerte mit kleinen Fäusten gegen die Heckscheibe, bis sie in den Gürteln des Kindersitzes gefangen war. Kurz darauf heulte der Motor auf, und der Wagen fuhr einfach los. Kleiner und kleiner wurde das Auto, das Nicole für immer aus Preemas Leben forttrug. Denn wie sollten die Mädchen diese unendliche Strecke von einer Flussseite auf die andere je bewältigen können? Mit ihren kleinen Beinen würden sie das niemals schaffen und ihre Eltern würden sie ohnehin nie über die Brücke gehen lassen. Es war ein dunkelschwarzer Tag für die Kinder.

Die kleine Preema schaute dem Wagen verzweifelt und weinend nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Nicole war fort und Preema am Boden zerstört. Die Welt würde nie wieder so sein, wie sie einst war.

Heute

Ach, Nicole. Was für eine schöne Zeit die beiden Mädchen zusammen verbracht hatten. Die Erinnerung tat so weh wie das Ereignis selbst. Frisch und roh wand sich das Verlustgefühl durch Preemas Brust, in einer Intensität, die Preema überraschte. Dennoch umspielte ihre Lippen auch ein Lächeln. Nicole, das temperamentvolle Mädchen mit dem roten Haar, sprang für einen kurzen Moment vor Preemas Augen umher und löste sich mit dem nächsten Blinzeln in Schall und Rauch auf. Preemas Herz war plötzlich voller Liebe für die Schicksalsschwester, die gleich neben ihr gelebt hatte. Sie hatten so viel Zeit im Haushalt der anderen verbracht, dass sich ihre beiden Familien wie eine einzige angefühlt hatten. Was wohl aus Nicole geworden war? Hatten sie beide sich nach diesem Tag je wiedergesehen?

Preemas Gedächtnis besaß die Antworten auf diese Fragen derzeit nicht. Ihre Erinnerungen reichten nicht weiter als bis zu diesem Tag im August 2005. Dennoch freute sie sich ungemein, ein kleines Puzzleteil von sich selbst wiedergewonnen zu haben. Sie war jemand. Sie war kein ganz leeres Blatt, unbeschrieben wie der weiße Raum, in dem sie erwacht war. Sie drückte die Hände gegen die Brust und versuchte, die Gefühle festzuhalten, die mit der Erinnerung gekommen waren, doch sie verflüchtigten sich schnell, als gäbe es keinen Platz für sie an diesem Ort. Doch auch wenn die Empfindung verblasste, die Erinnerung blieb strahlend hell in Preemas Gedächtnis. Nichts würde ihr diesen Moment ihres Lebens wieder wegnehmen können.

»Preema, hörst du mir zu?«

»Was?« Preema blinzelte desorientiert. David stand vor ihr und schaute sie erwartungsvoll an. »Tut mir leid, ich war in Gedanken versunken.«

»Das war nicht zu übersehen. Hast du dich an etwas erinnert?«

»Ja, woher weißt du das?«

David hob kurz die Schultern. »Ich kenne diesen abwesenden Blick ganz gut.« Er zwinkerte ihr zu. »War es eine schöne Erinnerung?«

»Ja und nein. Ich habe mich an meine beste Freundin aus Kindheitstagen erinnert. Nicole Grebe.«

»Und das ist keine gute Erinnerung?« David schaute sie wohl zu Recht verwundert an.

»Nicht, wenn besagte Freundin gerade mit ihren Eltern im Familienkombi verschwindet und man davon überzeugt ist, sie nie wiederzusehen. Der reinste Weltuntergang war das«, scherzte Preema, bis ihr schlagartig wieder einfiel, weshalb sie überhaupt hier war, und sie prompt ein schlechtes Gewissen bekam. Weltuntergangsscherze waren ab sofort nicht mehr lustig. David schien den kleinen Fauxpas jedoch entweder nicht zu bemerken oder absichtlich zu überhören und Preema atmete erleichtert aus. Das Letzte, was sie im Augenblick brauchte, war, dass sie den vielleicht einzigen anderen Überlebenden mit unbedachten Äußerungen vergraulte.

»Das war nur die erste Erinnerung von vielen, die noch folgen werden. Aber zunächst heiße ich dich auf der Lichtung willkommen«, sagte David und schwenkte seinen Arm in einer einladenden Geste durch die Luft.

Preemas Blick folgte der Bewegung seiner Hand und ihre Lippen öffneten sich erstaunt, doch sie brachte keinen Ton heraus. Lichtung. Das war eine schamlose Untertreibung für das malerische Paradies, das sich vor ihr aufbaute. Es gab so viel zu entdecken, dass Preema nicht wusste, wo sie zuerst hinsehen sollte. Die Lichtung war nicht bloß eine grüne Wiese mit ein paar Blumen und Bäumen darauf, wie Preema es erwartet hätte. Die Lichtung war eine Insel und Preema stand mit David am Rande dieser begrenzten Welt, auf den letzten Ausläufen einer Wiese, die in bunte Blumenfelder überging. Richtig üppige Felder, wie Preema sie noch nie gesehen hatte. Es gab Hügel in den prächtigsten Farben. Leuchtend roter Klatschmohn bedeckte den einen, ein violettes Lavendelfeld den anderen. Sattgelbe Sonnenblumen hier und unzählige blaue Veilchen dort. Irgendwo hinter den bunten Hügeln zeichnete sich die Silhouette eines riesigen Waldes ab. Über der Insel hing ein Himmel, der azurblau, aber nur ein Trugbild vor der endlosen Weiße war. Wie eine riesige Scheibe schwebte er über der Lichtung.

Ein sanftes Plätschern drang an Preemas Ohr und sie schaute zu Boden. Zwischen den Gräsern und Blumen schlängelte sich ein kleiner Bach vorbei an Preemas Füßen. Ihre Blicke folgten seinem Verlauf, bis sie ihn über den Rand der Insel in die weiße Leere fallen sah. Aus dem Augenwinkel nahm sie etwas Glänzendes wahr und sie schaute auf, nur um vor Staunen zu erblassen. Die Insel war umringt von Bergen und Felsen. So massiv und gewaltig, wie Preema noch nie welche gesehen hatte, und doch schienen sie schwerelos in der Luft zu hängen. Zwischen dem Gebirge und der Insel lag eine weite Schlucht, die verhinderte, dass irgendjemand die grauen Riesen je erreichen würde, und der Fuß der Berge wurde blasser, je tiefer sie reichten, bis sie sich gänzlich im weißen Dunst verloren. Die Schlucht ließ nicht erkennen, ob es überhaupt einen Grund gab.

Preema war zu beeindruckt, um sich zu fragen, wie sie und David überhaupt auf die Insel hatten gelangen können. Es gab keine Brücken oder andere sichtbare Übergänge. Auch die Öffnung, durch die sie gekommen waren, hatte sich ohne jede Spur wieder geschlossen.

Preema griff nach Davids Hand, bevor sie sich vorsichtig über den Rand der Insel beugte, um herauszufinden, wohin das Wasser des Bachs floss und was weiter unten vor sich ging. Doch sie konnte den Grund nicht sehen. Das Wasser verschwand in den Nebeln des weißen Raums. Die endlose Tiefe flößte ihr einen Heidenrespekt ein, so dass sie schnell wieder vom Rand dieser Welt zurücktrat und ungläubig den Kopf schüttelte. Noch mehr Rätsel, noch mehr Fragen. Weshalb hatte Preema die Berge nicht bemerkt, als sie im weißen Raum umhergeirrt war? Sie waren gigantisch und mussten kilometerweit zu sehen sein. Der Anblick dieser Felsen war schwindelerregend und machte Preema bewusst, wie klein und verletzlich sie selbst war. Winzig, wie ein Käfer. Silbern reflektierende Wasserfälle stürzten aus dutzenden Öffnungen im Gestein der Berge in die Tiefe und erschufen in unregelmäßigen Abständen Regenbögen, die über die Schlucht hinwegreichten und sich mit der farbenfrohen Natur der Lichtung verbanden. Vielleicht waren Preema und David über einen Regenbogen gelaufen, um hierherzugelangen? Sie schüttelte den Kopf ob dieser absurden Idee. Das hier war sicher nicht Asgard und die Regenbögen kein Bifröst. Märchen und Sagen würden sie hier nicht weiterbringen, auch wenn der ganze Ort ausgesprochen metaphysisch wirkte.

»Sind wir tot?«, fragte Preema ohne jede Spur von Humor. David lachte dennoch laut auf.

»Wie kommst du denn auf die Idee?«

»Sieh dich doch um. Das hier ist keine Lichtung, das ist ein Paradies und es schwebt im Nichts«, gab sie zur Antwort.

»Wenn du jetzt schon beeindruckt bist, wirst du den Rest lieben.«

»Wir sollen hier hoffentlich nicht das neue Adam-und-Eva-Gespann darstellen.«

David lachte herzhaft. »Das würden die anderen sicher anprangern. Komm, ich zeige dir, was es noch alles zu entdecken gibt.«

Preema hatte keinen Zweifel daran, dass es hier unendlich viele Dinge zu entdecken gab, vielleicht waren darunter auch ein paar Antworten.

»Augenblick, sagtest du gerade ›die anderen‹? Heißt das, dass es hier noch mehr Menschen gibt?«

David nickte. »Dutzende. Vielleicht hunderte. Die Insel ist groß.«

»Wie sind die alle hierhergekommen?«

»Wer weiß? Vielleicht hat der Storch sie gebracht.« David lachte erneut, doch bevor Preema etwas darauf erwidern konnte, war ihr Geist schon wieder woanders.

Damals • 2. Oktober 2005

Preema und Nicole schauten Tahir Anand unnachgiebig an und hatten die kleinen Fäuste in die Hüften gestemmt. Sie waren wild entschlossen, diesem Spuk hier und jetzt ein Ende zu setzen. Nicole war heute zu Besuch bei Preema und durfte auch über Nacht dableiben. Das fanden beide Mädchen sehr gut, doch es war lange nicht so gut wie damals, als sie einfach nur über den Flur laufen und an die Tür der Freundin hatten klopfen müssen, wenn sie sich treffen wollten. Jetzt sahen sie sich nur noch alle paar Tage einmal, wenn es die Eltern einrichten konnten, sie vorbeizubringen. Es war ein nicht tolerierbarer Zustand. Doch was das Fass nun endgültig zum Überlaufen gebracht hatte, war, dass Preema und Nicole erfahren hatten, dass sie im nächsten Jahr nicht auf dieselbe Schule kommen würden. Verschiedene Flussseiten bedeuteten offenbar auch, dass die Kinder auf unterschiedliche Schulen geschickt werden mussten.

»Ist das wirklich nötig?«, fragte Tahir Anand, den die Blicke der Mädchen förmlich durchlöcherten.

»Schreib jetzt, Baba!«, forderte Preema streng.

»Aber …«

»Kein Aber«, setzte Nicole mit erhobenem Zeigefinger nach.

Tahir Anand seufzte, schob das aktuelle Agenturprojekt von seinem Schreibtisch, legte ein leeres Blatt vor sich und setzte den Kugelschreiber an. Er begann laut mitzusprechen, was er auf das Papier übertrug:

An die Storchzentrale

Abteilung für Beschwerden und Reklamationen

Betreff: Baby-Rückgabe

 

Sehr geehrte Damen und Herren Störche,

 

wir, Nicole Grebe und Preema Anand, möchten uns in aller Form beschweren. Vor fünf Monaten wurde Nicole eine Schwester zugestellt, die wir beide nicht haben wollten. Wir sind ganz außerordentlich verärgert und wollen ›Gnomi‹ keinen Tag länger behalten. Sie ist lästig, laut und man kann überhaupt nichts mit ihr anfangen.

---ENDE DER LESEPROBE---