SILENCIO - Heike Wolter - E-Book

SILENCIO E-Book

Heike Wolter

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Beschreibung

Was passiert, wenn Sie etwas sehen oder hören, was Sie nicht hätten sehen oder hören sollen? Dieses Problem entwickelt sich für Molly Flannagan zu einer echten Überlebensfrage. Denn als sie zufällig Zeugin eines Treffens zwischen ihrem Ex-Mann, einem abtrünnigen Beamten des A (Alkohol) T (Tabak) F (Firearms = Schusswaffen) und Luciano Carpetti - einem Waffenhändler und Mafiaboss - wird, fühlt sie sich plötzlich förmlich vom Pech verfolgt. Völlig ahnungslos tappt Molly von einem Unglück ins nächste ... Ein Schmunzel-Krimi über einen kleinen toten Kanarienvogel, falsche Annahmen, eine offensichtliche Pechsträhne und talentlose Mafiosi

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Ähnliche


Heike Wolter

SILENCIO

schweig und stirb

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

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12

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Epilog

Liebe Leser ...

Impressum neobooks

Prolog

Alles ist komisch, solange es einem anderen geschieht

(Will Rogers)

Sein langes Wochenende in Las Vegas hatte so schön angefangen. Seine derzeitige Geliebte war warm und willig, an den Spieltischen, die er besuchte, gewann er die meisten Runden, das Zimmer war Extraklasse und die Abendunterhaltung sensationell.

Und dann wendete sich am zweiten Tag sein Blatt ... er verlor alles, was er zuvor gewonnen hatte; seine Bettgespielin reiste mit einem anderen ab, den sie kennenlernte, während Steven seine letzten Dollars am Bakkarat-Tisch verplemperte; aus dem luxuriösen Zimmer musste er ausziehen, weil er es nicht mehr bezahlen konnte. Kurz gesagt, es ging rapide bergab.

Da er aber absolut keine Lust hatte, sein Wochenende so überstürzt und unglücklich abzubrechen, wandte er sich an den Betreiber des Casinos, was er schon bei früheren kurzfristigen Engpässen getan hatte, und schrieb einen Schuldschein über 50.000 Dollar aus. Er war sich sicher, dass er innerhalb kürzester Zeit seinen Verlust ausgleichen und die Summe wieder zurückzahlen würde. Denn schließlich hielt seine Pechsträhne ja nie lange an.

Doch diesmal erwischte er den Gott des Spiels auf dem falschen Fuß. Steven verlor weiter - die 50.000 und weitere 30.000 Dollar, die er sich bei einem anderen Kredithai lieh. Das Gesetz der negativen Serie schlug erbarmungslos zu. Steven verschuldete sich bis über die mittlerweile zu Berge stehenden Haarspitzen, bis ihm ein muskelbepackter Typ im schwarzen Anzug eine dringende Einladung ins Büro des Casinobesitzers überbrachte, der sich mit ihm über die Rückzahlung seiner Kredite unterhalten wolle.

Nun schwitzte Steven Jacoby Blut und Wasser, denn das Schweigen seines finsteren Gegenübers dauerte und dauerte. Offenbar stieß seine demütige Stundungsbitte nicht unbedingt auf Gegenliebe. Sicher, er hatte sofortige Rückzahlung vereinbart, aber das konnte er eben nicht, weil er alles eingesetzt und verloren hatte. Und bis er die Mittel aus seiner Firma abziehen konnte, würde zumindest eine ganze Weile vergehen.

Durch den üblichen Klatsch und Tratsch in Spielerkreisen hatte er schon öfter von den Folgen einer solchen Vereinbarung gehört und sich insgeheim über die Trottel amüsiert, die schließlich in der Klemme steckten. Stellte sich insgeheim vor, wie diese Loser sich vor ihrem Geldgeber verbargen und nicht mehr vor die eigene Haustür wagten. Absolut lachhaft. Er selbst hatte diese Probleme noch nie gehabt, sein Konzept war stets aufgegangen. Diesmal allerdings war er derjenige, der knietief in der Scheiße saß. Und leider war ihm dabei so gar nicht zum Lachen zumute.

Endlich unterbrach die kratzige dunkle Stimme seines Gläubigers die belastende Stille. Allerdings ging es Steven deshalb nicht einen Deut besser.

"Tja, Mr. Jacoby … das ist ein Problem, das nach einer schnellen Lösung verlangt. Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, bin ich über Ihre Zahlungsunfähigkeit nicht gerade erfreut. Ich habe mir übrigens die Freiheit genommen, Ihren zweiten Schuldschein ebenfalls zu übernehmen. Es zahlt sich doch viel besser, wenn alles in einer Hand ist. Da ich aber nicht auf mein Geld warten will, Sie jedoch nicht sofort zahlen können, werden wir uns auf andere Art einigen. Sie vertreiben doch Baumaschinen?"

Steven runzelte die Stirn. Benötigte der Mann einen Bagger? "Ja, das stimmt Mr. Carpetti. Baumaschinen. Bis nach Übersee."

Luciano Carpetti gestattete sich ein Lächeln, das ihm das Aussehen eines hungrigen Haifischs verlieh. Steven lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. "Das ist gut, Mr. Jacoby. Das ist sehr gut. Bestimmt verwenden Sie diese wunderbaren großen Container, wenn Sie die Maschinen an den Käufer verschiffen?"

Steven schluckte trocken. Irgendwie hatte er ein ziemlich ungutes Gefühl bei dieser merkwürdigen Fragestunde. "Oh, ja, meistens ... ja, Schiffscontainer ... die ganz großen." Stotternd erteilte er Auskunft, die schweißnassen Hände fest zwischen die zusammengepressten Knie gezwängt. Carpettis Lächeln wurde immer breiter.

"Sicher haben Sie in diesen Containern auch bisweilen noch etwas Platz in der einen oder anderen Ecke?"

Nun war klar, was er für die Abgeltung seiner Schulden würde tun müssen. Steven wurde blass, ein dicker Kloß bildete sich in seinem Hals. Fast tonlos bestätigte er "Habe ich, Mr. Carpetti" und wusste, dass er gerade einen Pakt mit seinem ganz persönlichen Teufel geschlossen hatte.

1

Fürchte den Bock von vorn,

das Pferd von hinten und das Weib von allen Seiten.

(Anton Tschechow)

Zufrieden mit sich und der Welt und überaus erfreut über die Spielsucht eines gewissen Transportunternehmers lehnte sich Luciano Carpetti in seinem bequemen Ledersessel zurück und drapierte seine edel beschuhten Füße auf seinem Schreibtisch.

Gab es etwas Schöneres als einen gelungen geschäftlichen Coup? Naja, vielleicht noch richtig guten Sex – obwohl sich Carpetti da wohl doch eher fürs Geschäft entscheiden würde. Sex bekam man überall problemlos. Eine diskrete und nahezu narrensichere Methode, seine ganz speziellen Waren zu transportieren, jedoch nicht allzu häufig.

Es war eindeutig angebracht, sich neue Wege zu erschließen, da er in letzter Zeit das dringende Gefühl hatte, gewissen geschäftsschädigenden Einflüssen ausgesetzt zu sein. Allzu oft klebten neuerdings ein paar sehr verdächtige Subjekte an seinen Fersen. Seine bisherigen Transportwege wurden beobachtet, was auch seinen Geschäftspartnern nicht verborgen blieb – und die wurden langsam nervös.

Durch die nette kleine Vereinbarung mit dem guten Mr. Jacoby war nun aber alles wieder in Butter. Wer würde schon vermuten, dass ein so qietschsauberer Bürger wie dieser Typ bis zum Hals in krummen Sachen steckte? Carpetti lachte leise in sich hinein. Keiner würde das vermuten. Am wenigsten die Heinis von der ATF, und genau auf die kam es ihm an.

***

Völlig in Gedanken versunken betrat Molly Flannagan Gino’s Pizza, die - wie immer um die Mittagszeit - gut besucht war, was sehr wahrscheinlich weniger an Gino Falcones Kochkunst als vielmehr an den wirklich günstigen Angeboten von 11.00 bis 14.00 Uhr lag. Dankbar registrierte sie die freie Fensternische und ließ sich auf die leicht abgewetzte Sitzfläche der Eckbank fallen. Bei Gino’s gingen alle möglichen Typen ein und aus, die meisten jedoch waren Arbeiter von den Docks am nahe gelegenen Frachthafen. Molly hasste nichts mehr, als zwischen den markigen Typen am Tresen sitzen zu müssen. Auch wenn sich die meisten mit blöden Sprüchen zurückhielten, es gab immer ein paar, die sich für den Nabel der Frauenwelt hielten und dementsprechend alles anbaggerten, was ansatzweise weiblich wirkte. Und das schlug Molly in der Regel gehörig auf den Magen.

"Molly, mein Herzchen, was darf ich dir bringen?" Leicht irritiert, aber auch erfreut hob Molly den Blick von der Speisekarte, in der sie gerade geblättert hatte. Nicht, dass es nötig gewesen wäre – Molly kannte alle Gerichte, die Gino’s zu bieten hatte, auswendig. Schließlich aß sie hier schon seit mehr als fünf Jahren regelmäßig dreimal die Woche. Aber die Stimme, die heute nach ihren Wünschen fragte, war nicht die von Susie, der jungen Bedienung, die sich normalerweise um die Gäste kümmerte, sondern die Stimme von Gino Falcone höchstselbst.

"Hallo, Onkel Gino … das gibt’s ja nicht! Was hat dich denn von deinen Kochtöpfen weggelockt? Ich kann mich nicht erinnern, dass ich das schon mal erlebt hätte." Molly klappte die Speisekarte zu und legte sie beiseite. Schmunzelnd betrachtete sie den etwas überfordert wirkenden Besitzer des kleinen Lokals, der einen genervten Blick zur Uhr über der Eingangstür warf.

"Susie musste heute früh was erledigen. Eigentlich sollte sie schon längst wieder da sein. Ich hab keine Ahnung, was da los ist. Wahrscheinlich hat sie unterwegs noch sonst wen getroffen und sich festgequatscht. Und jetzt darf ich hier herumhüpfen, während meine Küche von meinem Hilfskoch auseinander genommen wird. Ich wette, da drin sieht's aus wie auf einem Schlachtfeld. Aber du weißt ja, rechnen kann Lucius noch schlechter als kochen. Und sich die Bestellungen merken schon mal gar nicht. Na egal … was möchtest du essen, mein Lieblingspatenkind?" Molly konnte sich lebhaft vorstellen, welche unguten Gefühle in Ginos Bauch rumorten. Er war – was seine Küche anging – ein absoluter Perfektionist. Wehe, eine Schüssel stand nicht dort, wo sie seiner Meinung nach hingehörte. Der arme Lucius würde heute wahrscheinlich noch einiges zu hören bekommen – genau wie Susie, wenn sie erst mal wieder eingetrudelt war.

"Heute wär mir nach dem großen gemischten Salat, Onkel Gino. Das Wasser hier reicht." Hätte Molly Gott gelästert, wäre Ginos Entsetzen nicht größer gewesen. "Einen Salat? Um Himmels willen, warum das denn? Bist du auf Diät oder auf dem Gesundheitstrip oder sowas? Molly-Schätzchen, du bist genau richtig. Lass dir bloß von keinem was anderes erzählen. Diese ganzen Dürrweiber, das ist doch furchtbar. Eine Frau muss Kurven haben. Schließlich sagt man ja auch Fleischeslust und nicht Knochenlust." Gino redete sich richtig in Rage, wurde immer lauter und zog damit nicht wenig Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich, während Molly auf ihrer Sitzbank immer kleiner wurde und überlegte, ob sich ihr mittlerweile garantiert tomatenrotes Gesicht vielleicht mit ihrer Haarfarbe biss.

Sie räusperte sich und faltete verlegen die Papierserviette in immer kleinere Quadrate. "Ähm … Onkel Gino, ich esse öfters nur einen Salat. Frag Susie, wenn sie wieder da ist. Mom kocht abends immer und zweimal warm essen am Tag ist mir einfach zu viel. Außerdem muss ich ja noch arbeiten und mit vollem Bauch kann ich mich so schlecht konzentrieren. Ich mach keine Diät, garantiert nicht. Ich schwöre hoch und heilig."

Molly legte bestätigend die Hand aufs Herz und hoffte, dass dem guten Gino diese Erklärung ausreichen würde und sie bald ihren Salat bekam. Ganz zufrieden schien er immer noch nicht zu sein, aber er verschwand immerhin mit einem wenig überzeugten, unwilligen "Na gut, wie du willst. Aber gib nicht mir die Schuld, wenn du so dünn bist, dass dich keiner mehr anschaut" in Richtung Küche.

Molly kicherte ein wenig vor sich hin, bis ihr wieder einfiel, was sie schon den ganzen Tag beschäftigt hatte und sie schlagartig ernst wurde. Sie mochte ihre Arbeit als Buchhalterin, sie liebte es geradezu, Frachtbriefe und Rechnungen miteinander abzugleichen und endlose Zahlenreihen auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Und sie war verdammt gut in ihrem Job. Deshalb waren ihr die merkwürdigen Frachtbriefe natürlich auch sofort aufgefallen. In all den Jahren, die sie jetzt für die kleine Frachtfirma Jacoby International arbeitete, war ihr so etwas noch nie untergekommen.

Gino kam mit verkniffenem Gesicht, einer großen Schüssel Salat und einem kleinen Brotkorb zurück und beendete damit Mollys Gedankengang. Strahlend dankte sie ihm, was er schließlich doch mit einem versöhnlichen "guten Appetit" quittierte. Zumindest bei Gino Falcone wusste Molly, dass wieder alles im Lot war.

***

Nach seinem stundenlangen Hin- und Herlaufen bildete sich im dicken Teppich seines Büros so langsam ein flachgetretener Wanderweg. Steven war so nervös, dass er bei jedem Geräusch zusammenzuckte. Seine Gedanken rasten, sein Herz schlug wie ein Dampfhammer, seine Hände zitterten. Insgesamt fühlte er sich total beschissen.

Verfluchtes Bakkarat!

Warum konnte er sich nicht einfach wie andere Männer in seinem Alter in eine Kneipe setzen und einen heben? Oder warum konnte er sich nicht einfach bei irgendeinem Sport austoben? Nein, es musste Glückspiel sein, bei dem er sich seine Kicks holte. Verflucht und verdammt, wie war er nur auf den bekloppten Gedanken gekommen, dass er seine Verluste immer wieder wettmachen würde? Jeder halbwegs intelligente Mensch wusste schließlich, dass auf Dauer niemand in einem Casino gewann – außer dem Casino selbst.

Jetzt hatte er den Schlamassel. Er konnte nur hoffen, dass ihm keiner auf die Schliche kam. Und dass Carpetti nicht immer mehr fordern würde. Keine Casinos mehr, das schwor sich Steven. Oder zumindest, dass er in Zukunft sofort vom Spieltisch aufstand, wenn seine Barmittel verbraucht waren. Schulden würde er deswegen jedenfalls nicht mehr machen. Wenigstens nicht bei irgendwelchen zwielichtigen Typen … ja, genau, das war ein guter Vorsatz.

Grübelnd blieb Steven schließlich am Fenster seines Büros im fünften Stock des Bürogebäudes von Jacoby International stehen. Er bedauerte zutiefst, dass er seine Firma einem skrupellosen Verbrecher wie Carpetti quasi auf dem Präsentierteller ausgeliefert hatte. Jetzt musste er sich dringend etwas einfallen lassen, um aus der Nummer möglichst ohne Schaden wieder herauszukommen. Nur würde das so schnell nicht klappen. Carpetti würde ihn nie im Leben anstandslos ziehen lassen, selbst wenn er das Geld zusammenbekam und ihn auszahlte. Der ganze Deal lief gerade mal zwei Tage und er steckte mittendrin.

Carpetti hatte ihm bereits einen Zollbeamten genannt, der auf seiner Schmiergeldliste stand und dafür sorgen würde, dass die Container reibungslos verschifft werden konnten. Carpettis Leute würden die zusätzlichen Frachtteile kurz vor dem Verladen verstauen, die Verplombung würde unauffällig erneuert und die Frachtbriefe ergänzt, damit bei der Einfuhr keiner auf die Idee käme, genauer hinzuschauen. Hier würde wahrscheinlich alles glatt laufen – zumindest, solange niemand allzu tief in den Frachtpapieren grub, was aber relativ unwahrscheinlich war, da die Carpetti-Sendungen nach Mexiko oder in irgendein anderes südamerikanisches Land mit sehr laschen Kontrollen geschickt werden sollten.

Nun kam der Haken an der ganzen Sache. Die Frachtpapiere gingen zusammen mit den Rechnungen in die Buchhaltung. Dort wurden sie nochmals überprüft und schließlich entsprechend verbucht. Drei Angestellte teilten sich die Arbeit, drei Frauen, von denen zwei kein Problem darstellten, weil sie noch nicht sehr lange in der Firma waren, einfach nur ihre Aufgaben erledigten und keine Fragen stellten. Doch die dritte könnte möglicherweise zu einem Risiko werden. Molly Flannagan, die Leiterin der Buchhaltung, war schon seit zehn Jahren dabei und erkannte jede noch so kleine Unregelmäßigkeit in den Frachtbögen sofort, da war er sich sicher. Sie war so verflucht ehrlich und peinlich genau.

Natürlich hätte er sie einfach entlassen können, aber die Idee schmeckte ihm so überhaupt nicht. Schließlich er konnte sich hundertprozentig darauf verlassen, dass ihre Abrechnungen bis auf den Cent genau richtig waren - was im Falle einer Buchprüfung jeden Verdacht gegen ihn schon von vornherein ausschließen würde. Nein, entlassen wollte er sie nicht. Es musste eine andere Lösung her. Eine Möglichkeit, sie von den Frachtbriefen fernzuhalten. Bekam sie die als Leiterin der Abteilung überhaupt noch zu sehen? Steven hatte keine Ahnung. Aber er würde es herausfinden.

Mitten in Stevens existenzielle Überlegungen hinein knackte die Gegensprechanlage und er hörte die süßlich-verführerische Stimme seiner Vorzimmerdame. "Mr. Jacoby, Miss Flannagan möchte mit Ihnen reden."

Flannagan - wenn man vom Teufel spricht … Steven musste sich kurz sammeln, bis er seine plötzlich zitternden Knie wieder unter Kontrolle brachte. Sie hatte doch nicht etwa schon …? Schnell ließ er sich in seinen Schreibtischsessel fallen und drückte auf den Antwortknopf "Sicher, kann reinkommen."

Sekunden später öffnete sich seine Bürotür und Miss Überkorrekt Flannagan stapfte auf seinen Schreibtisch zu. Steven betete darum, dass es nur um den Monatsbericht ging, den sie stets persönlich bei im ablieferte. Sein Blick wanderte zum Kalender. Nein, ging es nicht, der Monatsbericht war noch gar nicht fällig. Steven fühlte plötzlich kalten Schweiß auf seiner Stirn.

Molly bemerkte die Unruhe ihres Gegenübers überhaupt nicht, weil sie mit sich selbst zu tun hatte. Sie schluckte, als sie ihren Boss wieder einmal aus direkter Nähe zu sehen bekam. Hach … Mollymädchen, schau bloß nicht zu genau hin!

Er war einfach ein Hammertyp. Einer von den Männern, um die sich die Frauen reihenweise scharten. Und seine Augen erst – strahlend himmelblau. Molly konnte sie nur als "Steve-McQueen"-Augen beschreiben, etwas anderes fiel ihr dazu nicht ein. Ein Traummann … ihr Traummann.

Über ihre plötzlich Polka tanzenden Hormone leicht verärgert, ließ Molly sich auf dem Sessel vor seinem Schreibtisch nieder, als er ihr Platz anbot, und versuchte energisch, sich auf ihr Anliegen zu konzentrieren.

"Mr. Jacoby, mit diesem Lieferschein hier stimmt etwas nicht. Ist mir schleierhaft, wieso der Zoll das abgezeichnet hat. Da fehlt die Hälfte der Frachtangaben."

Steven fuhr ein heißer Schreck in alle Glieder. Offenbar hatte Carpetti die erste Lieferung schon auf den Weg gebracht. Fieberhaft überlegte Steven, wie er sich aus dieser neuen Klemme herauswinden konnte. Mit diesem Problem hatte er nun wirklich nicht so bald gerechnet. Und weil er keinen Schimmer hatte, wie er das schaffen sollte, sprach er das Erste aus, das ihm in den Sinn kam.

"Sie haben wunderschöne Augen, Miss Flannagan."

Verwirrt blickte Molly ihrem Chef ins Gesicht. "Wie bitte? Äh ... ja, danke. Aber zurück zu …"

"Wie lange arbeiten Sie eigentlich schon für Jacoby International, Miss Flannagan?"

"Zehn Jahre. Aber eigentlich …"

"Warum ist mir noch nie aufgefallen, wie schön Ihre Augen sind? Ist mir unbegreiflich. Darf ich Sie zum Essen einladen, Molly? Ich darf doch Molly sagen, oder? Ich würde wirklich gerne mit Ihnen essen gehen. Vielleicht italienisch? Jeder mag doch italienisches Essen. Ich stelle mir einen richtig romantischen Abend bei einem exquisiten Italiener vor. Und wir unterhalten uns bei einem guten Rotwein darüber, was ich an Ihnen vielleicht sonst noch übersehen habe. Sagen Sie ja, Molly, bitte."

Jetzt war Molly völlig perplex. Ihr Chef, der attraktive Steven Jacoby, der jede Frau haben konnte, die ihm ins Auge stach, wollte mit ihr, einer völlig unauffälligen und langweiligen Buchhalterin ausgehen? Misstrauisch verengten sich ihre Augen.

"Mr. Jacoby, haben Sie vielleicht …" das 'einen gezwitschert' verkniff sich Molly im letzten Moment. Er würde es bestimmt nicht sonderlich gut aufnehmen, wenn seine Angestellte ihm ein Alkoholproblem unterstellte. Mit einem Räuspern setzte sie noch einmal an. "Ähm … geht es Ihnen nicht gut? Ich meine, also ehrlich, ich weiß nicht, was ich davon halten soll."

"Nennen Sie es doch einfach Interesse, Molly. Ich möchte Sie besser kennenlernen. Und ich denke, ein gemeinsames Essen wäre ein guter Anfang. Vielleicht heute Abend um acht, wenn Sie nichts anderes vorhaben?"

Immer noch ungläubig starrte Molly ihren Chef an. Okay, sie war schon seit Jahren heimlich in ihn verknallt, aber das wusste natürlich niemand. Naja, niemand war vielleicht übertrieben, aber er wusste es garantiert nicht. Langsam sickerte die Erkenntnis in Mollys verwirrtes Hirn, dass er sie offenbar endlich bemerkt hatte. Er wollte mit ihr essen gehen. Italienisch. Und sie musste ihm antworten. Irgendwas.

"Ich … ja, gerne, Mr. Jacoby. Das ist … wirklich überraschend, äh, ich meine reizend. Freut mich sehr, danke. Also dann heute Abend. Fein. Ich werd dann mal wieder … arbeiten, unten in meinem Büro. Ja, genau, das werde ich. Auf Wiedersehen, Mr. Jacoby."

Bevor sie noch mehr Schwachsinn von sich geben konnte, sprang Molly auf und verließ im Eilschritt den Raum. Ihre Gedanken kreisten nur noch um die Verabredung, vergessen war der merkwürdige Lieferschein. Steven beobachtete erleichtert ihren schnellen Rückzug. Uff, das war gerade nochmal gut gegangen.

Jetzt musste er nur noch den Abend mit seiner langweiligen Buchhalterin durchstehen und sie endgültig von ihrem Verdacht ablenken.

***

"Brigid, ich brauch dich. Ich hab heut Abend ein Date und keine Ahnung, was ich anziehen soll. Ja, ein Date. Nein, kein Witz." Molly lauschte den intensiven Nachfragen ihrer Schwester, die aus dem Telefonhörer in ihr Ohr waberten. "Meine Güte, so ungewöhnlich ist das doch nun auch nicht, oder? Ist es? Oh … na, egal. Kannst du nachher bei mir vorbeischauen? Ja? Du bist ein Schatz, danke dir, Schwesterchen."

So, die erste Klippe war umschifft. Molly, der Modemuffel, hatte sich Unterstützung gesichert. Es war ja nicht so, dass sie keine Klamotten im Schrank hätte. Aber so auf Anhieb fiel ihr einfach kein passendes Outfit ein, das ihren Boss in irgendeiner Weise auf ihre irgendwo bestimmt vorhandenen Vorzüge aufmerksam machen könnte. Vielleicht war das ja auch gar nicht nötig, ihre schönen Augen hatte er schließlich auch von selbst entdeckt. Allerdings konnte ein wenig optische Hilfestellung keinesfalls schaden.

Drei Stunden später begann Molly ihren Anruf bei Brigid so langsam zu verfluchen. In ihrem Schlafzimmer stapelten sich alle möglichen Kleidungsstücke auf dem Bett, vom permanenten umziehen kam sie langsam ins Schwitzen und Ergebnisse gab's bisher auch noch keine. An allem hatte ihre Schwester etwas auszusetzen.

Die Sachen seien alle viel zu brav. Warum hatte Molly keine Accessoires? Wenigstens ein bunter Seidenschal wär ja schon hilfreich. Die Schuhe seien allesamt ein Albtraum, nicht ein anständiges Paar Pumps zum Ausgehen war da. Das Ganze gipfelte in der Drohung, gleich die nächsten Tage gemeinsam einen ausgedehnten Einkaufsbummel zu unternehmen. Hier zog Molly nun aber eine strikte Grenze.

"Kein Einkaufsmarathon – wozu auch? Entweder, er nimmt, was er kriegt, oder er kann mit der nächsten losziehen. Ich bin nun mal kein Modepüppchen."

Brigid schnaubte unfein. "Auf die Idee würde der Mann auch garantiert nicht kommen. Nicht mit dem Kram hier. Ganz ehrlich, du brauchst unbedingt ein paar neue Sachen. Was ich hier sehe, passt überhaupt nicht zu dir, sondern eher zu einer Nonne. Alles ist so weit geschnitten, dass kein Mensch deine Figur sehen kann – die, unter uns gesagt, gar nicht so übel ist. Du hast keine einzige Bluse mit Ausschnitt, sondern nur hochgeschlossene Shirts. Das Einzige in diesem Schrank hier, was auch nur ansatzweise sexy aussieht, ist dein Morgenmantel, den ich dir übrigens geschenkt habe. Und auch der nur, wenn du nichts drunter hast und ihn offen lässt. Aber den kannst du ja wohl kaum heuten Abend anziehen. Obwohl …"

"Niemals im Leben! Schlag dir das sofort aus dem Kopf - und zwar pronto. Ich zieh diese Hose hier an." Molly griff blind nach einer ihrer schwarzen Stoffhosen. "Und dazu diesen Pulli." Ein hellblauer dünner Pullover landete auf der Hose. "Und noch … irgendwelche Schuhe. So – erledigt."

Brigids Missbilligung leuchtete regelrecht aus ihrer verkniffenen Miene, als sie die beiden Kleidungsstücke in die Hand nahm und auf den großen Stapel in der Bettmitte warf. "So wahr ich hier stehe, Molly Flannagan: Mit diesen Klamotten gehst du nicht zu einem Date! Den Rock hier ziehst du an, diese Bluse und dazu meinen Schal. Ich würde dir ja meine Schuhe leihen, aber die sind dir zu groß und wahrscheinlich würdest du dir beim Laufen auch noch beide Knöchel brechen. Also nimm die schwarzen Ballerinas, das geht wenigstens noch ansatzweise in eine passable Richtung. Und lass die obersten Knöpfe der Bluse offen."

"Aber dann seh ich aus wie eine Stewardess." Molly war mittlerweile schon fast verzweifelt, doch Brigid ließ sich nicht erweichen. "Was hast du gegen Stewardessen? Die sind bei Männern sehr beliebt und in der Regel ziemlich attraktiv. Also hab dich nicht so, sondern geh lieber duschen. Ich überleg mir derweil was für deine Haare, denn so kann das bestimmt nicht bleiben." Unwillkürlich griff sich Molly in ihre dicken Locken. "Du wirst sie doch nicht abschneiden, oder? Brigid? Wehe, wenn du mir die Haare abschneidest! Das würde ich dir sehr, sehr übel nehmen, das wär eine Kriegserklärung. Ich würde nie wieder ein Wort mit dir reden. Nie wieder, verstanden?"

"Abschneiden? Warum sollte ich? Ich bin doch keine Friseuse. So ein Quatsch. Frisieren werde ich dich – irgendwie. Damit man überhaupt etwas von deinem Gesicht sehen kann, du Schaf. In der ganzen Wolle gehst du ja völlig verloren. So, nun aber husch, ab ins Bad. Mach schnell, sonst bist du nicht fertig, wenn er dich abholt. Du hast nur noch eine dreiviertel Stunde."

***

Verstohlen musterte Steven Jacoby immer wieder seine Begleiterin. Eigentlich sah sie gar nicht so übel aus, wenn man sie genauer betrachtete. Naja, die Kleidung war nichts Besonderes und die Frisur erinnerte ihn irgendwie an ein ziemlich flauschiges Vogelnest. Aber sie war hübsch, ihre Figur war ganz okay und sie hatte Humor. Der Abend könnte weitaus unangenehmer sein.

Stevens Überlegungen wurden vom Kellner unterbrochen, der den exquisiten Hauptgang ihres Menüs servierte. Mollys Gesichtsausdruck wechselte von neugierig zu komisch verzweifelt. "Jetzt weiß ich, warum die meisten wirklich reichen Leute dünn sind." Murmelte sie leise vor sich hin, als sie die winzige Portion auf ihrem Teller begutachtete. Das fantasievoll angerichtete und garantiert unglaublich leckere Saltimbocca würde tatsächlich nur einen einzigen Gabelhüpfer benötigen, um in ihrem Mund zu verschwinden. Steven presste sich die Hand vor den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken. Und auch der Kellner sah aus, als müsste er sich das Lachen verbeißen.

Kaum war er wieder verschwunden, flüsterte Molly verschwörerisch in Stevens Richtung. "Allein für den Preis einer Vorspeise hätten wir beide bei Gino’s Pizza am Hafen so viel essen können, dass wir fast geplatzt wären. Ganz ehrlich, Mr. Jacoby, das Restaurant ist toll. Und es ehrt mich sehr, dass Sie mich hierher eingeladen haben. Aber ich fürchte, ich werde heute Abend noch irgendwas Handfestes essen müssen, sonst kann ich vor Magenknurren nicht schlafen."

Damit war's um Stevens Beherrschung geschehen. Er lachte laut auf, so laut, dass einige der anderen Gäste irritiert in seine Richtung schauten. Doch das war ihm völlig egal. Er genoss es tatsächlich aus vollen Zügen, mit Molly Flannagan zusammen zu sein. So viel gelacht hatte er seit Jahren nicht. Sie war so unglaublich erfrischend und absolut ehrlich, so ohne einen Funken Gemeinheit oder Berechnung, dass er sich vollkommen entspannen konnte. Ein Wunder bei den Problemen, die ihn im Moment beschäftigten. Und noch verwunderlicher, da er ja eigentlich nur mit ihr ausgegangen war, um sie von dem falschen Frachtbrief abzulenken. Offenbar hatte er etwas entdeckt, das er gar nicht gesucht hatte. Steven wurde unvermittelt klar, dass er dieses Etwas gerne behalten würde.

Drei Wochen und sechzehn Treffen mit Molly später nahm er all seinen Mut zusammen und machte ihr einen Heiratsantrag. Und Molly sagte Ja, bevor er sich's anders überlegen konnte.

Nachdem sich die Frachtbriefe ohne genauere Angaben häuften, aber immer vom Zoll abgezeichnet wurden, machte sich Molly auch darum keine Gedanken mehr.

2

Die Männer sind nicht immer, was sie scheinen,

allerdings selten etwas Besseres.

(Queen Victoria)

Thanksgiving - Truthahn-Tag.

Während sich der Rest der Familie bereits an dem großen Tisch im Esszimmer versammelt hatte, die Gabeln kampfbereit hielt und die Messer wetzte, zog Molly mit einem angestrengten Ächzen den knusprig gebratenen Riesenvogel aus dem Ofen. Nachdem sich die Dampfschwaden etwas gelegt hatten, musterte sie das Ergebnis ihrer Bemühungen und musste breit grinsen. Genial, einfach genial.

Sie hielt sich ganz bestimmt nicht für eine überragende Köchin, eher für eine mittelmäßige. Aber was ihr an Können fehlte, machte sie durch Einfallsreichtum wett. Und diesmal hatte sie sich selbst übertroffen. Das hier war Food-Tuning vom Feinsten.

Während sie mit einem Ohr der Unterhaltung nebenan lauschte, wo ihre Schwester Brigid gerade ihre Brüder Patrick Junior, Brian und Daniel mit dem gleich anstehenden Kampf um die Keulen aufzog, stach Molly kichernd vorn und hinten eine lange Fleischgabel in den Truthahn und verfrachtete das immer noch brutzelnde Geflügel vorsichtig auf die große Servierplatte. Sie unterdrückte das Lachen, das ihr in der Kehle saß, und bemühte sich krampfhaft um eine ersthafte Miene, bevor sie die Platte ächzend nach nebenan brachte und mitten auf den Tisch stellte.

"So, bitte schön, Daddy. Walte deines Amtes." Patrick Flannagan Senior, bereits bewaffnet mit einem Tranchierbesteck, erschnupperte den verführerischen Duft des Truthahns, warf einen anerkennenden Blick auf die wunderbar braune Haut des Vogels, schnaufte zufrieden auf und wollte gerade zur Tat schreiten, als er stutzte und sich insgeheim fragte, ob ihm seine Augen einen Streich spielten.

Verstohlen warf er einen Blick auf seine Tischnachbarn, die ebenso verblüfft auf den dampfend-heißen Braten starrten. Vier Keulen. Das Vieh hatte vier verdammte Keulen. "Was …?"

"Das ist eine neue Züchtung, Daddy, aus Iowa, glaube ich. Die nennen das Familientruthahn für Keulenliebhaber. Ich dachte mir, das passt doch ganz gut. Wo ihr Jungs, bis auf Martin, doch alle so verrückt danach seid. Dann müsst ihr euch nicht wieder wie die Urmenschen darum streiten, wer von euch vier die zwei Keulen futtern darf."

Mollys mühsam beherrschte, todernste Miene drohte zu entgleisen, als ihre Mutter am anderen Ende des Tisches auf einmal laut kicherte und schließlich in schallendes Gelächter ausbrach. Als Mollys Schwester Brigid und ihr Ehemann Martin ebenfalls laut loslachten, war es vorbei mit ihrer Beherrschung und auch Molly prustete los. Die verdutzten Gesichter ihres Vaters und ihrer drei Brüder waren einfach zu komisch.

"Iowa, nein, sowas aber auch. Das ist einfach göttlich, Mollyschatz, einfach göttlich." Moira Flannagan wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln und versuchte verzweifelt, wieder ernst zu werden. Das brüllende Gelächter rundum machte ihre Bemühungen allerdings schnell zunichte. Erst als ihr der Bauch vor Lachen schmerzte, bekam sie sich langsam wieder unter Kontrolle.

Schniefend und glucksend ging Patrick Senior endlich ans Werk, ließ sich die Teller reichen und verteilte die Fleischbrocken an die hungrigen Mäuler, wobei seine Hand mit der großen Serviergabel mehrfach so stark bebte, dass ihm die Stücke fast von der Gabel gerutscht wären. "Wie hast du das gemacht, Molly? Und erzähl mir nicht nochmal den Quatsch mit Iowa."

"Ich hab die Flügel abmontiert – die will doch eh keiner - und die Extrakeulen dran genäht. Deshalb passt bitte auf, dass ihr nicht aus Versehen das Nähgarn mitesst. Ich hoffe, ihr wisst das zu würdigen. War eine Sauarbeit." Mit einem Kichern nahm sie ihren Teller mit einem Bruststück entgegen. "Aber ganz ehrlich … eure dummen Gesichter zu sehen, das war die Mühe eindeutig wert." Molly ging in Deckung, als ihr vier Stoffservietten an den Kopf flogen.

"Na warte! Irgendwann, wenn du nicht mehr damit rechnest, kriegst du das zurück. Hundertfach." Die zwischen zwei Happen Truthahnkeule und dem Herauszupfen des Nähfadens ausgesprochene Drohung ihres jüngsten Bruders Daniel ging in der allgemeinen Heiterkeit unter. Patrick Senior und Moira Flannagan warfen sich quer über den langen Tisch einen Blick zu, der all das ausdrückte, was sie in diesem Moment dachten. Glücklich waren sie beide, glücklich, eine solch wundervolle Familie gegründet zu haben, in der Lachen und Fröhlichkeit das manchmal schwierige Leben erträglich machten. Nein, nicht nur erträglich, sondern lebens- und liebenswert.

Nacheinander betrachteten sie ihre Kinder, Patrick Junior, ihren Erstgeborenen, Brian und Daniel und die beiden Mädchen, Brigid und Molly. Alle waren sie wohlgeraten und alle hatten etwas aus sich gemacht und standen auf eigenen Füßen. Und dazu dann noch Martin O’Hara, der mit Brigid seit einem halben Jahr verheiratet war und sie auf Händen trug. Ja, sie hatten eine großartige Familie gegründet und sie waren stolz darauf.

Während ihre ganze Familie immer noch über Mollys Einfall lachte, überlegte die hin und her, wie sie ihre große Neuigkeit am besten an den Mann und die Frau bekam. Wahrscheinlich wäre es doch erheblich besser, wenn sie sich die Verkündung bis nach dem Essen aufhob. Davon abgesehen, dass ihr ohnehin keiner auf Anhieb glauben würde und all die Leckereien kalt wären, bevor sie mit dem Erklären fertig war. Molly seufzte. Vielleicht wär es sogar besser, heute Abend gar nichts zu sagen und das Ganze irgendwann in nächster Zeit in erheblich kleinerem Kreis so am Rande einfließen zu lassen.

Ja, das war ein guter Plan. Ein sehr guter Plan.

Ein paar Tage später lehnte Molly ziemlich verkrampft an der Küchentheke ihrer Mutter und überlegte erneut fieberhaft, wie sie ihren Lieben auf möglichst schonende Art und Weise beibringen könnte, dass sie ihren ganz persönlichen siebenten Himmel gefunden hatte. Nun ja, Himmel war vielleicht etwas übertrieben, aber zumindest ihren Traummann. Sie hatte immer noch keinen Schimmer, wie sie ihrer Sippe klarmachen sollte, dass ausgerechnet sie, die unscheinbare Molly, einen solchen Wahnsinnstypen abgeschossen hatte. Das würde ihr kein Mensch abnehmen, der sie auch nur ansatzweise kannte. Sie war zwar nicht gerade schüchtern, aber - was Männer anging - in der Vergangenheit mehr als zurückhaltend gewesen und Steven war der einzige Interessent auf einen Dauerbeziehungsposten in ihrem bisherigen Leben.

Es war ja nicht so, dass Molly hässlich wäre. Aber wenn man sie mit ihren Geschwistern vergleichen würde, dann war Molly das Erdnussbutter-Sandwich zwischen Sahneschnitten. Sie hatte zwar eine schöne Haut und ihre Augen waren ebenfalls nicht gerade klein und hässlich, aber ihre Gesichtszüge wiesen ihrer Meinung nach keinerlei Besonderheiten auf. Sie war gerade mal mittelgroß, ihre Haare waren ein Mittelding zwischen blond und braun, ihre Augen konnten sich farblich je nach Lichteinfall nicht zwischen braun und grün entscheiden - meist glich die Färbung einem Gemisch von beidem. Nur ihre Figur, die sich mit ihren schlanken Kurven und ihrem durchaus üppigen Busen allemal sehen lassen konnte, empfand sie selbst als recht ansprechend.

Da sie aber im Arbeitsleben als Buchhaltungsmanagerin in Stevens Firma ihre Reize geschickt getarnt in Kostümen mit nicht zu engen Röcken und Jacken oder unter Hosenanzügen der gleichen Machart verschwinden ließ und privat eher ein zu-große-T-Shirts-und-Jeans-Typ war, Shorts - die sie ohnehin nur am Strand trug - prinzipiell frühestens knapp unterm Knie endeten und Bikinis in Mollys Kleiderschrank keinen Platz fanden - sie bevorzugte Einteiler, wie sie auch Hochleistungsschwimmer trugen, die Sorte, bei der eigentlich außer Armen und Beinen nichts zu sehen war - ahnte kaum jemand etwas von den wirklich interessanten Vorzügen, die sie vorzuweisen hatte.

Selbst in der Namensfindung, die Patrick und Moira ziemlich einfallsreich für ihre Kinder betrieben hatten, war Molly die einzige der Flannagan-Sprösslinge, deren Vorname bestenfalls gewöhnlich war. Ihre Brüder waren allesamt entweder nach frommen oder berühmten Männern benannt worden, ihre Schwester Brigid erhielt ihren Namen nach einer irischen Heiligen, die zwar zu ihrer Zeit einen etwas zweifelhaften Ruf genoss, aber dennoch als "Maria der Iren" verehrt wurde.

Bei Molly waren den Flannagans die gesegneten Frauen ausgegangen, denn sie bekam den Namen ihrer Großmutter väterlicherseits. Die alte Dame bestach zu Lebzeiten durch ihren ausgeprägten Hang zum irischen Whiskey - was aber niemand in der Familie zugegeben hätte - und ihrer Sturheit, die selbst einen Erzengel in den Wahnsinn getrieben hätte. Insofern passte der Name zumindest in einem Fall für Molly allemal, denn sie war ebenfalls zeitweise stur wie ein Maulesel, wie ihre Geschwister und Freunde ihr häufig versicherten. Molly hätte sich trotzdem liebend gerne umtaufen lassen. Was allerdings an ihrer allgemein unauffälligen Art auch nichts geändert hätte, also Schwamm drüber …

Molly seufzte. Sie konnte sich an ihren zehn Fingern abzählen, was die Familie von ihren Heiratsplänen halten würde. Ausgerechnet dieser Steven Jacoby, an dem Molly bis vor ein paar Monaten trotz ihrer heimlichen Verliebtheit selbst noch kaum ein gutes Haar gelassen hatte. Schließlich war sie des Öfteren Zeugin gewesen, wenn er mit diesen Hungerharken-Modelweibchen abgezogen war. Aber das war Schnee von gestern, dessen war sich Molly mittlerweile hundertprozentig sicher. Steven gehörte jetzt - oh Wunder! - ihr und nur ihr allein. Nur wie machte sie das der Familie klar?

"Mom, Dad … ich werde heiraten." So, nun war sie geplatzt, die Bombe - und zwar im schnörkellosen Holzhammerstil. Zwei völlig konsternierte Augenpaare starrten Molly an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen.

"Heiraten? Aber wen denn, Mollyschatz? Ich wusste gar nicht, dass da jemand Besonderes in deinem Leben ist. Du Heimlichtuerin, du. Wann lernen wir den jungen Mann kennen? Erzähl schon, wer ist es? Oh Patrick, ich bin so aufgeregt. Mein zweites Mädchen heiratet. Das ist so …" Moira Flannagan fehlten plötzlich die Worte und die ersten Tränen der Rührung schimmerten in ihren Augen. Patrick Senior räusperte sich umständlich, im Hinterkopf schon die Überlegung, wovon er das Spektakel bezahlen sollte, denn seine Barschaft hatte sich von Brigids Hochzeit noch nicht so recht erholt, die er als Brautvater selbstverständlich ausgerichtet hatte. "Das ist ja … toll." War alles, was ihm im Moment dazu einfiel.

"Nächste Woche, Steven Jacoby - meinen Chef, und mach dir keine Sorgen, Dad, das kostet dich nicht einen Cent. Wir fahren einfach nach Vegas." Der Einfachheit halber beantwortete Molly alle gestellten und ungestellten Fragen gleich in einem und hoffte, damit um weitere Erklärungen herumzukommen. Doch diese Annahme war natürlich völlig illusorisch. So leicht kam sie nicht davon. Ihr Vater hatte den Schock verdaut und kam nun in Fahrt.

"Dein Boss? Aber den konntest du doch nie leiden. Ich kann mich gut erinnern, wie oft du über den und seine Weibergeschichten die Nase gerümpft hast. Ausgerechnet diesen Luftikus willst du heiraten? Hat er dich überhaupt schon gefragt oder hast du dir das ausgedacht? Und wieso Las Vegas? Gefällt dir unsere Kirche nicht?"

Mit einem entsetzten "Patrick!" wollte Mollys Mutter sich einschalten, bevor seine deutlichen Worte einen bleibenden Eindruck hinterließen, doch ihre Tochter kam ihr zuvor. Sie streckte ihre Linke vor, an der unübersehbar ein Brillantring prangte.

"Kaum zu glauben, aber er hat mich tatsächlich gefragt, Dad, und ich hab ja gesagt. Ich hab mich verliebt, er ist nämlich ganz anders, als ich dachte. Und du weißt ganz genau, dass ich dieses ganze Brimborium mit allem Drum und Dran nicht mag. Außerdem kann mich Pfarrer Green sowieso nicht mehr leiden, seit ich damals vor meiner Firmung gebeichtet hab, dass wir ihm zwei Flaschen Messwein geklaut und sie ausgetrunken haben. Ich hab heute noch seine Strafpredigten im Ohr, von wegen Teufel Alkohol und so."

"Das ist wohl wahr." Mollys Vater musste sich ein Grinsen verbeißen. Drei Wochen lang hatte Pfarrer Green jede seiner Predigten genutzt, um die jugendlichen Übeltäter zur Socke zu machen. Und sich erst wieder beruhigt, als Patrick Senior ihm eine ganze Kiste Rotwein der gehobenen Preisklasse vor die Kirchenhintertür gestellt hatte. "Also gut, führ uns deinen jungen Mann vor. Und dann schauen wir mal, was draus wird."

***

"Irgendwelche Besonderheiten?"

"Nein, Boss … alles läuft wie am Schnürchen."

"Perfekt."

Zufrieden lehnte Luciano Carpetti sich in das Polster seiner Poolliege zurück und genoss entspannt die kalifornische Sonne.

***

Die ersten sechs nahezu vollkommenen Ehemonate schienen Mollys Eindruck zu bestätigen. Molly und ihr Steven turtelten sich verliebt von Tag zu Tag. Natürlich holte der Alltag beide schon bald wieder ein. Die Flitterwochen - eine Woche in einem kleinen Hotel am Rande des Grand Canyon - dauerten ja nun mal nicht ewig. Aber das Zusammenleben war irgendwie schön, fand zumindest Molly. Steven sah das Ganze eher von der praktischen Seite.

Schnell hatte er es verstanden, sich die buchhalterischen Talente seiner jungen Gattin zukünftig sozusagen kostenlos zu sichern, indem er ihr erklärte, dass die Firma ja nun ihnen beiden gehörte. Völlig im Widerspruch zu ihrer sonstigen praktischen und eher misstrauischen Art machte Molly sich mit ihrem liebesrosa gefärbten Verstand kaum Gedanken darüber, dass sie von ihrem Mann für ihre Arbeit kein Gehalt mehr bezog, sondern quasi für das eine oder andere flüchtige Küsschen nach dem gemeinsamen Mittagessen und ein üppigeres Taschengeld arbeitete. Den praktischen Schritt zur Übertragung von Firmenanteilen unterließ er natürlich.

Wie das so ist in jungen Ehen, stellt sich bald eine gewisse Routine ein. Die erste Leidenschaft war verflogen, heiße Küsse wurden zu einem lauwarmen kurzen Aufeinandertreffen von zwei Lippenpaaren, die alltäglichen Liebeserklärungen entwickelten einen gewissen Automatismus. Für Molly schien das völlig normal zu sein.

Die Kurzreisen, die ihr Ehemann seit einiger Zeit mehr oder weniger regelmäßig ohne sie antrat, wurden mit dem Knüpfen von Geschäftskontakten schlüssig erklärt. Nicht einmal im Traum wären Molly Zweifel an dem Wahrheitsgehalt dieser Aussage gekommen. Genauso wenig zweifelte sie allerdings dann auch daran, dass ihr Gatte sie mit seiner Sekretärin betrog.

Als Molly nämlich eines schönen Tages zu ungewohnter Zeit das Büro ihres Angetrauten aufsuchte, um ihm einen angeforderten Zwischenbericht zur wirtschaftlichen Lage der Firma zu übergeben, war das Vorzimmer leer, die Tür zu seinem Büro verschlossen. Arglos zückte Molly den Generalschlüssel, den sowohl sie als auch ihr Gatte, die Putzfrau und der Hausmeister besaßen, öffnete die Tür und bekam angesichts der unzweideutigen Szene große Augen:

Attraktive, blonde Sekretärin mit hochgeschlagenem Rock und nackten Beinen seitlich über die Schreibtischkante gebeugt. Ihr Slip baumelte um ihren rechten Knöchel. Mollys angetrauter Ehemann stand mit heruntergelassenen Hosen dahinter, beide Gesichter mit entsetzter Miene ihr zugewandt.

"Die blöden Grübchen in seinem Hintern sind mir eigentlich noch nie so richtig aufgefallen."

Nach diesem ketzerischen Gedanken und einigen ausgedehnten Sekunden der Paralyse aller Beteiligten schritt Molly äußerlich ungerührt zu dem zweckentfremdeten Schreibtisch, legte den Ordner mit dem gewünschten Bericht direkt vor das Gesicht der immerhin schamhaft erröteten Vorzimmerdame, warf einen arktisch unterkühlten Blick auf ihren konsternierten und ziemlich aus dem erotischen Takt gebrachten Gatten und schied schließlich mit den Worten: "Du hörst von meinem Anwalt."

Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, brach die zur Schau gestellte Gleichmütigkeit allerdings zusammen. Das im Büro hinter der Tür erschallende laute Fluchen nahm sie schon nicht mehr wahr, als sie mit vor den Mund gepresster Faust zurück zum Aufzug hastete, der mit geöffneten Türen dankenswerterweise auf sie zu warten schien.

Bis ins Innerste erschüttert lehnte sie auf der Fahrt nach unten an der Kabinenwand und versuchte, das eben Gesehene zu verarbeiten. Die ersten Tränen der Wut und Enttäuschung sammelten sich in ihren Augenwinkeln, ihre Hände und Beine zitterten vor Aufregung. Im Nachhinein erschien ihr der unerwartete Anblick immer grotesker, immer unwirklicher und doch so klar in seiner Bedeutung, dass sie diese geistige Rückschau ihre gute Erziehung völlig vergessen ließ.

"Dieser verdammte und tausendfach verfluchte Drecksack!"

Die Wut in Mollys Bauch brannte lichterloh, ihre Finger krümmten sich rhythmisch in dem Verlangen, entweder diesem blonden Miststück oder ihrem untreuen Ehemann die Haare vom Kopf zu reißen. Bis das der Tod euch scheidet, pah! Schnelle Bilder einer blutigen Rache schossen durch ihren Kopf und versandeten wieder.

Mollys angeborener Realismus übernahm die Führung und sorgte für eine abrupte Abkühlung ihrer hitzigen Rage. Pragmatisch stellte sie für sich selbst fest, dass sie von nun an wenigstens nicht mehr nach der Arbeit kochen musste, wenn sie zurück in das Haus ihrer Eltern zog - allerdings nur vorübergehend, das schwor sie sich. Denn allzu lange hielt sie weder die ständige Gegenwart ihrer Erzeuger noch die Anwesenheit ihres jüngsten Bruders, der immer noch zu Hause wohnte, aus.

Dann strafften sich ihre Schultern an der Fahrstuhlwand: Hallo, Moment mal!

Warum wollte sie eigentlich ausziehen? Das war ja schließlich ihr Haus, das sie von ihrer Großmutter und Namensgeberin geerbt hatte. Nein, sie würde keinesfalls ausziehen. ER würde ausziehen … und zwar - ohne es zu ahnen - innerhalb der nächsten zwei Stunden. Jawohl!

Der Fahrstuhl hielt im ersten Stock, eine nunmehr zu allem entschlossene Molly verließ die Kabine und eilte zu ihrem Büro. Schnell waren ihre Siebensachen in der großen Handtasche verschwunden, die sie stets mit sich herumschleppte, ebenso schnell die beiden Buchhaltungskräfte über Mollys verfrühten Feierabend informiert. Schon zehn Minuten nach dem bizarren Erlebnis im fünften Stockwerk betrat Molly mit energischem Schritt die Tiefgarage, stieg in ihre alte Rostlaube und fuhr zu ihrem Haus, wo sie sofort resolut ans Werk ging.

Der erste Weg führte sie zum Telefonbuch. Schlüsseldienste gab es zuhauf, in der Nähe ihres Hauses nur drei. Da Molly nicht vorhatte, auch noch unnötig Geld für einen langen Anfahrtsweg des Handwerkers auszugeben, hoffte sie auf einen der Schlosser in ihrer Nähe. Sie hatte Glück. Schon der Erste, den sie kontaktierte, versicherte, dass er innerhalb einer Stunde die Schlösser ausgetauscht haben würde. Punkt eins auf ihrer gedanklichen To-do-Liste war erledigt.

Der zweite Weg führte sie auf den Speicher, auf dem noch eine gute Zahl von leeren Kartons auf die Vernichtung wartete, seit sie nach Mollys Einzug in Grannys Haus ausgepackt worden waren. Eigentlich hätten diese Überreste schon längst im Müll sein sollen, aber da oben hatten sie niemanden gestört - am allerwenigsten Molly. Nun war sie froh über ihre Faulheit. Offenbar hatte ihr Vater recht, der eigentlich alles aufhob: Wegschmeißen konnte man sehr schnell, aber manche Dinge würde man garantiert noch einmal gut gebrauchen können - seine Devise.

Noch während sie die leeren Kartons die Dachbodenleiter hinabrutschen und gegen die Wand im Flur poltern ließ, klingelte unten an der Haustür der Schlüssel-Mann mit der Werkzeugkiste, für den Molly ihre Sammelaktion liebend gerne kurz unterbrach, um ihm die beiden auszutauschenden Schlösser zu zeigen. Ausreichend instruiert ging der Gute auch sofort ans Werk und versprach, schon etwa eine halbe Stunde später mit seiner Aufgabe fertig zu sein.

Während er schraubte, ausbaute und einsetzte, beschäftigte sich Molly im Schlafzimmer damit, ihren Schrank in eine männergarderobenfreie Zone zu verwandeln. Ohne sich damit aufzuhalten, alles ordentlich zu verpacken, schmiss sie die diversen Anzüge ihres treulosen Gatten willkürlich in die Kisten, stopfte nach, wo nichts mehr hineinzupassen schien, und krönte den ganzen Wollhaufen schließlich mit dem Rest seiner Habe: Hemden, Socken, Unterhemden, Freizeitkleidung, Krawatten … Molly grübelte kurz und beendete schließlich mit unendlicher Befriedigung und Akkuratesse ihr Werk. Immer drei Krawatten mit einem festen Knoten verbunden, die dadurch entstehenden Falten in der empfindlichen Seide – herrlich! Ein bisschen Rache musste erlaubt sein.

Der Schlüsselmeister meldete Vollzug, übergab ihr jeweils drei neue identische Schlüssel für die Vorder- und Hintertür und kassierte 120 Dollar für seinen Einsatz, von denen Molly nicht mal einem müden Cent hinterherweinen würde. Als sie dann auch noch die gepackten Kisten säuberlich am Rand der Auffahrt aufgereiht hatte - sie legte sogar noch eine farbbespritzte Plastikplane von der letzten Renovierungsaktion darüber, denn es sah nach Regen aus - bereitete sich Molly eine Tasse Kaffee und ließ sich mehr oder weniger zufrieden in ihren geliebten Ohrensessel sinken.

Nicht einmal zwei Stunden, nachdem sie ihn erwischt hatte, war Steven Jacoby draußen ... war Geschichte - finito - raus - erledigt ... nicht mehr der Familie zugehörig. Die Trennung war, zumindest von Mollys stolzer irischer Seite aus, vollzogen.

Die Ruhe und der Kaffee schafften schließlich, was die Arbeitswut unterdrückt hatte. Der Katzenjammer über ihre verpatzte Beziehung brach mit der Wucht eines Tornados über Molly herein. Die Tränen kullerten, das Schluchzen wurde immer lauter und wütender, die Erkenntnis, dass sie von nun an wieder die unscheinbare, allein lebende Molly sein würde, die kaum einer zweimal ansah, gab ihr den Rest. Nicht einmal die Erwartung der bestimmt sehenswerten Szene, wenn ihr Noch-Ehemann seine Habseligkeiten in der Auffahrt finden würde, konnte sie trösten. Das würde nur eine schaffen. Molly brauchte ihre Mom, um sich aufrichten zu lassen.

Sie verließ ihren bequemen Sessel, die Tasse klapperte auf den Tisch. Nach einem kurzen Erfrischungsstopp im Bad schnappte sie sich ihre Tasche und einen der neuen Schlüssel. Nur am Rande registrierte sie, dass das gerade eingesetzte Schloss nicht annähernd so viele Zicken machte wie das alte. Im Gegenteil, der Mechanismus funktionierte wie geschmiert.

An den gepackten Kisten vorbei steuerte sie ihr altes Auto rückwärts auf die um diese Zeit nahezu unbelebte Straße und machte sich auf den Weg zum Haus ihrer Eltern fünf Straßen weiter. Insgeheim hoffte sie, dass ihr Bruder Daniel im Dienst und nicht zu Hause sein würde, denn der hätte zu der ganzen Sache nur eins zu bemerken: Ich hab's Dir ja gleich gesagt!

Und darauf konnte Molly im Moment nun wirklich gut verzichten.

3

Ein tiefer Fall führt oft zu höherem Glück

(William Shakespeare)

Ohne anzuklopfen stürmte Molly durch die offene Gartentür in das Haus ihrer Eltern und damit direkt in die Küche. Verwundert musterte ihre Mutter mit einem triefenden Kochlöffel in der Hand den unerwarteten Gast, der so völlig ankündigungslos ihr kleines Reich enterte.

"Molly, Schätzchen … was machst Du denn hier? Und das um diese Zeit. Ist etwas passiert?"

Die sorgenvolle Miene ihrer Mutter, die gewohnte Gemütlichkeit der Küche, all das ließ Mollys erzwungene Beherrschung zusammenbrechen. Mit einem "Ach Mama …" fiel sie auf den nächst besten Stuhl und vergrub das Gesicht in den Händen, um schließlich jämmerlich zu schluchzen. Moira Flannagan warf den Kochlöffel aus der Hand, drehte die Herdplatte herunter und eilte an die Seite ihres mittleren Kindes. Erschüttert über den Ausbruch ihrer Tochter strich sie ihr ratlos übers Haar und wartete darauf, dass Molly ihr Problem mit ihr teilen würde. Erfahrungsgemäß konnte das bei diesem Spross der Flannagans etwas dauern. Schon als Kind hatte Molly erst einmal alle Gefühle ungebremst herausgelassen, um sich danach ihre Kümmernisse ruhig und präzise von der Seele zu reden. Einen solchen Zusammenbruch hatte es allerdings schon seit Jahren nicht mehr gegeben. Außerordentlich beunruhigend.