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Sameena Jehanzeb

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Beschreibung

MAGISCH. WITZIG. MÖRDERISCH. »Ein Tag fängt nicht gut an, wenn einem die Katze in den Brunnen kotzt.« Unbemerkt von ihren Bewohnern ist die Erde über magische Adern mit dem fernen Planeten BRÏN verbunden. Als Juno eines Morgens in eine Pfütze stolpert, betritt sie unwissentlich ein Portal, das sie ans andere Ende des Universums katapultiert. Ausgerechnet zu einer Zeit, da die Magie aus den Fugen gerät, ein bestialischer Mörder durch die Gassen streift und albtraumhafte Kreaturen das Fortbestehen der Welt bedrohen, ist Juno plötzlich auf BRÏN gestrandet. Damit nicht genug: Die berüchtigte Weltenwächterin Shi Kamika scheint es auf Juno abgesehen zu haben. Ist die Wächterin Freund oder Feind? Mit magischen Pfeilen im Köcher und einem Hauch von Schabernack in den Mundwinkeln schickt sich Shi Kamika an, Junos Leben noch gründlicher auf den Kopf zu stellen.

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Sameena Jehanzeb

BRÏN

Besuchen Sie die Autorin im Internet:www.sameena-jehanzeb.de

Ebenfalls erschienen:

Was Preema nicht weiß

Winterhof

Runa. Eine kurze Geschichte vom Winterhof

Impressum:

BRÏN

1. Auflage

Überarbeitete Neuausgabe 2020

Erstveröffentlichung im August 2017

© Sameena JehanzebEifelstr. 4 | 53119 [email protected], Illustration: saje design, www.saje-design.deLektorat, Korrektorat: Maike Claußnitzer

Alle Rechte vorbehalten.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Dieser Roman enthält Themen, die bei manchen Menschen negative Reaktionen auslösen können. Eine Auflistung dieser Themen kann über den aufgeführten QR-Code oder durch Direkteingabe im Browser abgerufen werden:

www.sameena-jehanzeb.de/inhaltswarnungen

Für all meine Sheroes, Heroes

und In-Betweenoes.

Prolog

Jeanne

Terra im Mai 1431 n. Chr.

Rouen, Normandie

Es war Maries fünfzehnter Geburtstag. Damit war sie eine richtige Frau, und man sah es ihr bereits an. Ihre Brüste hatten in den letzten zwei Jahren begonnen, sich zu verführerischen, hellen Äpfeln zu formen, und ihr Rumpf zeigte eine geschmeidige Rundung, die in lange, schlanke Beine überging. Obwohl sie aus einer Bauernfamilie stammte, wenn auch aus recht wohlhabender, war Maries Haar immer gepflegt und glänzte wie Mondlicht, das auf die seichten Wellen eines Sees traf. Es fiel ihr wie ein rotbrauner Wasserfall bis hinab auf den Ansatz ihres wohlgeformten Pos, und wenn Marie gedankenverloren eine Strähne durch die Finger zwirbelte, dann war das ein hypnotischer Anblick, der einen alles andere stehen und liegen ließ. Ihre dunklen Lippen schoben sich in solchen Momenten zu einem angedeuteten Schmollmund vor, den sie gelegentlich mit der Zungenspitze anfeuchtete und damit auch noch zum Glänzen brachte. Sie war eine wahrlich süße Erscheinung.

Marie duftete außerdem immer nach Wildrosen. Ihre Mutter züchtete sie im Garten, und man hätte den Verdacht hegen können, dass sich das Mädchen die blasse, seidige Haut mit den Blütenblättern abrieb. Heute trug sie ein Kleid in der Farbe lieblicher Vergissmeinnicht. Das Blau harmonierte perfekt mit Maries wasserblauen Augen und ließ ihr ohnehin immer strahlendes Lachen noch schöner erscheinen. Ihre Stimme klang glockenhell. Eine Melodie wie der Gesang von Engeln, die im Herzen ihrer Bewunderer eine ganz besondere Saite erklingen ließ. Bewunderer hatte sie viele.

Jeanne sah an sich selbst herab. Sie war erst vor Kurzem dreizehn Jahre alt geworden, und ihr Körper ähnelte noch mehr dem eines Kindes als dem einer Frau. Ihre Brust war flach, ihre Taille schmal und ihre Beine erweckten den Eindruck von zwei staksigen Stöcken mit knubbeligen Knien. Ihre strohblonden Haare waren glatt, aber es schien unmöglich, sie auf elegante Art zu flechten. Stattdessen fielen ihr immerzu unzähmbare Strähnen ins Gesicht. Außerdem war sie viel zu groß für ein Mädchen. Schon jetzt überragte sie ihre ältere Freundin um wenigstens zwei Finger breit und es mangelte Jeanne in jeder Weise an der Anmut Maries. Gleichzeitig fühlte sich Jeanne aber schon sehr erwachsen, und sie empfand Dinge, die ihr sehr erwachsen vorkamen. Deswegen musste sie heute mit Marie sprechen, bevor es dafür zu spät war. Jeannes Finger zitterten, obwohl ihre Furcht unbegründet war. Schließlich vertraute sie Marie so sehr wie niemandem sonst auf der Welt.

Als Jeanne Marie am Brunnen sitzen sah, eingehüllt in das Licht des Vollmondes, lief sie zu ihrer Freundin und ließ sich auf den Brunnenrand neben sie fallen. Marie zog die Finger aus dem kühlen Wasser, sah zu ihrer Besucherin auf und lächelte fröhlich.

»Jeanne! Da bist du ja. Wo hast du dich so lange versteckt?«

»Hier und da«, grinste das jüngere Mädchen heiter. »Ich habe dich beobachtet und aufgepasst, dass dich niemand wegstiehlt!«

Marie lachte und warf den Kopf zurück. »Ach, Jeanne, du bist so süß.«

»Wer war das, mit dem du eben getanzt hast?«, fragte Jeanne betont beiläufig. In Wahrheit war sie natürlich sehr neugierig.

»Irgendwer«, gab Marie desinteressiert zurück.

»Das sah nicht aus wie irgendwer. Er hat dich geküsst.«

»Dafür bist du noch zu jung, Jeanne.«

Jeanne gab ein leises, undamenhaftes Grunzen von sich. »Ich bin kein Kind mehr, Marie.«

Wieder ihr fröhliches Lachen. »Aber natürlich bist du das.«

Jeanne griff nach Maries Hand und drückte sie ganz fest. »Ich bin noch nicht sehr hübsch, das weiß ich, Marie. Aber in ein paar Jahren werde ich es sein. Für dich.«

»Für mich? Jeanne! Was redest du denn für einen Unsinn?« Marie kicherte und strich dem Mädchen mit der freien Hand über das ewig zerzauste Haar.

»Wir gehören doch zusammen, Marie. Oder nicht?«

Marie nickte. »Freundinnen fürs ganze Leben.«

»Fürs ganze Leben, ja genau.« Jeannes Finger strichen zart über Maries Wange, und sie spürte das nervöse Klopfen in der Brust. »Das ganze Leben«, sagte sie noch einmal. Der Moment war gekommen. Jeanne beugte sich vor, nahm Maries Gesicht zärtlich in die Hände und küsste die Ältere rasch auf die Lippen, bevor sie der Mut verließ. Die Schmetterlinge flatterten wild in ihrem Bauch und das Blut rauschte in ihren Ohren.

Maries Reaktion kam so prompt und hart wie der Aufprall, der damit einherging. Der Stoß gegen die Brust verschlug Jeanne beinahe den Atem. Sie rutschte vom Brunnenrand und landete unsanft auf dem Boden. Verwirrt setzte sie sich auf und schaute mit geweiteten Augen zu Marie, die aufgesprungen war und sich mit dem Handrücken die Lippen rieb. Ihr Gesicht, sonst das perfekte Antlitz einer Madonnenstatue, war zu einer Grimasse verzogen, und Jeannes Welt zerbrach, als sie darin nichts als Abscheu erkannte. »Marie«, flüsterte sie, kam flink auf die Füße und reckte die Hände nach ihrer Freundin.

Doch Marie wich mit einem Quieken in der Stimme zurück. »Bleib weg!«, rief sie. »Was denkst du denn?«

»Aber wir lieben uns doch, Marie.«

»Lieber Gott!«, Marie schlug ein Kreuz über der Brust. »Wofür hältst du mich? Ich bin doch nicht … ich bin doch keine …« Sie konnte es nicht einmal aussprechen, so sehr entsetzte sie der Gedanke.

»Bitte sieh mich doch nicht so an, Marie«, flüsterte Jeanne. Sie kämpfte mit den Tränen. Ihr schlaksiger Körper zitterte wie Espenlaub.

»Wie sonst sollte ich dich ansehen? Du hast versucht, mich zu küssen!« Marie spuckte auf den Boden und achtete nicht darauf, wie sehr Jeanne diese Geste schmerzte und zusammenzucken ließ. »Wenn du mir noch einmal zu nahekommst, erzähle ich allen, was du getan hast, und dann sperren sie dich in einem Kloster weg. Wenn du Glück hast!«

»Marie!«

»Das ist so abstoßend. Ich will dich nie mehr wiedersehen!«, rief Marie und rannte zurück zu der hell erleuchteten Feststube.

»Marie!«

»Verschwinde!«

Jeannes Lippen zitterten, und ihrer Kehle entfuhr ein Wimmern, das an einen getretenen Hundewelpen erinnerte. Das Mädchen sank auf den Boden und schlang die Arme um die drahtigen Beine. Das hatte sie sich alles ganz anders vorgestellt. Sie hätte nie erwartet, dass Marie so gemein zu ihr sein würde und ihre Gefühle unerwidert blieben.

Schluchzend verbarg sie das Gesicht zwischen den Knien und spürte den kühlen Stein des Brunnens in ihrem Rücken. Eine kantige Spitze bohrte sich zwischen ihre Rippen, und sie rutschte auf dem Boden herum, um ihre Position zu verändern. Doch der Schmerz breitete sich eher noch weiter aus, anstatt nachzulassen. Ein brennendes Stechen durchdrang ihre ganze Seite und sie spuckte Blut.

»Au«, jammerte sie kaum hörbar, »au.«

Die Gegenwart brach unbarmherzig in Form dreckiger Lederstiefel, die ihr in die Rippen gerammt wurden, über Jeanne herein. »Aufwachen, Ketzerin! Genug ausgeruht.«

Jeanne rollte sich herum, um ihre bereits zur Genüge lädierte Körperhälfte vor weiteren Tritten zu schützen. Offenbar hatte die Erinnerung an Maries Abweisung Jeanne noch verwundbarer gemacht. Die körperlichen Schmerzen waren auf jeden Fall schwerer zu ertragen als vor dem Traum. Wie lange war sie schon in diesem Loch? Tage? Wochen? Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass sie ihr Heimatdorf verlassen hatte und mit den Soldaten in den Krieg gezogen war. Die gefeierte Heldin, die Jungfrau mit den Visionen. Sie hätte wissen müssen, dass es nicht ewig gut gehen konnte. Sie hätte wissen müssen, dass ihre eigenen Leute sie fallen lassen und dann noch einmal zutreten würden. So wie es Marie vor all den Jahren mit ihr gemacht hatte. Man durfte eben niemandem vertrauen.

»Nur zu, Bastard«, röchelte Jeanne und wischte sich das Blut aus den Mundwinkeln, »tritt noch einmal zu! Ich glaube, es sind noch ein paar heile Rippen übrig!« Sie lachte mit unverhohlener Verachtung.

Der Wachmann packte sie an den Haaren und stieß sie quer durch die Zelle. Sie prallte gegen die Wand und fiel wie ein nasser Mehlsack zu Boden. Jeanne keuchte und versuchte, auf alle viere zu kommen. Der große Kerl über ihr trat ihr noch einmal wuchtig in die Seite, und sie hätte beinahe gelacht, als sie spürte, wie die nächste Rippe brach. Doch statt eines Lachens hörte sie sich schreien. Jeannes Kleider hingen bereits in Fetzen an ihr herunter. Der Mann riss ihr nun auch den letzten Rest vom Leib. Trotz ihrer Schmerzen lugte sie zwischen den verfilzten Haaren hervor und warf dem massigen Kerl einen hasserfüllten Blick zu. Er fummelte an seiner Hose herum und versuchte sich freizumachen. Dazu also war er hergekommen. Wie einfallslos.

Nicht mit mir, dachte Jeanne. Sie spuckte Blut und sammelte jedes Fünkchen Kraft zusammen, das noch in ihr stecken mochte. Sie würde eher sterbend untergehen als geschändet von einem verlausten Schwein ohne Ehre. Während er sich mit seiner deutlich sichtbaren Erregung zu ihr hinabbeugte, schloss Jeanne eine Hand um den Dreck des Zellenbodens und atmete ein letztes Mal so tief ein, wie ihre Lungen es erlaubten. Sie ignorierte den stechenden Schmerz, der damit einherging. Als die rauen Hände des Wärters ihren Schenkel berührten, entfesselte sie ihre ganze Wut. Sie warf sich herum und schleuderte ihm den Dreck genau in die Augen. Er fluchte und zog sich ein Stück zurück, um sich das Gemisch aus Dung, Kotze und was immer sich sonst noch in diesem Loch gesammelt hatte, aus dem Gesicht zu klauben. Sie wartete nicht, bis er sich sortiert hatte. Stöhnend stemmte sie sich auf, suchte Halt an der feuchten Kerkerwand, biss die Zähne zusammen und trat mit aller Kraft zu. Die Bewegung schickte ein Feuerwerk von Stichen durch ihren zerschundenen Körper, doch sie ignorierte es. Ihr Tod war unvermeidlich, es gab keinen Grund, noch zimperlich zu sein. Ihr drohte der Scheiterhaufen, da kam ihr die Möglichkeit, vorher ihren Verletzungen zu erliegen, wie ein Segen vor.

Ihr Tritt hatte den Mistkerl hart genug getroffen, um ihn an die gegenüberliegende Wand der Zelle zu stoßen. Sie sah eine aufgeplatzte Lippe und einen rötlichen Fleck um sein Auge, der sich bald zu einem satten Bluterguss entwickeln würde. Sie glaubte zu lächeln, war sich aber nicht sicher, ob ihre Gesichtsmuskeln dazu noch fähig waren. Es spielte keine Rolle. Es war ein befriedigendes Gefühl, so oder so. Eines, das leider nicht sehr lange vorhalten würde. Der Mann raffte sich bereits wieder auf und sah entschlossener denn je aus. Sie hatte natürlich damit gerechnet, dass ihre Gegenwehr ihn nicht allzu sehr beeinträchtigen würde. Dafür waren ihre Tritte nicht mehr kräftig genug, und ihre eigenen Verletzungen behinderten sie. Den nächsten Angriff des Mannes würde sie vermutlich nicht abwehren können. Mit etwas Glück würde sich im Handgemenge eine der gebrochenen Rippen in ihr Herz bohren, bevor ihr der Bastard mit seinem Geschlechtsteil zu nahekommen konnte.

Jeanne sah seine Bewegung wie durch einen Schleier. Vielleicht würde sie auch bloß ohnmächtig werden und mit dem, was er ihr währenddessen antat, später fertigwerden müssen. Bei der Vorstellung drehte sich ihr der Magen um, und wäre noch etwas darin gewesen, hätte sie sich übergeben. Sie zog sich so weit wie möglich in sich selbst zusammen, machte sich klein und rund und kauerte sich in die Zellenecke. Er ragte über ihr auf und leckte sich grinsend das Blut von der Lippe. »Wehr dich nur, ich mag widerspenstige Stuten.«

Jeanne funkelte ihn an. Sie wünschte sich, ihre Blicke wären imstande, ihn zu durchbohren. Sie würde nicht lange fackeln. Ein sauberer Stich ins Herz und Ende. Was gäbe sie jetzt nicht alles für ein Messer.

»Was geht hier vor sich?«

Jeannes Kopf und der des Wärters fuhren herum zu der neuen Stimme: ein zweiter Wärter, jünger, besser in Form, sauberer als ihr aktueller Gegner, mit dunklen, aber gewollt positionierten Stoppeln im Gesicht. Dazu fremdländische Gesichtszüge, sonnengebräunte Haut, seltsam leuchtende Augen, die wie zwei glühende Kohlen in ihren Höhlen ruhten. Seine Mimik zeigte Verachtung und Besorgnis. Eine merkwürdige Kombination, fand Jeanne.

»Scher dich zum Teufel«, knurrte Jeannes Angreifer dem neuen Besucher zu. »Du kannst sie später haben.«

»Du Scheißkerl bewegst deinen stinkenden Wanst jetzt aus der Zelle oder ich schlage dir den Kopf gleich hier ab und spieße ihn draußen zur Warnung auf.«

Schönere Worte hatte Jeanne selten gehört.

»Was bildest du dir ein, Bursche? Mach dich weg, sonst fängst du dir eine, dass dir morgen noch die Ohren klingeln«, erwiderte der Scheißkerl.

Der Jüngere machte eine blitzschnelle Bewegung. Jeanne fragte sich, ob sie vielleicht kurz ohnmächtig geworden war, denn er erschien ihr beinahe übermenschlich schnell. Mühelos wurde der schwerere Mann an die Wand gedrückt, und seine Füße zappelten machtlos ein paar Zoll über dem Boden. Der Jüngere hielt ihn am ausgestreckten Arm oben, als wäre sein massiger Gegner federleicht. Seine andere Hand lag nun über Nase und Mund des zappelnden Wärters. Der schrie mit erstickter Stimme und schlug hilflos mit den Armen nach dem Gesicht seines Angreifers. Doch der junge Wärter gab nicht nach und nahm die Bemühungen seines Gegenübers mit stoischer Gelassenheit hin, als wäre das zappelnde Etwas am Ende seines Armes nicht mehr als ein aufgeschrecktes Huhn.

Jeanne nahm den entfernten Geruch von Feuer wahr. Der ältere Wärter hörte schnell auf zu strampeln, seine weit aufgerissenen Augen erstarrten, die Arme fielen leblos an den Seiten herab. Als der junge Wärter den Arm zurückzog, sackte der ältere mit einem dumpfen Geräusch auf den strohbedeckten Boden. Jeanne glaubte, eine schwarze Rauchwolke aus seinem halb offenen Mund entweichen zu sehen. Ihre Sinne spielten ihr eindeutig Streiche.

Der siegreiche Wärter wandte sich zu ihr um. Sie begegnete seinem Blick und studierte die Miene des Mannes, um dessen Absichten auszumachen. Doch sein Gesicht war eine perfekte Maske, die nichts preisgab. Aufgrund seiner Jugend und des gepflegten Äußeren wirkte er auf den ersten Blick weniger bedrohlich, doch hinter den funkelnden Augen erkannte Jeanne instinktiv den Jäger in ihm. Der hier war nicht etwa ein freundlicher Samariter, er war ein Wolf im Schafspelz. Er machte einen langsamen Schritt auf sie zu und Jeanne schloss mit einem bitteren Seufzer die Augen. Sie atmete flach und betete darum, dass ihr Körper endlich zu kämpfen aufhören und sie sterben lassen möge.

»Sieh mich an«, hörte sie ihn mit einer derart sanften Stimme sagen, dass ihr die Angst mit tausend Spinnenbeinen über den Rücken lief. »Jeanne, sieh mich an.« Sie gehorchte mit Mühe. »Du darfst jetzt nicht aufgeben. Du musst durchhalten.«

»Wozu?«, gab sie röchelnd zurück. »Damit du mich brennen sehen kannst?«

Der Sarkasmus in ihrer Stimme schien den Wärter heimlich zu amüsieren und entlockte seinem Mundwinkel ein Zucken. »Du wirst nicht brennen.«

»Hinter welchem Stein haben sie dich hervorgezogen? Weißt du nicht, wer ich bin? Morgen früh stellen sie mich auf den Scheiterhaufen, und bei Gott, ich werde brennen wie eine Fackel. Wenn ich die Chance habe, vorher zu sterben, dann werde ich sie gerne nutzen, Mann. Hast du vielleicht Lust, mir dabei zu helfen?«

»Hör mir jetzt zu, Jeanne. Du musst diese Nacht überstehen, wenn du leben willst. Sie werden dich morgen auf den Scheiterhaufen stellen, ja. Sie werden das Feuer entfachen und du wirst schreien.«

Jeanne hätte bereits jetzt gerne geschrien. Genügte es denn nicht, dass sie lebendig verbrannt werden würde? Warum musste er ihr noch mehr zusetzen? Hatte er sie vor seinem Genossen beschützt, damit er sie am Morgen ihrer eigentlichen Strafe zuführen konnte? »Was willst du von mir? Reicht es dir nicht, was mich erwartet? Kennt ihr denn gar keine Gnade?«

»Ich versuche dich zu retten, Jeanne. Also hör zu! Sorg dafür, dass du nicht noch mehr Prügel einsteckst, bevor sie dich an den Pfahl binden. Ich kann dich nicht retten, wenn du dich vorher umbringen lässt. Verstanden?«

»Du kannst mich nicht retten, Narr. Wieso solltest du das auch wollen? Sie würden dich gleich neben mir anbinden.«

»Das lass meine Sorge sein. Wenn sie das Feuer entfachen, Jeanne, musst du schreien. Sie müssen glauben, dass du wirklich brennst, dass du Angst hast, dass du leidest, dass du stirbst. Wir müssen sie von dir ablenken. Gib ihnen, was sie wollen, dann verschwinden sie schneller.«

»Natürlich werde ich all das tun, verdammt. Glaubst du denn, irgendein heiliger Lichtstrahl wird mich retten? Es war alles gelogen. Meine Visionen sind nur Geschichten! Ein Mädchen muss erfinderisch sein, wenn es in dieser Welt überleben will.«

»Das ist nicht wichtig. Du wirst beschützt werden und nichts spüren. Das verspreche ich dir.«

Jeanne lachte knapp und freudlos. »Wenn du nicht vorhast, mich umzubringen, dann lass mich einfach in Frieden und geh.«

»Du glaubst mir nicht, verständlich. Aber ich weiß, dass du leben willst, und deswegen wirst du tun, was ich sage. Hier.« Der Wärter zog eine kleine Phiole aus seinem Wams, in der eine milchig weiße Flüssigkeit aus sich selbst heraus leuchtete. Er nahm den Verschluss ab und hielt Jeanne das Fläschchen an die Lippen. »Trink das.«

»Was ist das?«

»Wasser.«

Sie schnaubte und neigte den Kopf zur Seite. Der Mann fasste bestimmt nach ihrem Kinn und zwang sie, den Mund zu öffnen. Er flößte ihr das Wasser ein und hielt ihr schnell den Mund zu, ehe sie es ausspucken konnte. Jeanne versuchte sich zu widersetzen, doch ihre Wunden hatten sie zu sehr geschwächt. Sie schluckte. Was spielte es noch für eine Rolle, ob er sie vergiftete oder betäubte?

Die Flüssigkeit lief ihre trockene Kehle hinab und begann sich sofort spürbar im ganzen Körper auszubreiten. Die Schmerzen in Jeannes Brustkorb ließen plötzlich nach, das Atmen fiel ihr leichter und sie sog die Luft tief in die Lunge ein. Sie spürte die Tränen über ihre Wangen laufen, spürte das geschwollene Gesicht, die abgerissenen Fingernägel, die unzähligen Wunden auf ihrem Körper. Die Verletzungen waren noch da, doch die Schmerzen schienen geringer als bisher.

»Was war das wirklich?«, fragte Jeanne erstaunt und mit einer Stimme, die so klar und stark wie seit Tagen nicht mehr in der Zelle erklang.

»Wie ich schon sagte, Wasser. Heilwasser.«

»Das ist ein verflucht gutes Heilwasser.«

»Kann man so sagen, Schwester. Also, bereit, mir zu vertrauen?«

»Ich bin geneigt, es in Erwägung zu ziehen.«

»Das ist ein Anfang. Die Nacht über werde ich hier sein und den Aufpasser spielen.« Jeannes Helfer wandte sich dem toten Scheißkerl zu. »Er und seinesgleichen werden dich bis zum Morgen nicht mehr belästigen. Schlaf etwas und ruh dich aus. Morgen wird ein aufregender Tag für dich.«

»Wer bist du?«, fragte Jeanne und merkte, wie Erschöpfung und Müdigkeit sie bereits mit sich rissen.

»Ein Freund«, hörte Jeanne ihn noch sagen, bevor die Welt schwarz wurde.

Als der Morgen kam, schlug Jeanne die Augen auf. Ihr Blick fiel auf die Stelle der Zelle, an der kürzlich der tote Wärter gelegen hatte. Es war keine Spur von ihm geblieben. Sie fragte sich, ob sie alles nur geträumt hatte, ob er und der andere nur ein Gespinst ihrer Phantasie gewesen war, während sie mit dem Tod gerungen hatte. Sie fühlte sich noch immer elend und schwach, aber ihre Rippen schienen nicht gebrochen zu sein. Nicht mehr.

Das Stampfen schwerer Stiefel ließ sie aufhorchen. Sie kamen sie holen. Jeanne wehrte sich nicht, als sie auf die Beine gezogen und aus der Zelle gestoßen wurde. Sie schlurfte mit krustigen, nackten Füßen über den harten Boden und ignorierte die brennenden Schmerzen, die ihr die Schnitte in den Fußsohlen bereiteten. Brennend. Ein Anflug von Panik überkam sie bei dem Wort. Sie hatte in ihrem Leben noch niemals solche Angst gehabt. Es war nicht die Angst vor dem Tod, sondern vor den Flammen. Jeanne konnte sich keinen schlimmeren Tod vorstellen als den, lebendig zu verbrennen. Sie hatte andere Frauen brennen sehen. Hilflos an den Pfahl gebunden, flehentlich um Gnade rufend. Die entsetzlichen Schreie aus ihren Kehlen verfolgten Jeanne seit jeher, doch gerade jetzt kamen sie ihr wie eine unausweichliche Prophezeiung vor.

Der Marsch vom Gefängnis zum Marktplatz von Rouen war begleitet von Beschimpfungen. Der mordlüsterne Pöbel spuckte nach ihr, warf mit verdorbenem Gemüse und Steinen. Die Wachen stießen die ganz forschen Schaulustigen zurück in die Menge, und der Priester sang sein Gebet. Der Geruch von Weihrauch klebte in Jeannes Lunge. Als der Marktplatz in Sicht kam, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Der Scheiterhaufen erhob sich inmitten der grölenden Meute, und sein Schatten senkte sich bedrohlich über Jeanne. Ihre Füße gerieten ins Straucheln, und sie stolperte, fiel auf die Knie. Keine Sekunde später traf sie ein Hieb auf den Rücken.

»Steh auf!«

Jeanne raffte sich auf und wankte weiter ihrem Ende entgegen. Das Geschrei der Menge wurde unerträglich laut. Die Welt verschwamm vor ihren Augen, doch sie schlurfte vorwärts, unbarmherzig angetrieben von den sporadischen Schlägen auf ihr längst taub geprügeltes Kreuz. Sie prallte gegen die aufgestapelten Holzscheite und schnappte nach Luft. Ihre Füße verweigerten den Dienst. Die Rute traf sie mit drei kräftigen Hieben. Die Männer packten sie und warfen sie auf den Stapel.

»Sei stolz, Jeanne. Sei mutig. Sei stark«, flüsterte sie sich selbst zu und ließ sich von ihrem Henker an den Pfahl drücken und daran festbinden. Er wickelte ein Seil um ihren Körper, das sie nahezu vollständig bewegungsunfähig machte und ihr die Luft nahm. Jeanne hob den Kopf und sah zum Himmel auf. Ein klares Blau, nur ein paar Wolken zogen vorbei. Sie wünschte sich, sie könnte noch an einen Gott glauben, an irgendetwas, doch ihr Inneres war leer. Der Wind strich ihr sanft durch die Haare wie eine Abschied nehmende Liebkosung. Wie gerne hätte sie sich von ihm davontragen lassen. Wie ein Blatt … eine Feder im warmen Luftzug.

Der Geistliche predigte und hielt seine Rede. Jeanne blendete alles aus. Sie konzentrierte sich darauf, nicht in Panik zu geraten. Sog die Luft tief ein, atmete wieder aus und stellte sich eine bessere Welt vor. Eine Welt, in der sie sich nicht in Marie verliebt hatte, in der sie nicht versucht hatte, sie zu küssen. Eine Welt, in der sie nicht aus ihrem Zuhause flüchten musste und in der sich ihre Mitstreiter, ihr ganzes Land nicht gegen sie wandten. Eine wunderschöne Welt, in der sie willkommen war. Sie lächelte für einen seligen Moment, dann stieg ihr der Geruch von brennendem Holz in die Nase.

Jeanne wurde starr. Rauch kroch empor. Die Scheite unter ihren Füßen brannten noch nicht, doch die äußeren Holzstücke waren bereits verkohlt, und das Feuer war gierig. Es fraß sich schnell vorwärts. Jeannes Brustkorb hob und senkte sich schnell. Sie begann zu husten. Der Ruß brannte in ihren Lungen. Sie suchte die Menge ab, doch sie fand kein Mitgefühl in den Blicken der Zuschauer. Nein. Sie gierten nach ihrem Tod, sie freuten sich auf ihr bevorstehendes Leiden. Das Holz unter ihren nackten Füßen wurde wärmer. Sie starrte hinunter. Die ersten kleinen Feuerzungen schlängelten auf Jeannes Zehen zu. Sie hörte, wie sie leise, ängstliche Töne von sich gab.

»Sei stolz. Sei mutig. Sei stark. Sei stolz. Sei mutig. Sei stark. Sei stolz. Sei mutig. Sei stark«, sagte sie sich wieder und wieder vor. Die Flammen erreichten ihre Zehen und zogen ihr die Haut vom Fleisch. Sie biss die Zähne zusammen, unterdrückte den Schrei in ihrer Kehle, wimmerte verzweifelt, zerrte an ihren Fesseln. Nun war bewiesen, dass sie die Begegnung mit dem jungen Wachmann nur geträumt hatte. Diese Flammen waren mehr als real. Sie verursachten echten Schmerz. Als das Feuer nach ihren Knöcheln und Waden griff, begann sie endlich zu schreien, und die Menge tobte. Doch ihre Beine wurden schnell taub. Sie wagte es nicht, an sich hinabzusehen. Was würde sie erblicken? Zwei schwarze Kohlestumpen? Ihr Blick streifte abermals die Menge. Sie verfluchte sie alle. Wie sie vor Begeisterung tobten und johlten. Sie hasste diese Welt. Es war ein trügerischer und untreuer Ort. Es war besser, dass sie bald fort sein würde.

»Jeanne.«

Sie hörte die Stimme nicht mit den Ohren. Sie war in ihrem Kopf. Tatsächlich und wahrhaftig. War das nun Gottes sarkastische Art, ihr zu sagen, dass sie ein böses Mädchen gewesen war?

»Wir sind hier, Jeanne. Hab keine Angst. Halt dich im Feuer verborgen, bis es erlischt.«

Jeanne hätte am liebsten laut gelacht.

»Schrei! Je eher sie kriegen, was sie wollen, desto eher verschwinden sie.«

Und Jeanne schrie. Sie spürte längst nichts mehr, doch solange sie schrie, war sie noch nicht tot. Ihre Schreie würden jemand anderen verfolgen. Etwas von ihr würde in dieser Erinnerung weiterleben. Sie schrie und schrie und schrie, bis ihre Kehle wund war und die Flammen sie so hoch einhüllten, dass sie von der Außenwelt abgeschirmt war. Sie spürte noch immer nichts und war dankbar. Das Seil, das sie gehalten hatte, war längst an ihr herabgefallen, und sie hob die Hände vor die Augen. Sie stand in Flammen, aber sie brannte nicht. Sie war das Feuer selbst. Ihre Haut war fort, ihre Muskeln, ihre Knochen. Alles fort. Nur die Flammen leisteten ihr Gesellschaft und formten, was Jeanne ausmachte. Sie lachte leise oder glaubte es zu tun. Sie bewegte die feurigen Finger, strich sich über die glühenden Arme. War das möglich? Sie hob den Blick, sah hinter den Vorhang aus lodernden Flammen. Direkt vor ihr, am Rand des Scheiterhaufens, standen zwei Gestalten. Eine von ihnen war eine Ordensschwester, die die Hände im Gebet gefaltet hatte und die Lippen bewegte. Jeanne schaute geradewegs in ihre grünen Augen, und sie verstand augenblicklich, dass das Gewand dieser Frau nur eine Verkleidung war und kein Ton über ihre Lippen kam.

»Wir sind bei dir«, hörte Jeanne die falsche Schwester in ihren Gedanken sagen.

Jeannes Blick fiel ein Stück weiter rechts auf den Wärter. Er. Seine Augen waren auf sie gerichtet und glühten in der Farbe von Bernstein. Er wirkte hochkonzentriert, seine Hand war fest um eine Hellebarde verkrampft. Er rührte sich nicht, doch als er ihre Aufmerksamkeit bemerkte, legte sich ein sanftes Lächeln auf seine Lippen. Jeanne spürte, wie ihr warm ums Herz wurde, was eigenartig war angesichts ihrer Situation. Er beschützte sie. Sie wusste nicht, wie er es tat oder warum, aber sie wusste plötzlich mit absoluter Gewissheit, dass er die Flammen beherrschte, dass er sie kontrollierte, dass er die Flamme war.

Ein Freund, hatte er gesagt. Ein Freund. Jeanne lächelte zurück und setzte sich ruhig in die Holzscheite, die langsam zu Asche zerfielen.

Kapitel 1

Ein Mord zum Tee

Terra im November 1888 n. Chr.

London, England

Kamika stöhnte und stampfte sich den schnell matschig werdenden Schnee von den Stiefeletten. Was für unbequeme und archaische Dinger das waren. Ihre Edana hatte darauf bestanden, nur authentische Kleidung zu tragen. Dass Zolana ausgerechnet sie nach Terra hatte mitbringen wollen, würde Kamika ihr niemals verzeihen. Nun gut, vielleicht nicht niemals, aber sie würde es sich nicht nehmen lassen, es Zolana bei jeder sich bietenden Gelegenheit vorzuwerfen und dabei möglichst theatralisch zu übertreiben. So viel Strafe musste erlaubt sein. Denn die Wächterin sehnte sich nach ihrem Zuhause und nach ihrer restlichen Familie. Sie war es leid, in diesen unpraktischen Kleidern und auf diesem magielosen Planeten herumzuschleichen, den sie in seiner Gesamtheit schon immer verachtet hatte. An jedem Morgen in den vergangenen siebzehn Tagen hatte sie sich in eines dieser unkomfortablen Korsette schnüren lassen müssen, das ihren Bewegungsfreiraum unangenehm einschränkte und ihr die Atmung erschwerte. Modisch nannten sie das in dieser Zeitlinie. Kamika fühlte sich bloß lächerlich in diesem Aufzug und hatte ernsthafte Bedenken, was ihre Beweglichkeit im Ernstfall betraf. Noch dazu waren die Röcke an den Knöcheln grundsätzlich zu kurz, denn Kamika war größer als die meisten Frauen auf Terra, und ihre athletisch geformte Gestalt sowie ihre kurzen Haare wurden ständig tadelnd beäugt. Auf Brïn sahen die Menschen zu ihr auf. Dort war sie eine Weltenwächterin, eine Shi. Hier auf Terra war sie wie üblich ein Skandal.

Was hätte sie jetzt nicht alles für ihre Jägerkluft gegeben. Die weichen Hosen, die leichte, aber robuste Rüstung aus den modernsten Fasern Brïns … Und natürlich fehlte ihr die Jagd selbst. Bei den Adern, sie hätte nicht geglaubt, dass sie die Skrae einmal vermissen würde. Selbst ihre administrativen Pflichten wären ihr lieber gewesen als eine Mission auf Terra, noch dazu eine so ungenau definierte. Sie hasste es, ständig im Pferdedung zu stehen, einen Nachttopf für ihre Notdurft verwenden zu müssen und allgemein wie eine halbe Wilde zu leben. Sie hasste es, wie eine geistig Verwirrte behandelt zu werden, sobald sie versuchte, als Frau eine Meinung zu äußern. Sie hasste den Geruch dieser Welt, die Stille des Windes, die Intoleranz der Menschen und auch solch banale Dinge wie das schwache, rückständige Gaslicht und die Kerzen. Überall Kerzen! Für Erigen wäre das hier ein großer Spielplatz gewesen, der allerlei Streiche ermöglichte. Für Kamika war es eine Aneinanderreihung von potenziellen Brandherden. Ach, Erigen. Sie vermisste den Wächter und seine unbekümmerte, manchmal allzu kindische Art.

In ihrer Zerstreuung stieß sie mit ihrem nutzlosen Regenschirm – denn klatschnass war sie in dem kalten Schneeregen letztlich doch geworden – gegen den Tisch im Flur. Die Porzellanvase darauf geriet ins Wanken und zerschellte auf dem Boden. Sie fluchte und schob die Scherben gerade mit dem Fuß beiseite, als ein Schrei durch die kleine Pension hallte. Kamika wurde sofort eiskalt. Sie rannte. Sie stürmte die Treppe hinauf zu Zolanas Schlafzimmer und rief in einer instinktiven Reaktion die Magie des Windes zu sich. Doch es lag ein sehr weiter Weg zwischen Terra und der magischen Quelle auf Brïn, so dass ihr der Wind ungewohnt schwerfällig antwortete.

Begleitet von einem heftigen Windstoß, stürzte Kamika kraftvoll durch die hölzernen Türen. Sie nahm die Szenerie im Bruchteil einer Sekunde in sich auf. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus.

Zolana lag in einem Teich aus Blut, die Augen geschlossen. Neben ihr hockte das einfältige Hausmädchen, das ständig wie ein grauer Geist um sie beide herumlief. Sie jammerte, und ihre Wangen waren nass von den vielen Tränen. Sie schüttelte Zolana an den Schultern und blickte nun erschrocken auf, als Kamika so wild hereingestürmt kam.

»Lady Kamika, er hat sie ermordet.«

Kamika fiel neben Zolana auf die Knie, hob ihre Augenlider an, prüfte die Pupillen, den Puls. »Sie lebt noch«, sagte sie und hörte das Hausmädchen scharf die Luft einziehen.

Die Wächterin versuchte sich ein Bild von der Verletzung zu machen. Ja, ihre Freundin lebte, aber es sah verdammt schlecht aus. Überall war Blut, und Zolanas Haut wirkte bereits totenbleich. Kamika zog die Phiole mit Heilwasser aus ihrem Ausschnitt und goss es über die Wunde, die tief in Zolanas Brust klaffte. »Wer war das?«

»Ich habe ihn nicht gut sehen können«, antwortete das Hausmädchen mit zittriger Stimme. »Er trug einen langen schwarzen Mantel und auf dem Kopf einen Hut, den er tief ins Gesicht gezogen hatte. Er ist zum Fenster raus geflüchtet, als ich Lady Zolana Tee bringen wollte. Sein Messer hat er dort fallen lassen.« Sie zeigte auf eine blutverschmierte Klinge, die nahe beim Fenster lag. Ein altes Ding mit Rostflecken.

Für eine Sekunde war Kamika versucht, zum Fenster zu laufen und Ausschau nach dem Angreifer zu halten. Doch sie wusste, es würde niemand zu sehen sein. Es war schon zu dunkel, und die Laternen boten da keine Abhilfe. Die Straßen dieser Stadt waren eng und verworren, und es reihte sich ein Haus an das nächste. Kaum Platz genug, um die Arme auszubreiten. Wer auch immer hier auf der Flucht war und sich auskannte, der vermochte es, in Windeseile unterzutauchen.

Sie hörte ein Röcheln und konzentrierte sich wieder auf ihre Edana. Das Heilwasser reichte nicht. Es war zu wenig für eine solche Verletzung, die vermutlich das Herz getroffen hatte. Kamika fluchte im Geiste. Lorden hätte hier sein sollen. Er war der Heiler. Sie musste die Edana so schnell wie möglich zurück nach Brïn bringen. Wenn es sein musste, dann unter Anwendung von Magie, ungeachtet der Gefahr, entdeckt zu werden.

Zolanas Augen flatterten einen Spalt breit auf. Das Hausmädchen kreischte hysterisch, als wäre sie gerade einem Gespenst begegnet. Zolanas schwache Stimme wurde völlig übertönt. Kamika befahl dem Mädchen zu schweigen. Sie warf erst einen ängstlichen Blick auf Kamika und dann auf die am Boden liegende Zolana und kroch blutverschmiert in eine Ecke des kleinen Raumes, wo sie ihre dürren Beine umklammerte und manisch vor und zurück wippte. Die Wächterin strich Zolana über die Wange. Die Edana war zu schwach. Kamika wurde klar, dass sie ihre Freundin nicht würde retten können. Es war zu spät.

»Zolana«, flüsterte Kamika und nahm die Hand ihrer Edana in ihre eigenen. »Es tut mir leid. Ich habe als Wächterin versagt.« Zolana versuchte zu sprechen, doch ihre Kehle gab keinen Laut mehr von sich. Sie blickte kurz zu dem verängstigten Hausmädchen und drückte energisch Kamikas Hand. »Was hat sie dir gesagt?«, fragte Kamika an das Mädchen gewandt.

»Nichts.«

»Irgendetwas hat sie dir gesagt«, giftete Kamika sie ungeduldig an. Zolana gab einen jämmerlichen Laut von sich, der die Wächterin über alle Maße erschütterte. Dann wurde die Frau schlagartig schlaff in ihren Armen. Kamika heulte leise auf und vergrub das Gesicht in Zolanas Haar. Eine Minute lang umklammerte sie den leblosen Körper, und stille Tränen widersetzten sich ihrer Kontrolle. Sie hatte seit vielen Jahren nicht mehr geweint, und verdrängte Emotionen drohten sich ihren Weg an die Oberfläche zu bahnen. Es konnte nicht real sein.

Kamika sah schließlich in Zolanas Gesicht und fand nur Leere. Vollkommene Leere. Eine weitere Erkenntnis drohte die Wächterin an den Rand der Verzweiflung zu bringen. Die Magie der Edana war nicht mehr in Zolana verankert. Dann fiel Kamika die fehlende Kette auf. »Das Artefakt. Wo ist die Perle?« Ihr Kopf fuhr zu dem Dienstmädchen herum. »Sie hatte eine Halskette mit einer Perle daran. Wo ist sie?«

»Ich weiß es nicht, Lady Kamika. Er muss sie mitgenommen haben.«

»Sag das nicht. Nein, nein, sag das nicht«, flüsterte Kamika mit Grabesstimme. Erst jetzt bemerkte sie die aufgerissenen Schubladen der Kommode, die herausgezerrten Kleidungsstücke und die offenen Schränke. Jemand hatte das Zimmer in aller Eile durchsucht. Kamika hob den Arm und spürte dem Echo der Magie nach, doch selbst dieser sonst einfache Zauber bereitete ihr Mühe. Ihre Hand bewegte sich fast schwebend durch den Raum und sie spürte ein sanftes Ziehen. Sie folgte diesem Gefühl und es wurde stärker, als sie direkt auf das Mädchen zeigte. »Hat sie dir etwas gegeben?«

»Nein, Lady Kamika. Sie war kaum ansprechbar, als ich sie gefunden habe.«

»Hat sie dich berührt?«

Das Mädchen machte ein verwirrtes Gesicht und stotterte. »I… Ich habe ihr die Hand gehalten, bis Sie hereingekommen sind.«

Kamika blickte wieder auf Zolanas stilles Gesicht hinab. Wenn der Angreifer Zolanas Kette gestohlen hatte, dann gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder hatte er einen wichtigen Teil der Magie Brïns mit sich genommen oder die Edana hatte den magischen Anker an das nächstbeste verfügbare Gefäß gebunden, das ihr zur Verfügung stand – ihr Dienstmädchen –, und Kamika spürte die Magie an dem Mädchen haften. Die Wächterin drohte an den Entwicklungen zu verzweifeln, doch sie musste sich jetzt zusammenreißen und noch eine Weile durchhalten.

»Wie ist dein Name?«

»S… Sofia.«

»Sofia. Nimm den Mantel vom Haken und zieh ihn über. Ich muss dich in Sicherheit bringen.«

»Wie bitte, Lady Kamika?« Das Mädchen zitterte am ganzen mageren Körper, und ihr Blick huschte wie der eines gehetzten Tieres hin und her.

»Mach schon!«

Das Mädchen zuckte ängstlich zusammen und tat, wie ihr befohlen wurde. Sie verließen das Haus nur wenige Augenblicke später durch den Hinterausgang. Kamika rief eine Kutsche herbei. Sie betäubte den Kutscher mit einer winzigen Prise ihrer Magie. Es würde reichen, wenn er wenige Minuten bewusstlos blieb. Sie wollte nicht, dass er hier draußen erfror. Alles, was sie brauchte, war nur ein wenig Zeit, ein kleiner Vorsprung, bevor jemand Zolanas Leichnam fand. Sie hatte keine Zeit zu erklären, was geschehen war, oder sich womöglich noch zu verteidigen. Die Menschen auf diesem Planeten waren so entsetzlich stupide und würden ihr ohnehin kein Wort glauben.

Sofia japste vor Schreck, als die ältere Frau sie mit einem kräftigen Ruck in die Kabine schubste und die Tür hinter ihr zuschlug. Kamika sprang auf den Kutschbock, griff nach den Zügeln und spornte das Pferd zu einem schnellen Trab an. Ehe jemand ihr Verschwinden bemerken konnte, waren sie auf dem Weg aus der Stadt heraus. Kamika trieb das Pferd an, so schnell es der unebene Untergrund erlaubte. Glücklicherweise waren nur sehr wenige Passanten auf den Straßen unterwegs, und nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie den Stadtrand. In noch erkennbarer Ferne lag der Wald, in dem sich das Tor zu Kamikas Heimatwelt befand. Als der Weg zu schmal für die Kutsche wurde, spannte Kamika das Pferd ab. Sie holte Sofia, die sich nun nach Kräften wehrte, aus der Kabine und setzte sie auf den Rücken des Pferdes. Mit einer schnellen Bewegung saß sie hinter Sofia auf und trieb das Pferd in den Wald. Die Sicht wurde schlechter, sobald sie zwischen den Stämmen waren und das Mondlicht nur noch schwach zu ihnen durchdrang. Die dichte weiße Schneedecke reflektierte die wenigen Lichtstrahlen jedoch hell genug, so dass sie sich vorsichtig über den immer schmaler werdenden Pfad bewegen konnten.

»Luah«, sagte Kamika nach einer Weile, und ein kleines flirrendes Irrlicht erschien vor ihr, das in sprunghaften Bewegungen den Weg vorgab.

Die Bäume lichteten sich nach und nach. Vor ihnen erhob sich der Steinkreis, der Kamika nach Hause und die Terranerin in die Fremde bringen würde. Die Wächterin brachte das Pferd zum Stehen, wendete es und gab ihm einen Klaps auf die Flanke. Das Tier, das die Geste bereits kannte, trabte gehorsam davon.

Kamika hielt das Mädchen fest am Arm und zog sie hinter sich her. Sofia sagte nichts, blickte sich aber immer wieder in alle Richtungen um. Ob auf der Suche nach einem Fluchtweg oder aus Furcht vor Verfolgern, konnte Kamika nicht beurteilen. Erst als sie Anstalten machte, mit Sofia in den Kreis zu treten, begann das Mädchen erneut, sich zu wehren und zu schreien.

»Hör auf zu kreischen!« Das Dienstmädchen zuckte zusammen, wurde still und zitterte. Es war offensichtlich, dass Sofia die fremde Frau fürchtete. Kamika biss die Zähne zusammen. »Schon gut. Es tut mir leid. Dir wird nichts passieren, das versichere ich dir. Wir müssen hier weg. Ob es dir gefällt oder nicht, du hast keine Wahl.«

Das Mädchen schüttelte energisch den Kopf und versuchte sich loszureißen. Kamika war stärker und ging geradewegs mit ihr in den Steinkreis, der sofort aufleuchtete. Sofia schrie weiter und zerrte an ihrem Handgelenk, doch Kamika hielt sie unnachgiebig fest und zog sie mit sich. Sie hatte jetzt keine Zeit für Nettigkeiten. Das Portal würde bald zusammenbrechen, und Kamika wollte verdammt sein, wenn sie dann auf dieser Welt festsitzen müsste.

Das Wasser war kalt, schwer und stumm, als es wie von selbst aus dem Erdreich zu quellen begann, zuerst die Füße der beiden Frauen in eine eisige Umarmung schloss und dann den Steinkreis auszufüllen begann. Die Wächterin hatte angenommen, dass sie diesen Weg zusammen mit Zolana gehen würde, doch stattdessen hielt sie Sofia im Arm, die nicht wusste, wie ihr geschah. Das Wasser reichte ihnen schon nach wenigen Augenblicken bis zur Hüfte, und Sofia wirkte mit jeder Sekunde hysterischer. Ihre Zähne klapperten bereits heftig, und ihre Lippen färbten sich blau. Das Wasser stieg schnell höher und kletterte nun Sofias Hals empor.

»Tief einatmen und Luft anhalten«, sagte die Wächterin. »Je mehr du herumzappelst, desto schneller wird dir die Luft ausgehen, also beruhige dich endlich.«

Sofia stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus und strampelte im Griff ihrer Entführerin. Sie reckte den Hals, stellte sich auf die Zehenspitzen und erst im allerletzten Moment, als ihr klar wurde, dass es wirklich kein Entkommen gab, füllte sie ihre Lungen ein letztes Mal mit der kostbaren Luft und schloss Augen und Mund. Kamika wartete einen Wimpernschlag länger, ehe das Wasser auch sie ganz und gar verschlang. Sie behielt die Augen offen und betrachtete die leuchtenden Steine durch das klare, eiskalte Nass. Es stieg schnell bis zur Oberkante der Steine, und der Zylinder aus Wasser erreichte seine endgültige Höhe. Sofia zappelte weiter in ihrem Arm. Kleine Luftbläschen entwichen ihren Lippen und stiegen tanzend der Oberfläche entgegen. Das Leuchten der Steine wurde jetzt heller und heller. Unsichtbare Symbole zeigten sich, bis alles ein schneeweißes Rauschen war. Kamika festigte ihren Griff um Sofia noch einmal, und dann spürte sie den vertrauten Sog an ihrem Körper. Schon wurden sie in den Strudel gezogen. Kamika verlor die Orientierung. Quälend langsam vergingen die Sekunden, in denen sie wie eine leere Muschelschale herumgewirbelt wurde.

Es wurde still. Endlich spürte sie wieder den frischen Wind auf der Haut. Lebendig. Voller Geschichten. Ein vertrauter Freund, der sie willkommen hieß. Sie spürte seine Magie durch ihre Poren dringen. Sie war zu Hause. Der Wind setzte sie zart und sanft im Portalraum ab. Doch der kurze Moment der Glückseligkeit verflog, als das Kreischen des Dienstmädchens an Kamikas Ohren drang. Sie ließ Sofia los, und das Mädchen begann zu rennen, nur um kaum drei Schritte weiter vor zwei sehr bedrohlich dreinschauenden Hütern stehen zu bleiben. Sofia stolperte zurück und fiel. Die beiden Hüter ragten über ihr auf, und sie kroch auf dem Gesäß hektisch hin und her.

»Sie gehört zu mir«, gab Kamika Laut.

»Shi Kamika, willkommen zurück!«, rief die oberste Hüterin Adelai, die froh gelaunt hinzukam. »Das war ein kurzer Aufenthalt. Wir haben euch nicht so schnell zurückerwartet. Was hat eure Reise unterbrochen?« Sie erblickte das fremde Mädchen und runzelte die Stirn. »Wer ist das, und wo ist die Edana?«

Kamika packte Sofia am Arm und zog sie auf die Beine. »Hüterin, ruf sofort alle Brïnae auf Terra und den Nachbarplaneten zurück. Sie müssen augenblicklich heimkehren.«

»Sofort? Die Familien der Kolonien werden nicht begeistert sein, ihren Aufenthalt unterbrechen zu müssen.«

»Sie werden noch weniger begeistert sein, auf Terra zu stranden, wenn die Tore zusammenbrechen.«

»Zusammenbrechen? Shi Kamika, wo ist Edana Zolana?«, fragte die Hüterin jetzt mit einer schlimmen Vorahnung.

»Tot«, antwortete Shi Kamika bitter, zog die jammernde Terranerin mit schnellen Schritten hinter sich her und beachtete das schockierte Schweigen der versammelten Hüter nicht. Sie eilte vorbei an den fragenden Gesichtern, vorbei an dem ungläubigen Entsetzen, das sich in ihren Augen spiegelte. Die Edana, die Führerin Brïns, die Stimme der Magie. Tot.

Vor nicht einmal einer Stunde wäre Kamika mit Freude in den Turm der Shi zurückgekehrt. Doch jetzt würde sie ihren Mitstreitern vom Tod ihrer Edana berichten müssen und davon, dass die wichtigste Magie des Planeten an einen ungeübten und möglicherweise nicht geeigneten Erdmenschen gebunden war. Danach, danach würde Kamika endlich Zeit haben zu begreifen, was heute geschehen war, und sie würde Zeit haben zu trauern.

Kapitel 2

Etwas endet, etwas beginnt

Brïn im Katesser 11'383 n. S.

Eydwall, Ideris

»Haben es alle geschafft?«, fragte Shi Erigen bedrückt, als die Wächterin mit dem rabenschwarzen langen Haar und den smaragdgrün leuchtenden Augen in den Besprechungsraum zurückkehrte.

»Fast alle«, antwortete Shi Kassia dem Wächter des Feuers. »Zwei Studenten waren auf Abenteuerreise und hatten sich entgegen den Anweisungen zu weit von den Toren entfernt. Sie sind offenbar nicht mehr rechtzeitig hindurchgekommen.«

Für einen langen Atemzug versetzte das den ganzen Raum in Stille, ehe Shi Erigen schwer seufzte. »Wir müssen den Angehörigen Bescheid geben.«

»Ich habe meine Tempelhüter bereits angewiesen, die Nachricht zu überbringen.«

Erigen nickte. »Was passiert mit den Kindern aus den Kolonien? Sie dürfen nicht auf Brïn bleiben.«

»Die neue Edana wird bald lernen, die Magie zu benutzen, die ihr anvertraut wurde. Dann kann sie ein neues Tor nach Terra errichten. Der Aufbau einer neuen Kolonie wird anfangs sicher etwas an Komfort vermissen lassen, aber es wird ausreichen.«

»Sie ist selbst noch zu jung, um auf Brïn leben zu dürfen. Hast du sie dir angesehen, Kassia? Sie sieht aus wie ein halbes Kind und hat überhaupt keine Ahnung von der Magie, die ihr gegeben wurde. Es könnte Monate dauern, bis sie so weit ist.«

»Darüber können wir uns später noch Gedanken machen, Erigen.«

»Was für ein furchtbarer Tag das ist«, ächzte er. »Können wir die Kinder solange auf einen der Nachbarplaneten bringen? Was meinst du, Kassia?«

Die Wächterin des Erdelements studierte ihren Freund mit bohrendem Blick. Sie kannte ihre Mitstreiter alle gut. Sie standen seit beinahe vier Jahrzehnten Seite an Seite, und sie wusste genau, wann Erigen einen Hintergedanken hatte. »Du willst, dass ich meine Familie auf Naruht kontaktiere.«

»Das ist unsere beste Chance.«

»Hast du vergessen, dass ich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurde?«

»Wie könnte ich? Aber du hast auch gesagt, die Naruhti lassen ihre Töchter niemals ganz im Stich.«

»Naruht ist nicht frei von Magie.«

»Aber es ist nach Terra die beste Alternative. Sie könnten dort leben, ohne Schaden zu nehmen.«

Kassia verschränkte nachdenklich die Arme und sah ihren Gefährten lange Sekunden mit undurchdringlicher Miene an. »Na schön, ich werde es versuchen.«

»Ich hätte nie erlauben dürfen, dass Zolana Brïn verlässt. Wieso war sie überhaupt dort? Was wollte sie auf Terra, außerhalb der Kolonien?«, kam es leise aus Lordens Richtung.

Kassia und Erigen unterbrachen ihr Gespräch und schauten zu dem sonst unbeugsam fröhlichen Wächter, der jetzt wie ein gebrochener alter Mann im Stuhl hing. Shi Lorden und Shi Kamika waren noch immer kaum ansprechbar. Der Verlust Zolanas hatte die beiden besonders hart getroffen.

»Sie hat etwas gesucht oder jemanden«, antwortete ihm Kamika heiser. »Mehr hat sie auch mir nicht gesagt.«

»Sie muss doch einen Grund gehabt haben. Warum wollte sie, dass nur du sie begleitest, Kamika? Ausgerechnet du?« Lordens Stimme zitterte. Man hörte den Schmerz darin, aber auch eine Spur von Wut.

»Wie ist das gemeint?«

»Du weißt, was ich meine.«

»Bei den Adern, Lorden. Dass du mir so etwas zutraust, ist schlimm genug, aber Zolana?« Sie funkelte Lorden wütend aus geröteten Augen an. »Ich habe sie nicht angefasst. Das hätte sie mir auch nie erlaubt.«

»Aber warum würde sie sonst verlangen, dass du sie nach Terra begleitest und nur du allein? Du verabscheust diese Welt.«

»Lorden, ich weiß es doch auch nicht!«, raunzte Kamika hilflos.

»Bitte fangt nicht an zu streiten«, bat Kassia beschwichtigend. »Wir müssen jetzt alle stärker denn je zusammenhalten.«

»Kann ich etwas für dich tun, Kamika?«, fragte Erigen vorsichtig.

Die Wächterin der Winde schüttelte den Kopf und er strich ihr liebevoll durch das goldblonde Haar. Zolanas getrocknetes Blut klebte noch immer an ihrer viktorianisch-terranischen Kleidung und unter ihren sonst sauber gepflegten Fingernägeln. Sie saß die meiste Zeit stumm und reglos da, und Erigen wusste, sie wünschte sich, aus diesem entsetzlichen Traum aufzuwachen. Sie war nicht die Einzige.

»Ich komme zurecht. Kümmert euch um Lorden, er braucht euch dringender. Wenn ihr mich entschuldigt, dann gehe ich mich jetzt waschen und statte Tari einen Besuch ab.« Kamika erhob sich und wich den Blicken der Shi aus, als sie mit steifen Schritten den Raum verließ.

»Kamika, ich habe es nicht so gemeint. Kamika!« Lorden sah ihr verzweifelt nach. Er hätte am liebsten laut gebrüllt. Er wollte der Wächterin nicht die Schuld am Tod der Edana geben, aber ein Teil von ihm tat es doch. Er wollte, dass jemand schuld war. Egal wer. »Es tut mir leid«, hauchte er und vergrub das Gesicht in den Händen. Kamika war längst fort.

Sofia hockte in der Ecke des Zimmers und umklammerte ihre Knie. Endlich hatten die Fremden sie alleine gelassen, statt sie mit Fragen zu löchern, deren Inhalt sie nicht verstand. Sie verstand wirklich niemanden und niemand verstand sie. Die Männer und Frauen, die sie hierhergebracht hatten, redeten mit ihr in einer Sprache, die Sofia noch nie gehört hatte. Lady Kamika schien die Einzige zu sein, die mit Sofia sprechen konnte, doch von der hatte das Mädchen nichts mehr gesehen, seit sie hier abgeliefert worden war. Wo dieses hier war, konnte Sofia nicht sagen. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war der Steinkreis im Wald, das Wasser, das sie voll und ganz einhüllte und ihr die Luft abschnitt, die Angst und das Gefühl zu ertrinken. Zuerst hatte sie den Boden unter den Füßen verloren und dann die Orientierung. Als sie endlich wieder etwas anderes wahrgenommen hatte als weißes, blendendes Licht, hatte die Welt sich scheinbar so stark vor ihren Augen gedreht, dass ihr übel geworden war. Fremde Menschen in fremder Kleidung hatten um sie herumgestanden und in einer fremden Sprache auf sie eingeredet. Zum ersten Mal hatte sie beim Anblick von Lady Kamika Erleichterung empfunden, als diese in ihr Sichtfeld getreten war und ihr, wenn auch grob, auf die Füße geholfen hatte.

Inzwischen saß Sofia seit bestimmt einer Stunde hier und traute sich nicht, sich aus ihrer Ecke herauszubewegen. Es war warm, obwohl draußen vor dem Fenster der Schnee fiel und in ihrer Kammer kein Kamin brannte. Genau genommen war nicht einmal ein Kamin zu sehen. Alles war sauber und hell und weckte bei Sofia den Eindruck, dass dieser Ort für sehr viel wohlhabendere Menschen als sie bestimmt war. Es wirkte alles fremdartig. Die Wände leuchteten aus sich selbst heraus und tauchten den Raum in ein warmes Licht. Sie hatte noch niemals ein Zimmer wie dieses gesehen oder so feine Stoffe und Teppiche, wie sie hier lagen. Sofia fühlte sich plötzlich schäbig und schmutzig in ihren braunen, fleckigen Arbeitskleidern. Der Stoff juckte so beständig auf ihrer Haut, dass sie das Gefühl normalerweise nicht mehr wahrnahm, doch hier zwischen diesen vornehmen Stoffen, Teppichen und Gardinen spürte sie es deutlicher denn je und kratzte sich in einem fort, was es nur noch schlimmer machte. Auch glaubte sie ihren eigenen Körper zu riechen. Eine saure Mischung aus Straßendreck und Schweiß, neben anderen Dingen, die ihr Körper absonderte. Sie fragte sich, ob das hier ein Gefängnis war. Wenn es eines war, dann war es viel schöner als jede Kammer, die sie als freie Frau bewohnt hatte. Es hätte sicher schlimmer kommen können.

Trotzdem fürchtete sich Sofia. Sie wusste nicht, was sie erwartete, wo sie war, wer Freund oder Feind war. Wieso hatte Lady Kamika sie hierhergebracht? Was wollten all die Fremden von ihr? In was war sie bloß hineingeraten? Verdächtigten sie Sofia womöglich, Lady Zolana ermordet zu haben? Würde man sie bald abholen, um sie hängen zu lassen?

Sofia wimmerte und kaute sich die Fingernägel wund.

Kapitel 3

Skraelsen

Brïn im Antheste 11'384 n. S.

Westlicher Gebirgspass, Euridis

Der Hilferuf der Jäger sorgte bei den Weltenwächtern für Besorgnis. Seit die Portale zu den Nachbarplaneten zusammengebrochen waren, war auch das magische Netz geschwächt, das die Skrae davon abhielt, auf Brïn einzufallen. Die Jäger hatten seit Generationen nicht mehr derart viel zu tun gehabt wie in den letzten zwei Monaten. Als Shi Kassia den Hilferuf eines erdgebundenen Jägers empfing, fiel ihre sonst ruhige und gelassene Grundhaltung von ihr ab und die Jägerin in ihr gewann die Oberhand. Die vier Shi hatten sich umgehend auf ihre Greife gesetzt und eilten nun dem Ort entgegen, an dem die Jägerstaffel offenbar in einen Hinterhalt der Skrae geraten war. Zahlreiche Jäger lagen bereits reglos auf einer weiten Wiese, als die Shi in Sichtweite kamen. Wer sich noch aus eigener Kraft bewegen konnte, hatte hinter umgefallenen Baumstämmen oder Felsen Schutz gesucht. Die Shi hielten auf die größte Gruppe Jäger zu, als eine ganze Schar von Skrae aus dem Dickicht des umliegenden Waldes brach und in einem tödlichen Schwarm auf die geschwächten Jäger zueilte. Die Shi trieben ihre Greife an, doch sie sahen, dass es sinnlos war. Sie würden die Jäger nicht vor den Skrae erreichen.

»Scheiße!«, fluchte Erigen. »Sie sind zu weit entfernt.«

»Nicht für mich«, antwortete Kamika trocken und lenkte ihr Greifweibchen direkt auf die Skrae zu. Der Wind folgte ihr in einem kräftigen Strom und verlieh ihrem Greif noch mehr Geschwindigkeit.

»Kamika!«, rief Lorden ihr nach, aber die Wächterin der Winde ignorierte ihn, wie so oft in den letzten Wochen. Sie hob die Füße auf den Rücken ihres Greifs und richtete sich auf. Das Tier schlug ein weiteres Mal kräftig mit den schneeweißen Flügeln und holte ein letztes Mal Schwung, dann zog es die Schwingen dicht an den Körper und schoss diagonal in die Tiefe. Kamika stieß sich mit aller Kraft ab, ehe ihr Greif die Flügel wieder spreizte und in einer sanften Kurve laut kreischend zurück in den Himmel aufstieg. Kamika aber glitt wie ein Speer durch die Luft. Sie zog den goldenen Bogen vom Rücken und richtete ihn auf den ersten Skra ganz vorne an der Spitze des Schwarms. Sie zog die Sehne zurück und ein magischer Pfeil bildete sich mit knisternder Energie zwischen ihren Fingern. Sie zielte und schoss. Noch bevor der erste Pfeil sein Ziel erreichte, hatte sie bereits drei weitere abgeschossen. Sie ließ Pfeil um Pfeil von der Sehne gleiten und jeder einzelne traf ins Ziel. Die Reihen der Skrae wurden dünner und die ölig schwarzen Kreaturen stoppten verunsichert ihren Vormarsch, scharten sich umeinander und kletterten über die eigenen Artgenossen, während die goldenen Pfeile unbarmherzig aus dem Himmel auf sie niederregneten. Sie fixierten die schnell fallende Wächterin mit ihren hellgelb glühenden Augen und fletschten ihre scharfen Reißzähne oder schlugen wütend mit langen Klauen in die Luft.

Kamika stürzte tiefer und rief schließlich die Winde herbei, die ihren Fall verlangsamten. Sie steckte den Bogen zurück in die Rückenhalterung und zog stattdessen ihre beiden Dolche vom Gürtel. Sie war furchtlos, als sie mitten durch die Schar Skrae brach und mit einem kräftigen Ruck auf den Füßen im Gras landete. Die Druckwelle stieß die schuppigen Kreaturen auseinander und für einen kurzen Moment stand die Wächterin in dem einsamen Auge eines schwarzen, wirbelnden Sturms. Dann begriffen die Skrae, was geschehen war, und fanden ihre Orientierung wieder. Sie richteten ihre gierigen Blicke auf die einsame Shi und stürzten wie von einem einzigen Gehirn gesteuert auf Kamika zu. Die Wächterin erwartete sie bereits. Ihre Dolche schnitten singend und mit tödlicher Präzision durch die Luft. Kamika hieb Gliedmaße um Gliedmaße ab und hatte ein Dutzend Kreaturen erlegt, ehe die erste zu ihr durchbrach und ihr eine Klaue über den Arm zog. Kamika schrie, überrascht von dem Schmerz, ließ sich davon aber nicht beirren. Sie lenkte einen der Dolche ins Auge des Skra.

Die Körper türmten sich bald kreisförmig um sie herum auf und sie kämpfte, ohne müde zu werden. Gnadenlos führte sie ihren wütenden Tanz auf, bis jeder einzelne Skra auf der Lichtung auf sie konzentriert war. Die schwarze Masse baute sich um Kamika auf, um schließlich wie eine unaufhaltsame Lawine auf die Wächterin einzustürzen. Kamika sah sie kommen und hätte sich fürchten sollen. Stattdessen schloss sie die Augen, lächelte und wartete.

Die Feuerwand brach in einem lodernden Sturm über die Skrae herein und riss die Hälfte der Kreaturen umgehend in den Tod. Ihre Asche verteilte sich über die weite Graslandschaft. Wurzeln, spitz wie Speere, stießen aus dem Boden empor und bohrten sich wie peitschende Tentakel durch die Körper der Skrae. Kreatur um Kreatur wurde von den Pflanzen aufgespießt und fortgeschleudert. Die leblosen Reste flogen durch die Luft und fielen mit einem dumpfen Knall ins Gras, wo das Erdreich sich öffnete und sie verschlang.

»Kamika! Kamika!«, schrie Erigen und schickte eine Feuerschwalbe nach der anderen in die Menge der Skrae. Lorden spürte die unterirdischen Wasseradern auf und ließ sie in kraftvollen Fontänen, die einen Ring um Kamika bildeten, aus dem Boden schießen. Die Skrae kreischten und wurden auseinandergeworfen, manche ertranken in der unnatürlich unnachgiebigen Wassersäule. Das Kreischen der Skrae verstummte bald und man hörte nichts als das Atmen der Wächter.

Lorden verschloss das Wasser wieder im Erdreich und wurde von dem reflektierten Licht auf Kamikas goldener Rüstung geblendet. Inmitten der fallenden Asche sahen er und die übrigen Shi ihre Freundin zu Boden sinken. Ein sterbender Engel, fuhr es ihnen einheitlich durch den Kopf, als hätten sie diesen terranischen Ausdruck ständig in Gebrauch.

Die Shi rannten. Erigen fiel als Erster vor Kamika auf die Knie und hob ihren Oberkörper in den Arm. Er tastete sie in Eile ab, begutachtete die Schnitte. Sie ächzte und verzog das schmutzige Gesicht vor Schmerz. Ihr Brustpanzer hatte das meiste abgefangen, trotzdem hatte sie zahlreiche Schnittwunden an Armen und Beinen. In ihrer linken Bauchhälfte befand sich ein tiefer Stich, wo eine der scharfen Schwanzspitzen die Wächterin sauber durchbohrt hatte. Sowohl ihr eigenes rotes Blut als auch das ölig schwarze Blut der Skrae klebten an ihr und durchtränkten den einst weißen Anzug. Erigen goss sofort Heilwasser in den tiefen Stich und drückte die Wunde ab, um den Blutfluss zu stillen.

»Lebt sie?«, schrie Lorden und rutschte durch den frischen Schlamm. In einer wenig anmutigen Bewegung gelangte er zu seiner Mitstreiterin, reckte im selben Zug die Hände nach ihr und spürte mit seinen Sinnen den Körper der Windwächterin nach sichtbaren und unsichtbaren Verletzungen ab. Kamika fluchte leise und Lorden sprang wieder auf die Füße, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie nicht in Lebensgefahr war. Er raufte sich die Haare und lief aufgebracht auf und ab. Die Verletzungen waren weniger schlimm, als sie im ersten Moment erschienen. Oberflächliche Schnitte, die mit der richtigen Behandlung schnell, und ohne große Spuren zu hinterlassen, verheilen würden. Die Wunde in ihrem Bauch hatte alle wichtigen Organe knapp verfehlt. Er hatte sie schon in schlimmerer Verfassung erlebt. Lorden war erleichtert und wütend zugleich. »Es reicht, Kamika! Das muss aufhören! Ich kann nicht noch jemanden aus unserer Familie verlieren!« Er trat mit voller Wucht gegen einen der toten Skraekörper und stürmte seinem eigenen Greif entgegen, der gehorsam auf seinen Reiter zugetrabt kam.

Kamika drehte mühsam ihren Kopf und sah dem Wasserwächter nach. »So temperamentvoll habe ich ihn selten gesehen«, krächzte sie und bereute ihren Versuch zu lachen sofort. Die Gesichter der beiden anderen Wächter blieben ernst.

»Er hat recht. Wenn du so weitermachst, bringst du dich noch um.«

»Was ist mit den Jägern?«, fragte Kamika, ohne dem stillen Vorwurf Beachtung zu schenken.

»Wohlauf«